Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 10 / 06.03.2006

"Es wird ein gewaltiger Kulturkampf toben"

Interview mit dem Wiener Zukunftsforscher Matthias Horx
Die Gentechnologie könnte unser Leben in Zukunft so stark verändern, dass es zu einem regelrechten technologischen Umbruch unserer Gesellschaft kommen könnte. Ähnlich wie bei anderen durch eine neue Technik ausgelösten Gesellschaftswandeln sind Menschen dadurch verunsichert. Doch welche der Befürchtungen könnten tatsächlich wahr werden, welche sind eher grundlos? Barbara Minderjahn sprach mit dem Zukunftsforscher Matthias Horx.

Das Parlament:    Können Sie zunächst kurz umreißen, wie unser Leben in 50 Jahren aussehen wird? Was sind die entscheidenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in denen wir uns bewegen werden?

Matthias Horx:     Das hängt natürlich sehr davon ab, wo Sie leben. In 50 Jahren befinden wir uns auf dem Bevölkerungszenit der Menschheit. Mit etwas weniger als neun Milliarden Menschen sind wir sicherlich noch zahlreicher als heute, aber das Bevölkerungswachstum hat dann ein Ende. Bis dahin werden Konversionstechnologien verfügbar sein, die den Druck aus der ökologischen Situation nehmen werden. Ich denke, dass dann viele Autos nicht mehr mit fossilen Energien fahren werden. Viele Häuser werden anders aussehen. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind uns auch bekannt: Im Fernen Osten wird es einen sehr viel größeren, prosperierenden Wirtschaftsraum geben. Diese drei Parameter - Bevölkerungs-Zenit, Konversionstechnologie, Dominanz östlicher Wirtschaftsmacht - kann man im Jahre 2050 als gegeben annehmen.

Das Parlament:    Welche Rolle wird die Gentechnik in diesem Rahmen spielen?

Matthias Horx:     Gentechnik hat eine "Story" im öffentlichen Bewusstsein erzeugt, die nur wenig mit der Realität zu tun hat. "Wir fangen an, uns zu klonen" - ich glaube, das sind eher Märchenerzählungen aus dem Science-Fiction-Land. Ich glaube, dass die Gentechnik in weiten Teilen massiv überschätzt wird, und dass die eigentlichen Durchbruchswirkungen ganz wo anders statt finden werden, als das heute in der öffentlichen Meinung diskutiert wird. Zum Beispiel die Graue Gentechnologie: Wir werden in 10 bis 15 Jahren damit anfangen, Treibstoffe mit Hilfe von genveränderten Mikroorganismen zu produzieren. Das sind die entscheidenden technologischen Durchbrüche, mit der die Gentechnik auch Akzeptanz finden wird.

Das Parlament:    Welche Teilbereiche der Gentechnologie werden sich nicht so durchsetzen oder sogar ganz scheitern?

Matthias Horx:     Vor allem die Grüne Gentechnik steht auf der Kippe. Denn wozu brauchen wir gen- optimierte Pflanzen, wenn die "Bevölkerungsexplosion", wie sie oft an die Wand gemalt wurde, gar nicht stattfindet? Neun Milliarden Menschen können wir locker auch ohne gentechnisch veränderte Lebensmittel ernähren, das ist überhaupt kein Problem. Ich glaube, es ist wichtig zu verstehen, dass Technologien immer auch bestimmte Evolutionspfade haben, die bestimmt werden von Akzeptanz, Nachfrage und Rahmenbedingungen. Die Rahmenbedingungen der Menschheit verändern sich ständig, und so müssen auch die Technologien sich mitwandeln. Sie brauchen ein "Reframing".

Das Parlament:    Und wie sieht es mit dem so genannten maßgeschneiderten Essen aus?

