Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 17 - 18 / 24.04.2006
Jo Groebel

Die Politik erobert das Internet

Im Vergleich: digitale Demokratie spielt in allen EU-Staaten eine große Rolle
Es war ein Aufbruch an diesem Mai-Abend 1995 in Utrecht. Hunderte Bürger fanden sich aufgeregt im gotischen Dom der niederländischen Stadt zusammen, um das demokratische Internet-Zeitalter einzuläuten. Telekratie, E-Communities, elektronische Partizipation waren als Begriffe international zwar schon lange bekannt und von Insidern weiter entwickelt worden. Doch ins Bewusstsein aller Bürger rückten die neuen Möglichkeiten in den Niederlanden, in Deutschland, den USA, fast allen Ländern erst in dem Moment, in dem die herkömmlichen Massenmedien das Internet als potenzielle Gesellschaftsrevolution entdeckten und zum Großthema machten.

Eine Dokumentationsserie zur Hauptsendezeit über das MIT, über Negroponte, das Magazin "WIRED" und vor allem die Gurus, Macher und Experten der künftigen digitalen Welt hatten beim westlichen Nachbarn den Stein ins Rollen gebracht. Bereits Wochen später griff Königin Beatrix in ihrer programmatischen Thronrede die politischen Möglichkeiten des Internets auf, gefolgt von Infrastrukturmaßnahmen, staatlichen und privatwirtschaftlichen Investitionen, unzähligen Bürgerforen über das und auf dem Internet, Alt und Jung sahen einen neuen ökonomischen Boom, planten eine noch demokratischere Welt. Ähnlich verlief dieser Prozess in vielen Weltregionen.

Die Niederlande sind insofern interessant, als hier eine jahrhundertealte Demokratie mit einem technologisch hoch entwickelten Land und einem ausgeprägten Innovations- und Veränderungsenthusiasmus zusammenkam, gekoppelt mit einer gehörigen Prise Profitinstinkt sowie Lust an Querdenken und Protest. Ein also idealer Motor für den digitalen basisdemokratischen Fortschritt aller Bürger. Es entstand die Digitale Stad Amsterdam, eine Art Gegenentwurf zur herkömmlichen Stadt mit Debatten, Aktionen, Referenden. Die Gemeinde Tilburg bot eine frühe Form von E-Governance bis hin zu Internet-Verbindungen auf öffentlichen Plätzen und einer Verlagerung bürokratischer Abläufe vom Amt ins Netz.

Ernüchterung nach dem Boom

Dem Enthusiasmus folgte allerdings spätestens mit dem Zusammenbruch des so genannten Internet-Hype Anfang des 21. Jahrhunderts im Polderland wie in vielen anderen Ländern Ernüchterung, die erst allmählich wieder einer Begeisterung für das mittlerweile Erreichte weicht.

Heute sind es im europäischen Vergleich eher die nordwestlichen beziehungsweise skandinavischen Staaten, besonders Finnland, Niederlande, Großbritannien, Schweden, in Teilen auch Deutschland, die eine durchgängige institutionalisierte Infrastruktur zur digitalen Bürgerbeteiligung zusammen mit vielen kreativen Plattformen und halboffiziellen Initiativen aufgebaut haben.

So zeigt ein soeben von der deutschen Plattform politik-digital zusammen mit dem British Council durchgeführter deutsch-britischer Vergleich, dass auf der Insel die öffentlich-rechtliche BBC eine herausragende Rolle beim Angebot nicht nur Insider ansprechender Online-Plattformen zur Politik spielt. Gerade diese - notwendige - Kombination aus Maß- und Massenkommunikation schafft nämlich erst die Möglichkeit, ein populäres anregendes Breitenprogramm mit der digitalspezifischen themen- und zielgruppengenauen Ansprache halbwegs Interessierter zu verknüpfen.

