Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 41 / 10.10.2005
Enrico Syring

Kriegsgeschichte mit kleinen Fehlern

John Keegans Geschichte des Zweiten Weltkriegs

Fast 16 Jahre nach der englischsprachigen Originalausgabe ist die viel gerühmte Gesamtdarstellung des Zweiten Weltkrieges aus der Feder des renommierten britischen Militärhistorikers John Keegan auch in deutscher Übersetzung erschienen. Nicht, dass es an eingängigen wissenschaftlichen Monographien zu diesem Thema mangelte. Die entsprechenden Arbeiten von Basil Lidell Hart, Andreas Hillgruber, Lothar Gruchmann oder Gerhard L. Weinberg etwa, um nur einige wenige der bekannteren zu nennen, erfreuen sich nach wie vor einer weiten Verbreitung.

Gleichwohl hat die hierzulande lange verpönte Militärgeschichte seit den 90er-Jahren eine erstaunliche Renaissance erfahren, welche auch neue Detailerkenntnisse zum Zweiten Weltkrieg zu Tage gefördert hat. Von daher macht es also durchaus Sinn, den jeweils aktuellen Forschungsstand von Zeit zu Zeit in einem neuen Überblick zu bündeln.

Nur: John Keegans Studie verharrt auch in ihrer Übersetzung auf dem Stand von 1989. Die neueren Untersuchungen zur Sozialgeschichte der deutschen Wehrmacht oder diejenigen zur Besatzungswirklichkeit in den deutschbesetzten Gebieten in der Sowjetunion beispielsweise finden von daher noch keine Beachtung. Nicht, dass Keegans Buch damit gänzlich überflüssig geworden wäre. Vielmehr entwickelt der Autor eine in ihrer Allgemeinverständlichkeit fesselnde Darstellungskraft, die das Buch gerade für den interessierten Laien und für die politische Bildung interessant macht.

Mit spürbarer Freunde am Erzählen, klar gegliedert und mit vielen plastischen Schilderungen und Anekdoten gewürzt, weiß Keegan den Leser in seinen Bann zu schlagen. Diese außerordentliche Lebendigkeit, diese wahrhafte "Lust zu fabulieren" lässt beim Rezensenten die Vermutung aufkommen, Keegan habe seine Arbeit im engen handwerklichen Sinne gar nicht selbst schriftlich niedergelegt, sondern zur Gänze diktiert.

Jedenfalls weist sein Buch neben den genannten Vorzügen auch alle Nachteile auf, die einem freien mündlichen Vortrag gemeinhin anhaften: Zuweilen lässt sich der Autor vom Schwung seiner eigenen Erzählung fortreißen. Manche Schilderung wird "schief", es unterlaufen im Eifer des Gefechts Fehler in den schlichten Fakten, die einem so vorzüglichen Kenner der Materie bei ruhiger Überlegung definitiv nicht passiert wären: So lag etwa das deutsche Schlachtschiff "Tirpitz" nie im Hafen von St. Nazaire; der alliierte Konvoi PQ 17 wurde nicht von den in Norwegen stationierten schweren deutschen Überwassereinheiten, sondern von der deutschen Luftwaffe zerschlagen; die "Leibstandarte-SS Adolf Hitler" war die 1. und nicht die 2. SS-Panzerdivision; der damals umstrittene Einsatz der amerikanischen Pazifikflotte in der Philippinensee wurde von Admiral Spruance und nicht von Admiral Halsey kommandiert.

Mit der Frage der Kriegsschuld hält sich Keegan nicht weiter auf. Er lässt hier jedoch deutlich Sympathie für die Thesen A. J. P. Taylors erkennen, dessen Buch "Die Ursprünge des Zweiten Weltkrieges" zu Beginn der 60er-Jahre für Aufruhr sorgte, weil es die Alleinschuld Deutschlands beziehungsweise Hitlers relativierte. Keegan zufolge ist es jedoch in der Tat ergiebiger, der Frage nachzugehen, wie der Zweite Weltkrieg möglich wurde, als neuerlich zu beschreiben, wie er zustande kam. Daher holt er relativ weit in die Geschichte aus, bis zur Militarisierung Europas im Verlauf des 19. Jahrhunderts, den Folgen der industriellen Revolution und dem Aufkommen der allgemeinen Wehrpflicht.

Nach dem Erleben des Ersten Weltkrieges sei dann überall in Europa die Idee verbreitet gewesen, Staat und Gesellschaft nach dem Vorbild der militärischen Apparate umzumodeln. Niemand habe diese Vorstellungen tiefer verinnerlicht als Adolf Hitler. Sein Ziel sei es gewesen, Deutschland jenen Status wieder zu geben, den es zuvor im Ersten Weltkrieg innegehabt habe.

Seine Darstellung des Kriegsgeschehens hat der Autor in sechs Abschnitte gegliedert. Jeder beginnt mit der Analyse des "strategischen Dilemmas" desjenigen Staatsführers, bei dem die Initiative während des jeweiligen Zeitraumes gelegen hat. Zunächst war dies Hitler, dann Tojo, dann Churchill, dann Stalin und dann schließlich Roosevelt. Der Analyse folgt in jedem Abschnitt die Schilderung des faktischen Kriegsverlaufs. Den Abschluss bildet jeweils die Beschreibung einer Schlacht, in welcher eine für den Zweiten Weltkrieg charakteristische Art der Kriegsführung im Vordergrund steht: der Luftkrieg (Schlacht um England), der Einsatz der Luftlandetruppen (Schlacht um Kreta), die Flugzeugträger (Midway), die Panzer (Falaise), der Straßen- und Häuserkampf (Berlin) sowie amphibische Operationen (Okinawa).

Bei Keegan dominiert neben der Politikgeschichte mithin das, was man im deutschen Sprachgebrauch Kriegsgeschichte nennt. Wirtschafts- und Sozialgeschichte werden zwar nicht völlig ignoriert, allerdings eher punktuell als "Hintergrundgeschichte" mit in die Darstellung einbezogen. Trotz aller angesprochenen Mängel bleibt Keegans Gesamtdarstellung gleichwohl eine auch für den Fachhistoriker anregende Lektüre - gerade dort, wo sie ihn zum Widerspruch reizt.


John Keegan

Der Zweite Weltkrieg.

Aus dem Englischen von Hainer Kober.

Rowohlt Verlag, Berlin 2004; 896 S., 34,90 Euro


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