Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 28 - 29 / 10.07.2006
Sandra Schmid

"Ich will nicht mehr so enttäuscht werden"

Die Situation auf dem Lehrstellenmarkt spitzt sich weiter zu
Treppen und Flure des Altbaus füllen sich: Die Schüler der Realschule drängen hinaus ins Freie. Es hat zur großen Pause in der Luise-und-Wilhelm-Teske-Oberschule in Berlin geläutet. Ela, klein, schmal, mit dunklem Pferdeschwanz, verlässt mit ein paar Heften unter dem Arm ihre Klasse. Für sie ist es eine der letzten Großen Pausen vor dem allerletzten Schultag. Eigentlich ein Anlass zur Freude für die 18-Jährige. Das Abschlusszeugnis ist voller Zweien, selbst in ihren schwächeren Fächern hat sich die junge Deutsch-Türkin massiv verbessert. Doch Ela wirkt nicht glücklich. Die Freiheit des näherrückenden Schulzeitendes ist bedrückend. Der Grund: Nach einem Jahr Suche, nach mehr als 80 Bewerbungen und einigen Vorstellungsgesprächen für eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau hat Ela noch immer keine Lehrstelle gefunden.

Dabei war sie einmal so nah dran - an ihrer Traumstelle im KaDeWe. Über die Geschichte des Berliner Traditionskaufhauses hatte sie ehrgeizig gebüffelt, den Einstellungstest schon bestanden. Doch das Vorstellungsgespräch ging in die Hose: "Es sollte um das Thema Kindermode gehen, aber ich wurde ganz andere Sachen gefragt, etwa, wie die Schaufenster dekoriert sind", erzählt Ela. Darauf war sie nicht vorbereitet. "Ich war so aufgeregt vor dem Gespräch, dass ich auf die Schaufenster gar nicht geachtet habe." Ela bewarb sich weiter, wenn auch nicht als Einzelhandelskauffrau: "Ich will nicht mehr so enttäuscht werden", erklärt sie mit Blick auf ihre Hände, die vor ihr gefaltet auf dem Tisch liegen. Ihre beiden älteren Schwestern "lernen Friseurin" - das will Ela jetzt auch. Doch auch diese Bewerbungen sind bislang erfolglos geblieben.

Eine Erfahrung, die nicht nur Ela macht: 31.000 Lehrstellen werden nach Prognosen der Bundesagentur für Arbeit (BA) auch in diesem Jahr wieder fehlen, etwas mehr als im vergangenen Jahr. Der Deutsche Gewerkschaftsbund spricht mit Hinweis auf unversorgte Altbewerber aus dem vergangenen Jahr sogar von einer Lücke von voraussichtlich rund 280.000 Lehrstellen. Eine enorm hohe Zahl. Doch auch Experten des Bundesinstitutes für Berufsbildung (BIBB) halten die offiziellen, eher niedrigeren Zahlen der BA für wenig aussagekräftig, da deren Statistiken zum einen nur die Betriebe und die Bewerber registrieren können, die die Dienste der BA tatsächlich in Anspruch nehmen. Wer sich nicht meldet, wird nicht erfasst. Zum anderen verfälsche auch die Art und Weise, wie die Geschäftsstatistik der Bundesagentur für Arbeit verwendet wird, den Blick auf den realen Lehrstellenmangel, so die Kritik der BIBB-Experten. Stellen und Bewerber würden nur dann in der Statistik berück-sichtigt, wenn sie am Stichtag des 30. Septembers noch offen oder noch unvermittelt sind. Betriebe, die ihre Bewerbungsverfahren früher beenden oder bei der BA gemeldete Bewerber, die sich nach erfolgloser Suche für eine Alternative entscheiden, wie etwa berufsvorbereitende Maßnahmen, Berufsfachschule oder Jobben, werden in der Statistik nicht erfasst.

BIBB-Experten schätzen deshalb, dass insgesamt rund 1,6 Millionen Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 15 und 29 Jahren in Deutschland ohne Ausbildung sind. Besonders betroffen von dieser Situation: Jugendliche mit Migrationshintergrund.

In der Luise-und-Wilhelm-Teske-Oberschule sind 20 Prozent der insgesamt 360 Schüler Deutsche, 80 Prozent Kinder von Migranten. Bis jetzt haben in Elas Klasse nur drei Schüler eine Lehrstelle gefunden. "Manche versuchen es aber auch nicht ernsthaft", meint Ela. "Die schreiben dann ein, zwei Bewerbungen und wenn es nicht gleich klappt, hören sie auf."

Ist es Angst vor dem Versagen? Ist es Faulheit? Die Gründe sind unterschiedlich. Doch die Mehrheit treibt die Sorge um ihre Zukunft um. Wenn etwa im Wirtschaftkurs über Themen wie Arbeitslosigkeit und Lehrstellenmangel gesprochen wird, werde "heiß diskutiert", erzählt Ela: "Jeder will von seinen Erfahrungen berichten." Und die sind häufig niederschmetternd. Oft bekommen die Schüler auf Bewerbungsschreiben gar keine Antwort. Bei Ela haben auf 80 Schreiben nur 20 Betriebe reagiert. Doch nachgefragt, was aus ihren Bewerbungen geworden ist, hat Ela auch nicht. Viele Schüler in ihrer Klasse weichen dem Problem der Ausbildungsplatzsuche vorerst anders aus: Manche wechseln aufs Gymnasium, die meisten besuchen anschließend eine Berufsschule. Ela hat diese Möglichkeit nicht. Ihre Eltern sind gegen den Besuch einer weiterführenden Schule.

