Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 01-02 / 02.01.2006
Bettina Stang

Mit zwölf den ersten Sex

Aids: Die Karibik leidet unter Zuwachsraten wie das südliche Afrika
Antonio aus der Dominikanischen Republik lebt in einem Bateye, einer Siedlung von Plantagenarbeitern, eine Stunde von der Hauptstadt Santo Domingo entfernt. Früher hat er in den umliegenden Zuckerrohrfeldern gearbeitet, doch heute geht das nicht mehr: Der 38-Jährige ist aidskrank, er wiegt nur noch gut 50 Kilogramm, und seine Haut ist von Pilzgeflechten übersät.

Seit Ende 2004 begibt sich Antonio mindestens einmal im Monat in das allgemeine Krankenhaus im Zentrum Santo Domingos in der Hoffnung, Medikamente gegen die Immunschwächekrankheit ausgehändigt zu bekommen. Doch alles, was die Ärzte Antonio über Monate hin zu bieten hatten, waren Vitamin-Tabletten und Medikamente gegen Hautausschlag. Erst als Antonio kaum noch gehen konnte, sich aber weiterhin unbeirrbar ins Krankenhaus schleppte, nahmen die Ärzte ihn in das Behandlungsprogramm auf. Wenn Antonio Glück hat, hat die Behandlung ihn noch rechtzeitig erreicht und sein Immunsystem wird sich wieder stabilisieren können.

Noch immer gilt die Karibik als die Region, die weltweit am zweitstärksten von HIV/Aids betroffen ist. Die Infiziertenraten entsprechen denen einiger Länder in Westafrika. Es sind vor allem sozio-ökonomische Faktoren, die die Ausbreitung des HI-Virus in der Karibik begünstigt haben: Emigration und Wanderarbeit sorgen dafür, dass Familien über Jahre getrennt leben. Viele Frauen sind in der Abwesenheit ihrer Ehemänner darauf angewiesen, die Gunst anderer Männer zu gewinnen, während die Männer wiederum in der Fremde vermehrt nach käuflichem Sex suchen. Es ist wenig verwunderlich, dass unter den Bewohnern der Bateyes die höchsten Infektionszahlen zu finden sind.

Kulturelle Prägungen hinsichtlich der Geschlechterrollen begünstigen die Ausbreitung des Virus weiter: Die Suche nach dem schnellen Sex etwa, um unter Altersgenossen als jemand zu gelten, beginnt schon im Jungen-Alter. Die Genderforscherin Irmela Riedlberger stellt fest: "In der Dominikanischen Republik bilden sich männliches Selbstverständnis und soziale Vorstellungen von Männlichkeit im Spannungsfeld zwischen dem Wunsch, ein guter Familienvater zu sein, und dem Wunsch, sich durch viele sexuelle Eroberungen zu beweisen. Der erste Geschlechtsverkehr wird gleichsam zur Einführung in die Welt der Männer stilisiert und dementsprechend in sehr jungen Jahren gewünscht." Nach Untersuchungen aus Haiti beginnen Jugendliche im Durchschnitt mit zwölf Jahren erste sexuelle Beziehungen. Die Frauen wiederum - die zwar wissen, dass ihre Männer fremd gehen - sehen sich oft nicht in der Position, den Gebrauch von Kondomen und damit geschützten Sex gegenüber ihren Ehepartnern durchzusetzen.

