Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 28 - 29 / 10.07.2006
Jutta Witte

Sorgen um unscharfes Profil

Hessens SPD auf der Suche nach Programm und Kandidat

Seit siebeneinhalb Jahren sitzen die hessischen Sozialdemokraten auf der Oppositionsbank und ein Ende ist kaum in Sicht. Der Zustand der Partei ist derart besorgniserregend, dass sogar potenzielle Koalitionspartner seit der Kommunalwahl im März, die die CDU erstmals auch auf dieser Ebene zur stärksten Kraft machte, nicht müde werden gute Ratschläge in Richtung der glücklosen Partei auszusenden. Man möge, so appellieren die Grünen, doch möglichst bald einen Kandidaten finden, der in der Lage sei, den Ministerpräsidenten zu schlagen. Und FDP-Fraktionschef Jörg-Uwe Hahn beteuert: "Ich habe ein Interesse an einer starken SPD - um eine absolute CDU-Mehrheit zu verhindern und um das ultralinke Spektrum aufzufangen."

Hatte die bürgerliche Mehrheit aus CDU und FDP nach dem ersten Wahlsieg von Roland Koch 1999 nur einen knappen Vorsprung von zwei Stimmen, regieren die Christdemokraten trotz Spendenaffäre und einer Reihe anderer Skandale mittlerweile allein in Hessen. Auch erfolgreiche Landrats- und Oberbürgermeisterwahlen können den schwarzen Vormarsch offenbar nicht stoppen. In der Multi-Kulti-Stadt Frankfurt brachte die Kommunalwahl den Sozialdemokraten Verluste von 6,5 Prozent, in der ehemaligen Arbeiterstadt Offenbach von 7,3 Prozent. Stabil bleiben zwar die nordhessischen Hochburgen: "Koch hat dreimal versucht Nordhessen zu stürmen und ist dreimal gescheitert", erklärt der dortige SPD-Bezirkschef Manfred Schaub. Der Aufwind im Norden, den der Bürgermeister von Baunatal derzeit verspürt, kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass den Genossen mit 29,1 Prozent ihr schlechtestes Landtagswahlergebnis seit Kriegsende im Nacken sitzt und sie seit drei Jahren vergeblich versuchen zu erklären, wie und mit welchen Inhalten sie die nächste Landtagswahl 2008 gewinnen wollen.

Priorität für soziale Gerechtigkeit

"Wir müssen und werden direkt nach der Sommerpause klar Position beziehen, was die Spitzenkandidatur und die thematischen Eckpunkte angeht", sagt Schaub. Doch wofür steht die hessische Sozialdemokratie gerade in Zeiten der Großen Koalition in Berlin? "Ich habe der Frage der sozialen Gerechtigkeit immer absolute Priorität gegeben", erklärt etwa Parteichefin Andrea Ypsilanti. Die Partei mache sich glaubhaft stark für Bildungsgerechtigkeit und dafür, dass Unternehmen ihre soziale Verantwortung wahrnehmen. "Es gibt auch eine ethische Verantwortung der Wirtschaft", betont die 49-jährige Tochter eines Opel-Arbeiters aus Rüsselsheim.

Den Kampf für soziale Gerechtigkeit zählt auch Jürgen Walter unbedingt zu den Traditionsaufgaben der hessischen SPD, aber nur in Verbindung mit wirtschaftlicher Balance. Am Frankfurter Flughafen das Geld verdienen um es für soziale Aufgaben auszugeben, lautet zugespitzt der pragmatische Ansatz des Fraktionsvorsitzenden: "Eine Landtagswahl", ist der Jurist überzeugt, "ist ohne wirtschaftliche Kompetenz nicht zu gewinnen." Walter baut zudem darauf, dass im Schatten der Großen Koalition anders als bei den beiden jüngsten Hessenwahlen vor allem landespolitische Themen den Ausschlag geben werden: "Koch muss jetzt über sein eigenes Bundesland reden", glaubt der Fraktionschef.

