Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 01-02 / 02.01.2006
Barbara Minderjahn

Medizin fürs Volk

Vorzeigeobjekt: Kubas Gen- und Biotechnologie
Cubanacan, am westlichen Stadtrand von Havanna gelegen, ist anders als man sich den Standort eines Pharmaunternehmens vorstellen würde. Glanzlose und bisweilen sogar schäbige Industriegebäude prägen die Gegend. Repräsentieren kann man hier nicht. Und doch befindet sich hier das pharmakologische Herz Kubas: das Zentrum für Gen- und Biotechnologie. "Wir haben es geschafft, einen eigenen Hepatitis-A und -B Impfstoff zu entwickeln," erzählt der Direktor der Entwicklungsabteilung Dr. Eduardo Martínez Díaz voller Stolz, "und derzeit arbeiten wir auch an einem Impfstoff gegen Hepatitis C, D und gegen Dengue-Fieber. Den Wirkstoff gegen Hepatitis C und gegen Dengue Fieber werden wir demnächst sogar schon in klinischen Studien testen."

Die Sensation, die sich hinter diesen Worten verbirgt, ist für medizinische Laien zunächst nicht besonders ersichtlich, zumal wenn sie Europäer sind. Gegen Hepatitis C, D und Dengue-Fieber kann man sich noch nicht immunisieren lassen. Sich gegen Hepatitis A und B impfen zu lassen, ist in den reichen Industrienationen des Westens jedoch kein Problem. Doch Impfstoffe sind teuer und Kuba ein armes Land. Bevor die Forscher eigene Mittel gegen Hepatitis und andere Krankheiten entwickelt hatten, sind Kinder oft an Hepatitis, Lungen- oder Gehirnhautentzündung gestorben. Mittlerweile besitzt Kuba die geringste Kindersterblichkeitsrate der Welt.

"Ich weiß noch genau, wie alles anfing", sagt der Direktor der Abteilung für klinische Studien Dr. Pedro López Saura. "1980 war eine Delegation von Medizinern aus den USA, aus Texas, hier. Sie haben unserem Präsidenten Fidel Castro von Interferon erzählt." Das ist ein Medikament, das unter anderem bei der Krebstherapie eingesetzt wird. "Damals hatten die Wissenschaftler den Wirkstoff gerade erst entwickelt, man konnte ihn noch nirgendwo kaufen. Nach dem Gespräch rief unser Präsident einige Wissenschaftler zusammen, darunter auch mich, und beauftragte sie, mehr über das neue Medikament herauszufinden."

Die bio- und gentechnische Forschung steckte zu der Zeit weltweit noch in den Anfängen. Auf Kuba gab es sie noch gar nicht. Die kubanischen Wissenschaftler, die bisher an verschiedenen Instituten gearbeitet hatten, flogen nach Helsinki zu einem anerkannten Kollegen. "Alles was er damals über Interferon wusste, hat er uns beigebracht. Und wir haben mit diesem Wissen weitergemacht", sagt Pedro Saura.

Wunsch nach Unabhängigkeit

Fidel Castro hat sich durch die amerikanische Begeisterung für den neuen Forschungsbereich anstecken lassen. Aber der Grund dafür, warum er den Bereich so erfolgreich weiter entwickelt hat, war auch der Wunsch nach Unabhängigkeit von den Vereinigten Staaten. Die US-Regierung boykottiert seit Jahrzehnten die kubanische Wirtschaft. Zwar sind medizinische und humanitäre Güter von dem Embargo ausgenommen. Doch die nordamerikanischen Pharmakonzerne gehören zu den mächtigsten der Welt, und deren Einfluss wollte sich der eigensinnige Revolutionär so wenig wie möglich aussetzen. "Wenn wir die Medikamente nicht selber herstellen könnten, müssten wir alles für viel Geld von ausländischen Firmen kaufen", erklärt Eduardo Díaz. "Dann könnten wir uns aber kein so gutes Gesundheitssystem leisten, wie wir es jetzt haben. Seit fünf Jahren ist bei uns kein Baby mehr an Hepatitis B gestorben. Wir sind das einzige Unternehmen in Lateinamerika, das den Wirkstoff produziert."

Die Geschichte der kubanischen Biotechnologie liest sich wie ein revolutionärer Propagandaroman: Die politischen Führer des kleinen sozialistischen Entwicklungslandes Kuba entdecken eine neue vielversprechende Wissenschaft, die helfen könnte, die Bevölkerung von Armut und Krankheit zu befreien. Weil Fidel Castro die damit verbundene soziale Chance erkennt, engagiert er sich persönlich, ruft Wissenschaftler zusammen und fördert sie, so gut wie er kann. Pedro López Saura erklärt: "Unser Präsident hat schon immer viel Wert auf die Forschung und die Wissenschaften gelegt. Schon 1960, kurz nach der Revolution, hat Fidel gesagt: Die Zukunft von Kuba liegt in den Händen unserer Wissenschaftler! Und das haben wir auch gespürt. Selbst Anfang der 90er-Jahre, als es unserer Wirtschaft so schlecht ging, hat er die Biotechnologie noch mit rund 1,5 Millionen Dollar im Jahr unterstützt." Die neue Technologie hatte innerhalb von wenigen Jahren durchschlagenden Erfolg. Die Wissenschaftler entdeckten neue Medikamente, die nicht nur der kubanischen Bevölkerung neue Überlebenschancen bringen, sondern auch anderen Entwick-lungsländern neue Hoffnung geben.

Das klingt zu gut, um wahr zu sein. Doch Wissenschaftler aus aller Welt erkennen die Erfolge, die die sozialistische Insel im Bereich der Biotechnologie erreicht hat, mittlerweile an. So haben die Kubaner nicht nur zahlreiche Nachahmerprodukte entwickelt, sondern auch vollkommen eigene und einzigartige Wirkstoffe.

