Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 37 / 12.09.2005
Christoph Seils

Das Prinzip heißt: Hinten anstellen

Junge Politiker haben es schwer, sich einen Platz zu erkämpfen

Man möchte meinen, der Weg von Niels Annen in den Bundestag sei vorgezeichnet gewesen. Er ist mit 16 Jahren in die SPD eingetreten. Von 2001 bis 2004 war er Juso-Bundesvorsitzender. Er sitzt im Bundesvorstand der SPD. Mit seinen 32 Jahren ist Niels Annen also schon ein alter Hase in der Politik. Dennoch musste er in diesem Jahr, nachdem es am 18. September überraschend vorgezogene Neuwahlen gibt, kämpfen, um Direktkandidat im Hamburger Wahlkreis Eimsbüttel zu werden. Und er muss nun darum kämpfen, diesen Wahlkreis auch zu gewinnen. Einen sicheren Listenplatz hat Niels Annen nicht. "Es gibt in der SPD keinen Automatismus", sagt er. "Es ist nicht so, dass für einen Juso-Vorsitzenden ein Platz im Bundestag reserviert ist."

Generation 60 plus hat das Sagen

Es ist vielmehr so, dass es junge Politiker in diesem Jahr bei der Kür von Direktkandidaten und der Aufstellung von Landeslisten besonders schwer hatten. Vor allem in der SPD, in der mit Gerhard Schröder, Franz Müntefering, Hans Eichel oder Peter Struck die Generation 60 plus den Wahlkampf prägt. Aber nicht nur in der SPD ist dies so. Alle Parteien räumen dem politischen Nachwuchs wenig Chancen ein. Mit Edmund Stoiber führt ein 63-Jähriger die CSU-Liste für den Bundestag an. In Berlin bewirbt sich der langjährige Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen mit ebenfalls 63 Jahren erstmals um ein Direktmandat. Auch der mögliche künftige Außenminister, der Liberale Wolfgang Gerhardt, hat schon vor eineinhalb Jahren seinen 60. Geburtstag gefeiert. Fast scheint es so, als drängten in diesem Jahr mehr denn je altbewährte Politikrecken jenseits der 60 in den Deutschen Bundestag. Über das "Methusalem-Komplott" auf den Kandidatenlisten spottete deshalb bereits die konservative Tageszeitung "Die Welt", über verkalkende Parteien die linke "tageszeitung" (taz).

Der 16. Deutsche Bundestag wird aller Voraussicht nach älter werden als sein Vorgänger. Als sich dieser im Oktober 2002 konstituierte, betrug das Durchschnittsalter der Abgeordneten exakt 49,28 Jahre. Während auf dem Arbeitsmarkt über 50-Jährige kaum noch gefragt sind, steuern Politiker in diesem Alter auf den Höhepunkt ihrer politischen Karriere zu. Etwa 45 Prozent der 603 Abgeordneten war zwischen 50 und 60 Jahren alt. Nur 101 Abgeordnete waren unter 40, lediglich 21 Abgeordnete unter 30.

Mit 30 Jahren müssen Menschen im Job schon eine Menge Verantwortung übernehmen, in den Parteien jedoch gelten sie bis zum Alter von 35 Jahren als Jugendliche und gehören den Jugendorganisationen an. Für den politischen Nachwuchs gilt das Prinzip sich hinten anzustellen. Ein Bundestagsmandat stellt den Höhepunkt einer langjährigen politischen Karriere dar, auch Ochsentour genannt. Seiteneinsteiger sind die Ausnahme. Junge Kandidaten haben in der Regel nur eine Chance, wenn sie altgediente Parteifreunde niederkämpfen. Die SPD habe "zu wenig junge Leute" aufgebaut, klagt Niels Annen, die Partei brauche eine Verjüngung, einen Generationenwechsel. Nur in einer Kampfkandidatur und mit einem innerparteilichen Wahlkampf konnte sich Niels Annen die SPD-Kandidatur im Wahlkreis Hamburg-Eimsbüttel erstreiten. Er profilierte sich als treuer Anhänger von Rot-Grün und ging auf Distanz zu Schröder. Mit Erfolg. Mit 58 zu 31 Stimmen setzte sich der Historiker und Ex-Juso-Chef gegen die stellvertretende Landesvorsitzende Dorothee Stapelfeld durch. Eigentlich ist Eimsbüttel traditionell ein sozialdemokratischer Wahlkreis, mit 51 Prozent ging dieser 2002 an die SPD. Doch in diesem Sommer gibt es wenig, auf das sich Sozialdemokraten verlassen können und so weiß auch Niels Annen, ausruhen gilt im Wahlkampf nicht.

