Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 41 / 10.10.2005
Margarete Wiest

Vorstoß ins ideelle Vakuum

Zum Verhältnis von Religion und Nation

Seit mehr als 20 Jahren stellen Forscher einen globalen Trend zur Rückkehr der Religionen fest. Darunter wird zum einen eine erneuerte Religiosität im privaten Bereich, zugleich aber auch eine zunehmende Politisierung der Religionen verstanden. Letztere fand ihren Ausdruck sowohl in der Rolle, die die Kirchen einiger mittelosteuropäischer Länder bei der Ablösung der kommunistischen Herrschaft 1989/90 spielten, als auch im Wirken so genannter Befreiungstheologen in Südamerika sowie vor allem im Aufschwung des Islamismus in Nordafrika, dem Nahen Osten und Südostasien.

Hinzu kommt, dass seit Anfang der 90er-Jahre eine Reihe religiös verbrämter Konflikte neu aufbrach, die die These vom "Kampf der Kulturen" beziehungsweise "Kampf der Religionen" zu nähren schienen. Auffällig ist, dass viele dieser Konflikte mit Prozessen des Staatszerfalls und der gescheiterten Nationenbildung oder des Neuaufbaus von Nationalstaaten einhergingen. Das gilt für die kriegerischen Auseinandersetzungen in Ex-Jugoslawien und dem postsowjetischen Raum ebenso wie für die Unruhen in Indonesien, die Bürgerkriege in einigen afrikanischen Ländern oder den Kampf um die politische Herrschaft in Afghanistan und dem Irak.

Vor diesem Hintergrund gewinnt das Verhältnis von Religion und Nationenbildung an Brisanz. Zugleich betrifft diese Frage auch das Projekt der europäischen Einigung. Inwieweit eine entstehende europäische Identität auf einem christlichen Fundament beruhen kann oder soll, wird spätestens seit einem möglichen Türkei-Beitritt heftig diskutiert.

Historische Untersuchungen zur Rolle der Religion bei der Bildung der europäischen Nationen belegen, wie unterschiedlich diese ausfallen konnte: Je nachdem ob die Nation nur eine oder mehrere Religionen oder Konfessionen umfasste, ob die Nation ihre politische Eigenständigkeit gegen einen anderen Staat mit einer anderen Religion/Konfession erkämpfen musste, ob die religiösen Strukturen leicht "nationalisiert" werden konnten oder ob die Konfession - wie die katholische - an ein Zentrum gebunden war, das außerhalb der Verfügungsgewalt des Nationalstaats lag - all dies prägte im Einzelfall das Beziehungsmuster zwischen Religion und Staat. Dennoch lassen sich ausgehend von der europäischen Geschichte einige allgemeine Schlussfolgerungen ziehen.

So zeigt die europäische Entwicklung, dass die Religion vor allem in den Fällen eine Rolle spielte, in denen sich Nationen nicht im Rahmen eines gemeinsamen Staatswesens formierten. Während in Westeuropa die Staatsbildung der Nationenbildung vorausging, mussten viele Völker Mittel- und Osteuropas ihre nationale Identität ohne Besitz eines gemeinsamen Staats beziehungsweise gegen den Staat entwickeln, in dem sie lebten. Daher begründeten sie ihre Nationen zumeist nicht staatspolitisch, sondern kulturell. In solchen "Kulturnationen" konnte die Religion eine wesentlich bedeutsamere Rolle als in den westeuropäischen "Staatsnationen" spielen. Schließlich war der geteilte Glaube - neben einer gemeinsamen Sprache, Herkunftsmythen und Gebräuchen - nicht selten zu einem zentralen Baustein der Kultur geworden. Und als solcher konnte er eine wichtige integrative Funktion erfüllen: die Nation zusammenhalten, vor allem im Krisenzeiten.

Dies zeigt das Beispiel der polnischen und jüdischen Nation eindringlich. So stellte der Katholizismus während der Zeit der polnischen Teilungen einen wichtigen gemeinsamen Bezugspunkt dar, der das Überleben der Nation vor dem Hintergrund von Russifizierungs- und Germanisierungsversuchen sicherstellte. Während im polnischen Fall die Kirche ein wichtiges, aber nur ein kulturelles Element neben anderen bildete, stellt die jüdische Nation eine primär religiös definierte Nation dar. Verstreut über unzählige Staaten konnte nicht die Sprache, sondern letztlich nur der gemeinsame Glaube das entscheidende vereinigende Band liefern.

Ein weiterer Faktor, der erklärt, weshalb die Religion mitunter im Nationenbildungsprozess eine bedeutende Rolle spielen kann, liegt darin, dass sie von den Eliten als politische Ressource instrumentalisiert werden kann. Das wiederum hängt damit zusammen, dass die Nationenbildung stets einen Prozess der Ein- und Ausgrenzung darstellt. Die entscheidende Frage lautet: Wer gehört der Nation an? Dies birgt gerade in Ländern, die multiethnisch oder multireligiös strukturiert sind, beträchtliches Konfliktpotential in sich.

