Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 14 / 03.04.2006
Angelika Gardiner

Nancy hat einen Traum

Mädchenfussball hilft in Kenia vor allem Straßenkindern
"Auf einmal gab es von irgendwoher einen Ball, und seitdem spiele ich." Genaueres weiß die 15-jährige Nancy Wangari heute nicht mehr über den Tag vor ungefähr vier Jahren zu sagen, der in ihr das Fußballfieber entzündete. "Ich will Profi werden, und ich bin sicher, ich schaffe das."

Die Mädchen, die auf einem etwas abschüssigen Rasenplatz in den Ngong Hills nahe der kenianischen Hauptstadt Nairobi gerade eine Trainingspause einlegen, nicken zustimmend. Sie alle wollen Fußballerinnen werden, auch wenn sie noch nicht recht wissen, wie das gehen soll. Jede hatte schon harte Zeiten hinter sich, bevor sie im Anita Home, einem Heim für Mädchen aus desolaten oder gefährlichen Lebensumständen landete: Massaimädchen, die vor Zwangsheirat oder Genitalverstümmelung geflohen waren, Slumkinder aus Alkoholikerfamilien, Straßenkinder, um die sich niemand kümmerte. Fußball ist für sie der Traum von Karriere und Glück. Oder, wie das Kikuyu-Mädchen Nancy sagt, "unsere einzige Hoffnung".

Die 13- bis 17-jährigen Mädchen, die in jeder freien Minute zusammen trainieren, sind besser dran als die meisten anderen Kids: Sie können hinter einem echten Ball her rennen, und vor allem: Sie haben eine echte Trainerin. Die 27-jährige Lillian Ayodi, die tagsüber als Buchhalterin arbeitet, opfert fast ihre gesamte Freizeit für ihre jungen Fußballerinnen. "Meine Mädchen sind wirklich gut", sagt sie stolz. "Fast immer gewinnen sie, wenn sie gegen die Teams aus Mathare oder Kawangware antreten." Die Spielerinnen aus diesen beiden Hauptstadtslums gelten als besonders rück-sichtslos. "Wer dort das Fußballspielen gelernt hat, ist hart im Nehmen", weiß Lillian. Aber auch ihre Mädchen sind erprobte Kämpferinnen. Die 17-jährige Anne Waimatha, die gerade eine Ausbildung als Mechanikerin macht und später Polizistin werden will, ist bei Wettkämpfen wegen ihres kompromisslosen Körpereinsatzes gefürchtet. Verteidigerin Elisabeth Wanza, eine eher gemütlich wirkende 16-Jährige, hat als Tochter einer gelähmten Drogendealerin zwei Jahre auf der Straße gelebt, geklaut, geschnüffelt und sich geprügelt. Sie kennt alle Überlebenstricks der Slumkinder. Die harten Kickerinnen aus ihrem ehemaligen Umfeld machen ihr keine Angst.

Sonntagmittag in Mathare, mit rund einer halben Million Einwohner eines der größten Elendsviertel Afrikas. Aus baufälligen Bretterbuden dringen biblische Hymnen, zwischen Müllbergen und stinkenden Gräben hocken Frauen, die gebrauchte Kleidung, Kürbisse oder Kaugummi feilbieten. Mehrere Jugendmannschaften tragen ein Turnier aus, bei dem erst die Jungen, dann die Mädchen antreten. Der Platz, auf dem sie spielen, sieht denkbar ungeeignet aus, obwohl die Jugendclubs der Gegend seit einer Woche versucht haben, ihn einigermaßen zu säubern. Noch immer ragen alte Plastiktüten wie Teppichfransen aus dem festgetretenen Boden. Pfützen und Buckel lassen ahnen, dass hier nicht nur Müll deponiert wurde. Die Tore müssen auf- und nach dem Turnier wieder abgebaut werden, damit sie niemand klaut. Für ihre ehrenamtlichen Vor- und Nacharbeiten kriegen die Jugendclubs von Mathare Punkte gutgeschrieben, die später in die Gesamtwertung bei sportlichen Turnieren einfließen.

Die Mädchen, die sich mit Lockerungsübungen auf ihr Spiel vorbereitet haben, müssen wirklich schmerzbereit sein: In keinem Team haben mehr als die Hälfte der Spielerinnen so etwas wie Sportschuhe an den Füßen. Manche tragen Flipflops, die dann schon mal zusammen mit dem Ball durch die Luft fliegen. Andere spielen barfuss oder in Socken, auch auf die Gefahr hin, das beim Kicken ein paar Zehen zu Bruch gehen. Am Rand des holprigen Fußballfelds zieht ein Mädchen in aller Eile die geliehenen Schuhe aus und gibt sie an die nächste Spielerin weiter. Auch so etwas kommt vor: Zwei Jugendliche teilen sich ein paar Schuhe, damit jede wenigstens mit einem Fuß vernünftig kicken kann.