Trotz dieser begünstigenden Faktoren hat sich die Seuche jedoch nicht so rasant weiterverbreitet wie etwa im südlichen Afrika. Nach jüngsten Daten von UNAIDS, dem Aids-Bekämpfungsprogramm der UNO, wird die durchschnittliche Infektionsrate auf 1,6 Prozent geschätzt, das heißt, mehr als 300.000 Bewohner der Karibik tragen das Virus in sich. Bei jedem Zehnten dürfte die Infektion inzwischen ausgebrochen sein. Exakte Daten gibt es nicht. Die Werte sind aus vorhandenen Testergebnissen abgeleitet. Gleichzeitig variieren die Raten der einzelnen Länder beträchtlich. In der Dominikanischen Republik etwa stagniert die HIV-Rate der erwachsenen Bevölkerung bei rund 1,5 Prozent. Ähnlich sieht es auf Barbados und auf Jamaika aus. Höhere Raten haben die Bahamas, Guyana, Trinidad und Tobago. Das isolierte Kuba wiederum tanzt ganz außerhalb der Reihe und weist - trotz eines zunehmenden Sextourismus - mit 0,2 Prozent eine Infektionsrate auf, wie sie so niedrig auch in vielen Industrieländern zu finden ist. Die meisten HIV-Infizierten leben im ärmsten Staat der Region: in Haiti. Hier wird die Infiziertenrate auf über drei Prozent geschätzt.

So erschreckend die Zahl ist, in Haiti gilt sie dennoch als Beleg dafür, dass die bisherigen Anstrengungen im Kampf gegen die Pandemie erfolgreich waren, denn Mitte der 90er-Jahre hatte die Rate noch doppelt so hoch gelegen. Statistiker hatten damals bereits Horrorszenarien für Haiti an die Wand gezeichnet und mit Infektionsraten von bis zu 30 Prozent gerechnet. Lange Zeit hatte die Bevölkerung die Krankheit Aids vor allem mit Voodoo in Verbindung gebracht - die Kranken seien mit einem bösen Fluch belegt worden. Heute ist die Zahl derer, die Aids nicht mit ungeschütztem Sex in Verbindung bringen, ganz offensichtlich beträchtlich gesunken. Darauf deuten in Haiti beispielsweise die gestiegenen Verkaufszahlen von Kondomen hin: Während Anfang der 90er-Jahre noch nur rund 30.000 Präservative monatlich verkauft worden waren, schnellte der Verkauf innerhalb von nur zwei Jahren auf 600.000 hoch, und heute werden mehr als eine Million Kondome monatlich gekauft. Eine Kampagne der Regierung, die eindringlich für das Benutzen von Kondomen warb, hat hier ganz offensichtlich ihre Wirkung nicht verfehlt.

Außerdem dürfte ein privates Institut maßgeblich dazu beigetragen haben, dass in der haitianischen Bevölkerung - zumindest in den Städten - das Wissen über die möglichen Ansteckungswege von HIV deutlich zugenommen hat: GHESKIO - "Groupe Haïtien d'Etude du Sarcome de Kaposi" - wie Aids anfangs noch genannt wurde - "et des Infections Opportunistes". Das Institut vereint Forschung, Beratung und Behandlung zu HIV/Aids und weiteren Armutskrankheiten Haitis unter einem Dach. In landesweit 26 Gesundheitszentren bietet Gheskio HIV-Tests an und berät in Sachen HIV/Aids. Außerdem werden aber auch andere lebenswichtige Gesundheitsdienste angeboten: Kostenlos werden etwa Impfungen durchgeführt oder Durchfallerkrankungen behandelt. Ein solcher bevölkerungsnaher Ansatz gilt unter Experten als grundlegende Voraussetzung für eine erfolgreiche Aids-Bekämpfung.

Seit wenigen Jahren bietet Gheskio Aids-Kranken, die sich ratsuchend an die Zentren wenden, auch medikamentöse Hilfe. "Die Herausforderung liegt vor allem darin, sicherzustellen, dass die Patienten die Medikamente regelmäßig einnehmen", berichtet eine Ärztin. Das Institut hat deshalb ein umfassendes Betreuungssystem für die Patienten eingerichtet, das die Patienten beispielsweise auch mit Telefonkarten versorgt, damit sie ihre Ärzte jederzeit erreichen können. Außerdem werden arme Patienten, wenn nötig, mit Nahrungsmitteln versorgt, damit sie die Nebenwirkungen der Medikamente besser vertragen.

