Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 01-02 / 02.01.2006
Barbara Potthast

Als Kindermädchen in die Ferne

Familienstrukturen und die Rolle der Frau

Im neuen Jahr wird erstmals eine Frau auf dem afrikanischen Kontinent an die Spitze eines Staates treten - und zwar ausgerechnet in einem Staat, der für ehemalige amerikanische Sklaven gegründet wurde. Die im November gewählte Ellen Johnson-Sirleaf tritt in diesen Tagen ihr Amt als Staatspräsidentin von Liberia an. Im karibischen Raum, der stark von dem ehemaligen Sklavereisystem und damit von den Nachkommen zwangsverschleppter Afrikaner geprägt ist, nahmen bereits zwei Jahrzehnte zuvor zwei Frauen mit afrikanischen Wurzeln diese Hürde. Eugenia Charles wurde 1983 Premierministerin der ehemals britischen Insel Dominica. In Haiti ernannte man 1990 die ehemalige Verfassungsrichterin Ertha Pascal-Trouillot zur Übergangspräsidentin.

Warum gelingt diesen Frauen in der Karibik, was in Afrika offenbar erst allmählich möglich wird? Wie verträgt sich dieser Erfolg der Frauen in öffentlichen Ämtern mit einem nicht von der Hand zu weisenden karibischen Machismo und Männlichkeitsvorstellungen, wie sie zum Beispiel in der Reggae-Kultur sichtbar werden? Und wie verhält sich dies zu dem starken afrikanischen Erbe, das nicht nur die Musik, sondern auch die Religion und die Mentalität der Gesellschaften in der Karibik stark geprägt hat? In Afrika nehmen Frauen in Familie, Religion und Gesellschaft zwar oft eine zentrale Stellung ein, aber zur politischen Macht erhalten sie nur schwer Zugang. Inwieweit haben die gänzlich anderen sozio-politischen Bedingungen und der jahrhundertlange Kontakt zwischen den Kulturen in der Karibik die Geschlechterrollen und die Familienverhältnisse verändert?

Die Familienverhältnisse in der Karibik unterscheiden sich schon auf den ersten Blick deutlich von denjenigen in Afrika und Europa. Mehr als die Hälfte aller Kinder werden nichtehelich geboren und etwa ein Drittel aller Haushalte wird von einer Frau geleitet. Oft sorgen sie allein für den Lebensunterhalt ihrer mehrköpfigen Familien. Frühe sexuelle Beziehungen sind für beide Geschlechter akzeptiert, auch wenn Frauen nicht die gleichen Freiheiten genießen wie Männer. Andererseits herrscht in diesen Gesellschaften - ähnlich wie in Lateinamerika - eine starke Verehrung der Mutter vor, gerade auch seitens der Männer. Biografische Darstellungen von erfolgreichen karibischen Männern verweisen oft auf die Herkunft aus ärmlichen Verhältnissen, in denen die allein erziehende Mutter unter großen Opfern die Kinder erzog und ihnen eine möglichst gute Ausbildung zukommen ließ, wofür ihnen nicht nur Dank, sondern auch Bewunderung gezollt wird.

Als Erklärung für die geschilderten Familienverhältnisse haben Forscher immer wieder den Einfluss der Sklavenhaltergesellschaft angeführt, der die Gründung von Familien beziehungsweise deren Erhalt unmöglich gemacht habe. Zwar waren nicht in allen Sklavenhaltergesellschaften Ehen zwischen Sklaven verboten, doch bestand immer die Gefahr, dass die Familie auseinander gerissen wurde. Dies gilt auch für die Mutter-Kind-Familie, da deren Bindung nur für das Kleinkindalter respektiert wurde. Die Sklavenfamilie habe somit, so die Argumentation, wenn überhaupt, praktisch nur aus einer Mutter-Kind-Familie bestanden, und diese Strukturen hätten sich auch nach Abschaffung der Sklaverei erhalten. Allerdings finden sich ähnliche Familienstrukturen auch in vielen lateinamerikanischen Unterschichtmilieus, sodass die Sklaverei nicht der einzige Faktor sein kann.

