Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 28 - 29 / 10.07.2006
Johannes L. Kuppe

Schöne und hässliche Etiketten

Zum 100. Geburtstag von Herbert Wehner
Eckig und kantig war er, bewundert und gefürchtet von politischen Freunden und Gegnern gleichermaßen: Herbert Wehner. Am 11. Juli wäre er 100 Jahre alt geworden. Pünktlich hat der Historiker Christoph Meyer eine Biografie über den 1990 verstorbenen SPD-Politiker vorgelegt.

Die erste Frage ist: Kann dieser Autor ein halbwegs objektives Buch über Herbert Wehner schreiben? Christoph Meyer ist nämlich Leiter des Herbert-Wehner-Bildungswerkes in Dresden. Die klare Antwort nach der Lektüre lautet: Er kann. Meyer wahrt hinreichend kritische Distanz, auch wenn er immer wieder Sympathie für sein Forschungssubjekt zu erkennen gibt - und das kann man ja einem Biografen wahrlich nicht vorwerfen. Schon 1978 ist die ebenso umfangreiche Wehner-Biografie der beiden Journalisten Alfred Freudenhammer und Karlheinz Vater erschienen. Meyer hat jetzt sehr viel mehr Quellen auswerten können.

Der Umfang des Buches entspricht den gravierenden Spuren, die Richard Herbert Wehner in der Geschichte Deutschlands im letzten Jahrhundert hinterlassen hat. Wie viele schöne und hässliche Etiketten sind diesem Mann zu Recht und zu Unrecht schon aufgeklebt worden! Wir erinnern uns noch an "politisches Urgestein", "Zuchtmeister" (der SPD-Bundestagsfraktion), "Verräter", "Oberhetzer" aber auch "Ziehvater" und "Onkel Herbert". Kaum ein anderer deutscher Politiker hat sich so viele Verdächtigungen und Mutmaßungen gefallen lassen müssen.

Wer Wehner aus Bonner Nähe beobachten konnte, erinnert sich noch gut, wie er auch vor laufenden Kameras schnauzen und TV-Reporter "abputzen" konnte, an seinen beißenden, manchmal wortmalerischen Spott im Bundestag, an seine häufig endlos langen Stakkato-Sätze und an seine blitzschnellen Reaktionen auf Zwischenrufe, die er meistens zu seinen Gunsten konterte. Wehner war 33 Jahre SPD-Bundestagsabgeordneter. Kein anderer hat pro Wahlperiode so viele Ordnungsrufe des Präsidiums kassiert wie er.

Doch wer war dieser Mann wirklich, welcher Mensch verbarg sich hinter einer so rauen Schale? Meyer schafft es, und das viel mehr als Freudenhammer und Vater, das menschliche Profil Wehners zu entfalten. Wir erleben ihn als Schreiber romantischer Gedichte, als bindungstreuen Familienmenschen, als zuverlässigen Freund, als einen, der um Wahrheiten ringt, fern von Selbstgewissheit und politischer Linientreue.

Obwohl Meyer - und das tut der Sache gut - auch viel zeitgeschichtlichen Hintergrund nachzeichnet, gelingt es ihm, die persönliche Entwicklung und das Handeln Wehners aus den jeweiligen Zeitumständen heraus plausibel zu machen.

Brüche im Lebensweg

Der 1906 in Dresden geborene Wehner, Arbeiterkind aus erzsozialdemokratischem und protestantischem Elternhaus, hochbegabt und bildungshungrig, hat die Anarchisten - Proudhon, Stirner, Bakunin - lange vor Marx gelesen. Doch wurde er der einzige deutsche Politiker, der sich in seinem Leben vom Anarchisten zum revolutionären Sozialisten, dann zum Kommunisten und schließlich zum überzeugten und überzeugenden (Sozial-)Demokraten gewandelt hat.

Warum und wie die Brüche in Wehners Lebensweg entstanden sind und abliefen, erzählt Meyer in überzeugender Form. Er kann dadurch einen Teil der Verdächtigungen zerstreuen, mit denen Wehner zeitlebens überzogen wurde. Weder sein Verhalten in der Moskauer Emigration noch im Exil in Schweden, wohin ihn die Komintern geschickt hatte, um den kommunistischen Widerstand gegen Hitler in Deutschland neu aufzubauen, gibt Anlass zu moralischer Kritik. Jedenfalls hat er in Moskau keine Genossen an den NKWD verraten. Später in Schweden hat er auch nicht durch Leichtsinn die Verhaftung deutscher Kommunisten durch die Gestapo ermöglicht. Vielmehr ist letzteres dem höchst unfähigen KPD-Funktionär Karl Mewis anzulasten, der ihn auch bei der in der Mos-kauer Isolation lebenden KPD-Führung denunzierte, worauf diese dann Wehner auf Betreiben Walter

Ulbrichts aus der KPD ausschloss.

Im umfangreichen Hauptteil dieses Buches, fokussiert auf den Bundestagsabgeordneten Wehner, räumt Meyer unter anderem mit dem Vorwurf auf, Wehner habe Bundeskanzler Willy Brandt aus Anlass der Guillaume-Affäre 1974 zum Rücktritt gedrängt oder diesen betrieben. Man kann jetzt auch nachlesen, warum sich gleichwohl ein freundschaftliches Verhältnis zwischen beiden Männern nie entwickeln konnte.

Wehners radikaler Bruch mit dem leninistischen Kommunismus vollzog sich im schwedischen Gefängnis und der anschließenden Internierung (1942 - 1945). Aus dem Jahre 1942 stammt denn auch eine wahrlich prophetische Warnung bezüglich Deutschlands Nachkriegsordnung: "Das Schlimmste wäre der Versuch, gestützt auf eine im Kriege siegreiche Macht, dem deutschen Volk eine ,fertige' Partei aufzwingen zu wollen, die an frühere Parteitätigkeit ,anknüpft', aus ,taktischen Gründen' ihre ,Selbstkritik' auf ein Minimum beschränkt und den Gegner von früher (innerhalb der Arbeiterbewegung) gewaltsam verdrängen wollte." Genau das aber haben Sowjets und SED in SBZ und DDR ab 1945 getan.

Herbert Wehner starb 1990 einen schweren Tod an Altersdemenz. Den Abgang der deutschen Kommunisten von der Weltbühne hat er nicht mehr bewusst erleben dürfen.

Eine schöne Biografie und lehrreiches Geschichtsbuch zugleich. Zur Lektüre empfohlen.

 

Christoph Meyer
Herbert Wehner. Biographie
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2006; 579 S., 16 Euro.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.