Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 28 - 29 / 10.07.2006
Henning van den Brink

Schillernd und unheilvoll

Kriminologie und Kriminalpolitik

Kriminalität gibt es schon so lange, wie Menschen in Gemeinschaften und Gesellschaften leben und für ihr Zusammenleben Regeln aufstellen. Dass Kriminalität jedoch keineswegs ein abnormes, sondern ein normales, keineswegs ein zwangs- läufiges, sondern ein notwendiges Phänomen ist, erkannte erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts der französische Soziologe Emile Durkheim. Kriminalität ist nichts Naturgegebenes, sondern immer ein gesellschaftliches Konstrukt und unterliegt einem permanenten Wandel. Diese Erkenntnis hat die deutsche Kriminalpolitik und -wissenschaft lange beharrlich ignoriert.

Der Historiker Imanuel Baumann rekapituliert in seinem Buch "Dem Verbrechen auf der Spur" 100 Jahre deutsche Kriminalpolitik im ständigen Wechselspiel mit der Kriminologie. Er führt eindrucksvoll vor Augen, dass die Bekämpfung und Erklärung von Kriminalität zuweilen ebenso schillernde und unheilvolle Züge angenommen haben wie Kriminalität selbst. Die Kriminalpolitik im Dritten Reich ist da nur ein, wenn auch zweifellos das bislang drastischste Beispiel dafür.

Wir können heute auf eine lange Entwicklung der "Verwissenschaftlichung des Sozialen" zurückblicken, die sich insbesondere auch auf dem Gebiet der Kriminalität vollzogen hat: von der Kriminalanthropologie über die Kriminalbiologie bis zur Kriminalsoziologie. Da dieser Prozess durch einen schleichenden Charakter gekennzeichnet ist, sind historische Rekonstruktionen, wie sie Baumann vornimmt, wichtig, um ihn überhaupt erstmal aus dem Zeitgeschehen herauslösen zu können. Nur dann können Rückkopplungseffekte zwischen den einzelnen Entwicklungssträngen in Gesellschaft, Politik und Wissenschaft identifiziert werden.

Baumann kommt zu dem Schluss, dass man trotz der Demokratisierung mit der Gründung der Bundesrepublik nicht von einem Neubeginn oder einer Stunde Null in der deutschen Kriminalpolitik und -wissenschaft sprechen kann. Auch hier konnten sich alte Deutungs- und Argumentationsmuster hartnäckig halten. Sie wurden lediglich amalgamisiert mit neuen, moderaten Ansätzen. Es bedurfte schon einer radikalen Antithese, um die Deutungshoheit der alten Garde in Politik und Wissenschaft über Kriminalität zu brechen. So wie die 68er-Protestbewegung die gesellschaftliche und politische Landschaft heftig durcheinanderwirbelte und die junge Demokratie in Deutschland erstmals als solche erlebbar machte, krempelten die kritischen Kriminologen um Fritz Sack fast zeitgleich die deutsche Kriminalwissenschaft mit neuen kriminalsoziologischen Ansätzen aus den USA um.

Für seine Analyse, bei der Baumann auf eine breite Quellenauswahl zurückgreifen kann, bedient er sich erfreulicherweise jenes Schreibstils, der gleichermaßen den Ansprüchen nüchterner analytischer Präzision genügt als auch den Willen und die Kompetenz erkennen lässt, dem Leser die erforschten Zusammenhänge engagiert und verständlich nahe zu bringen. Was er auf stattlichen 430 Seiten anschaulich entfaltet, strotzt nur so vor aufschlussreichen Informationen und Interpretationen über die Wandlungen, Windungen und Wendepunkte in der wissenschaftlichen und politischen Kriminaldebatte. Dabei fällt nicht weiter ins Gewicht, dass er den Einfluss der amerikanischen Soziologie auf die deutschsprachige Kriminologie vor allem in den 60er- und 70er-Jahren nicht tiefgründiger thematisiert.

Aufkommen des Präventionsgedanken

Auch wenn die Beschränkung des Untersuchungszeitraums von 1880 bis 1980 dem Forschungsfokus geschuldet ist: Der Leser hätte sich sicherlich gefreut, hätte Baumann auch die jüngsten Entwicklungen seit den 80er-Jahren berücksichtigt, zu deren Auffälligkeiten sicherlich der kometenhafte Aufstieg des Präventionsgedankens zählt, der sich beispielsweise in der großen Gründungswelle kriminalpräventiver Einrichtungen auf kommunaler Ebene Anfang der 90er-Jahre manifestiert.

Ein weiteres kleines Manko des Buches ist, dass sein Verfasser sich manchmal in Details verliert, deren Relevanz für den Gang der Argumentation sich auch auf den zweiten Blick nicht erschließen, anstatt seine interessanten Befunde noch stärker miteinander zu verbinden und zu verdichten.

 

Imanuel Baumann
Dem Verbrechen auf der Spur.
Eine Geschichte der Kriminologie und Kriminalpolitik in Deutschland 1880 bis 1980.
Wallstein Verlag, Göttingen 2006; 430 S., 46 Euro.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.