Bildungsgerechtigkeit, Arbeitsplätze, die wirtschaftliche Lage: "Mir fehlt das Profil bei der Landes-SPD", sagt leicht verzweifelt der Sozialdemokrat Erich Pipa. Der Landrat des Main-Kinzig-Kreises fürchtet, dass die hessische SPD als "Partei des Volkes" nicht mehr wahrgenommen wird, vermisst "Nähe zu den Menschen" und Landtagsabgeordnete, die wenigstens einmal im Monat "irgendwo in Hessen erscheinen und zwar nicht nur bei den Funktionären, sondern bei allen möglichen Zielgruppen." Zentrale Themen wie die umstrittenen und derzeit auch durch Sozialdemokraten an vorderster Front heftig umkämpften Studiengebühren müssten besetzt werden bis in die Ortsvereine hinein: "Die hessische SPD", konstatiert der Landrat jedoch, "ist derzeit leider nicht kampagnenfähig."

Doch weitaus stärker als die derzeitige inhaltliche Unschärfe dürfte bei der Neuorientierung der Partei die Frage wiegen, wen sie auf ihrem nächsten Parteitag am 11. November gegen Koch ins Rennen schicken wird. "Wir brauchen einen Kandidaten, der über den Landtag hinaus in der gesamten Bevölkerung wahrgenommen wird", fordert Schaub. Das heikle Thema soll, hat sich die Partei vorgenommen, ganz pragmatisch behandelt werden: "In der Frage der Spitzenkandidatur dürfen Eitelkeiten keine Rolle spielen", lautet Ypsilantis Parole. Das heitere Kandidatenraten konzentriert sich derzeit hauptsächlich auf zwei Personen. Im Raum steht die Parteichefin selbst, die nach der Wahlniederlage von 2003 den Parteivorsitz von Kochs erfolglosem Herausforderer Gerhard Bökel übernommen hat und seitdem vor allem Aufmerksamkeit erregt, weil sie gegenüber der Bundes-Partei zäh auf die Einhaltung ursozialdemokratischer Ideale pocht - etwa bei der Gesundheitsreform oder beim Thema Mindestlöhne. Die Diplom-Soziologin gilt als "liebenswerte Mitstreiterin in der Gesellschaft", wie es ein Parteimitglied formuliert. Dass sie den Regierungschef aus dem Sattel heben kann, bezweifeln jedoch viele.

Ein alter Bekannter soll nun die Kastanien aus dem Feuer holen. Gerhard Grandke, ehemaliger Oberbürgermeister von Offenbach und geschickter Finanz- und Wirtschaftsfachmann, steht erneut auf der Wunschliste der Partei. Sollte Grandke wollen, heißt es, sei die Frage der Spitzenkandidatur im September geklärt. Dann würde dem Ex-OB aller Wahrscheinlichkeit nach auch der Parteivorsitz offen stehen. Nur: Grandke ist nicht nur einigen in der Partei zu bürokratisch. Er wurde zudem vor drei Jahren schon einmal gefragt, hat die Rolle des neuen Hoffnungsträgers seinerzeit dankend abgelehnt und Bökel den Vortritt gelassen. Seit Februar ist der gelernte Soziologe und Pädagoge einer von drei Geschäftsführern der OFB Projektentwicklungsgesellschaft, ein Job, der ihm, wie er gerne verlauten lässt, Spaß macht.

Auch die Kandidatenfrage wird sowohl von Grünen als auch von Liberalen mit Argusaugen beobachtet. Denn die Zeiten, in denen bei entsprechendem Wahlergebnis die Koalition in Hessen automatisch rot-grün hieß, sind vorbei. "Es ist immer noch die wahrscheinlichste Variante", sagt zwar Grünen-Fraktionschef Tarek Al Wazir, aber auch er beobachtet, dass Kooperationen mit der SPD in der Oppositionsarbeit eher selten geworden sind und, wenn sie überhaupt stattfinden, meistens von den Grünen angestoßen werden. Seine Partei, stellt Al Wazir klar, kämpfe für starke Grüne. "Es gibt keine natürlichen Koalitionspartner mehr", wird sein SPD-Kollege Walter deutlicher. "Ein Blick über den Rhein ist ganz hilfreich", spielt Walter auf das sozial-liberale Bündnis an, das bis zur jüngsten Landtagswahl in Rheinland-Pfalz 15 Jahre lang den Ton angegeben hat. Auch der Vorsitzende der hessischen Liberalen denkt mittlerweile gerne an sozial-liberale Zeiten zurück. "Da gäbe es schon Anknüpfungspunkte." Hahn schließt keine Koalitionsaussage aus, aber: "Die Diskussion bleibt akademisch solange die SPD so schwach bleibt."


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.