Matthias Horx:     Das gehört zu den klassischen Dauerhypes, die uns seit vielen Jahrzehnten versprochen werden. Ich erinnere nur an die berühmte Diskussion in den 60er-Jahren, dass wir alle Vitaminpillen und Nahrungsmittelkonzentrate statt Frühstück essen werden. Das ist aus dem Grund nicht eingetreten, weil Essen für Menschen immer etwas Haptisches, etwas Sinnliches ist, und weil Nahrung auch etwas zu tun hat mit Natur, mit erfahrener Umwelt, mit Lebensqualität und unserer Bindung an die stoffliche Welt. Das erleben wir ja im Boom der Biomärkte und auch im Versagen des "functional food". Betrachten wir es mal nüchtern: Es würde unendlich mehr bringen, 10 Prozent der Menschen dazu zu bewegen, Sport zu treiben und das Rauchen aufzugeben, als sie mit genveränderten, fettlosen Pommes Frites zu versorgen! Es ist einfach so: Sie können die natürlichen Stoffwechselprozesse zwischen Mensch und Umwelt nicht einfach manipulieren. Wenn wir den Menschen tatsächlich verbessern wollen, dann brauchen wir richtig harte Gentechnik. Da müssen wir an unsere eigenen Gene ran, zum Beispiel an die Lebensverlängerung. Das wird am Ende dieses Jahrhunderts oder am Ende des 22. Jahrhunderts kommen. Bis dahin müssen wir noch sehr viel mehr über die Wechselwirkung des Genoms mit der Umwelt verstehen, und hier sind wir erst am Anfang. Der Gencode, so ahnen wir es heute, ist ein mit der Umwelt kommunizierendes System. Es ist eben nicht einfach ein programmierbarer Code wie in einem Computer.

Das Parlament:    Die Vision von Stammzellenforschern ist es, Organe und verschlissenes Gewebe ersetzen zu können. Wird sich dieser Forschungszweig trotz der großen ethischen Bedenken behaupten?

Matthias Horx:     In diesem Bereich könnte es punktuelle Durchbrüche geben. Ich glaube, dass wir im Jahr 2050 im beschränkten Ausmaß "Tissue Engeneering" machen können. Aber auch hier gilt, dass der menschliche Körper und das Zusammenwirken der Organe viel zu komplex ist, als dass man den Menschen einfach als einen Bauteilkasten verstehen kann. Alle technologischen Ansätze, die trotzdem mit diesem Konzept arbeiten, werden immer starke Folge- und Nebenwirkungen haben. Insofern glaube ich, dass die Versprechen immer ein Stückchen zu hoch gehängt sind. Wir werden noch sehr viel länger Grundlagenforschung machen müssen, als wir alle glauben. Sie sehen das wunderbar an dem Beispiel Krebs. Der Krebs sollte nach der Prognose der 70er- und 80er Jahre schon längst besiegt sein. Warum ist er noch nicht besiegt? Weil Krebs ein integrativer Teil komplexer Organismen ist; er ist gewissermaßen der Preis, den komplexe Organismen für ihre Komplexität zahlen. Ihn zu bekämpfen, ist ohne ein tiefes Grundverständnis auf zellularer und molekularer Ebene gar nicht möglich. Insofern sind wir ganz am Anfang eines wirklichen Verständnisses von dem, was Leben ist.

Das Parlament:    Müssen wir nicht eine andere Einstellung zur Gentechnik insgesamt bekommen, um der Entwicklung ihren Lauf zu lassen? Im Moment suchen wir ja nach Restriktionen. Der Forschungsbereich wird nicht von der Leine gelassen.

Matthias Horx:     Das ist auch das Resultat einer verpfuschten Kommunikationspolitik. Man hat uns die falschen Dinge versprochen. Die Gentechnologen haben uns versprochen, dass wir Nahrungsmittel erhalten, die besser, schöner, gesunder sind. Was haben wir erhalten? Nahrungsmittel, die vielleicht effektiver anzubauen sind, die im Rahmen industrieller Verwertungen Rationalisierung ermöglichen. Aber interessiert das den Kunden? Bietet es ihm einen Mehrwert, wenn gentechnisches Soja angebaut wird?

Das Parlament:    Aber vielleicht interessiert das die Menschen in Entwicklungsländern.

