54. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006
Beginn: 9.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Schönen guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, gibt es einige Mitteilungen zu machen. Die erste freut mich ganz besonders: Der Kollege Dr. Wiefelspütz feierte am 22. September seinen 60. Geburtstag. Wir gratulieren herzlich im Namen des Hauses und in Abwesenheit.
Es stehen einige Wahlen zu Gremien an: Nach dem Gesetz über die Deutsche Nationalbibliothek vom 22. Juni 2006 benennt der Deutsche Bundestag zwei Vertreter für den dortigen Verwaltungsrat. Die Fraktion der CDU/CSU schlägt den Kollegen Johann-Henrich Krummacher als ordentliches Mitglied und die Kollegin Renate Blank als Stellvertreterin vor. Für die Fraktion der SPD sollen der Kollege Siegmund Ehrmann als ordentliches Mitglied und der Kollege Christoph Pries als Stellvertreter in den Verwaltungsrat. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann sind die genannten Kollegen und Kolleginnen hiermit in den Verwaltungsrat der Deutschen Nationalbibliothek gewählt.
Als neues ordentliches Mitglied im Rundfunkrat der Deutschen Welle hat die Fraktion der CDU/CSU für den ehemaligen Abgeordneten Günter Nooke den Kollegen Wolfgang Börnsen vorgesehen. Stellvertretendes Mitglied soll die Kollegin Dorothee Bär werden. Die Fraktion der SPD schlägt für den Rundfunkrat den Kollegen Fritz Rudolf Körper als ordentliches Mitglied vor. Der Kollege Hans-Joachim Hacker, der bisher ordentliches Mitglied war, soll nunmehr Stellvertreter werden.
Im Verwaltungsrat der Deutschen Welle soll der Kollege Reinhard Grindel von der Fraktion der CDU/CSU die Kollegin Monika Griefahn als ordentliches Mitglied ablösen. Frau Griefahn wird dem Verwaltungsrat fortan als stellvertretendes Mitglied angehören.
Sind Sie auch mit diesen Vorschlägen einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die genannten Kolleginnen und Kollegen in den Rundfunkrat und in den Verwaltungsrat der Deutschen Welle gewählt.
Schließlich hat die Fraktion der CDU/CSU mitgeteilt, dass der Kollege Wolfgang Bosbach aus dem Kuratorium der Stiftung ?Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ ausscheidet. Als Nachfolger wird der Kollege Ingo Wellenreuther vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Auch das scheint der Fall zu sein. Dann ist der Kollege Ingo Wellenreuther in das Kuratorium der Stiftung ?Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ gewählt.
Interfraktionell ist verabredet worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Bisherige Ergebnisse der Koalition zu einer Reform für ein leistungsfähiges Gesundheitswesen
(siehe 53. Sitzung)
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
(Ergänzung zu TOP 35)
Beratung des Antrags der Abgeordneten Miriam Gruß, Gisela Piltz, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Konkretes und tragfähiges Konzept zur Bekämpfung von Extremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus vorlegen und zeitnah umsetzen
- Drucksache 16/2779 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
(Ergänzung zu TOP 36)
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Das Jahr 2008 zum ?Internationalen Jahr der sanitären Grundversorgung“ der Vereinten Nationen ausrufen
- Drucksache 16/2758 -
ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Korruptionsverdacht bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht und die Rolle der Bundesregierung in diesem Zusammenhang
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian Toncar, Harald Leibrecht, Burkhardt Müller-Sönksen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für die Ächtung von Landminen und Streumunition
- Drucksache 16/2780 -
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Kurth, Brigitte Pothmer, Irmingard Schewe-Gerigk, Elisabeth Scharfenberg und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen weiterentwickeln - Das Bruttoprinzip in der Sozialhilfe beibehalten und Leistungen aus einer Hand für Menschen mit Behinderungen ermöglichen