Gemeinsam ist beiden Gruppen aber eine schwierige wirtschaftliche Situation, die sich durch prekäre Arbeitsverhältnisse und niedrige Löhne auszeichnet. Tatsächlich lässt sich feststellen, dass viele Frauen der Unterschicht wenig Wert auf eine formelle Ehe legen. Sie ziehen es vor, in einer formlosen Gemeinschaft oder allein zu leben und begründen dies zumeist damit, dass viele Männer ihren kargen Lohn häufig für Alkohol und Vergnügungen ausgeben. Für das Familienbudget müssten sie also ohnehin sorgen. Gleichzeitig engt die Ehe und der damit verbundene Dominanzanspruch des Mannes sowie die Tatsache, dass diese nur schwer wieder gelöst werden kann, die Frauen stark ein. Sie bringt somit den Frauen mehr Nach- als Vorteile. Hinzu kommt eine lange Tradition nichtehelicher Beziehungen und Familienverhältnisse unterschiedlicher Art in den Kolonialgesellschaften.

In Gesellschaften, in denen wegen Rassenschranken und -vorurteilen eine Ehe mit einer Person einer anderen Hautfarbe und Schicht nicht möglich war, wie in den kolonialen Systemen, waren nichteheliche Gemeinschaften eine wichtige Alternative zur bürgerlich-christlichen Familie. In allen Kolonialgesellschaften kam es zunehmend zu sexuellen Beziehungen und Partnerschaften über die ethnischen Grenzen hinweg, und für die farbigen Frauen der Unterschicht stellte sich in vielen Fällen ein Konkubinat mit einem - zumeist wohlhabenden - weißen Mann vorteilhafter dar als eine Ehe mit einem Farbigen, der im Allgemeinen sozial niedriger gestellt und ärmer war. Zu den ökonomischen Aspekten kommen Fragen des Prestiges hinzu. Rassensenvorurteile verbunden mit der Wertschätzung möglichst heller Haut sind in den karibischen Gesellschaften bis heute nicht überwunden.

Doch viele Frauen hatten die Möglichkeit einer Wahl zwischen Ehe und Konkubinat oder einem unabhängigen Leben als allein erziehende Mutter gar nicht, und zwar aus rein demografischen Gründen. Die Sklavenhaltergesellschaften der Karibik waren zunächst männliche Gesellschaften.

Doch nachdem die Karibik Jahrhunderte lang eine Region gewesen war, in die Personen aus verschiedenen Kontinenten einwanderten, entwickelte sie sich seit etwa Mitte des 20. Jahrhunderts zu einer Auswandererregion, denn Migration war eine Lösung für die schwierigen sozio-ökonomischen und politischen Probleme. Vor allem die USA und Kanada zogen Migranten aus allen karibischen Ländern an, wobei Puerto Rico als ein den USA assoziierter Staat eine besondere Rolle zukommt.

Zunächst waren es vor allem junge Männer, die nach New York, oder Montreal auswanderten, und viele ließen Freundin und Kinder in der Heimat zurück. Viele Frauen fanden aufgrund der veränderten demografischen Strukturen keinen dauerhaften Partner. Dass solche Strukturen nicht dazu angetan sind, die Verantwortung der Männer für ihre Partnerinnen und ihre nicht-ehelichen Kinder zu stärken, muss nicht eigens betont werden. Andererseits messen die meisten karibischen Gesellschaften aber der sexuellen Zurückhaltung der Frauen wenig Bedeutung bei, sodass diese Frauen zumindest nicht stigmatisiert wurden. Die wirtschaftlichen und zumeist auch die politischen Rahmenbedingungen haben sich für diese Frauen in den letzten Jahren kaum verbessert, mancherorts sogar verschlechtert, sodass inzwischen nicht Männer, sondern überwiegend auch Frauen die Inseln verlassen. Migrationsströme prägen die Gesellschaften der Karibik seit mehr als 500 Jahren, sei es die Zwangsmigration der Afrikaner in die Karibik aufgrund des Sklavenhandels, sei es die freiwillige Migration in die USA, nach Kanada, aber zunehmend auch nach Europa.

