Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 01-02 / 02.01.2006
Matthias Reiche

"Hay que sobrevivir - man muss überleben"

Ein amibalentes Verhältnis: Fidel Castro und die Kubaner

Höflich und wahlweise in Spanisch oder Englisch spricht das Mädchen in Havannas Altstadt die Touristen an. Ihr Kind liege im nahen Krankenhaus und sie bräuchte für den Kleinen dringend etwas Milchpulver. Damit nicht der Verdacht aufkomme, sie sei eine Betrügerin, wäre ihr lieb, wenn es der hilfsbereite Ausländer mit ihr gemeinsam im nahen Laden kaufen könnte. Später bringt sie dann das Milchpulver dorthin zurück und bekommt vom Händler drei konvertible Pesos, etwas mehr als die Hälfte des Preises, ausbezahlt.

"Hay que sobrevivir - man muss überleben", so heißt die Devise im Tropensozialismus. Deshalb versucht jeder auf die eine oder andere Art an "Chavitos" zu kommen, wie der Devisenpeso im Volksmund heißt. So arbeiten Ärzte oder Chemiker als Taxifahrer oder Kofferträger, weil sie mit einigen Chavitos Trinkgeld deutlich mehr verdienen als in ihrem Beruf. In den von Touristen frequentierten Orten gibt es Legionen selbst ernannter Parkwächter und Stadtführer. Trotz drakonischer Strafen sind auch korrupte Polizisten heute keine Einzelfälle mehr und wenn es Nacht wird, kommen die "Gineteras", Mädchen mit losen Sitten und der Hoffnung, dem alltäglichen Mangel zu entkommen. Der bestimmt inzwischen das Leben vieler Kubaner. Denn die "Libretta", der monatliche Lebensmittelgutschein, reicht gerade für zwei Wochen. In den Geschäften kann man nur mit Devisen einkaufen, doch die Löhne werden in kubanischen Pesos gezahlt. Für 24 erhält man in den staatlichen Wechselstuben einen so genannten konvertiblen Peso. Ein durchschnittlicher Monatslohn entspricht danach rund 15 Euro, die Mindestrente gerade 8 Euro.

Verschärft hat sich die Situation noch durch drastische Preissteigerungen, nachdem Staatschef Fidel Castro vor einem Jahr den 1994 als offizielles Zahlungsmittel eingeführten Dollar wieder abschaffte. Seitdem kann niemand mehr auf Kuba mit der US-Währung bezahlen, die nur noch mit einem Strafabschlag von 18 Prozent in Devisenpesos umgetauscht wird. Das trifft viele Kubaner hart. Denn für fast jede zweite Familie sind die Geldüberweisungen ihrer Angehörigen in den USA überlebenswichtig. Verständlich, dass die Zahl der Unzufriedenen wächst und längst nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand über die hohen Preise, die ständigen "Apagones" - stundenlange Stromabschaltungen - oder das miserable Telefonsystem geschimpft wird.

Doch mit einer Mischung aus gewohnter Repression, neuer Flexibilität und seiner legendären Überzeugungskraft hält Fidel Castro die Zügel weiter fest in der Hand. Unterstützung kommt dabei vor allem aus Venezuela, wo Präsident Hugo Chaves sein Vorbild Fidel Castro großzügig mit Erdöl und Geld versorgt, während im Gegenzug etwa 15.000 kubanische Ärzte in Venezuela arbeiten. Daneben engagiert sich auf der Insel auch China immer stärker, das vor allem am kubanischen Nickel interessiert ist. Vorbei sind auch die Zeiten, da man in Lateinamerika den Export des sozialistischen Gedankengutes fürchtete und Kuba unter Quarantäne stellte. Vor allem die in jüngster Vergangenheit in vielen Ländern an die Macht gekommenen links orientierten globalisierungskritischen Regierungen sympathisieren heute offen mit der kubanischen Regierung, was wie beabsichtigt die US-Regierung verärgert. Die versucht ständig, dem "Comandante" die Daumenschrauben fester anzuziehen und liefert so der Führung in Havanna immer wieder den Vorwand, noch stärker auf Konfrontation zu gehen sowie jeden Regimekritiker als Agenten Washingtons zu verfolgen. Dort wiederum kann man deshalb auf die Menschenrechtsverletzungen verweisen und die starrsinnige Isolationspolitik verschärfen. Genau diese jedoch hält die Diktatur an der Macht, denn sie liefert Fidel Castro die Argumente, die Gefahr einer neuerlichen Übernahme der Insel durch die USA zu beschwören und sich seinen über elf Millionen Landsleuten als Garant der Unabhängigkeit zu präsentieren.

