Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 21 / 23.05.2005

"Visionen vom Weltuntergang"

Interview mit dem Politikprofessor Wilfried von Bredow
Von der NATO habe es unterschiedliche Wahrnehmung innerhalb der Linken gegeben, sagt der Politologe Wilfried von Bredow. Je nach Epoche und politischer Orientierung galt sie als Hebel zur Bedrohung der Sowjetunion, als Vertiefer der Spaltung zwischen Ost und West oder als Organisator lebensbedrohlicher Rüstungsprozesse. Heute würde sie jedoch als weniger bedrohlich wahrgenommen, meint der Professor von der Universität Marburg.

Das Parlament: Wieso ist die NATO für große Teile der Linken ein so beliebtes Hassobjekt?

Wilfried von Bredow: Da muss man verschiedene Epochen unterscheiden. Die NATO war in der Mitte der 50er-Jahre in den Augen vieler Linker eine Organisation, die die sicherheitspolitische Spaltung in Europa vertiefte. Der Beitritt der Bundesrepublik zur NATO bereitete allen Hoffnungen gerade auch der Linken, zu einer Wiedervereinigung unter eher sozialistischen Vorzeichen zu kommen, endgültig ein Ende. Etwas später stationierte die NATO in Europa Nuklearwaffen - das war in den Augen vieler Linker und Pazifisten eine Bedrohung der Sicherheit in Europa. Deswegen gab es die Kampagnen gegen die NATO und die zeitweise diskutierte Atombewaffnung der Bundeswehr. Zu Beginn der 80er-Jahre erschien sie den Linken in der Auseinandersetzung um den NATO-Doppelbeschluss als eine ganz "gefährliche Organisation", als es um die Atomwaffen ging, die auf deutschem Boden stationiert werden sollten. Das war in den Augen vieler Linker eine extreme Verunsicherung der sicherheitspolitischen Situation, die zu ganz heftigen Protesten führte.

Das Parlament: Also erschien die NATO den Linken weniger als Verteidigungsbündnis, sondern als aggressive Organisation?

Wilfried von Bredow: Es gibt verschiedene linke Wahrnehmungen von der NATO. Je näher die Wahrnehmung an der sowjetischen oder DDR-Betrachtungsweise dran war, desto mehr galt die NATO als ein Hebel zur Bedrohung der Sowjetunion und des Sozialismus. Dann gab es nationale Linke, die in der NATO ein Instrument zur Vertiefung der Spaltung gesehen haben. Und dann gab es die eher emotionalen Linken, die sowohl die NATO als auch den Warschauer Pakt wegen ihrer Rüstungsprozesse für lebensbedrohlich hielten. Das ging in den 80er-Jahren bis hin zu Visionen von einem Weltuntergang.

Das Parlament: Heute haben Teile der Linken wie beispielsweise die Mehrheit der Grünen ein recht entspanntes Verhältnis zur NATO. Wird die NATO nicht mehr ernst genommen?

Wilfried von Bredow: Heute ist die NATO in dem Sinne keine Bedrohung mehr. Dennoch gibt es Diskussionen darüber, welche Funktion die NATO heute hat. Für die einen ist die NATO anachronistisch geworden und man sollte sie am besten abschaffen und europäische Sicherheitslösungen, die viel weniger auf militärischen Mitteln basieren, anstreben. Für andere ist die NATO ein Mittel der USA, um in Europa ihren Einfluss zu behalten, und wird als amerikanisches Instrument sehr negativ wahrgenommen. Dann gibt es noch die Leute - nicht nur auf der Linken -, die meinen, dass es viel günstiger wäre, ein völlig neues Design der Sicherheitslandschaft anzustreben. Da würde die NATO dann in der jetzigen Gestalt keine große Rolle mehr spielen, weil sie beispielsweise ein Hindernis für den Aufbau einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik wäre.

Das Parlament: Wird die Kritik an der NATO abgelöst durch Bedenken gegenüber der europäischen Sicherheitspolitik, wie beispielsweise der neuen EU-Verfassung?

Wilfried von Bredow: Ich glaube, das ist nur für eine ganz kleine Gruppe in der Linken ein Thema. Bei der Diskussion über die EU-Verfassung geht es um alle möglichen Probleme. Dass nun die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik und die gemeinsame Außenpolitik, die sich so langsam herausbildet eine Militarisierung Europas bedeuten - wie man in manchen linken Publikationen lesen kann - das wird nur von ganz wenigen ernst genommen.

Das Parlament: Der heutigen NATO wird von der Linken vorgeworfen, sich von einem Verteidigungsbündnis zur globalen Interventionsorganisation zu entwickeln. Ein berechtigter Vorwurf?

Wilfried von Bredow: An diesem Vorwurf ist nicht alles falsch, weil es innerhalb der NATO einzelne Mitglieder gibt, die sich solche Einsätze im Sinne eines westlichen Weltordnungskonzepts vorstellen können. Das sind insbesondere die USA. Viele europäische NATO-Mitglieder sind da sehr viel vorsichtiger. Richtig ist, dass die NATO kein Bündnis mehr ist, das einen Abschreckungsauftrag gegenüber einer anderen Nuklearmacht hat, und richtig ist auch, dass die NATO nicht mehr ein Verteidigungsbündnis ist, mit dem die Territorien der Mitgliedsstaaten gegen einen Angriff verteidigt werden sollen. Die NATO ist ein sicherheits- und militärpolitisches Bündnis geworden, das ein sehr breites Spektrum von Aufträgen auch außerhalb des NATO-Territoriums anzunehmen bereit ist. Das sind Missionen wie in Darfur und anderen Krisenregionen der Welt. Da muss man von Fall zu Fall entscheiden, ob solche Einsätze sinnvoll und legitim sind oder nichts anderes als der Ausdruck nationaler Interessen der Mitglieder. Wenn die NATO Letzteres akzeptieren würde, hätte sie keine große Zukunft, dann würde sie relativ schnell auseinander fallen.

Das Parlament: Spekulativ gefragt: Hätte eine neutralisierte, unbewaffnete Bundesrepublik, die nicht Mitglied der NATO ist, die Ost-West-Konfrontation abmildern können?

Wilfried von Bredow: Das glaube ich nicht, weil ein neutralisiertes, nicht-paktgebundenes Deutschland zum Hauptfeld der politischen Auseinandersetzungen zwischen Ost und West geworden wäre. Es wäre ein instabiles Land an der Grenze zwischen Ost und West gewesen und hätte dann keine Pufferfunktion gehabt. Das wäre garantiert für den Ost-West-Konflikt, insbesondere für die Entspannungspolitik, sehr negativ gewesen.


Das Interview führte Ulrike Schuler


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.