Lillian Ayodis Schützlinge können immerhin in gleichfarbigen blauen Trikots antreten, geliehen von der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung. Das kenianische Büro der Stiftung unterstützt die sportlichen Aktivitäten, denn - so die Einschätzung der Sozialpädagogin Emma Awuor - damit können vor allem Straßenkinder dazu bewegt werden, ein bisschen mehr aus sich und ihrem Leben zu machen. Wenn sie erleben, wie viel Spaß es macht, gemeinsam etwas zu leisten, sind viele von ihnen bereit, auch auf andere Angebote einzugehen. Dazu gehört unter anderem, dass sich die Jungen und Mädchen angesichts der hohen HIV/Aids-Rate in Kenia auch mit Sexualaufklärung befassen, den Gebrauch von Kondomen lernen und ganz allgemein Verantwortung gegenüber anderen Menschen einüben. Oft finden die Jugendlichen sogar wieder Gefallen an der Schule. Oder sie geben die in den Armenvierteln üblichen Drogen auf. "Ich habe früher gekifft und Schuhmacherleim geschnüffelt", erzählt die 14-jährige Purity Wairimu in einer Spielpause. "Das lasse ich jetzt sein, weil ich sonst nicht fit genug fürs Fußballspielen bin."

Vor der zweiten Halbzeit umarmen sich die Mädchen in einem engen Kreis und sprechen ein kurzes Gebet. "Das ist wichtig fürs Gemeinschaftsgefühl", erklärt Trainerin Ayodi. "Davon zehren die Mädchen. Sie bekommen ja noch geringere Anerkennung als die Jungen." Zu den Spielen der Mädchen kommen weniger Zuschauer, und auch die lästern häufig nur. "Obwohl bei uns Mädchen genauso gern und gut spielen wie die Jungen, wird Frauenfußball immer noch nicht ernst genug genommen", beschwert sich Lillian Ayodi. Die 27-Jährige ist vor allem auf die Funktionäre des kenianischen Fußballverbands nicht gut zu sprechen. "Sie reden zwar davon, aber sie tun nichts für den Nachwuchs. Fußball ist ihnen keine Herzensangelegenheit, sondern nur eine Plattform, um Karriere in der Politik zu machen." Ein Vorwurf, dem auch die anderen Trainer auf dem Platz beipflichten. Ganz schnell ist auch der Verdacht der Korruption auf dem Tisch. "Fördergelder kommen nie unten bei den Spielern an", behauptet Schiedsrichter Teddy Kimani, 24, der im Hauptberuf davon lebt, Schrott zu sammeln und zu verkaufen. "Das Geld stecken sich die Herren in die eigene Tasche." Wie zum Beweis holt er eine Zeitung vom Vortag hervor, in der über einen Streik der Nationalmannschaft berichtet wird. Die Spieler weigerten sich, in ein Trainingslager zu fahren, weil sie Fahrtkosten und Übernachtung selbst zahlen sollten. "Es kann einfach nicht sein, dass dafür keine Mittel mehr da sind", kritisiert der junge Schiedsrichter.

Dem Fußballnachwuchs in dem ostafrikanischen Land fehlt es einfach an allem. Kenia, als Fußballnation nicht gerade in vorderster Linie, tut schon für den männlichen Spielernachwuchs wenig genug. Für die Mädchen bleibt da erst recht kaum etwas übrig. Dabei sind Kenias Kinder regelrecht fußballverrückt, je ärmer desto heftiger. Ob in den Slums oder in der Massai-Steppe, sie jagen hinter allem her, was einigermaßen rund ist. "Die Kinder lernen schon in der Schule, aus Plastiktüten mit einem Stein in der Mitte und Schnüren außen herum einen Ball zu bas-teln. Aber sie haben niemanden, der ihnen die Regeln beibringt", fasst Emma Awuor die Situation zusammen. Immerhin hat Dan Omino, einer der führenden Köpfe des kenianischen Fußballverbands und zuständig für die Nachwuchsförderung, schon mal in Aussicht gestellt, in Zukunft wenigstens die Ausbildung der Ausbilder zu verbessern.

Lillian Ayodi hofft, davon auch einmal profitieren zu können. "Ich würde gern meinen Mädchen mehr beibringen können", sagt sie. Vor allem Nancy Wangari, die begabteste aus ihrer Riege, bräuchte gezielte Unterstützung. Die drahtige 15-Jährige musste nach der achten Klasse die Schule verlassen, weil ihre verwitwete Mutter das Schulgeld nicht mehr aufbringen konnte. Von dem armseligen Dorf Gishagi, wo Nancy mit ihrer zahlreichen Familie in einer fensterlosen Hütte ohne fließendes Wasser oder Elektrizität haust, geht sie fast jeden Tag eine Stunde weit zu Fuß zum Training im Anita Home. "Ich habe keine Arbeit und kein Geld. Wenn ich Fußballprofi werde, kann ich damit meine Familie ernähren", hofft das Mädchen. Nancys Mutter ist eine hart arbeitende Frau, die den Traum ihrer jüngsten Tochter mit träumt. Auf dem kleinen Acker der Familie baut sie Mais und Kartoffeln an, und wenn nichts mehr zum Essen da ist, geht sie ins Tal und wäscht die Wäsche reicher Leute. Ihrer Tochter hat sie von ihrem Lohn bereits eigene Sportschuhe und ein eigenes Trikot gekauft, das Nancy nach jedem Spiel behutsam auswäscht und auf die Trockenleine hängt. "Meine Mutter glaubt an mich", weiß das Mädchen. "Welche Hoffnung auf ein besseres Leben hätte sie denn sonst?"

 

Informationen über Hilfemöglichkeiten:
Deutsche Stiftung Weltbevölkerung
www.dsw-online.de


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