- Drucksache 16/2751 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Kurth, Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Das Existenzminimum sichern - Sozialhilferegelsätze neu berechnen und Sofortmaßnahmen für Kinder und Jugendliche einleiten
- Drucksache 16/2750 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Ernst, Katja Kipping, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Für ein menschenwürdiges Existenzminimum
- Drucksache 16/2743 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Michael Meister, Otto Bernhardt, Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Reinhard Schultz (Everswinkel), Bernd Scheelen, Ingrid Arndt-Brauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Deutscher Finanzdienstleistungsmarkt im Wandel - Bezeichnungsschutz für Sparkassen erhalten
- Drucksache 16/2748 -
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Andreae, Dr. Thea Dückert, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Deutscher Finanzdienstleistungsmarkt im Wandel - Bezeichnungsschutz für Sparkassen erhalten
- Drucksache 16/2752 -
ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Axel Troost, Dr. Barbara Höll, Roland Claus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Sparkassen-Namensschutz sichern - EU-Recht wahren - Parlamentarische Einflussnahme sicherstellen
- Drucksache 16/2745 -
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Außerdem ist vorgesehen, die Tagesordnungspunkte 9, 10 und 18 abzusetzen, wodurch sich einige Änderungen in der Reihenfolge ergeben. Der Tagesordnungspunkt 16 wird nach dem Tagesordnungspunkt 11 aufgerufen. Die Tagesordnungspunkte 12 und 13 sowie 14 und 15 werden jeweils getauscht. Der Tagesordnungspunkt 22 wird nach dem Tagesordnungspunkt 17 aufgerufen. Die Tagesordnungspunkte 23 und 24 sowie 25 und 26 werden wiederum jeweils getauscht.
Schließlich mache ich auf eine geänderte Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Gesetzentwurf der Fraktion der LINKEN zur Änderung des Gesetzes über das Kreditwesen
- Drucksache 16/731 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Der in der 22. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Rechtsausschuss zur Mitberatung überwiesen werden.
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Bevor ich den ersten Tagesordnungspunkt aufrufe, möchte ich noch herzlich Kolleginnen und Kollegen Parlamentarier aus Tansania und Rumänien begrüßen. Herzlich willkommen im Deutschen Bundestag!
Wir wünschen Ihnen interessante Gespräche und eine gute Zeit in Berlin.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:
Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregierung
Deutsche Islamkonferenz - Perspektiven für eine gemeinsame Zukunft
Ich erteile zur Regierungserklärung dem Bundesminister des Innern, Wolfgang Schäuble, das Wort.
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister des Innern:
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In Deutschland leben heute zwischen 3,2 und 3,5 Millionen Muslime. Die meisten von ihnen sind vor Jahrzehnten mit ihren Traditionen und Gewohnheiten, mit ihrer Religion und mit ihrer Kultur in dieses Land gekommen. Viele von ihnen haben, wie der Regisseur Fatih Akin es beschrieben hat, ?vergessen, zurückzukehren“. Der Islam ist Teil Deutschlands und Teil Europas, er ist Teil unserer Gegenwart und er ist Teil unserer Zukunft. Muslime sind in Deutschland willkommen. Sie sollen ihre Talente entfalten und sie sollen unser Land mit weiter voranbringen.
Um Perspektiven für die gemeinsame Zukunft zu schaffen, müssen wir versuchen, die Probleme zu lösen, die das Zusammenleben mit Muslimen in unserem Land belasten: Religionsunterricht in Koranschulen und an staatlichen Schulen, Kopftuch, Imamausbildung, die Rolle der Frauen und Mädchen, das Schächten - um nur ein paar Stichworte zu nennen. Nicht nur der Bundesregierung bereitet die hohe Arbeitslosigkeit insbesondere der Muslime der zweiten und dritten Generation, häufig als Folge eines zu niedrigen Qualifikationsniveaus, Sorge. Neben solchen Alltagsproblemen führt der islamistische Terror zu Ängsten und Argwohn in der Bevölkerung. Viele Muslime finden sich zu Unrecht unter einen Generalverdacht gestellt, ausgegrenzt und nicht voll in die deutsche Gesellschaft aufgenommen.
