Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 21 / 23.05.2005
Johannes L. Kuppe

Eine erfolgreiche Sturzgeburt

Vom Doppelzweck des westlichen Bündnisses
Die Geschichte der NATO begann mit Erwartungen an sie, die sich - selten genug in der internationalen Politik - fast alle erfüllt haben. Gemessen an den sonst üblichen langen Entstehungszeiten von Bündnissen war sie eine Sturzgeburt. Die Mutter (Europa) war schwach, der Vater (USA) stark. Der Säugling wuchs rasch zu einer starken Klammer in einer von Ehekrisen nicht verschonten Verbindung heran.

Anders als Mitte des letzten Jahrhunderts jedoch befürchtet, musste das euro-atlantische Kind einen Teil der ihm zugedachten Aufgaben nicht bis zur letzten Konsequenz erfüllen, weil sie mit dem Ende der Ost-West-Konfrontation historisch obsolet geworden sind. Der andere Teil aber, der aus dem Doppelzweck der Zeugung entsprang, ist bis heute hochaktuell geblieben. Dieser Doppelzweck darf daher nicht vergessen werden.

Aber zunächst: Die Etablierung des Bündnisses war eine strategische Aktion der Gründungsmitglieder, die einen erstaunlichen politischen Weitblick verriet.

In der zweiten Hälfte der 40er-Jahre des letzten Jahrhunderts war - als Folge des Zweiten Weltkrieges - eine globale Konstellation entstanden, deren Brisanz heute vergessen scheint, weil das Konfrontationspotential der neokonservativen "neuen Weltordnung" scheinbar komplexere Strukturen als die "einfache" bipolare, tatsächlich aber viel gefährlichere Drohkulisse zu Beginn des Kalten Krieges aufweist.

Nach 1945 traten sich zwei neue Weltmächte - die USA damals Weltmacht noch wider Willen, die UdSSR aber mit voller Absicht - gegenüber, die angesichts unlösbarer Nachkriegsfolgen fast ungebremst in einen neuen Konflikt steuerten. Die USA mussten das zerstörte Westeuropa aufbauen, das ohne institutionalisierten Schutz, jedoch mit der neuen, politisch-ideologisch und militärisch expansiven Gegenmacht vor der Haustür äußerst gefährdet erschien. Justament in diesem historischen Augenblick entstanden die nuklearen Massenvernichtungswaffen, für deren politische Kontrolle es (noch) keine Erfahrungen gab.

Zur Erhaltung des Weltfriedens waren zwar im Juni 1945 in San Francisco die Vereinten Nationen (UN) gegründet worden. Doch damit war für die eben geschilderte Konfliktsituation zwischen den entstehenden politischen Blöcken in einem entscheidenden Punkt ein weiteres Problem entstanden. Die Charta der UN sah - auf sowjetisches Drängen - und sieht bis heute ein uneingeschränktes Vetorecht der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates vor. Würden die Sowjets (oder auch China), so die Überlegungen in den USA bei Ausbruch des Kalten Krieges, im Falle eines europäischen militärischen Konfliktes mit dem Kreml gegen UN-Maßnahmen ihr Vetorecht einsetzen, wären die Vereinten Nationen aus jeder Konfliktlösung ausgeschaltet gewesen. Stalin hätte freie Hand gehabt und hat dies auch insofern genutzt, als sich die Ausdehnung seines Imperiums bis an die Elbe - für die Westmächte überraschend - abzuzeichnen begann und mit der Gleichschaltung der osteuropäischen Staaten und der SBZ bis zur 1. Berlin-Krise 1948/49 dann auch tatsächlich erfolgte.

Das mit der Gründung der Vereinten Nationen wieder belebte, wenn auch noch in Ansätzen steckende System kollektiver Sicherheit, das noch aus der Zeit des Völkerbundes stammte, bedurfte also eines ausbalancierenden Gegengewichts in der Charta, die keine Aushebelung des Rechts auf kollektive Selbstverteidigung - durch Ausnutzung des Vetorechtes - ermöglichte. Dies geschah auf Betreiben der USA, vor allem des in diesem Punkt höchst aktiven Senators Arthur H. Vandenberg, durch die Formulierung jenes berühmten Artikels 51 der UN-Charta, in dem kollektive Selbstverteidigung auch unter den Bedingungen des Vetorechtes als UN-konform festgeschrieben wird ("within the Charter but outside the Veto").

"Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat." Derartige Selbstverteidigungsmaßnahmen "berühren in keiner Weise … (die) auf dieser Charta beruhende Befugnis und Pflicht" des Sicherheitsrates.

Bereits zwei Jahre später wurde der so genannte Rio-Pakt (Pakt von Rio de Janeiro über die kollektive Verteidigung der südamerikanischen Staaten) der erste Anwendungsfall des Artikel 51 der UN-Charta.