Der Leiter des Haiti-Programms des US-Instituts zur Seuchenkontrolle, Matthew Brown, lobt die Fortschritte im Land: "In vielerlei Hinsicht kann Haiti als wegweisend angesehen werden, was die HIV/Aids-Behandlung angeht. Das weiß zwar kaum jemand, aber es ist absolut bemerkenswert." In den 80er-Jahren dagegen hatte sein Institut die Haitianer insgesamt noch als bedeutende Risiko-Gruppe für die Ausbreitung von Aids eingestuft - neben Homosexuellen und Drogenabhängigen.

Auch in vielen anderen Karibikstaaten sind die Infiziertenzahlen im Gegensatz zu anderen Regionen der Welt nicht gestiegen, sondern sogar gesunken. Das dürfte einerseits auf erfolgreiche Aufklärungskampagnen zurückzuführen sein, die in kleinen, überschaubaren Ländern und mit Hilfe großzügiger Finanzspritzen aus den USA offenbar effektiver durchzuführen sind als etwa in vielen afrikanischen Staaten. Andererseits dürfte auch das Wissen um die Behandelbarkeit der Krankheit dazu beigetragen haben, die Prävention zu erleichtern. In fast allen karibischen Inselstaaten sind seit 2002 - nachdem die Regierungen bei Pharma-Riesen wie Bristol Myers Squibb oder Boehringer Ingelheim beträchtliche Preisnachlässe für die Dreifach-Therapie zur Behandlung von Aids ausgehandelt hatten - kostenlose Behandlungsprogramme angelaufen. Mit finanzieller Unterstützung internationaler Institutionen wie dem Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria, tragen sie das ihre dazu bei, um die landläufige Vorstellung einer Verbindung zwischen der Immunschwächekrankheit und Voodoo-Praktiken zu untergraben.

Obwohl die Behandlungsprogramme laufend ausgeweitet werden, wird in den meisten Ländern jedoch erst ein Bruchteil der Bedürftigen erreicht. In Haiti etwa wird derzeit nur jeder achte Kranke vor dem langsamen Siechtum durch Aids gerettet. In anderen Staaten wird immerhin schon ein Drittel der Kranken erreicht. Und nur auf den Bahamas und auf Barbados sowie auf Kuba, das eine universelle Behandlung

garantiert und einige der Medikamente selbst herstellt, hat das jeweilige nationale Behandlungsprogramm sogar schon den überwiegenden Teil der Aids-Kranken aufnehmen können. Allerdings ist in diesen Staaten die Zahl der Bedürftigen eher gering: Die rund 500 Aids-Patienten auf Barbados etwa können von einem einzigen Behandlungszentrum aus betreut werden, mit finanzieller Unterstützung der Weltbank, die einen Kredit über 15 Millionen US-Dollar zur Verfügung stellte.

Ohne die Verabreichung der antiretroviralen Medikamente, die den Ausbruch von Aids wenn nicht gar verhindern, so doch über Jahr(zehnt)e hin verzögern, bleibt das HI-Virus vor allem für die weniger bemittelten Karibikbewohner bereits auf kurze Frist hin tödlich: Rund 200 Aids-Kranke sterben nach Schätzungen täglich vor allem an Begleiterkrankungen wie Tuberkulose. Aids-Aktivisten drängen deshalb darauf, dass die anderen Karibikstaaten ihre Behandlungsprogramme ebenfalls zügig ausbauen, und kritisieren insbesondere die Dominikanische Republik, die weit hinter dem zurückbleibe, was ihr angesichts der großen Summen ausländischer Hilfsgelder eigentlich möglich sein sollte. Bis September 2005 waren gerade einmal 2.000 Aids-Patienten in das nationale Behandlungsprogramm aufgenommen worden - also wie in Haiti nur etwa jeder Achte derjenigen, die sie eigentlich bräuchten. Antonio hatte das Glück, zu ihnen zu gehören - so denn die Behandlung ihn noch rechtzeitig erreichte.


Bettina Stang arbeitet als freie Journalistin in Hannover und ist Mitarbeiterin der Zeitschrift "eins-Entwicklungspolitik".


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