Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 01-02 / 02.01.2006
Tobias Käufer

Go for Gold!

Hochleistungssport als sozialer Aufstieg / Von Tobias Käufer
Der Puls raste, das Herz pochte vor Nervosität, und doch hat es Grace Yorke nicht mehr vor den Fernseher geschafft: Als ihr Sohn Dwight, seines Zeichens Kapitän der Fußball-Nationalmannschaft Trinidad und Tobagos, mit seinen Kollegen im fernen Bahrain vor wenigen Wochen die erste Weltmeisterschafts-Teilnahme des kleinen Karibikstaates perfekt machte, hütete Mutter Grace das Bett: Bluthochdruck. Der Stress war einfach zu groß, um "live" dabei zu sein, als ihr Filius Fußballgeschichte schrieb, Trinidad und Tobago zur WM nach Deutschland führte und die ganze Inselgruppe in einen nationalen Freudentaumel versetzte.

Die "Soca Warriors" (Fußball-Krieger), wie die Kicker Trinidad und Tobagos auch genannt werden, haben einen Traum wahr werden lassen, den viele Kids aus den Armenvierteln der Insel träumen - mit Fußball reich und berühmt werden. Das ganze Land feierte eine große Party, die Kicker mutierten zu Nationalhelden und wollen nun in Deutschland weiter für Furore sorgen. Trinidad und Tobago - die Venezuela vorgelagerte Inselgruppe - ist plötzlich wer auf der Fußball-Landkarte. Sollte den Kickern aus der Karibik bei der WM auch noch ein weiterer Überraschungscoup gelingen, dann macht auch der eigene Marktwert einen großen Satz nach vorn.

Eben dieser Dwight Yorke ist so etwas wie ein Paradebeispiel dafür, wie der soziale Aufstieg mit Hilfe des Sports gelingen kann: Der Mann, der auszog, um die Fußballwelt - und später auch noch wegen einiger "Skandälchen" abseits des Platzes mit Model Katie Price den Blätterwald - zu erobern, stürmte Ende der 90er-Jahre im großen und erfolgreichen Team von Manchester United, ehe er über den Umweg Black-burn Rovers und Birmingham City zum FC Sydney nach Australien wechselte. Finanzielle Sorgen muss sich Dwight Yorke keine mehr machen. Der mittlerweile 33 Jahre alte Stürmer hat nach über 15 Jahren Profifußball ausgesorgt.

Entdeckt wurde der in Caanan auf Tobago geborene Stürmer vom englischen Trainer Graham Taylor bei einer Tour durch die Karibik. Mit acht Geschwistern aufgewachsen, verdiente Yorke bis dahin vor allem mit Krabbenfischen ein paar Cent für die Haushaltskasse der Familie dazu. Für vergleichsweise bescheidene 120.000 englische Pfund unterschrieb der Angreifer, der aus ärmlichen Verhältnissen stammt, einen Vertrag bei Aston Villa und verließ seine Amateurmannschaft auf Tobago. Rund acht Jahre und etliche Tore in der englischen Premier League später, war der Wert des Vollblutstürmers auf fast 20 Millionen Euro gestiegen. Für diesen Betrag und ausgestattet mit einem Traumvertrag heuerte Yorke 1998 bei Manchester United an. Seinen größten Triumph feierte Yorke 1999 im legendären Champions-League-Finale von Barcelona, als Manchester United gegen Bayern München mit 2:1 gewann.

Noch heute tragen zahlreiche Kids beim Straßen- oder Strandfußball das legendäre "ManU"-Trikot Yorkes. Kaum ein Junge, der nicht davon träumt, es dem berühmten Idol, nach dem mittlerweile sogar ein Stadion benannt ist, gleichzutun und eines Tages reich und berühmt nach Trinidad und Tobago zurückzukehren. "Ich habe damals nicht wirklich gewusst, was mich erwartet. Ich habe alles auf mich zukommen lassen, die vielen Eindrücke aus einer völlig anderen Welt", blickt Yorke auf den Wechsel nach England im Alter von 18 Jahren zurück.

