Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 01-02 / 02.01.2006
Martin Wagner

Stimmlos in der Steuerfreiheit

Puerto Rico: Assoziiert mit den USA

Moderne Kreuzfahrer haben es leicht, in die Vergangenheit von Puerto Rico einzutauchen und dabei gleichzeitig einen Blick auf die Gegenwart zu werfen. Vom großen modernen Hafen aus, der ein beliebter Ausgangs- oder Endpunkt von Karibikkreuzfahrten ist, dauert die Taxifahrt in das historische Viertel der Hauptstadt San Juan nicht lange. Der moderne Teil der Stadt ist nicht hübscher oder hässlicher als amerikanische Städte. In Old San Juan dann ist das Gefühl unvermeidlich, sich nicht mehr in den USA zu befinden, besonders, wenn man nach einem Spaziergang auf gepflasterten Straßen im Innenhof eines von dicken Mauern umgebenen Lokals einen kühlen Drink zu sich nimmt. Rund 400 Jahre lang, von der Entdeckung durch Christoph Kolumbus im Jahr 1493 bis 1898, waren die Spanier Herrscher auf Puerto Rico und haben ihre Spuren hinterlassen. Nicht nur architektonisch, wie die beiden Festungen El Morro und San Cristobal am Rande von Old San Juan zeigen, sondern auch im Hinblick auf die Bevölkerung: Als die spanische Herrschaft endete, war die einheimische indianische Bevölkerung nahezu ausgerottet, dafür hatten die Spanier schwarze Sklaven aus Afrika nach Puerto Rico gebracht.

Die amerikanische Herrschaft begann mit dem Ende des spanisch-amerikanischen Krieges 1898 und brachte den Puerto Ricanern 1917 die US-Bürgerschaft. Seit 1952 kann Puerto Rico, das mit ein paar umliegenden Inseln etwa halb so groß ist wie der Freistaat Sachsen und ungefähr doppelt so groß wie der kleinste US-Bundesstaat Rhode Island, im Juli zwei Feiertage begehen: Am 4. Juli den Nationalfeiertag der Vereinigten Staaten, mit denen Puerto Rico assoziiert ist, und am 25. Juli den Verfassungstag, der daran erinnert, dass die Insel zwar eine eigene Verfassung, aber keine wirkliche Unabhängigkeit hat.

Diese beiden Daten machen den Zwitterstatus von Puerto Rico ebenso deutlich wie die Tatsache, dass die knapp vier Millionen Puerto Ricaner Bürger der USA sind, aber bei Wahlen nicht ihre Stimme abgeben dürfen. Dafür stellen sie immerhin einen Abgeordneten im Repräsentantenhaus des amerikanischen Kongresses, der aber wiederum - warum sollte es ihm besser gehen als denen, die er vertritt - kein Stimmrecht hat.

Wer auf Puerto Rico lebt, muss keine Bundessteuern an Washington entrichten, darf aber auch nicht mit den Leistungen rechnen, die allen anderen Bürgern der USA zustehen.

Das schwierige Verhältnis zu den USA wurde erst am 23. September 2005 bei einem tödlichen Zwischenfall deutlich: An diesem Tag ist Filiberto Ojeda Rios in seinem Haus von FBI-Agenten erschossen worden. Der 72-Jährige war ein militanter Kämpfer für die Unabhängigkeit von Puerto Rico.

Obwohl die Mehrheit der Puerto Ricaner nicht so radikal ist wie Ojeda Rios, der in den USA wegen des Überfalls auf ein Gelddepot und bewaffneter Angriffe in Abwesenheit zu 55 Jahren Gefängnis verurteilt worden war, empfanden viele seinen gewaltsamen Tod als Schock. Zumal die FBI-Agenten ihren Zugriff auf Ojeda Rios am Jahrestag des Aufstandes gegen die Spanier starteten und den angeschossenen Mann in seinem eigenen Haus verbluten ließen. Die Unabhängigkeitsbewegung wird deswegen zwar nicht stärker werden. Bei den Wahlen im November letzten Jahres kam die Unabhängigkeitspartei nur auf etwas mehr als neun Prozent. Doch der gewaltsame Tod des Filiberto Ojeda Rios verstärkte bei vielen Puerto Ricanern das Gefühl, lediglich Bürger zweiter Klasse der Vereinigten Staaten zu sein.

Dass dies mehr als ein Gefühl ist, lässt sich mit Zahlen belegen, die der "Puerto Rico Herald" vor Jahresfrist sorgfältig recherchiert und fein säuberlich aufgelistet hat. Auf einen kurzen Nenner gebracht lautet die Bilanz:

- Der Karibikinsel ist es nicht gelungen, zu den USA wirtschaftlich aufzuschließen;

- Die Armut ist größer als in den USA;

- Die Arbeitslosigkeit ist mit 12,6 Prozent mehr als doppelt so hoch wie im "Mutterland", wenn man die USA so nennen will;

- Der Regierungsapparat dagegen ist in Puerto Rico aufgebläht;

- Puerto Rico erhält weniger Geld aus Washington als jeder Bundesstaat der USA.