Natürlich gibt es auch schon junge Politiker und Politikerinnen, die in ihren Parteien etabliert sind und sich deshalb keine Sorgen um den Einzug in den Bundestag machen müssen. Die grüne Anna Lührmann etwa, die vor drei Jahren mit 19 Jahren die jüngste Bundestagsabgeordnete aller Zeiten war und seit einem Jahr sogar im wichtigen Haushaltsausschuss des Parlaments mitarbeitet. Sie wird wieder ins Parlament einziehen. Auch der 25-jährige Jens Spahn (CDU) aus Ahaus wird keine Probleme haben, sein Direktmandat zu verteidigen. Der 28-jährige Bundestagsabgeordnete Daniel Bahr aus Münster gilt bei den Liberalen bereits als der Experte für Gesundheits- und Sozialpolitik und als Nachwuchstalent mit Karrierechancen. Katja Kipping ist sogar Spitzenkandidatin der Linkspartei.PDS in Sachsen. Bislang saß die 27-Jährige für ihre Partei im sächsischen Landtag.

In der Regel jedoch müssen die jungen Kandidaten in spannenden Kampfkandidaturen zwischen Jung und Alt gehen. In der Passauer CSU etwa konnte sich der 30-jährige Andreas Scheuer nach einem kurzen heftigen innerparteilichen Wahlkampf um die Direktkandidatur gegen den 63-jährigen ehemaligen Verteidigungs-Staatssekretär Klaus Rose durchsetzen. Auch Thomas Bereiß galt als Außenseiter, doch dem 30-jährigen Landesvorsitzenden der Jungen Union in Baden-Württemberg gelang auf der Mitgliederversammlung im Wahlkreis Sigmaringen-Zollernalb mit 643 zu 376 Stimmen ein Überraschungssieg gegen den örtlichen Landrat. Kai Gehring musste bei den Grünen zehn Konkurrenten ausstechen und sieben Wahlgänge über sich ergehen lassen. Am Ende konnte er sich sogar gegen den Bundestagsabgeordneten Winfried Nachtwei durchsetzen und sich den 8. Platz auf der nordrhein-westfälischen Landesliste sichern. Nun wird gerechnet und gehofft. "Wenn die Grünen knapp unter sechs Prozent bekommen, würde es noch reichen", erklärt der 27-jährige Diplom Sozialwissenschaftler.

Trotz seines jungen Alters hat Kai Gehring schon eine Ochsentour durch seine Partei hinter sich. Mit mehreren Wahlkämpfen, viel innerparteilicher Gremienarbeit und noch mehr innerparteilicher Ranküre. Schon wenige Wochen nach seinem Eintritt in die Partei stand er als 20-Jähriger 1998 in seiner Heimatstadt Essen im Wahlkampf hinterm Infostand und warb für die Ökosteuer oder den Atomausstieg. Natürlich hätten es junge Kandidaten bei den Grünen traditionell etwas einfacher, es gäbe "eine große Solidarität mit Jüngeren", sagt Kai Gehring. Doch auch die Grünen kommen in die Jahre, werden älter. "Niemand bekommt einen Listenplatz geschenkt", fügt er hinzu. Im Gegenteil. Es gehört schon ein gewisses Maß an Abgeklärtheit dazu, einen Wahlkrimi mit sieben Abstimmungen, knappen Ergebnissen und Kungeleien hinter den Kulissen durchzustehen. "Ich bin mit großer Gelassenheit in die Kandidatur hineingegangen. Ich hatte nicht viel zu verlieren", sagt Kai Gehring. In Bundestag will er sich, wenn es denn klappen sollte, für Kinder, Familie, Bildung und Hochschulen engagieren. Doch bis zum 18. September muss er noch zittern.

Andreas Jung wird nicht zittern. Alles andere als ein deutlicher Sieg im Wahlkreis Konstanz wäre eine Sensation. Obwohl die Universitätsstadt inzwischen einen grünen Oberbürgermeister hat, ist der Wahlkreis, zu dem auch die umliegende Region gehört, fest in CDUHand. Bereits im vergangenen Jahr hatte der 30-jährige Rechtsanwalt und langjährige Aktivist der Jungen Union entschieden, sich um die Direktkandidatur zu bewerben. Der Wahlkreis war frei geworden, weil der langjährige örtliche Abgeordnete, wichtige Strippenzieher im Berliner Politikbetrieb und ehemalige Staatssekretär, Hans-Peter Repnik, sich mit 62 Jahren aus der großen Politik zurückziehen will.

Nur ein Kandidat ist ungewöhnlich

Um so überraschter war Thomas Jung, dass sich kein Mitbewerber fand und er von seinen Parteifreunden fast einstimmig nominiert wurde. Nun macht der Nachwuchspolitiker Wahlkampf, tingelt durch Altenheime, Fußgängerzonen und örtliche Betriebe, erklärt überall, warum nach sieben Jahren Rot-Grün nun die CDU ran muss. Und er bereitet sich innerlich schon ein bisschen auf Berlin vor. Im Wirtschaftsausschuss des Bundestages würde er gerne mitarbeiten oder im Umweltausschuss. Aber Andreas Jung sagt auch, "das wird man sehen". Er weiß genau, als Neuling im Parlament und als Neuling in der Unionsfraktion muss er bescheiden sein. Doch das gilt nur am Anfang. Seine Parteifreunde in Konstanz und Umgebung sagen: "Das ist einer mit Perspektive", berichtet Andreas Jung. Wie bei seinem Vorgänger Hans-Peter Repnik, der 33 Jahre alt war, als er 1980 als junger Abgeordneter erstmals in den Bundestag einzog.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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