Matthias Horx:     Indien ist heute ein großer Exporteur von Weizen. Die "grüne Revolution" Nr. 1 - die Effektivierung der Landwirtschaft - hat dort unheimliche Produktivitätszuwächse gebracht, so dass wir heute diese Länder auch ohne solche Turboprodukte ernähren können. Wir haben doch heute eine ganz andere Fragestellung: die der Qualitätsprodukte. Es kann ja sein, dass wir durch Gentechnik im Agrarsektor noch weitere Produktivitätssteigerungen hinbekommen. Nur frage ich Sie: Welcher europäische Konsument hat daran ein unmittelbar einsichtiges Interesse? Die Entwicklung der Grünen Gentechnik verläuft eher auf der Folie von Konzernstrategien, weniger auf Grund erlebbarer Vorteile. Ich weiß, dass das nicht so sein muss. Aber wir brauchen dringend eine andere Forschungs- und Kommunikationskultur. Wir brauchen Forscher und Entwickler, die in der Lage sind, so über ihre Sujets zu sprechen, dass die Menschen es auch verstehen. Sie müssen sich auch selber in Frage stellen und nicht nur ihre eigenen linearen Interessen verfolgen. Das halte ich für ganz entscheidend.

Das Parlament:    Wie werden wir das erreichen?

Matthias Horx:     Ich glaube an einen technologischen Evolutionsprozess, in dem Technologien immer durch das Fegefeuer der Kritik gehen und sich dabei im positiven Sinn verändern und demokratisieren. Technologie ist immer eine Wechselwirkung zwischen Soziotechniken und technologischen Möglichkeiten. Dieser Anpassungsprozess findet eben heute in diesem Feld langsam statt. So ganz langsam entsteht auch ein öffentlicher Diskurs über das, was Gentechnik kann. Aber ganz wichtig ist eben auch, zu benennen, was sie nicht kann, was vielleicht eine Fehlanwendung ist.

Das Parlament:    Haben Sie ein Beispiel?

Matthias Horx:     Natürlich kann man mit gigantischem Aufwand gentechnische Therapien für Krankheiten entwickeln, die dann aber logischerweise das gesamte Gesundheitssystem ruinieren würden. Sie könnten aber auch versuchen, in einem gesellschaftlichen Konsensprozess das Gesundheitsverhalten der Bevölkerung zu verändern, und sie würden für einen Bruchteil der eingesetzten Summe einen viel größeren Effekt haben. Worauf ich hinaus will, ist folgendes: Führt letzten Endes die Auseinandersetzung mit dem Genom zu einem tieferen Verständnis von Gesundheitsprozessen im gesunden Körper? Das wäre für mich die symbiotische Strategie, die die richtige ist und die letzten Endes immer auch das Wesen von gelungenen Technologiepfaden war. Das Auto hat unser Verhalten, unser Denken, unser räumliches Vorstellungsvermögen verändert, es hat unsere "inneren Mobilitäten", unsere Sozialstrukturen, verändert. Aber es musste bis dahin einen gewaltigen Prozess durchlaufen. Denken Sie daran, dass wir im Jahre 1970 noch 21.500 Verkehrstote hatten. Das wären, auf die heutige Verkehrsdichte hochgerechnet, 260.000 Todesopfer pro Jahr. Das würde keine Gesellschaft akzeptieren.

Das Parlament:    Sie sprechen gerade das Thema Tod an. Wie wird das in Zukunft sein. Werden wir unser Leben verlängern oder gar mit Hilfe der Gentechnik unsterblich?

Matthias Horx:     Menschen werden immer davon träumen, ihr Leben zu verlängern und ihre Lebensqualität zu erhöhen. Das ist der tiefe Impuls, der in jeder Zivilisation steckt. Wir werden versuchen, unsere Lebensspanne auszuweiten, und in 150 Jahren werden wir das auch können. Dann entstehen natürlich ganz andere ethische Fragen.

Das Parlament:    Wie alt werden wir denn in 50 oder 100 Jahren werden können?