Im Team der erfolgreichen karibischen Kicker stehen noch einige andere Spieler, die es geschafft haben, aus der wenig professionellen Amateurliga des Landes in die großen europäischen Spielklassen aufzusteigen, wo das große Geld verdient wird. Stern John beispielsweise kickt für einen englischen Zweitligisten: Der Sturmpartner Yorkes wird dort nicht die Reichtümer verdienen, wie einst der ManU-Stürmer, doch es reicht, um bei kluger Planung nach der aktiven Karriere ein sorgenfreies Leben führen zu können. Die europäischen Profi-Klubs wiederum schätzen an den Kickern aus der Karibik die richtige Mischung aus Lebensfreude und Ehrgeiz, der nicht zuletzt aus der oft einfachen Herkunft der Spieler entspringt.

Auch die Geschichte Kim Collins' ist eine Geschichte vom sozialen Aufstieg eines Athleten aus einem Teil des Erdballs, der bislang keine große Lobby in der Welt des Spitzensports hatte. Es war ein lauer Sommertag Ende August 2003, als bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Paris im Kreis der anwesenden Journalisten immer wieder eine Frage gestellt wurde: "Wo liegt denn das?" Soeben war Collins in 10,07 Sekunden neuer Sprint-Weltmeister über 100 Meter geworden und hatte die Phalanx der schier übermächtig erscheinenden US-Amerikaner durchbrochen.

Collins stammt von der kleinen Insel St. Kitts & Nevis, einer Inselgruppe der Kleinen Antillen in der Karibik, die bis dahin gerade einmal ein paar Insidern bekannt war. Collins, der zehn Geschwister hat, beschrieb anschließend der neugierigen internationalen Presse seine Motivation, sich im Spitzensport zu engagieren: Mit der Leichtathletik habe er begonnen, "um die Mädels zu beeindrucken". Das funktioniere in seiner Heimat eben nur mit dem notwendigen Kleingeld oder wenn man ein erfolgreicher Sportler sei, erzählte der mit der begehrtesten Goldmedaille der Leichtathletik auszeichnete Inselsprinter mit einem spitzbübischen Grinsen.

Neben der staatlichen Siegprämie von 60.000 Dollar kassierte Collins in der Folgezeit ansehnliche Startgelder bei den internationalen Leichtathletik-Meetings und avancierte dabei zum Symbol dafür, dass auch Sportler kleinerer Staaten den großen Leichtathletik-Nationen wie den USA, Großbritannien oder Frankreich im wahrsten Sinne davonlaufen können. In seiner Heimat St. Kitts & Nevis katapultierte sich Collins in den beschriebenen 10,07 Sekunden vom August 2003 in die Geschichtsbücher. Die Schüler eifern ihrem Idol, der in den USA studiert, aber seine Wurzeln nie vergaß, mit Begeisterung nach. In den Pausen werden Sprints geübt, jeder will Kim Collins sein. Sogar eine Straße ist nach ihm benannt.

Es ist vor allem die Leichtathletik, die vielen talentierten Sportlern aus der Karibik die Tür in eine finanziell abgesicherte Zukunft öffnet, wenngleich nur ein Bruchteil derer, die vom großen Geld träumen, auch tatsächlich den Sprung nach ganz oben schafft. Jamaikas Sprint-Idol Merlene Ottey, die selbst im hohen Alter von 45 Jahren noch an den Start ging, ist dafür ein Beleg. Die attraktive Athletin hatte früh erkannt, dass mit Beginn ihrer Karriere Anfang der 80er-Jahre auch die Professionalisierung und die Kommerzialisierung der Leichtathletik begann. Die Sprinterin bastelte an ihrem Image und neben diversen Prämien bei den Großereignissen, kassierte Ottey vor allem durch Werbeverträge Summen, die allein durch den Sport nie zu realisieren gewesen wären. Ottey war eine der ersten weltweit vermarkteten Sportlerinnen aus der Karibik, obwohl ihr nie der ganz große Wurf - sprich eine Goldmedaille bei einer Weltmeisterschaft oder Olympischen Spielen - gelang. Ihr exotisches Flair half den Werbestrategen beim Aufbau und der Realisierung der erfolgreichen Marketingstrategien.

Auch für die Talente, die nicht zu den Ausnahmesportlern wie Merlene Ottey zählen, bietet die Leichtathletik die Chance, einen Ausweg aus der Armutsfalle zu finden. Es sind die US-Universitäten, die mit Stipendien oder anderen Vergünstigungen Talente in die USA holen und so an sich binden. Der US-interne Konkurrenzkampf der Bildungseinrichtungen macht dies möglich.

