Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 28 - 29 / 10.07.2006
Claudia Heine

Aufgekehrt...

Von wegen: "Du bist Deutschland!" Alles Quatsch, da nützt auch keine aufwändige Werbekampagne. Auf der Suche nach einer Kollektiv-Identität kamen die deutschen Fußball-Fans zu einer ganz unverhofften Antwort. Nach dem 0:2-Schock gegen Italien war ja klar: "Wir" sind auch nicht Weltmeister.

Was nun? Eine allgemeine Verwirrung drohte, jetzt, wo uns eine Föderalismus-Reform auch noch zurück in die Kleinstaaterei beamte. Schwarz-rot-goldenes Fahnenmeer hin oder her: Das bedeutet nichts, denn schließlich wehte diese Fahne schon im 19. Jahrhundert in den vielen kleinen Fürstentümern dieses Landes. "Wir sind Bayern!" oder etwas komplizierter "Wir sind Schleswig-Holsteiner!" - die Aussichten für solche Slogans schienen also nicht schlecht zu sein.

Aber was passierte? Die nervlichen Strapazen des Halbfinal-Krimis gegen Italien trugen eigenartige Früchte, oder sollte man besser sagen...Würstchen? Noch am Abend wussten die Leute plötzlich, wer sie sind: "Wir sind nur ein Bockwurstlieferant" hallte es durch die Berliner Straßen. Gut, eine enge Beziehung zwischen der Hauptstadt und diesem Nahrungsmittel in seiner gebratenen Variante lässt sich nicht leugnen. Aber: Es schien sich generell um eine "WM der Lieferanten" zu handeln, die uns die FIFA da beschert hat. Nicht nur, dass bestimmte Lieferanten bestimmter Produkte, etwas vornehmer auch Sponsoren genannt, zwischen und während der Spiele, neben, vor und hinter den Stadien sehr präsent waren.

Auch die Fans erkannten: Wir sind alle Lieferanten. Da wurde Schweden plötzlich als "Möbellieferant", Argentinien als "Rindfleischlieferant" und Italien als "Pizzalieferant" besungen. Aber die Fans wissen auch: Der beste Lieferant ist nichts ohne den Konsumenten. Also lobten sich die Briten selber für ihren Bier-Verbrauch und erklärten sich mangels Alternative zu Weltmeistern wenigstens auf diesem Gebiet. Und es kommt noch besser. Denn es ging gar nicht nur ums Materielle. Nein, es ging schlicht um den Wert Deutschlands als Einwanderungsland: "Wir essen nur noch Döner", riefen die Deutschen den Italienern nach der Niederlage entgegen. Wenn das so ist, braucht man vor den Deutschlandfahnen keine Angst haben. Aber eine Frage bleibt angesichts der Bockwurst-Döner-Verwirrung doch: Wer oder was "is(s)t Deutschland denn nun?


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.