Dabei scheint es den staatspolitisch begründeten Nationen leichter zu fallen, verschiedene ethnische und religiöse Gruppen zu integrieren; denn hier gibt der Wille des Einzelnen, der Nation anzugehören, den Ausschlag. Anders in "Kulturnationen", wo die vermeintlich "objektiven" Faktoren Hürden darstellen, die der Einzelne nicht überwinden kann. Er gehört der Nation an oder nicht - ob er will oder nicht.

Die Religion kann in solchen Situationen zu einem wichtigen Moment des Ausschlusses werden. Dabei handelt es sich zumeist nicht um einen Kampf der Religionen, wie oftmals fälschlicherweise postuliert wird, sondern die Religion wird von den politischen Eliten als Ressource instrumentalisiert: Mit ihrer Hilfe lassen sich die Massen mobilisieren, vermeintliche Feinde identifizieren und die eigene Herrschaft legitimeren. Das ließ sich deutlich während der kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Balkan beobachten.

Bisher wurde die Religion als kulturelle und politische Ressource betrachtet - und damit als etwas, das von einer Nation leicht vereinnahmt werden kann. Die Religion ist jedoch weit mehr als das: Sie stellt ein Glaubenssystem mit universalem Geltungsanspruch dar. Sie ist transzendental und transnational. Und damit bildet sie immer auch eine Alternative zum Nationalismus und dessen angestrebtem Ziel des Nationalstaats.

In Europa wurde dieses Konkurrenzverhältnis durch die Säkularisierung zugunsten der Nation entschieden. Indem sich Religion und staatliche Macht in zwei voneinander unabhängige Sphären spalteten, konnte die Nation zur primären Loyalitätsebene der Bevölkerung aufsteigen. Viel wurde darüber diskutiert, inwieweit die europäische Erfahrung der Säkularisierung als Voraussetzung für erfolgreiche Nationenbildung verallgemeinert werden darf. Sie darf! Dabei ist aber zum einen zu bedenken, dass dies keine vollständige institutionelle Trennung von Staat und Religion bedeutenden muss. Laizistische Systeme finden sich selbst in den europäischen Nationalstaaten nur selten. Unbedingt muss jedoch eine klare Autonomie der politischen Sphäre gewährleistet sein.

Zweitens muss in Betracht gezogen werden, dass dieser Prozess in Europa mehrere Jahrhunderte in Anspruch nahm und teils äußerst konfliktbeladen verlief. Dies mahnt, die Aussichten von Nationenbildung in vormodernen beziehungsweise sich gerade erst modernisierenden Gesellschaften realistisch einzuschätzen: als einen Prozess, der lange Zeit dauern kann und dessen Ende offen ist.

Davon zeugen die Entwicklungen in Nordafrika, dem Nahen Osten oder Südostasien. Der Aufstieg des Islam als politische Kraft stellt in dieser Region sowohl Folge als auch Ursache unvollendeter Nationenbildung dar. Folge, da die Religion nur allzu leicht in das ideelle Vakuum stoßen konnte, das von dem Versuch der Eliten, einen Nationalismus von oben zu kreieren, zurück geblieben war. Dieser Nationalismus konnte seine eigentliche Aufgabe, die Bevölkerung zu integrieren, nicht erfüllen. Er blieb daher ebenso wie der Nationalstaat - aus der Erbmasse der Kolonialzeit übernommen - ein "Transplantat ohne Wurzeln", wie der Politologe Bassam Tibi schrieb.

Dass die Religion zunehmend an die Stelle der Nation tritt, hat auch damit zu tun, dass in der durch Modernisierung und Globalisierung ausgelösten Identitätskrise das Interesse an den Herkunftstraditionen und damit an der Religion zunimmt. Denn diese bietet im Rückgriff auf Tradiertes Halt und stellt einen Gegenentwurf zu dem als fremd empfundenen westlichen Modell von Säkularisierung und Modernisierung dar. Der Aufstieg der Religion wiederum belastet den Nationenbildungsprozess; schließlich erschwert er den dazu nötigen Säkularisierungsprozess.

Von außen sind die Prozesse der Nationenbildung und Säkularisierung nur schwer zu steuern. Das bezeugen die Entwicklungen in Afghanistan oder dem Irak. Zwar können mit dem Verfassungsdesign institutionelle Rahmenbedingungen geschaffen werden. Letztlich stellen Nationenbildung und Säkularisierung jedoch Entwicklungen dar, die aus der Gesellschaft selbst hervorzugehen haben. In diesem Zusammenhang von Nation- oder gar Religion-Building als vermeintlich schnell zu verwirklichende außenpolitische Handlungsoptionen zu sprechen, ist gefährlich und naiv.


Dr. Margarete Wiest ist wissenschaftliche Assistentin an der Universität Regensburg.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.