Auch für die miserable Wirtschaftssituation machen viele Kubaner nicht zuerst die Misswirtschaft und Fehler ihrer Regierung verantwortlich, sondern das vor über 40 Jahren verhängte US-Handelsembargo. Dank der Propaganda weiß bereits jedes kubanische Kind, dass in den USA keine Bonbons verkauft werden dürfen, wenn sie kubanischen Zucker enthalten oder dass Kuba nicht Flugzeuge vom Typ Airbus kaufen konnte, weil einige Komponenten in den gewünschten Maschinen auf US-Technologien basieren. Noch gravierender ist, dass nahezu die Hälfte aller Patente für medizinische Präparate US-amerikanisch sind und Kuba deshalb 16 Jahre lang keinen Zugang zu diesen Medikamenten hatte.

Dass die Regierung Bush auch noch die Möglichkeiten der Exilkubaner, nach Kuba zu reisen, drastisch einschränkte, hat Castros Position weiter gestärkt. Selbst in der Exilgemeinde Miamis sehen ihn nicht wenige als den Gralshüter der in jahrzehntelangen Kämpfen geborenen kubanischen Identität. Fidel Castros noch immer nicht verblasstes Charisma wirkt erstaunlich stark auch auf viele junge Kubaner. Die hätten sicher lieber etwas mehr Freiheit und weniger Kontrolle, sehen in dem bald 80-Jährigen jedoch nicht den Verantwortlichen für ihren oft unerträglichen Alltag, sondern den Mann der Kubas Selbstbestimmung gegen die "Yankee-Imperialisten" verteidigt.

Um dies zu verstehen, muss man weit zurück in die Geschichte gehen. Kuba war das letzte lateinamerikanische Land, das die Kolonialherrschaft abschütteln konnte, denn die spanische Krone war entschlossen, um beinah jeden Preis die größte Antilleninsel als Kolonie zu halten. Als es für die Kubaner dann nur noch ein kleiner Schritt zur Unabhängigkeit war, intervenierten die USA und verordneten der Verfassung einen Zusatz der ihnen das Recht einräumte, sich in die inneren Angelegenheiten einzumischen, wann immer sie es für angebracht hielten. Mehr oder weniger deutlich unterstanden alle kubanischen Präsidenten der Kontrolle Washingtons. US-Unternehmer beherrschten nahezu alle kubanischen Bergwerke und großen Landgüter. Sie kontrollierten zwei Drittel der öffentlichen Dienste. 1958 überstiegen die Einnahmen der Standard Oil auf Kuba bei weitem die damalige wirtschaftliche Hilfe der USA für ganz Lateinamerika. Diese demütigende Abhängigkeit endete erst mit dem Sieg der Revolution, mit der Kuba zur Ein-Mann-Show wurde.

Schon der junge Fidel war besessen von der Vorstellung, sich seinen Platz in der Geschichte zu sichern, wie einer seiner Biografen, der US-amerikanische Psychologe Peter Bourne, schrieb. Er attestierte dem "Comandante" rasche Auffassungsgabe, Willenskraft und enormen Ehrgeiz. Bis heute hat das, was Castro für gut und richtig hält, auch gut für Kuba zu sein. Tatsächlich war manches von dem vortrefflich für die Insel. Doch auch sie wurde nicht das von Castro erträumte Utopia. Viele von seinen einstigen Kampfgefährten starben früh oder wandten sich von dem Mann ab, dessen Ego niemanden neben sich duldet.

Castros Privatleben wurde lange Zeit wie ein Staatsgeheimnis gehütet. Zahlreiche Liebschaften und mindestens acht uneheliche Kinder werden ihm nachgesagt. Sicher ist, dass er 35 Jahre mit Dalia Soto del Valle zusammenlebte. Aus dieser Beziehung sollen fünf Söhne hervorgegangen sein, deren Namen alle mit "A" beginnen. Verheiratet war er allerdings nur einmal - mit seiner Studienfreundin Mirta, die ihn jedoch schon 1954 verlies und nach Spanien ging.

Der gemeinsame Sohn Fidelito hatte es bis zum Chef der kubanischen Atomenergiebehörde gebracht, wurde aber 1992 von seinem Vater wegen Unfähigkeit abgesetzt. Castros Lieblingskind soll Tochter Alina gewesen sein, bis sie Ende 1993 mit Perücke und falschem Pass aus Kuba floh. Inzwischen Anfang 50, lebt das einstige Model heute in Miami und gehört, so wie auch Castros Schwester Juana, zu den schärfsten Kritikern des kubanischen "Máximo Líders". Dessen Gegner haben sich in eine Art biologischen Fatalismus geflüchtet, weil vermutlich erst Fidel Castros Tod Veränderungen auf der Insel bringt. Diesen sehen die meisten Kubaner mit einer Mischung aus Hoffnung und Furcht entgegen. Seit seinem ersten öffentlichen Zusammenbruch im Juni 2001 reißen die Spekulationen um den Gesundheitszustand des Altrevolutionärs nicht mehr ab. Der allerdings nimmt es gelassen: "So oft wie man mich schon totgesagt hat, wird es wahrscheinlich niemand glauben, wenn es dann soweit ist."


Der Autor ist Hörfunkjournalist beim MDR und war von 2000 bis 2005 ARD-Korrespondent für Mexiko, Mittelamerika, die Karibik und das nördliche Südamerika.


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