Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 01-02 / 02.01.2006
Jérôme Cholet

"I shot the sheriff"

Jamaika leidet unter Gewalt und Drogenkriminalität
Die drittgrößte der Antilleninseln ist bekannt für Bob Marley, Rastafari und ihre endlos scheinenden Sandstrände. Jährlich kommen rund 2,5 Millionen Touristen in das Land mit der schwarz-gelb-grünen Flagge und bilden damit die wichtigste Einnahmequelle. Doch lernen sie meist nur eine Seite kennen. Dass Jamaika unter massiven sozialen Problemen, Gewalt und Drogenkriminalität leidet, wissen nur die wenigsten. Doch immer häufiger greifen Mord und Totschlag auch auf die Touristenzentren über. Denn seit der Unabhängigkeit der Insel 1962 ist es keiner Regierung gelungen, die Gewalt einzudämmen und vor allem, der jungen jamaikanischen Bevölkerung eine Perspektive für die Zukunft zu bieten.

Auf der Hauptstraße der jamaikanischen Hauptstadt Kingston finden Polizisten zwischen zwei erschossenen Männern ein krabbelndes Baby. In einem entlegenen Bezirk entdecken sie wenig später eine ermordete Frau. Sie war kurz zuvor auf dem Weg vom Flughafen gekidnappt worden. Die Polizisten bringen ihren toten Körper ins Leichenhaus, wo Kollegen gerade den enthaupteten Stumpf eines Mannes einliefern.

Die Zeilen des wohl bekanntesten Liedes des jamaikanischen Sängers und Volkshelden Bob Marley "No woman, no cry", lassen sich angesichts dieser Verhältnisse wohl am treffendsten mit "Nein Frau, weine nicht!" übersetzen. Der weltberühmte Reggae-Sänger bietet den 2,6 Millionen Einwohnern des Inselstaates zumindest ein wenig Trost. Denn jährlich haben sie über 1.400 Gewaltopfer zu beklagen. Jamaika gehört zu den gefährlichsten Flecken der Erde. Vor allem junge Männer sind betroffen, aber auch Kinder sind nicht ausgenommen.

Im vergangenen November mussten mindestens drei Schulen in Jamaika wegen Schießereien geschlossen werden. In der Trench Town High School in Kingston schoss ein Mann durch ein Schulfenster mitten in einen Unterrichtsraum, verfehlte aber sein Opfer. In der Nähe der Seafort High School in St. Thomas war ein anderer Schütze erfolgreicher. Der Direktor stellte daraufhin alle Lehrer und Schüler vom Unterricht frei. In anderen Schulen tauchten bewaffnete Männer auf, um sich nach ganz bestimmten Schülern zu erkundigen. Eine Welle der Angst durchstreifte das Land, sodass die Schulleiter nur noch eine Lösung sahen. "Wir wurden zwar gebeten, nicht zu schließen", bekundet Hopeton Henry, Direktor der Seafort High School, "aber unsere Sicherheit geht vor, und wir können weder von den Schülern erwarten, zu kommen, noch von den Eltern, ihre Kinder zu uns zu schicken." Die drei Bildungseinrichtungen blieben insgesamt fünf Tage lang geschlossen.

Politische Morde

Auch in Jamaikas politischem Leben hat der Einsatz von Gewalt eine traurige und lange Tradition. Sie reicht zurück bis ins späte 19. Jahrhundert, genauer bis ins Jahr 1865, dem Jahr der Morant Bay Rebellion. Damals lehnten sich befreite Sklaven gegen die Arbeitsbedingungen unter den Engländern auf. Ihr Protest wurde brutal niedergeschlagen. Wesentlich gravierender ist für die derzeitige Situation in dem eigentlichen Tropenparadies jedoch, dass die beiden großen Parteien, die das politische Leben seit 1962 dominieren, bereits vier Jahre nach der Unabhängigkeit ihre Anhänger bewaffneten und Pistolen als Wahlkampfmittel einführten. Der sozialdemokratischen People's National Party und der konservativen Jamaica Labour Party waren Macht und Geld wichtiger als zivile Methoden der Konfliktlösung. Statt die Bevölkerung zu einen, spalteten sie die Menschen in zwei Lager und rüsteten ihre Anhänger zu Garnisonen auf, die sie aufeinander hetzten, im Wettbewerb um Stimmen und Reviere. Im Wahlkampf 1980 kamen durch politisch motivierte Morde über 800 Menschen ums Leben, und die Bandenführer entdeckten Schutzgelderpressung und Drogenhandel als zusätzliche Einnahmequellen. Die Geister, die die Politik rief, wurde sie nicht mehr los.

