Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 21 / 23.05.2005
Mattias G. Fischer

Kampf um die Wehrverfassung

Der Einbau der Streitkräfte in das Grundgesetz
Die Wiederbewaffnung war das umstrittenste Thema der frühen Bundesrepublik. Während Bundeskanzler Konrad Adenauer sich spätestens im Sommer 1950 für einen deutschen Wehrbeitrag zur Verteidigung Westeuropas entschieden hatte, lehnten die Opposition und große Teile der Bevölkerung eine "Remilitarisierung" Westdeutschlands zunächst entschieden ab.

Die Auseinandersetzung entzündete sich an dem seit Oktober 1950 verfolgten Plan, unter Beteiligung deutscher Soldaten eine europäische Armee aufzustellen, und nahm eine Entwicklung, die bis heute nahezu alle großen politischen Entscheidungsprozesse in der Bonner und Berliner Republik kennzeichnet: Es entstand ein Verfassungsstreit, in dessen Verlauf das bald eingeschaltete Bundesverfassungsgericht nicht nur seine Feuertaufe erfuhr, sondern auch seine bis heute im Wesentlichen unangefochtene Stellung als eines der obersten Staatsorgane zu begründen verstand.

Der Streit drehte sich um die Frage, ob die militärische Beteiligung an einer europäischen Armee eine Änderung des Verfassungstextes erforderte oder nicht. Die Urfassung des Grundgesetzes hatte Streitkräfte nicht ausdrücklich thematisiert, ja angesichts der Besatzungsherrschaft gar nicht ansprechen können. Bereits in der ersten großen Wehrdebatte des Deutschen Bundestages Anfang November 1950 wurde die Verfassung in Stellung gebracht: Für Kurt Schumacher, den SPD-Parteivorsitzenden und Oppositionsführer, stand die geplante Beteiligung an einer europäischen Armee im Widerspruch zum Grundgesetz. Streitkräfte habe der Parlamentarische Rat ausdrücklich abgelehnt. Wolle man deutsche Soldaten, wenn auch für eine überstaatliche Armee, dann müsse die Verfassung geändert werden. Der politische Hintergrund war klar: Da Verfassungsänderungen an Zweidrittelmehrheiten gebunden sind, wäre unter den damaligen Mehrheitsverhältnissen eine Wiederbewaffnung gegen die Sozialdemokraten nicht durchzusetzen gewesen. Adenauer vertrat in seiner Regierungserklärung die Gegenposition. Er berief sich darauf, dass das Grundgesetz zwar Angriffskriege, nicht aber auch Verteidigungskriege untersage, es insoweit also der Aufstellung von Streitkräften zu Verteidigungszwecken nicht entgegenstehe. Zudem habe die Verfassung dem Bund sogar ausdrücklich eröffnet, sich zur Wahrung des Friedens einem wohl militärisch zu verstehenden "System gegenseitiger kollektiver Sicherheit" einzuordnen - eine Argumentation, die sich mehr als 40 Jahre später auch das Bundesverfassungsgericht zu eigen machte, um die Zulässigkeit von Bundeswehreinsätzen "out of area" zu begründen.

Im Januar 1952 entschied sich die SPD-Fraktion für den Gang nach Karlsruhe, um die Unterzeichnung des Vertrages über eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und damit die geplante Wiederbewaffnung zu stoppen. Der Verfassungsrechtsstreit entwickelte sich schon bald zum Gerichtskrimi und vermochte die Parteien keineswegs zu befrieden - im Gegenteil: der Kampf um die Wehrverfassung schien in eine Staatskrise zu münden. Für das Verfahren zuständig war der Erste ("rote") Senat, im Unterschied zum Zweiten ("schwarzen") Senat mehrheitlich mit Richtern besetzt, die von der SPD nominiert worden waren. Die Regierung befürchtete, das Gericht werde dem Antrag stattgeben, und veranlasste Bundespräsident Theodor Heuss, das aus allen Richtern des Gerichts bestehende - und damit vorgeblich parteipolitisch neutrale - so genannte Plenum mit einem Gutachten zu der Rechtsfrage zu beauftragen. Parallel dazu setzte eine in äußerster Schärfe geführte Diskussion über die Stellung des erst wenige Monate zuvor gegründeten Verfassungsgerichts im Staatsgefüge ein, in deren Verlauf Bundesjustizminister Thomas Dehler den Wunsch geäußert haben soll, "den ganzen Verfassungsgerichtshof eigenhändig in die Luft zu sprengen".