Für die jungen Sportlerinnen und Sportler heißt dies: Auch wenn nicht der ganz große Wurf gelingt, so kann mit Hilfe eines über den Sport realisierten und finanzierten US-Studiums die Grundlage für ein finanziell besser gestelltes Leben nach der Sport-Karriere geschaffen werden. Kaum ein WM-Teilnehmer aus Barbados, von den Bahamas oder aus Jamaika, der nicht in den USA studiert oder zumindest an einer der Universitäten in den Vereinigten Staaten eingeschrieben ist, um dort unter professionellen Bedingungen zu trainieren.

Der Traum vom sozialen Aufstieg über den Sport lässt deshalb auch neue Formen der Sportausbildung in den Karibikstaaten erkennen: Der Trend geht beispielsweise hin zu Fußballschulen, die gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Die meistens aus Europa finanzierten Einrichtungen bündeln die Talente der jeweiligen Region an einem bestimmten Platz, sodass die Talentspäher für den europäischen Markt einen besseren Überblick über das vorhandene Potenzial des gesamten Gebietes haben. Zum anderen erhalten die Talente bereits in frühen Jahren eine grundlegende fußballtaktische Ausbildung, die im späteren Verlauf ihrer Karriere im Profifußball unverzichtbar ist. Die Art dieser Professionalisierung hat allerdings auch ihre Schattenseiten: Kritiker sprechen von einer modernen Form des Menschenhandels, wenn vor allem Jugendliche und Kinder aus den ärmsten Regionen der Welt zu Talenten ausgebildet werden, um dubiosen Spielerberatern als lukrative Anlageobjekte zu dienen.

Vielleicht wäre Ato Boldon, vierfacher Medaillengewinner bei Olympischen Spielen, viel früher entdeckt worden, hätte es in seiner Heimat Trinidad und Tobago ein solches Netz an Sportschulen und Leistungszentren schon früher gegeben: So war es erst der Leichtathletik-Cheftrainer seiner High School in New York, der den ausgewanderten, damals 15 Jahre alten Modellathleten beim Footballspielen für die Leichtathletik entdeckte. Im Alter von 14 Jahren war Boldon mit seiner Familie in die USA ausgewandert, weil seine Eltern dort eine bessere berufliche Perspektive erhofften.

Oft fehlen aber auch heute noch in der Karibikregion ausgebildete Trainer, die das Potenzial ihrer Schützlinge auch tatsächlich erkennen, ganz zu Schweigen von den modernen Sportanlagen, wie sie in den aufgerüsteten Trainingskomplexen der US-Universitäten zu finden sind. Letztendlich gilt quer durch alle Sportarten: Wer ganz nach oben will, muss seine Heimat verlassen, um unter professionellen Bedingungen sein Leistungsoptimum zu erreichen.

Ganz anders stellt sich die Situation in Kuba dar: Das Castro-Regime hat sich seit Jahrzehnten die gezielte Förderung des Spitzensports auf seine Fahnen geschrieben, in erster Linie um das eigene System als fortschrittlich und überlegen darzustellen. Kuba "produziert" seit vielen Jahrzehnten Olympiasieger im Boxen oder in der Leichtathletik: Insgesamt 58 Gold-, Silber- oder Bronzemedaillen allein bei den Sommerspielen 2000 in Sydney oder 2004 in Athen stehen für die Effektivität des kubanischen Systems, in dem die Medaillengewinner auch materiell von ihren Erfolgen profitieren. Allerdings bleibt vielen kubanischen Sportlern die Chance verwehrt, ihre zweifellos vorhandenen exzellenten sportlichen Fähigkeiten auch kommerziell auszunutzen. Nur die ganz großen Sportstars wie einst Hochsprung-Weltrekordler Javier Sotomayor konnte seine Leistungen auch versilbern. Für viele Boxer aber blieb beispielsweise der Weg in das US-amerikanisch dominierte millionenschwere Box-Business versperrt - aus ideologischen Gründen.


Tobias Käufer arbeitet in Mönchengladbach als Agenturjournalist und freier Publizist mit dem Schwerpunkt Lateinamerika und Karibik.


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