All diese Sorgen müssen wir ernst nehmen und nehmen wir ernst. Die die Bundesregierung tragenden Parteien und Fraktionen, CDU/CSU und SPD, haben sich deshalb im Koalitionsvertrag ausdrücklich zum Dialog mit den Muslimen bekannt. Deshalb habe ich gestern mit der Deutschen Islamkonferenz in der Orangerie im Schloss Charlottenburg den ersten institutionalisierten Dialog zwischen dem deutschen Staat und den in Deutschland lebenden Muslimen eröffnet. Das Schloss Charlottenburg - auch das darf man sagen -, Ende des 17. Jahrhunderts erbaut, erinnert an die große Toleranz der preußischen Dynastie
- ja, der Bürger, aber auch der Dynastie - und war ein guter Ort, um diesen Dialog zu eröffnen.
Aufgabe dieser Deutschen Islamkonferenz soll es sein, eine Lösung der Probleme des Zusammenlebens gemeinsam und im Dialog mit den in Deutschland lebenden Muslimen zu suchen. Es ist viel darüber diskutiert worden, was der Unterschied zwischen der Deutschen Islamkonferenz und dem Integrationsgipfel sei und ob man sie nicht verbinden könne. Natürlich gibt es eine enge Verbindung zwischen der Integration der Muslime und dem Dialog mit den Muslimen; beides hat viel miteinander zu tun. Trotzdem stehen beim Integrationsgipfel und dem entsprechenden Prozess die Fragen aller in Deutschland lebenden Menschen, die aus vielerlei Gründen nach Deutschland gekommen sind, im Vordergrund, während wir uns in der Deutschen Islamkonferenz ausschließlich mit dem Islam und mit den Muslimen beschäftigen.
Im Übrigen unterhält unser Staat geregelte Beziehungen zu den Kirchen. Viele Muslime erwarten zu Recht, dass so ähnlich, wie der Staat Beziehungen zu den christlichen Kirchen und zur jüdischen Gemeinschaft unterhält, er auch Beziehungen zu den Muslimen entwickelt - was insofern komplizierter ist, als die Muslime nicht so verfasst sind wie die christlichen Kirchen. Einen Anstoß zu geben, miteinander zu diskutieren, ist einer der wesentlichen Beweggründe für die Islamkonferenz und einer der Gründe, warum wir uns entschlossen haben, dafür einen eigenen Prozess ins Leben zu rufen. Die Deutsche Islamkonferenz ist keine Veranstaltung, die nur gestern drei Stunden lang stattgefunden hat, sondern gestern war der Auftakt für einen ständigen Dialog, den wir zunächst einmal auf einen Zeitraum von etwa zwei Jahren angelegt haben. Uns geht es, wie es im Koalitionsvertrag steht, um einen Dialog sui generis mit den Muslimen in Deutschland, die nicht mehr länger eine ausländische Bevölkerungsgruppe darstellen, sondern Bestandteil unserer Gesellschaft geworden sind.
Das muss den Muslimen und auch dem nicht muslimischen Teil unserer Gesellschaft vermittelt werden.
Natürlich haben viele gefragt, warum das erst jetzt geschieht. Diese Diskussion führt aber nicht weiter. Besser jetzt als später oder gar nicht. Vielleicht liegt das auch daran, dass wir zu lange gedacht haben - übrigens nicht nur die Deutschen, sondern auch die meisten Zuwanderer, die einstmals als Gastarbeiter zu uns kamen -, dass sie wieder in ihre Heimat zurückgehen. Irgendwann hat sich das geändert. Wir wissen, dass die meisten von ihnen in Deutschland geblieben sind. Ihre Kinder und Enkel fühlen sich längst als Deutsche türkischer oder arabischer Herkunft. Auch deswegen war es an der Zeit, mit dieser Deutschen Islamkonferenz ein Zeichen des Aufbruchs zu einem neuen Miteinander zu setzen.
Die Vertreter des Staates - Bund, Länder und kommunale Spitzenverbände -, die in der Deutschen Islamkonferenz vertreten sind, haben sehr deutlich gemacht, dass wir in diesem Dialog auch Erwartungen an die Muslime haben. Nach der deutschen Rechts- und Werteordnung verstehen wir den Weg zu einem gedeihlichen Zusammenleben als einen Prozess, in dem kulturelle und religiöse Unterschiede anerkannt werden, in dem aber auch die vollständige Akzeptanz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung verlangt und vorausgesetzt wird. Die mit dieser freiheitlich-demokratischen Grundordnung geschützten Grundregeln des Zusammenlebens sind für jeden verbindlich, der in Deutschland lebt. Das Grundgesetz ist nicht verhandelbar.
