Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 01-02 / 02.01.2006

Völkermord an Sinti und Roma darf nie vergessen werden

Auszüge aus der Rede von Bundesratspräsident Peter Harry Carstensen

Die Wahrheit ist schmerzlich, aber nur mit ihr können wir unser Glück aufbauen!" Dieser Satz wurde von einer starken Frau geschrieben: Von der Schriftstellerin und Mahnerin Philomena Franz: Sie schreibt gegen das Vergessen. Als Sintezza wurde sie von den Nationalsozialisten nach Auschwitz verschleppt, ihr wurde die Nummer Z 10550 auf den Unterarm tätowiert. Ihre Eltern und fünf Geschwister sind in den Lagern erschlagen, vergast, verbrannt worden. Philomena Franz überlebte die Qualen. Sie hat unter Tränen die Leidensgeschichte ihrer Familie zu Papier gebracht.

Damit gibt sie - so denke ich - den vielen, vielen Verstummten eine Stimme. Und sie verpflichtet uns, unsere deutsche Geschichte anzunehmen: Deshalb ist es eine wichtige Tradition, dass der Bundesrat seit 1994 alljährlich in seiner letzten Sitzung vor Weihnachten ein Zeichen der Erinnerung setzt: Eine große Gruppe unter den Opfern des Völkermords während der nationalsozialistischen Terrorherrschaft ist die der Sinti und Roma - verkannt, verachtet und verfolgt. Ihr Schicksal liest sich für sie nach 1933 - wie für Juden, für Menschen mit Behinderungen, für Homosexuelle - wie eine Chronologie des Grauens.

Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden sie gezwungen, ihre Wohnsitze nicht mehr zu verlassen. Die große Mehrheit der deutschen und österreichischen Sinti und Roma wurde in Lagern interniert. Im Frühjahr 1940 begann die systematische Deportation aus dem Deutschen Reich in das besetzte polnische Generalgouvernement, wo die Verschleppten in Lager, Ghettos und in Dörfer gebracht und zur Zwangsarbeit eingesetzt wurden. Jeder Fluchtversuch oder die Rückkehr in das Reichsgebiet wurden hart bestraft.

Am 16. Dezember 1942 - fast auf den Tag genau vor 63 Jahren - unterzeichnete Heinrich Himmler als so genannter "Reichsführer SS" und Leiter des Reichssicherheitshauptamtes ein Dokument der Barbarei und der Unmenschlichkeit, den so genannten "Auschwitz-Erlass". Dieser Befehl leitete die letzte Station einer mörderischen Kette von Diskriminierung und Verfolgungsmaßnahmen gegen Sinti und Roma ein. Unter Geheimhaltung wurden die Betroffenen familienweise verhaftet, ihr Eigentum mussten sie zurücklassen - Geld, Wertgegenstände, Ausweispapier wurden ihnen geraubt.

Über Gefängnisse und Zwischenlager kamen diese Menschen nach Auschwitz-Birkenau, in ein speziell abgegrenztes Areal dieses Vernichtungslagers. Dort mussten sie unter entsetzlichsten Umständen leben. Im Jahr 1943 wurden über 20.000 Sinti und Roma nach Auschwitz-Birkenau deportiert, wo die meisten der 23.000 Insassen an Hunger, Krankheiten und Misshandlungen und medizinischen Experimenten starben.

In einer Nacht Anfang August 1943 wurde dieser Teil des Lagers Auschwitz liquidiert. Ein Augenzeuge berichtete 1964 im Frankfurter Auschwitzprozess darüber. Dort heißt es: "Fürchterliche Szenen spielten sich ab: Frauen und Kinder lagen vor Mengele und Boger auf den Knien und riefen ,Erbarmen, erbarmen Sie sich!' Es hat alles nichts genützt. Sie wurden brutal zusammengeschlagen und getreten und auf die Lastwagen gestoßen. Es war eine fürchterliche, grausame Nacht. Die Geschlagenen blieben reglos liegen und wurden auf die Lastwagen geschmissen." Soweit der Augenzeuge.

Schätzungen sprechen von bis zu 500.000 Sinti und Roma aus ganz Europa, die dem Rassenwahn der Nationalsozialisten und dem an ihnen systematisch geplanten Völkermord zum Opfer fielen. Sie wurden ermordet ohne die geringste Schuld. Sie waren Opfer uralter Vorurteile. Sie waren Opfer von kaltem Hass und tödlicher Feindschaft.

Zur Erinnerung an die Vernichtung von Roma und Sinti in Europa durch die Nationalsozialisten stehen die Namen der Konzentrationslager und Vernichtungsstätten Auschwitz, Majdanek, Treblinka, Chelmno und Litzmannstadt/Lodz in Polen, Stutthof bei Danzig, Groß-Rosen in Schlesien, Ravensbrück, Sachsenhausen und Buchenwald, Theresienstadt in Böhmen, Mauthausen und Lackenbach in Österreich, Dachau, Bergen-Belsen und Neuengamme; stehen etwa die Namen Natzweiler-Struthof und Montreuil in Frankreich, Jasenovac und Zemun-Belgrad im ehemaligen Jugoslawien und das Massaker von Babi Jar bei Kiew in der Ukraine.