Die Assoziierung mit den Vereinigten Staaten war für Puerto Rico von Anfang an mit der Hoffnung verbunden, auf diesem Wege die Lebensverhältnisse für die Bevölkerung zu verbessern und einen Lebensstandard zu erreichen, der mit dem in den USA vergleichbar ist. Anfangs gab es durchaus Anzeichen dafür, dass dies gelingen könnte. 1950 lag das Durchschnittseinkommen für Puerto Ricaner bei 19,6 Prozent eines amerikanischen Einkommens, bis 1976 stieg es immerhin auf 38,4 Prozent. Doch Ende 2003 ist es wieder auf 35,7 Prozent gefallen. Zum Vergleich: In Mississippi, einem der ärmsten Bundesstaaten der USA, werden 74,1 Prozent des amerikanischen Durchschnittseinkommens erreicht. Das bedeutet für Puerto Rico überdurchschnittlich hohe Armut. 1999 lag der Anteil derjenigen, die unter der US-staatlich definierten Armutsgrenze lebten, bei erschreckenden 48,2 Prozent. In Mississippi werden 17,6 Prozent der Bevölkerung offiziell als arm definiert. Wer in Mississippi lebt, kann in diesem Fall mit staatlicher Unterstützung (Supplemental Security Income) rechnen, für arme US-Bürger in Puerto Rico fühlt sich Washington nicht zuständig.

Der größte Arbeitgeber auf Puerto Rico ist die staatliche Verwaltung. Zum Vergleich: In Hawaii beschäftigt der öffentliche Sektor rund zwölf Prozent aller Arbeitnehmer, in Puerto Rico beziehen 31 Prozent aller Beschäftigten Lohn oder Gehalt aus öffentlichen Haushalten. Der überproportional aufgeblähte öffentliche Sektor führt allerdings weder zu einer effektiveren Verwaltung - er ist lediglich ein Arbeitsbeschaffungsprogramm auf Staatskosten -, noch profitiert er von Zuschüssen aus den USA. Im Gegenteil: Aus Washington fließt auf die Karibikinsel weniger Geld als in jeden anderen der 50 US-Bundesstaaten. Gemessen am Bevölkerungsanteil bekommt Puerto Rico nicht einmal die Hälfte dessen, was ein Bundesstaat erhält.

Volksabstimmung über Anschluss

Angesichts dessen ist es nicht verwunderlich, dass es durchaus ernst zu nehmende Bestrebungen gibt, sich den USA vollständig, das heißt mit allen Rechten und Pflichten, anzuschließen. Es ist offensichtlich vielen Puerto Ricanern klar, dass die Lösung ihrer Probleme eher mit den USA als ohne den großen Partner zu erreichen ist; anders lassen sich die Ergebnisse der letzten Volksabstimmung kaum interpretieren. 1998 votierten 46,5 Prozent der Wähler dafür, aus Puerto Rico den 51. Bundesstaat der USA zu machen. Eine knappe Mehrheit von 50,6 Prozent der Bevölkerung sprach sich für den gegenwärtigen Status aus. Nur 2,5 Prozent der Wähler wollten den Schritt in die vollständige Unabhängigkeit wagen.

Der Anschluss an die USA würde unter anderem bedeuten, dass Puerto Rico zwei Senatoren und fünf oder sechs Abgeordnete im Repräsentantenhaus stellt und damit jenen politischen Einfluss gewinnt, den es heute nicht hat. Es würde weiter bedeuten, dass die Bürgerinnen und Bürger der Insel Steuern nach Washington abführen müssten, aber gleichzeitig den gleichen Anspruch auf die Leistungen hätten wie die anderen Bundesstaaten. Ob sich durch den Anschluss an die Vereinigten Staaten auch etwas an Armut und Arbeitslosigkeit ändern würde, ist jedoch offen, denn was auch wegfiele, wären die Steuervorteile, die Puerto Rico für Unternehmen bietet, die auf der Insel produzieren und ihre Produkte dann auf den US-Markt anbieten.

Die Pharma-Industrie hat die Vorzüge eines angenehmen Klimas - die Durchschnittstemperatur in San Juan liegt bei 26 Grad Celsius - und unternehmerfreundlicher Besteuerung bereits entdeckt. Der amerikanische Geheimdienst CIA nennt die Wirtschaft von Puerto Rico in seinem öffentlich zugänglichen "World Factbook" eine der dynamischsten in der Karibik. Das Lob verwundert nicht, ist es doch mit dem Hinweis verbunden, dass amerikanische Firmen in großem Umfang auf der Insel investiert haben - zu ihrem Vorteil, aber mit wenig spürbaren Folgen für den Arbeitsmarkt. Es bleibt eben dabei: Puerto Rico profitiert von der Nähe und den besonderen Beziehungen zu den USA und kann sich deshalb nicht aus der Abhängigkeit befreien - auch wenn darüber immer wieder öffentlich nachgedacht wird.


Martin Wagner arbeitet als USA-Korrespondet für den Bayerischen Rundfunk in Washington.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.