Durch das Grundgesetz wird im Übrigen mehr als durch viele andere Ordnungen - das war auch gar nicht streitig - Raum für ein friedliches, vielfältiges, kulturelles und tolerantes Zusammenleben geboten. Deswegen ist es im Interesse aller, dass das Grundgesetz nicht verhandelbar ist.
In dieser Ordnung, die von christlicher Ethik geprägt ist - auch das muss gesagt werden, was ich gestern auch getan habe -, muss der Islam seinen Platz finden. Hier lebende Muslime können sich Zukunftsperspektiven eröffnen, wenn sie verstärkt Bereitschaft zeigen, unsere Sprache zu erlernen, Bildungsabschlüsse zu erwerben und sich an der Entwicklung der Gesellschaft zu beteiligen.
Damit wir die Deutsche Islamkonferenz als Chance für ein neues Miteinander nutzen können, sind die Muslime aufgefordert, sich zu den Grundlagen eines harmonischen Miteinanders zu bekennen: der deutschen Rechts- und Werteordnung, der deutschen Sprache, den in Deutschland gültigen sozialen Konventionen. Dieser Weg in unsere Gesellschaft wird durch das Motto dieser Deutschen Islamkonferenz umschrieben: ?Muslime in Deutschland - Deutsche Muslime“.
Ich glaube, dass die meisten, die das gestern verfolgt haben, in dem Urteil mit mir übereinstimmen werden, dass der Start gut gelungen ist.
Es war eine offene Debatte. Wir hatten gar nicht vor, eine harmonische und nur auf Konsens ausgerichtete Veranstaltung durchzuführen, sondern wir wollen, dass innerhalb der Gemeinschaft der Muslime unterschiedliche Auffassungen ausgesprochen werden. Wenn Sie sich die Teilnehmer anschauen, dann wissen Sie, dass es im Vorhinein sehr spannend war, wie das überhaupt gehen sollte. Es ist gut gelungen. Alle haben einander gut zugehört und am Schluss haben auf meine Frage alle gesagt, dass wir uns genau in dieser Zusammensetzung und auf dieser Grundlage jetzt auf den Weg machen und so weitermachen sollten. Deswegen ist der Start gut gelungen.
Es war eine offene und in Teilen durchaus kontroverse Debatte. Es wäre unehrlich, etwas anderes zu sagen. Niemand hat auch nur den geringsten Vorbehalt gegenüber der Gültigkeit unserer Verfassungs- und Rechtsordnung geäußert. Das war so selbstverständlich wie nichts anderes. Auch das muss klar gesagt werden.
Es mag zwar nur ein Randthema gewesen sein, obwohl es ein wichtiger Punkt ist: Die Tatsache, dass alle 30, die um diesen Tisch versammelt waren, gesagt haben, dass es schön wäre, wenn eine bestimmte Operninszenierung bald wieder aufgeführt werden könnte, und dass wir dann alle miteinander dort hingehen, zeigt etwas von dem Klima, das es in dieser Konferenz gibt.
- Ja, Herr Kollege, aber es ist nicht meine Sache als Innenminister, dem Parlament so einen Vorschlag zu unterbreiten. Ich halte das allerdings für einen wichtigen Schritt.
Ich finde es bezeichnend und gut, dass es gelungen ist, ein entsprechendes Klima zu schaffen. Damit sind natürlich nicht alle Probleme gelöst. Ich bin überhaupt gegen jede Form von Verharmlosung. Das wird ein schwieriger Weg sein und - das haben alle gesagt - es liegt viel Arbeit vor uns. Aber wir haben eine gute Grundlage, diese Arbeit zu bewältigen; das ist eine wichtige Voraussetzung.
Wir haben uns vorgenommen, Vereinbarungen zu wichtigen Fragen des Zusammenlebens zu erarbeiten. Das werden keine Vereinbarungen mit einer Verbindlichkeit in juristischem Sinne sein können. Aber als ergebnisoffener und zielgerichteter Prozess soll die Konferenz darauf hinarbeiten, einen gemeinsamen Willen herzustellen, der es Bund, Ländern und Kommunen ermöglicht, gemeinsam mit Muslimen zu handeln.