"Die Mutlosigkeit unter den Schülern ist groß", sagt Werner Lindemeier und lässt sich hinter seinem Schreibtisch nieder. Der 64-Jährige lehrt seit 1981 Mathematik an der Luise-und-Wilhelm-Teske-Oberschule. seit 1993 ist er Direktor. Wie angespannt der Ausbildungsstellenmarkt ist, kann er auch in diesem Jahr wieder am Beispiel seiner Schüler beobachten. "Seit Ende der 80er-Jahre geht es stetig bergab", sagt Lindemeier mit einem leichten Seufzen. Immer weniger Schüler hätten am letzten Schultag bereits eine Lehrstelle sicher, obwohl die Schule ihre Bemühungen in Sachen Berufsorientierung und Bewerbungsvorbereitung in den vergangenen Jahren verstärkt hat und es mittlerweile Kooperationen mit verschiedenen Firmen gibt, die den Schüler einen Praktikumsplatz bieten.

Warum die Lehrstellenlücke wächst, hat vielfältige Gründe, Firmenpleiten gehören dazu. Doch die Unternehmen selbst verweisen auf die mangelhafte Ausbildung der Bewerber. Die Ergebnisse einer Anfang Juni veröffentlichten Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) sprechen eine deutliche Sprache: Zwölf Prozent der Unternehmen konnten 2005 ihre Ausbildungsplätze wegen der schlechten schulischen Leistungen der Bewerber nicht voll besetzen. Fast jede zweite der insgesamt 7.500 befragten Firmen bemängelte dem Bericht zufolge die Qualität der Bewerber. Die Schulabgänger könnten sich weder mündlich noch schriftlich verständlich ausdrücken, hieß es. Auch die Kenntnisse im Rechnen ließen zu wünschen übrig. Ein weiterer Grund: 13 Prozent der befragten Unternehmen klagen über die hohen Kosten der Berufsausbildung.

Deshalb fordern Unternehmensverbände, die Ausbildungsvergütung zu senken. Auch Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU) hatte bereits Ende Mai die hohen Lehrlingsgehälter als "Hemmschuh" bezeichnet, der Betriebe davon abhält, zusätzliche Auszubildende einzustellen. Derzeit verdient etwa ein Kfz-Mechaniker in Berlin im ersten Lehrjahr 379 Euro. Eine Arzthelferin bekommt im ersten Ausbildungsjahr 480,26 Euro (West) oder 392,24 Euro (Ost). Die Ausbildungsvergütung variiert teilweise sehr stark von Branche zu Branche, von West nach Ost und auch von Bundesland zu Bundesland - je nach Tarifvertrag. Im Schnitt liegt die Ausbildungsvergütung bei etwa 517 Euro im Osten und 612 Euro im Westen.

Dennoch bemühen sich die Industrie- und Handelskammern auch in diesem Jahr mit Betriebsbesuchen und Telefonaktionen wieder verstärkt darum, Unternehmen zu gewinnen, die neue Ausbildungsplätze schaffen. Die kommenden Wochen und Monate bis zum Beginn des Ausbildungsjahres Ende September sind für die rund 20 Ausbildungsplatzberater und

-werber bei der IHK Berlin eine besonders intensive Arbeitsphase. Jetzt heißt es auch für Rica Kolbe mit guten Argumenten zu überzeugen. Zwar ist das bei kleineren Firmen oft gar nicht so einfach, wie die Ausbildungsplatzberaterin weiß. Denn diese Betriebe haben besonders mit den Ausbildungskosten zu kämpfen und fürchten oft, die Verantwortung für einen Auszubildenden zu übernehmen. Doch auch für diese Unternehmen hat Kolbe einen Vorschlag parat: "Eine Verbundausbildung, bei der mehrere Firmen sich die Ausbildung teilen, kann eine sinnvolle Alternative sein."

Die Kosten, die Verantwortung und die Zeit, die ein Unternehmen in die Betreuung des Auszubildenden investieren muss, lägen dann auf mehreren Schultern. Auch Selbständige könnten unter diesen Bedingungen einen Ausbildungsplatz schaffen, glaubt die IHK-Beraterin. Dass sich Freiberufler für dieses Konzept interessieren, gibt zu hoffen: Erst kürzlich stellte Rica Kolbe das Modell "Verbundausbildung" bei der "Allianz deutscher Designer" vor. Und schon jetzt bieten einige Behörden und Institutionen in Kooperation mit Unternehmen verschiedene Verbundausbildungen an - darunter der Bundestag.

Ela hofft, dass sie noch in diesem Herbst eine Lehrstelle findet. Es muss einfach klappen, denn Alternativen hat sie nicht: "Einfach zu Hause bleiben und meiner Mutter im Haushalt helfen?" Ela verzieht das Gesicht. Das ist keine Perspektive.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.