Zwar erfüllte sich die Hoffnung Adenauers nicht, das Gutachtenersuchen des Bundespräsidenten werde zu einer Aussetzung des Verfahrens beim Ersten Senat führen. Vielmehr entschied der "rote" Senat, wies aber den Normenkontrollantrag der SPD als unzulässig ab. Die Gegner der Wiederbewaffnung hätten die Ratifizierung des EVG-Vertrages abwarten müssen. Die Atempause für die Regierung währte allerdings nicht lange, glaubte man doch bald Anzeichen dafür zu erkennen, dass das Plenum des Gerichts in dem Gutachten für den Bundespräsidenten durchaus die Verfassungswidrigkeit der Wiederbewaffnung feststellen könnte. Die Koalitionsfraktionen reichten daraufhin ihrerseits Klage gegen die SPD-Fraktion ein und stellten den durchaus originellen Antrag, die Auffassung der Opposition, die Ratifizierung des EVG-Vertrages sei rechtswidrig, für verfassungswidrig erklären zu lassen. Hintergrund: Für dieses Organstreitverfahren war der Zweite ("schwarze") Senat zuständig. Das Gericht freilich spielte nicht mit und beschloss im Plenum, das vorrangig zu erstellende Gutachten werde für beide Senate verbindlich sein. In höchster Erregung bezeichnete Dehler diesen Beschluss als "Nullum", das die Bundesregierung "niemals anerkennen" werde. Adenauer leitete daraufhin den letzten Schachzug ein und riet dem Bundespräsidenten zur Rücknahme des Gutachtenauftrags. Mit der Begründung, nach dieser Gerichtsentscheidung könne das erbetene - unverbindliche - Gutachten kein Gutachten mehr sein, kam Heuss der Empfehlung nach. Das Verfahren musste eingestellt werden. Die Odyssee in Karlsruhe endete schließlich damit, dass der Zweite Senat die Klage der Koalitionsfraktionen ebenfalls als unzulässig abwies.

Die Frage der Verfassungsmäßigkeit eines deutschen Wehrbeitrages war also offen geblieben. Nach der Zustimmung des Bundestages zum EVG-Vertrag im März 1953 konnte der Verfassungsstreit wider Erwarten doch noch politisch gelöst werden. Zwar wandte sich die Opposition erneut an das Verfassungsgericht. Doch bei der Bundestagswahl im September 1953 erzielte Adenauers Regierungskoalition die Zweidrittelmehrheit. Damit habe das deutsche Volk eine Entscheidung für die Wiederbewaffnung gefällt, stellte der führende Wehrexperte der SPD, Fritz Erler, später nüchtern fest. Die Abgeordneten der Regierungsparteien hielten jetzt den Schlüssel zu einer Verfassungsänderung in der Hand - und nutzten ihn. Die Wehrhoheit des Bundes wurde ausdrück-lich im Grundgesetz verankert. Um den Auseinandersetzungen über die Wiederbewaffnung "ein für allemal ein Ende zu machen", so schrieb Adenauer in seinen Erinnerungen, habe man sich für eine "Klarstellung" der Verfassung entschieden. Mit der im Februar 1954 verabschiedeten Grundgesetzänderung (1. Wehrnovelle) sollte "die Verteidigung einschließlich der Wehrpflicht und des Schutzes der Zivilbevölkerung" nunmehr explizit zur ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz des Bundes gehören. Damit war auch die Entscheidung für eine Wehrpflicht- und gegen eine Berufsarmee getroffen, nachdem schon die Urfassung des Grundgesetzes ein Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung enthalten hatte. Ferner wurde der EVG-Vertrag im Grundgesetz ausdrücklich für verfassungsgemäß erklärt. Diese verfassungspolitische Entscheidung für die Wiederbewaffnung bildet bis heute den Grundstein der Wehrverfassung des Grundgesetzes.

Insbesondere waren die zukünftigen Streitkräfte damit auf die Verteidigung als Primärauftrag festgelegt - die Bundeswehr ist es bis heute. Doch was bedeutet "Verteidigung"? Das Grundgesetz gibt bewusst keine Antwort. Als die Wehrverfassung entstand, konnte es jedenfalls nicht um die Verteidigung nationaler Grenzen gehen, war Deutschland doch geteilt. Daher vertrat etwa ein Mitarbeiter der "Dienststelle Blank" - aus dieser sollte das Bundesministerium der Verteidigung hervorgehen - im Jahr 1951 die Auffassung, Gegenstand der Verteidigung sei kein geografischer Raum, sondern ein Wert: Freie Bürger müssten sich zur Verteidigung ihrer bürgerlichen Freiheit zusammenschließen. Die Außenminister der drei westlichen Siegermächte hatten sich bereits im September 1950 darauf verständigt, Bonn habe einen substanziellen Beitrag "zur Verteidigung der Freiheit" zu leisten. Wie immer man diese Bezugnahmen auf ein abstraktes Verteidigungsobjekt bewerten mag - die bekannte "Struck-Doktrin", wonach Deutschland auch am Hindukusch verteidigt werde, Verteidigung sich also geografisch nicht mehr eingrenzen lasse, kann sich durchaus auf historische Wurzeln berufen.