Der grausame Völkermord an den Sinti und Roma darf und soll nie vergessen werden. Besonders jüngere Menschen müssen die Chance haben, die Geschichte und die Kultur der Sinti und Roma kennen zu lernen, damit sie verstehen: Sinti und Roma sind keine Fremden. Sie gehören zu Deutschland und sie gehören zu Europa.

Für mich gibt es Zeichen der Zuversicht: In Schleswig-Holstein versammelt sich seit einigen Jahren am 16. Mai eine kleine Gruppe von Menschen. Sie sprechen miteinander, hören Musik, legen Blumen nieder. Sie erinnern damit an den Tag des Jahres 1940, an dem der größte Teil der bei uns in Schleswig-Holstein lebenden Sinti und Roma deportiert wurde. Diese Deportation war der Beginn eines Martyriums für die Menschen: KZ-Haft, Hunger, Krankheit, medizinische Experimente und Zwangsarbeit. In vielen Fällen endete es erst mit dem Tod oder es war der Auftakt zur fabrikmäßigen Vernichtung in der Gaskammer.

Nicht alle Zahlen sind bekannt, aber sicher ist, dass es 105 der 141 in Kiel festgestellten Sinti und Roma waren, die an diesem Tag verschleppt wurden, 64 aus Lübeck, 50 aus Neumünster, 50 aus Flensburg, zehn aus Oldenburg und vier aus Rendsburg. An einem bescheidenen und doch eindringlichen Gedenkstein mitten in der Landeshauptstadt Kiel verneigen sich die Menschen am 16. Mai vor den schleswig-holsteinischen Opfern der nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Sinti und Roma.

Der Völkermord an den Sinti und Roma darf und soll nicht vergessen werden. Und deshalb ist auch das zentrale Mahnmal in Berlin so wichtig, das hier in unserer Bundeshauptstadt errichtet werden soll. Es ist schade, dass die Frage der Inschrift bisher nicht geklärt werden konnte. Es ist wichtig, dass dieses Mahnmal errichtet wird, um so an das Leid der vielen Menschen zu erinnern, die erbarmungslos vernichtet wurden, weil sie dem nationalsozialistischen Rassenwahn zum Opfer fielen. Ich weiß, dass die Realisierung noch schwierige Fragen aufwirft. Und ich kann nur ahnen, welche Schmerzen manch einer empfindet, wenn er Antworten geben soll auf Fragen, die mit dem Mahnmal und seiner Inschrift verbunden sind. Ich wünsche mir aber, dass es bald gelingen möge, das würdige Werk zu vollenden. Und deshalb wünsche ich denjenigen, die sich noch Sorgen machen, die Kraft und den Mut zu einer Geste der Versöhnung. Jeder Tag, den das Mahnmal früher fertig wird, ist auch für die Überlebenden ein guter Tag.

Wir müssen der Wahrheit ins Gesicht sehen und doch reicht es nicht, nur zurückzublicken. Wie viele Menschen wissen heute, dass Sinti und Roma seit mehr als tausend Jahren in Europa leben? In Schleswig-Holstein sind sie eine traditionell beheimatete Minderheit: Ihre erste urkundliche Erwähnung ist aus dem Jahre 1417 überliefert. Wer weiß, welche Berufe sie ausgeübt haben? Wer kennt ihre kulturellen Traditionen? Wer würdigt ihren Beitrag zu unserer Kultur? Wer kennt den Klang ihrer Sprache? Ich bin dem in Lübeck arbeitenden Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Günter Grass sehr dankbar dafür, dass er eine "Stiftung zugunsten des Romavolkes" gegründet hat. Zweck der Stiftung ist es laut Satzung, "das Verständnis für die Eigenarten des Romavolkes zu fördern und über seine kulturelle und soziale Lage in Geschichte und Gegenwart aufzuklären". Ich meine: Diese Aufgabenstellung ist verdienstvoll. Und sie ist auch nötig:

DDie Stärke unserer demokratischen Gesellschaft - einer Gesellschaft, in der die Mehrheit entscheidet - zeigt sich ja gerade darin, wie sie mit den Minderheiten umgeht, die in der Gesellschaft leben! Die Sinti und Roma deutscher Staatsangehörigkeit sind deutsche Bürgerinnen und Bürger mit eigenen Gebräuchen, Sitten und kulturellen Traditionen, die niemanden bedrohen und gegen deren Tolerierung es kein Argument gibt. Philomena Franz hat gesagt: "Die Wahrheit ist schmerzlich, aber nur mit ihr können wir unser Glück aufbauen!" In diesem Sinne wollen wir uns unserer Geschichte stellen und in einer Schweigeminute den Menschen gedenken, die dem nationalsozialistischen Völkermord an den deutschen und europäischen Sinti und Roma zum Opfer gefallen sind.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.