Wir werden auf zwei Ebenen tagen: zum einen in der Form des Plenums, das wir gestern eröffnet haben; zum anderen in drei Arbeitsgruppen und einem Gesprächskreis, in dem Vertreter von Bund, Ländern und Kommunen mit Vertretern der organisierten wie auch der nicht organisierten Muslime zur Sacharbeit zusammenkommen werden. Dies beginnt am 8. und 9. November in Nürnberg. Wir haben mit der Geschäftsführung dieses Dialogs das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge beauftragt. Diese Entscheidung hat allseits große Zustimmung gefunden. Ich bin sehr froh, dass sich das Bundesamt zu Recht einer so großen Anerkennung erfreut, weil es gute Arbeit leistet.
Ergebnisse sollen aus sorgfältiger Analyse abgeleitete konkrete Handlungsempfehlungen sein. Im Plenum der Konferenz wollen wir etwa jedes halbe Jahr die Ergebnisse der Arbeitsgruppen zu einem breit angelegten Konsens zusammenführen.
Ich habe im Übrigen die Teilnehmer für das Plenum wie für die Arbeitsgruppen nach vielen intensiven Gesprächen und nach reiflicher Überlegung ausgewählt. Es hat natürlich viele Debatten gegeben; das war unvermeidlich. Aber es war gewollt, dass es darüber schon im Vorfeld Debatten gegeben hat. Ich habe Vertreter der mitgliederstärksten muslimischen Dachverbände mit religiöser Prägung eingeladen. Sie repräsentieren, wenn man die Mitgliederzahl großzügig schätzt, 15 bis 20 Prozent der bei uns lebenden Muslime. Wenn man in diese Schätzung die Zahl der regelmäßigen Moscheebesucher einbezieht, dann kann man hinsichtlich der Repräsentanz der Verbände sogar mit Wohlwollen auf ein Drittel kommen.
Daraus ergibt sich aber auch, dass die breite Mehrheit von religiösen und nicht religiösen Muslimen durch die Verbände nicht hinreichend repräsentiert ist und dass niemand den Anspruch erheben kann, nur er allein repräsentiere die Muslime. Deswegen habe ich zur Konferenz bewusst ebenfalls Vertreter der nicht organisierten Muslime eingeladen, die die verschiedensten Facetten der muslimischen Lebenswirklichkeit in unserem Lande repräsentieren. Auch das ist in der Konferenz sehr deutlich geworden und es ist am Ende der Konferenz von allen akzeptiert worden. Das ist innerhalb des Dialogs und innerhalb der Gemeinschaft der Muslime in Deutschland ein wichtiger Schritt. Natürlich ist das vorher kritisiert worden, aber auch von vielen positiv erwähnt worden.
Ich glaube, alle, die als Vertreter von Bund, Ländern und Gemeinden am Tisch gesessen haben, haben in dieser beeindruckenden Gruppe von 15 Repräsentanten muslimischen Lebens in Deutschland gespürt, dass dies auch in ihrer Vielfalt eine eindrucksvolle Gruppe war. Es ist eben wichtig, dass uns allen - unserer Gesellschaft und damit auch der Öffentlichkeit - die Vielfalt islamischen Lebens in unserem Lande insgesamt bewusst wird. Es wird, wie ich gesagt habe, ein steiniger Weg sein - für die Muslime und für den Staat. Aber nur in einer pluralen Auseinandersetzung haben wir eine Chance, Lösungen zu finden, wie sich der Islam in unserer offenen, freiheitlichen und pluralistischen Demokratie entwickeln kann.
Das Spektrum der konkreten Fragen, die wir in der Konferenz erörtern werden, ist so breit, wie der Islam in Deutschland vielfältig ist. Es umfasst als ersten Schwerpunkt die Vereinbarkeit verschiedener islamischer Strömungen mit der deutschen Gesellschaftsordnung. Ausgehend von den Wesensmerkmalen unserer pluralistischen Gesellschaft werden wir in der ersten Arbeitsgruppe, die den Namen ?Deutsche Gesellschaftsordnung und Wertekonsens“ trägt, über zentrale Werte sprechen. Dabei geht es nicht allein um die Frage der Gültigkeit der Grundrechte, sondern wir wollen, dass sich Muslime in Deutschland entfalten können.