Dominanzansprüche

Aufgrund von Migrationsprozessen und sozio-ökonomischen Strukturen entwickelte sich somit über Jahrhunderte hinweg eine Rollenverteilung, die den Frauen zwar eine hohe Wertschätzung verschaffte, vor allem in ihrer Funktion als Mutter, ihnen aber gleichzeitig die Last der ökonomischen und emotionalen Stabilität der Familie aufbürdete. Manche Forscher wollen darin auch eine Marginalisierung der Männer erkennen und interpretieren deren Dominanzansprüche und Verantwortungslosigkeit als eine Reaktion darauf. Ökonomisch selbstständige Frauen, die von den Männern zwar Unterstützung erhoffen, sie aber nicht bekommen, entwickeln zumeist auch soziale Eigenständigkeit und Durchsetzungsvermögen.

Hinzu kommt, dass einige karibische Staaten über ein relativ gutes öffentliches Bildungssystem für beide Geschlechter verfügen und Bildung insgesamt eine hohe Wertschätzung genießt. Dies hat dazu geführt, dass auch Nachkommen ehemaliger Sklaven durch Bildung aufsteigen konnten. Wie die eingangs genannten Beispiele zeigen, verfügen inzwischen auch viele Frauen über eine solide Ausbildung. Doch diese wie auch weniger gebildete Frauen der unteren Schichten finden in denjenigen Ländern, in denen sich nicht, wie in Puerto Rico, eine für den US-amerikanischen Markt produzierende Industrie etablieren konnte, zunehmend schlechtere Beschäftigungsmöglichkeiten. Auch die boomende Tourismusindustrie auf Kuba oder in der Dominikanischen Republik schafft nicht genügend Arbeitsplätze, sodass inzwischen immer mehr Frauen den Weg wählen, für einige Jahre oder dauerhaft ihr Geld im Ausland zu verdienen. Nicht selten lassen sie dabei ihre Kinder in der Heimat zurück, wo sich die Mutter oder andere Familienangehörige um diese kümmern und von den im Ausland verdienten Geldern mit leben.

Die weltweit angestiegenen Migrations- und Warenströme haben auch die Lebensentwürfe karibischer Frauen verändert. Unter den weniger entwickelten Weltregionen zeichnen sich Südamerika und die Karibik durch einen besonders hohen Anteil an weiblichen Migranten aus. Im Jahr 2000 kamen in den USA auf 100 Migrantinnen aus dem karibischen Raum nur etwas mehr als 80 männliche Migranten.

Doch auch Europa, vor allem Spanien, gilt zunehmend als attraktive Einwanderungsregion für Migrantinnen aus der Karibik, zumal es hier für diejenigen aus der spanischen Karibik keine sprachlichen und weniger kulturelle Probleme gibt. So kamen dort im Jahr 2001 auf 100 Migrantinnen aus der Dominikanischen Republik nur 43 Männer aus dem Inselstaat.

Die meisten dieser Frauen arbeiten als Dienst- oder Kindermädchen und in der Altenpflege und tragen durch regelmäßige Geldüberweisungen nicht unerheblich zum Überleben ihrer Familien sowie zur Stärkung der Devisenreserven ihres Landes bei. Viele von ihnen holen später ihre Familien, seien es nur die Kinder oder aber auch die Männer, nach. Zunehmend sind also die Frauen die Speerspitze des Migrantennetzwerkes, und nicht mehr, wie bisher, die Männer. Welche Auswirkungen diese neue Entwicklung auf das Verhältnis der Geschlechter und die Familienstrukturen haben wird, bleibt abzuwarten.


Die Autorin ist Professorin für iberische und lateinamerikanische Geschichte an der Universität zu Köln.


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