Immerhin hat auch jedes weitere Land Europas, zumindest in Ansätzen, Initiativen für digitale Politikpartizipation. Besonders die Informations- und Interaktionsfunktion der digitalen Welt kommt hier zum Tragen. Informelle wie institutionalisierte Plattformen haben in den meisten Ländern heute ein hohes professionelles wie sozialdynamisches Niveau erreicht, egal, ob es sich um Wahlforen, Parteiensites, Regierungskommunikation, Bürgerinitiativen, oder Behördentransaktionen handelt. Politisch von vornherein Interessierte haben eine neue Kultur der unmittelbaren, universalen und unabhängigen Debatte geschaffen, die Grenzen überschreitet und zugleich innerhalb von Minuten auf Aktualität reagiert und Aktualität schafft. In der Mischung aus neuen Formen von Öffentlichkeit und Privatheit sind viele politische Prozesse, viele Politikakteure transparenter geworden, was durchaus in den herkömmlichen Gesellschaftsbetrieb ausstrahlt.

Es ist jedoch nicht gelungen, politisch Desinteressierte trotz der niedrigeren Zugangsschwellen, die das Internet bietet, für differenzierte Politikthemen und -debatten zu begeistern.

Außerhalb der Insider-Communities setzt das Netz herkömmliche Strukturen fort, verstärkt sie sogar. Vorurteile und Gerüchte werden schneller verbreitet, bei den populistischen Aktionen mit fremdenfeindlichen Akzenten in den Niederlanden herrschte bei den thematisch nicht breit Interessierten in der Internet-Kommunikation ein extrem aggressiver Tonfall vor. Eine wirkliche Verlagerung politischer Willensbildung und politischer Entscheidungsprozesse jenseits praktischer technischer Verbesserungen auf die digitalen Foren, die sich dafür anbieten, hat national wie international im Sinne eines integrierten Gesamtkonzeptes kaum stattgefunden. Christoph Dowe, Geschäftsführer von politik-digital spitzt es für Deutschland zu: "Politische oder politiknahe Institutionen haben den Eindruck, keinen Spielraum für Experimente zu haben, da diese auch scheitern könnten."

Diese vielleicht in der Bundesrepublik besonders ausgeprägte Risikoangst wird auch dadurch genährt, dass mehrere Dilemmata der digitalen Demokratie nicht lösbar sind: Dem unbegrenzten Informationsangebot steht eine sehr begrenzte Informationsverarbeitungskapazität und -bereitschaft bei den meisten Menschen gegenüber. Die Hürden einer sich automatisch ergebenden gruppendynamischen Meinungsführerhierarchie und Einflussabstufung ähnlich der herkömmlichen Welt sind auch in der digitalen nicht überwindbar.

Zwischen Themenvielfalt und Themennähe der Nutzer besteht eine meist negative Korrelation. Selbstselektiv widmen sich freiwillig digital Aktive den wenigen Bereichen, die sie hochgradig interessieren. Das Prinzip der repräsentativen Demokratie, dass man Wissen, Vertrauen und Entscheidungen an wenige delegiert und den Gewählten, dann weiter den Fachkommissionen anvertraut, gilt auch für die informellen Politikplattformen.

Die Thementiefe ist also auch in der digitalen Welt zwangsläufig das freiwillige Privileg einiger weniger Nutzer.

Dennoch hat sich die Demokratie, soweit es das Internet betrifft, positiv verändert. Der internationale Vergleich zeigt bei aller Vorsicht, dass dabei eher die Länder ausgefeilt funktionierende Modelle haben, die bereits eine lange "analoge" Tradition der Bürgerbeteiligung haben. Immerhin gibt es auch den "leap-frog"-Effekt, den Sprung aus kaum vorhandenen Partizipationsstrukturen in eine interessante digitale Politikteilhabe, zum Beispiel in Estland.

Neben den bereitgestellten nationalen Handlungsoptionen für politisches Handeln, die sich vervielfacht haben und jederzeit zugänglich sind, hat sich vor allem, möglich erst durch die grenzüberschreitende Direktvernetzung, eine internationale Gemeinschaft herausgebildet, die voneinander lernt, gegenseitige Impulse setzt, und trotz der genannten nationalen Eigenarten und Hemmnisse eine fruchtbare Mischung zwischen institutionalisierten und informellen Plattformen entwickelt hat.

 

Der Autor ist Direktor des Deutschen Digital Instituts in Berlin.

www.deutsches-digital-institut.de


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.