Matthias Horx:     In 100 Jahren werden wir die ersten Hardcore-Gentechnikanwendungen sehen. Dann kann man entscheiden darüber, ob man ein Kind in die Welt setzen will, das eine natürliche Lebenserwartung von 130 Jahren hat, analog zu unseren heutigen 80 Jahren. Das scheint mir realistisch. Einige werden dies tun und andere werden es lassen, so dass eine Zeitlang ein gewaltiger Kulturkampf toben wird. Es wird eine Parallelgesellschaft von Langlebigen und Kurzlebigen geben. Das wird ein spannender Prozess. Da wird sich die Spezies zum ersten Mal genetisch selbstmanipuliert teilen: Wir werden zwei Spezies.

Das Parlament:    Wird es dabei auch einen qualitativen Unterschied zwischen beiden geben, also zum Beispiel eine Gattung Mensch, die langlebig, erfahren und damit intellektuell sein wird und eine andere unwissende, dumme?

Matthias Horx:     Biologisch ist Intelligenz nicht einfach "herstellbar", sie ist eine Wechselwirkung. Was wir auch wissen ist, dass alle menschlichen Anstrengungen des Geistes, des Intellektes, der Kreativität an unsere Todeserfahrung gebunden sind. Das heißt: Es könnte sein, dass da auch eine dekadente Rasse entsteht, ähnlich wie die Eloy in der berühmten Zeitmaschine von HG Wells. Diese Szenarien sind alle denkbar. Evolution ist natürlich nicht genau vorhersehbar. Aber wir werden sicherlich einen Systemwiderspruch zwischen Langlebigkeit und Kurzlebigkeit haben. Kurzlebigkeit hat große evolutionäre Vorteile, sonst hätte die Natur sie nicht erfunden.

Das Parlament: Verändert sich unser Verhältnis zum Leben und zur Individualität, wenn wir die Freiheit der Selbstmanipulation haben?

Matthias Horx:     Das glaube ich eher nicht, weil alle differenzierten Gesellschaften das Individuum immer mehr betonen. Wir erleben ja schon jetzt eine Gesellschaft, die immer differenzierter wird, in der verschiedene Lebensformen entstehen. Diese Diversifizierung wird sich weiter entwickeln, denn alles Komplexe braucht Differenzierung. Gewinnen werden alle Kulturen, die die Individualität feiern. Insofern wird auch die künftige Gentechnik eher das Unikat bevorzugen als den Klon. Das Klonen von Menschen ist zum Beispiel eine der Anwendungen, die nicht stattfinden wird. Es ist schlichtweg langweilig. Jeder der Kinder bekommt, möchte die Einmaligkeit dieses Vorgangs erleben, er sucht in seinem Kind ja gerade das Einzigartige! Die Klonvision ist letztlich die Horrorvision einer vergangenen totalitären Epoche. Man kann natürlich immer ein Horrorszenario vertreten und sagen, es kommen lauter kleine Hitlers. Nur: Lauter kleine Hitlers wären nur ein Witz gewesen!

Das Parlament:    Werden wir eine andere Einstellung zur Religion und zu Gott bekommen?

Matthias Horx:     Die Geschichte der Menschheit ist immer auch die Geschichte der Emanzipation des Einzelnen gewesen, auch der Emanzipation von magischen Mächten. Deshalb wird es keinen allgemeinen Atheismus geben, aber unser Gottesbild wandelt sich, wie es schon seit Jahrtausenden feststellbar ist: Aus einem gnadenlosen, strafenden Gott wurde ein dialogischer Gott, aus starren Religionen wurde in den meisten Kulturkreisen ein offeneres System. Unser Glauben wird immer individualistischer, und das gilt letzten Endes auch für die islamische Welt, die viel differenzierter ist, als wir glauben. Eine neue Multi- Spiritualität wird in Zukunft die monokulturellen Religionen ersetzen.

Das Parlament:    Wir bedanken uns für das Gespräch.

Das Interview führte Barbara Minderjahn.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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