Ende der 70er-Jahre beispielsweise brach auf Kuba eine Meningitisepidemie aus, die mit den bisherigen Impfmitteln nicht zu stoppen gewesen wäre. Die Epidemie drohte alle Erfolge, die das sozialistische Land im Kampf gegen die Kindersterblichkeit bis dahin errungen hatte, zu gefährden. Die Regierung rief daraufhin eine interdisziplinäre, institutsübergreifende Forschergruppe zusammen und gab ihr den Auftrag, einen neuen Impfstoff zu entwickeln. Es gelang ihnen 1985. Das Mittel war das erste seiner Art. Auch der weltweit erste Impfstoff mit einem synthetischen Antigen bei Haemophilus influenza Typ B stammt aus Kuba.

In den letzten Jahren waren die sozialistischen Forscher besonders innovativ. Laut einer Studie des Europäischen Patentamts in München haben die Kubaner mittlerweile rund 500 Patente auf biotechnische Produkte beantragt. Der Meningitis-Impfstoff hält beispielweise auch ein Patent in den USA.

Nicht nur die kubanische Biotechnologie, sondern auch deren Akteure, sind im Kollegenkreis mittlerweile international bekannt. Pedro A. Lopez Saura ist 57 Jahre alt, sein Kollege Eduardo Martines Diaz erst 37. Im Ausland hätte zumindest der jüngere von beiden noch gute Chancen, mit dem Wissen, das er sich auf Kuba angeeignet hat, reich zu werden. Bevor er an das Institut ging, war Eduardo einer von Pedro Sauras besten Studenten. Jedes Pharmaunternehmen in Europa, Kanada oder den USA würde ihn sofort einstellen. Statt dessen wohnen beide Wissenschaftler mit ihren Familien gleich neben dem Institut, in einer der Wohnungen, die der Staat für die Mitarbeiter reserviert hat.

Die Wohnung und auch das Gehalt der beiden sind besser als die eines normalen kubanischen Arbeiters: rund 20 Dollar im Monat - viel ist es aber auch für kubanische Verhältnisse nicht. "Geld ist nicht alles", sagt Eduardo Díaz, "das, was wir bekommen, ist nicht viel, aber es reicht, um davon zu leben. Leider denken viele Menschen heutzutage zu sehr über materielle Dinge nach."

Einer der Gründe, warum es den Wissenschaftler nicht ganz so schwer fallen mag, auf Reichtum und materielle Werte zu verzichten, ist der Status, den ihnen die Mitarbeit in dem prestigeträchtigen Institut gibt. "Mit den bescheidenen Mitteln, die der kubanische Staat hat, haben wir 1981 angefangen, uns mit Biotechnologie zu beschäftigen. Damals gab es auf diesem Gebiet ja nur die Giganten. Stellen Sie sich mal vor, welches große Vertrauen unsere Regierung damals in uns Forscher gesetzt hat."

Auch der medizinische Ethos mag eine große Rolle spielen. Gerade in dem Entwicklungsland Kuba spüren die Wissenschaftler noch, dass sie Menschen mit ihrer Forschung helfen, zumal sie nicht abgeschottet im Elfenbeinturm der Gelehrten vor sich hin leben. Anders als bei vielen Pharmaunternehmen, beschäftigen sich die Wissenschaftler am Institut für Gen- und Biotechnologie sowohl mit der Grundlagenforschung, der Produktion, als auch der medizinischen Anwendung der Arzneimittel. Saura und Diaz kommen also auch mit den Patienten in Kontakt.

Das System, alle drei Bereiche unter einem Dach zu vereinen, ist darüber hinaus eine wichtige kubanische Besonderheit und erklärt auch den Erfolg der Biotechnologie. So hört andernorts die Grundlagenforschung in der Regel spätestens dort auf, wo die Produktion und die klinische Anwendung beginnt. Auf Kuba dagegen begleiten die Wissenschaftler den kompletten Entwicklungszyklus eines Medikaments. Dadurch erhalten sie mehr Informationen und können den Wirkstoff auch dann noch weiter verbessern, wenn die Entwicklung eigentlich schon abgeschlossen ist. Für die Forscher selbst ist es etwas besonderes, unter solchen guten Bedingungen arbeiten zu können, und auch das ist eine Motivation.

Die Biotechnologie ist jedenfalls ein Beispiel, dass der Sozialismus, der oftmals menschenverachtende Auswüchse gebiert, auch positive Seiten haben kann. Die staatliche Macht und Kontrolle hat viel dazu beigetragen, dass der Bereich so gut funktioniert. So hat Fidel Castro der Forschergruppe von Anfang an enge Ziele gesetzt und sie dazu gezwungen, fachübergreifend und ohne Konkurrenzdenken zusammenarbeiten. Er hat die Wissenschaft mit dem Staatsapparat vernetzt und dem Bereich eine hohe Priorität eingeräumt. Das heißt, die Forscher können die üblicherweise langwierigen bürokratischen Hürden überspringen. Sie bekommen, was sie brauchen - schnell und effizient. Besonders bei klinischen Studien schlägt sich das nieder. Die Regierung ruft die Bevölkerung auf, die Projekte zu unterstützen. Und was der Staat sagt, ist mehr als Gesetz.

Finanziell ist das Zentrum für Gen- und Biotechnologie heute kaum noch auf den Staat angewiesen. Kuba exportiert seine Biotechnologieprodukte mittlerweile in über 50 Länder. Möglicherweise sind sogar neue Exportschlager wie ein therapeutischer Aidsimpfstoff in Sicht.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.