Bis zu 90 Prozent des Kokains werden heute durch die Karibik in die Vereinigten Staaten geschleust, 600 Tonnen jährlich, so die Internationale Drogenkontrollbehörde der Vereinten Nationen. In weniger als einer Nacht können Schnellbote die verbotene Fracht von Kolumbien nach Jamaika bringen. Ihr folgen Waffenhandel, Geldwäsche, Korruption und Gewaltverbrechen. Eine Tonne Kokain bringt auf dem Schwarzmarkt mehr als 25 Millionen Dollar, genug Geld um eine ganze Region unsicher zu machen. Und die Politik hat längst die Kontrolle über diese Strukturen verloren. Die Last hoher Schulden und geringer Einnahmequellen hat den Staat geschwächt. Jamaika ist eines der am höchsten verschuldeten Länder der Welt.

Zudem nagen weitverbreitete Armut und soziale Gegensätze am Wohl der Bevölkerung. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt zwar nur bei 15 Prozent. Bei jungen Männern im Alter zwischen 13 und 25 Jahren ist sie jedoch schon doppelt so hoch. Und wie viele Jamaikaner tatsächlich ohne Job und Perspektive sind, gibt die Statistik ohnehin nicht wieder. Sie zählt nur die registrierten Fälle.

Dass es einen direkten Zusammenhang zwischen der schlechten Wirtschaftslage und der hohen Mordrate gibt, zeigt Andrew Holness, Journalist der größten jamaikanischen Tageszeitung "The Jamaica Observer". Er hat die Entwicklung verglichen und kommt zu dem Schluss: "In Zeiten starken Aufschwungs geht die Anzahl der Morde zurück." Doch in der vergangenen Dekade wuchs das Bruttosozialprodukt nur um 0,2 Prozent. "Zu wenig, um den Menschen eine Perspektive zu geben, und vor allem, um Drogenhandel und Korruption den Boden zu entziehen", so Holnesser. Die Mordrate verdoppelte sich.

Wie das kommunistische Kuba oder die kapitalistische Dominikanische Republik, setzte auch Jamaika auf die Anziehungskraft seiner Sandstrände und erhoffte sich so eine sichere Einkommensquelle und neue Arbeitsplätze zur Minderung der Armut. Doch während in den Slums weiterhin gehungert und geschossen wird, amüsieren sich in prächtigen Luxusanlagen vor allem Nordamerikaner und Europäer zu Reggae, Rum, Strand und Sonne und lassen die Einheimischen ihre Armut erst so richtig spüren. Der Tourismus auf Jamaika hat zwar Arbeitsplätze geschaffen, er lässt allerdings auch die "gefühlte" Armut steigen. Dort, wo luxuriöse Touristenkomplexe und verwahrloste Armenghettos nah beieinander sind, ist die Benachteiligung ganzer Bevölkerungsschichten besonders spürbar.

Bereits heute schwappen Unzufriedenheit und Gewalt daher auch auf den Tourismus über. Das deutsche Auswärtige Amt rät zu erhöhter Vorsicht. Besonders in der Hauptstadt Kingston, aber auch in den Touristenzentren Montego Bay, Negril Point und Occho Rios kann es zu Diebstählen und bewaffneten Überfällen kommen. Die Bereitschaft zum Einsatz von Waffen ist dabei sehr hoch. Vor allem nach Einbruch der Dunkelheit sollten Touristen nicht außerhalb der Hotelkomplexe spazieren gehen oder feiern. Auch komme es immer wieder zu gewalttätigen Ausschreitungen und Zerstörungen, manchmal auf dem Weg vom oder zum Flughafen.

