Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 40 / 04.10.2005
Krsten Burkschat

Experimente am lebenden Objekt

Niedersachsen: Regierung probt den Verkauf der Landeskrankenhäuser

Die Landesregierung hat beschlossen, die Landeskrankenhäuser zu privatisieren", mit dieser schlichten Mitteilung überraschte das Kabinett im Juli alle Beteiligten. Auf einen Streich sollen 2006 in einer europaweiten Ausschreibung alle zehn psychiatrischen Kliniken in Niedersachsen zum Verkauf angeboten werden. Es geht um 4.000 Betten und 6.400 Mitarbeiter. Erhoffter Erlös: 125 Millionen Euro. Finanzminister Hartmut Möllring kann zufrieden, Sozialministerin Ursula von der Leyen erleichtert sein. Hatte der Landesrechnungshof doch erst im Frühjahr die Führung und Steuerung der Häuser bemängelt. Zudem fehlt es an Geld für Investitionen. Starke Partner sollen helfen, die Wettbewerbsfähigkeit und Qualität der Psychiatrie zu sichern. Von der Leyen betonte, dass sich das Land nicht aus der Verantwortung für den Maßregelvollzug herausziehen werde.

Doch genau diesem Vorwurf sieht sie sich jetzt ausgesetzt. Die Opposition im Landtag sieht in dem Vorhaben einen Rückschritt für die psychiatrische Versorgung. "Wo es um Eingriffe in die Freiheitsrechte geht, darf sich der Staat nicht einfach der Dinge entledigen", beklagt die sozialpolitische Sprecherin der Grünen, Ursula Helmhold. Sie befürchtet, dass private Betreiber ihren Gewinn nur durch Abbau von Arbeitsplätzen und Behandlungsstandards erzielen könnten. Im Maßregelvollzug sei zudem die Versuchung groß, durch langfristige Verwahrung von Patienten die Auslastung zu sichern. SPD und Grüne sehen die Zerstörung der sozialpsychiatrischen Netzwerke kommen und warnen vor der Entstehung großer Krankenhauskonzerne mit angeschlossenen Heimen. Und sie haben sicherheitspolitische Bedenken. In den meisten Kliniken ist die kassenfinanzierte Psychiatrie untergebracht sowie forensiche Abteilungen mit psychisch kranken Straftätern. Hier geht es auch um staatliche Hoheitsrechte und die Verfassungsmäßigkeit.

Verantwortung des Staates

Diese Frage hat nun alle Fraktionen auf den Plan gerufen. Die Landtagsjuristen prüfen jetzt, inwieweit durch den Verkauf der Kliniken Grundrechtsfragen und Hoheitsrechte berührt oder verletzt würden. Es gibt dazu aber weder Urteile noch Präzendenzfälle. Der Landesrechnungshof hat dazu eine klare Linie: "Krankenversorgung ist keine Kernaufgabe des Staates", urteilt Vizepräsident Fritz Müller. Dem widerspricht aber Siegfried Broß, Richter am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe und sagt: "Der Staat muss an seine Verantwortung erinnert werden, die ihm aus dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 GG erwächst. Sie verbietet es, dass er sich zu der Wahrnehmung solcher Aufgaben privater Dritter bedient, die er nicht voll beherrscht." Seine Meinung könnte Gewicht bekommen, denn Flensburger Richter hatten sich jüngst geweigert, der Eintragung einer privatisierten psychiatrischen Klinik zuzustimmen, mit dem Hinweis auf die Verletzung der hoheitlichen Aufgaben des Staates. Der Fall ist auf dem Weg nach Karlsruhe, zu Herrn Broß.

Die FDP übt Zurückhaltung. Abzuwägen seien verschiedene Verfassungsgrundsätze, so die FDP-Sozialpolitikerin Gesine Meissner, "ökonomisches Denken darf am Ende nicht Bürger- und Freiheitsrechte gefährden". Von der Leyens Staatssekretär Gerd Hoofe versucht mittlerweile die Sache zu differenzieren und spricht von Missverständnissen. Zweifelsfrei sei, "dass die allgemeine Psychiatrie ohne wenn und aber an private Dritte übertragen werden kann". Den Bereich des Maßregelvollzugs wolle man aber gar nicht komplett veräußern. "Wir wollen private Dritte dort mit einbeziehen, wo es um nicht-grundrechtsrelevante hoheitliche Aufgaben geht, also bei Dienstleistungen wie Gebäudemanagement, Service, Wäscherei."

Eine Teilung in eine privat geführte Psychiatrie und einen staatlich geführten Maßregelvollzug bezeichnet der Direktor des Landeskrankenhauses Königslutter, Jürgen-Helmut Maute, als "Unsinn". Gerade die Zusammenlegung dieser Bereiche habe Synergien geschaffen. Eine erneute Trennung sei unökonomisch, weil dann wieder Personal für Koordinierungsaufgaben eingestellt werden müsste. Er verweist auf Thüringen, wo die Privatisierung der Kliniken zu Mehrkosten von rund einem Drittel geführt hätte und kritisiert das Vorgehen der Landesregierung als "unüberlegten Schnellschuss". Die Stimmung sei aufgebracht. Die Kliniken hätten sich saniert und schrieben schwarze Zahlen. "Niemand versteht, dass man uns erst lobt, weil wir wirtschaftlich leistungsfähig sind und dann verkauft."

Die CDU-Sozialexpertin Heidemarie Mundlos versteht den Unmut: "Bei großen Veränderungen spielen immer Ängste eine Rolle." Privatisierung würde aber nicht automatisch zu schlechteren Verhältnissen führen, sondern oft auch zu mehr Flexibilität und Wettbewerbsfähigkeit. Sie setzt auf partnerschaftliche Sozialpolitik und Gespräche mit den Betroffenen und reist von Klinik zu Klinik. Unterdessen arbeiten im Landtag fieberhaft die Ausschüsse und im Ministerium ein Lenkungsausschuss und eine Projektgruppe an Modellen, mit denen der einmal beschlossene Verkauf noch machbar und juristisch haltbar ist.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.