Damit war die Konzeption zur Schaffung der NATO geschaffen. In einer von 66 UN-Mitgliedern gegen sechs Staaten angenommenen Resolution wurden von Vandenberg 1949 eine Reform des Sicherheitsrates (Begrenzung des Vetorechtes) und die Organisation regionaler Verteidigungsmaßnahmen gefordert. Die Reform des Sicherheitsrates ist bis heute nicht gelungen. Doch mit dem Vertrag von Washington im Mai 1949 begann der politische und militärische Aufbau der NATO.

Angesichts dieser Gründungsgeschichte ist nicht zu bestreiten, dass mit der NATO ursprünglich nicht nur die Schaffung einer neuen Militärallianz klassischen Typs vorgesehen war, sondern - im Falle eines Angriffs auf die Gründungsmitglieder - zuerst und zunächst eine Deblockierung der Friedenswahrungsfunktion der Vereinten Nationen. Erst an zweiter Stelle stand die Organisation eines institutionellen Rahmens für Westeuropas kollektive Verteidigung. Die Verschärfung des Ost-West-Konfliktes und insbesondere die zunehmende Konfrontation der beiden Supermächte haben freilich diesen Doppelzweck der NATO in den Hintergrund gedrängt und ihre Verteidigungs- und Schutzfunktion in den Fokus von Öffentlichkeit und Ausbaubemühungen gerückt.

Diesen Doppelzweck hat naturgemäß die Sowjet-union stets aufs heftigste bestritten. Wie konnte es auch anders sein, denn sonst hätte sie ja einräumen müssen, dass die westlichen Befürchtungen einer Blockade des UN-Sicherheitsrates durch ein Kreml-Veto realistisch waren und dass die westeuropäisch-amerikanischen Verteidigungsvorkehrungen vor einem realen Bedrohungsszenario stattfanden. Die Erinnerung an diese Gründungsbedingungen der NATO fördert zugleich die Einsicht, dass das Bündnis von Anfang an mehr als eine klassische Militärallianz war: Mit ihrer Gründung wurde eine politische Verteidigungsorganisation mit militärischen Aufgaben geschaffen. Insofern war sie ein Bündnis ganz neuen Typs in der internationalen Politik.

Ein weiterer, etwas in Vergessenheit geratener Aspekt der Gründungsgeschichte der NATO bezieht sich auf den Charakter der europäisch-atlantischen Beziehungen. Der entscheidende Anteil der USA an der Gründung der NATO wird heute von niemandem bestritten. Doch Mutter Europa war eben auch von Anfang an dabei. Schon im März 1948 hatten sich nämlich das Vereinigte Königreich, Frankreich und die Benelux-Staaten im Brüsseler Pakt zu einer klassischen Verteidigungsallianz zusammengeschlossen. Angesichts des herunterfallenden "Eisernen Vorhangs" und ihrer eigenen wirtschaftlichen und vor allem militärischen Schwäche (vollständige Abrüstung nach Kriegsende) erkannten die Verbündeten sehr schnell, dass sie kein adäquates Gegengewicht zur weiter voll aufgerüsteten Sowjetunion bilden könnten. Sie wandten sich daher an die USA und Kanada mit der dringenden Bitte um Unterstützung. Diese europäische Initiative für ein Bündnis über den Atlantik, der die Amerikaner, entsprechend ihrer eigenen Interessen, sehr schnell entsprachen, war ein wichtiger Baustein zu Gründung der NATO nur 13 Monate später.

Als im Dezember 1950 der Oberbefehlshaber der westalliierten Streitkräfte in Europa im Zweiten Weltkrieg und spätere US-Präsident, General Eisenhower, vom NATO-Rat zum "Supreme Allied Commander Europe (SACEUR)" ernannt wurde, war auch das ein nicht übersehbares Signal an den Kreml, dass eine weitere sowjetische Expansion in Europa, etwa nach dem Beispiel des inzwischen ausgebrochenen Korea-Krieges, nicht hingenommen werden würde.

Mit dem Ende der bipolaren Konfrontation und dem Entstehen eines global agierenden Terrorismus musste sich die militärisch-strategische Funktion der NATO ändern, und zwar hin zu einer weltweiten Krisenbewältilgungsallianz. Existentielle Nöte für das inzwischen größer gewordene Europa seitens einer aggressiven östlichen Großmacht gibt es wohl heute und in absehbarer Zeit nicht mehr. Jedoch ist die politische Bedeutung der NATO angesichts einer UNO mit nur beschränkter Entscheidungseffizienz und Handlungsmacht eher noch gewachsen. Ihre Unterstützung für die heute teilblockierten Vereinten Nationen gehört mithin, wie wir in den jüngsten Balkankriegen gesehen haben, zu ihren vornehmsten Aufgaben - wie damals 1949. Wie vor 56 Jahren ist die NATO ein regionaler Pfeiler der Vereinten Nationen - der einzige militärisch handlungsfähige und zuverlässige, den die Weltorganisation bis heute besitzt.


Johannes L. Kuppe war viele Jahre Leitender Redakteur der Wochenzeitung "Das Parlament".


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