Auf die jamaikanische Polizei ist dabei nur wenig Verlass. Bislang war sie sogar eher ein Teil des Problems als der Lösung. Die Menschenrechtsorganisation amnesty international (ai) wirft ihr vor, erst zu schießen und dann zu denken. Einem ai-Bericht zufolge sollen im Jahr 2004 113 Menschen von Polizisten erschossen worden sein. Im Jahr zuvor waren es 133 und in den letzten sieben Jahren zusammengenommen mehr als 600 - erschreckend hohe Zahlen bei nur 2,6 Millionen Einwohnern. "Die Polizei bestätigte diese Kultur der gewaltsamen Konfliktaustragung nur noch", kritisiert ai-Expertin Eileen Börner. "Sie setzte ein weiteres, erschreckendes Zeichen dafür, wie wenig menschliches Leben auf Jamaika wert ist." Weil die Ordnungskräfte zudem als korrupt verschrien sind, greifen Jamaikaner besonders häufig selbst zur Waffe und klären ihre Angelegenheiten in Selbstjustiz: "I shot the sheriff" statt "Positive Vibration."

Um die jamaikanische Polizei zu unterstützen und ihre Verstrickung in die lokale Drogenmafia zu bekämpfen, wurden nun ein neuer Direktor und Eliteeinheiten aus Großbritannien eingeflogen. Dadurch ist nicht nur das Vertrauen in die jamaikanische Polizei bei der Bevölkerung wieder gestiegen, die Schutzmänner erzielten auch schon erste Erfolge. Als wichtigstes ging ihnen Bulbie ins Netz, ein gefürchteter und inselweit bekannter Bandenchef. Der Vorteil der Briten liegt auf der Hand: Aus dem Ausland angereist, kennen sie weder politische Loyalitäten noch sind sie denselben Vereinnahmungsversuchen ausgesetzt wie die jamaikanischen Kollegen. Allerdings warnen Experten, dass die Ursachen damit noch lange nicht behoben sind. "Je effizienter die Polizei gegen die Kriminellen vorzugehen versucht, desto rücksichtsloser werden diese reagieren und sich noch besser organisieren", befürchtet Honess. Er fordert einen gesamtgesellschaftlichen Ruck und findet dabei vor allem bei den Kirchen große Zustimmung.

Padre Chang hat selbst einmal einer Gang angehört. Eine Waffe hielt der heute 39-jährige Pfarrer der Convenant Community Church in Kingston einst für das beste Mittel, um seine Träume zu verwirklichen. Chang wuchs bei seiner Großmutter in Jones Town auf und raubte und schoss so lange, bis er ins Gefängnis kam. "Das verstand ich als Ritterschlag", erzählt er. "Im Knast lernte ich noch besser, wie man Waffen bedient und stiehlt." Der Mord an einer unschuldigen Frau allerdings brachte ihn ein zweites Mal hinter Gitter. Bei dem Besuch einer Kirchengruppe begann er dann umzudenken. Vom Saulus zum Paulus bekehrt, las er immer häufiger, auch gegen den Widerstand seiner Mithäftlinge, in der Bibel, auch wenn es ihm als halbem Analphabeten anfangs äußerst schwer fiel. Die erste Prüfung als Pfarrer bestand er noch nicht, ließ sich aber nicht entmutigen und konnte nach drei Jahren erfolgreich sein Studium beenden.

Heute lebt er mit Frau und Tochter wieder in Kingston. "Jedes Mal wenn ich in die Augen meiner sechsjährigen Tochter schaue, bin ich froh, diesen ungewöhnlichen Wandel gemacht zu haben", sagt er stolz. Chang leitet mittlerweile die Kirche von Majesty Gardens und kann vor allem durch seine persönliche Geschichte die Jugendlichen überzeugen.

Als einem der wenigen Kirchenväter gelingt es ihm sogar, mit den selbsternannten Nachfahren von Bob Marley und Bunny Livingstone (aka. Bunny Wailer) um die Gunst der Jugendlichen zu konkurrieren. Denn bei Sizzla, Turbulence und Black Warrior heißt es nicht mehr nur noch "Get Up, Stand Up", sondern mittlerweile auch "Trust nobody". Sie spiegeln wohl am besten die Zerrissenheit der jugendlichen Jamaikaner wieder. Einerseits predigen sie in ihren Liedern nicht selten Gewalt und Hass, beschwören Machismus und Waffengewalt und rufen teilweise sogar zur Hatz auf Homosexuelle auf. Andererseits sehnen sie sich doch auch einfach nur nach Frieden, Liebe und einer neuen Heimat. Wie Bob Marley glauben noch heute viele von ihnen, dass diese positiven Dinge nur in Afrika zu finden sind. Aus ihren ärmlichen Verhältnissen herauskommen können jedoch derzeit nur die wenigsten.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.