Aus Sicht der westlichen Alliierten ging es von vorn herein weniger um ein etwaiges Recht der Bundesrepublik, Streitkräfte zur Landesverteidigung aufzustellen, als vielmehr darum, Bonn für die Bündnisverteidigung in die Pflicht zu nehmen. Und nicht von ungefähr hatten die westlichen Besatzungsmächte am Vortag der Ausfertigung der 1. Wehrnovelle durch den Bundespräsidenten verfügt, hinsichtlich der Wehrhoheit dürfe die Ergänzung des Grundgesetzes erst zusammen mit dem - allerdings im August 1954 an der französischen Nationalversammlung gescheiterten - EVG-Vertrag in Kraft treten. So wie im Allgemeinen mit dem Besatzungsstatut eine Verfassung vor der Verfassung existierte, so gab es im Speziellen bis auf weiteres faktisch auch eine Wehrverfassung vor der Wehrverfassung in Gestalt weit verzweigter internationaler Einbindung und Kontrolle durch die Siegermächte. Verfassungsrechtler der Bonner Republik sprachen vorsichtig von einer "weitgehenden Überlagerung der grundgesetzlichen Ordnung durch die bündnismäßige Eingliederung in die NATO", welche im Verfassungstext allenfalls mittelbar sichtbar sei.

Als mit dem Beitritt der Bundesrepublik zu NATO und Brüsseler Vertrag (WEU) der internationale Rahmen der Wiederbewaffnung im Frühjahr 1955 endgültig abgesteckt war, ging es darum, die aufzustellenden Streitkräfte in die Grundgesetzordnung einzupassen und selbst verfassungskonform zu organisieren. Vor dem Hintergrund geschichtlicher Erfahrungen hatte Adenauer bereits im Herbst 1950 betont, die Entwicklung einer zukünftigen Armee zu einem "Staat im Staate" sei von vorn herein zu unterbinden. Mit einer im März 1956 in Kraft getretenen weiteren Grundgesetzänderung (2. Wehrnovelle) - nun wirkten auch die Sozialdemokraten mit - wurden die Streitkräfte unmissverständlich der vollziehenden Gewalt zugeordnet. Dem traditionellen, noch im Jahr 1955 von dem Staatsrechtler Otto Koellreutter vorgetragenen Verständnis der Armee als "vierter und letzten Endes entscheidender Staatsgewalt" war damit endgültig der Boden entzogen.

Nach kontroversen Debatten wurde die Befehls- und Kommandogewalt dem Bundesminister der Verteidigung und für den Verteidigungsfall dem Bundeskanzler übertragen. Namentlich die FDP hatte den Oberbefehl in die Hand des Bundespräsidenten legen wollen. In der Verfassung wurde ferner eine starke Kontrolle der Streitkräfte durch den Bundestag bestimmt (Budgetrecht, Einrichtung eines ständigen Verteidigungsausschusses, Schaffung des Amtes eines Wehrbeauftragten), ohne freilich damit das Primat der Politik als Primat des Parlaments auszugestalten. Weiterhin hielten nicht nur Bestimmungen über eine von den Streitkräften getrennte Wehrverwaltung und eine (bis heute nicht eingerichtete) Wehrgerichtsbarkeit Einzug in den Verfassungstext, sondern implizit wurde auch das soldatische Leitbild eines grundsätzlich den vollen Grundrechtsschutz genießenden "Staatsbürgers in Uniform" verankert. Wie selbstverständlich ging der verfassungsändernde Gesetzgeber ferner davon aus, Streitkräfte seien im Notstandsfall auch im Inneren einzusetzen, stellte diese Einsatzform aber unter einen ausdrücklichen Verfassungsvorbehalt.

Das damit verbundene Regelungsversprechen sollte freilich erst im Jahr 1968 mit dem Einbau der so genannten Notstandsverfassung (3. Wehrnovelle) in das Grundgesetz eingelöst werden. Die möglichen Inneneinsätze erfuhren eine äußerst restriktive, gesetzestechnisch nicht durchweg überzeugende Ausgestaltung. Als eigener Abschnitt wurde schließlich der "Verteidigungsfall" in das Grundgesetz eingefügt. Seitdem, also seit bald 40 Jahren, ist die Wehrverfassung unverändert geblieben, sieht man einmal von dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Auslandseinsätzen aus dem Jahr 1994 ab. Karlsruhe stellte Einsätze bewaffneter Streitkräfte unter Parlamentsvorbehalt. Auch wenn vieles dafür spricht, dass sich das Gericht damit zum verfassungsändernden Gesetzgeber aufgeschwungen hat, konnte es mit der Entscheidung den jahrelangen Streit über die Verfassungsmäßigkeit von "Out-of-Area"-Einsätzen tatsächlich beenden.


Dr. Mattias G. Fischer ist wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Neuere Rechtsgeschichte an der Universität Erfurt.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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