Den zweiten wichtigen Schwerpunkt bildet die Frage, wie sich der Islam als Religion mit den Strukturen und Elementen des deutschen Religionsverfassungsrechts vereinbaren lässt. Wir interpretieren unser Religionsverfassungsrecht nach Art. 4 des Grundgesetzes sehr im Lichte unserer staatskirchenrechtlichen Erfahrungen mit den christlichen Kirchen, was zu Problemen mit der Verfasstheit des Islam führt. Deswegen brauchen wir - beispielsweise wenn wir an staatlichen Schulen Islamunterricht einführen wollen - einen Partner, weil es nicht gut wäre, wenn der Staat dabei allein handeln würde. Dass uns ein solcher Partner zur Verfügung gestellt wird, ist eine weitere Erwartung, die wir an die Arbeit der Islamkonferenz haben.
Den dritten Schwerpunkt bildet der Bereich Wirtschaft und Medien. Dabei geht es etwa darum, wie wir die Defizite in der ökonomischen und sozialen Lage vieler Muslime beheben können, wie wir erreichen können, dass die Medien stärker als bisher dazu beitragen, dass Sprachkenntnisse und damit Kommunikation und Integration gefördert werden, und um vieles mehr. Es geht aber auch um die Erwartungen von Muslimen an deutschsprachige Printmedien und elektronische Medien. Auch darüber ist gestern schon gesprochen worden.
Wir werden auch über die Bedrohung unserer freiheitlichen Demokratie durch islamistische Bestrebungen miteinander reden. Es gibt bereits einen Gesprächskreis, in dem schon viele Verbände mit den Sicherheitsbehörden zusammenwirken. In dem Gesprächskreis ?Sicherheit und Islamismus“ der Deutschen Islamkonferenz wollen wir zu einer besseren Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des gewalttätigen wie auch des legalistisch vorgehenden Islamismus gelangen. Wir dürfen nicht hinnehmen, dass Extremisten die Religion des Islams für ihre Taten in Anspruch nehmen können, gerade weil auch die große Mehrzahl der friedliebenden Muslime Angst vor gewalttätigen Extremisten hat.
Ich verbinde mit der Eröffnung des Dialogs mit den Muslimen die Hoffnung, dass alle verstehen, dass Muslime in Deutschland willkommen sind. Damit sie ihre Potenziale voll entfalten können, müssen wir die Probleme unseres Zusammenlebens und deren Ursachen erkennen und daraus Konsequenzen ziehen. Nur so schaffen wir Perspektiven für eine gemeinsame Zukunft.
Ich hoffe, dass es mit der Deutschen Islamkonferenz gelingt, nicht nur praktische Lösungen zu finden, sondern auch mehr Verständnis, Sympathie, Friedlichkeit, Toleranz und vor allen Dingen mehr Kommunikation und Vielfalt zu schaffen und damit zur Bereicherung in unserem Land beizutragen.
Ich möchte mit folgenden Worten des in Frankreich lebenden libanesischen Schriftstellers Amin Maalouf schließen, die mir sehr gut zu dem zu passen scheinen, was uns bei der Islamkonferenz bewegt:
Wenn ich mich zu meinem Gastland bekenne, wenn ich es als das meine betrachte, wenn ich der Ansicht bin, dass es fortan ein Teil von mir ist wie ich ein Teil von ihm, und wenn ich mich entsprechend verhalte, dann habe ich das Recht, jeden seiner Aspekte zu kritisieren; umgekehrt, wenn dieses Land mich respektiert, wenn es meinen Beitrag anerkennt, wenn es mich in meiner Eigenart fortan als Teil von sich betrachtet, dann hat es das Recht, bestimmte Aspekte meiner Kultur abzulehnen, die mit seiner Lebensweise oder dem Geist seiner Institutionen unvereinbar sein könnten.
Wenn wir das gemeinsam zur Grundlage machen, dann können wir in unserem Lande vieles noch besser zustande bringen, als es bisher der Fall war.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das Wort hat der Kollege Hartfrid Wolff, FDP-Fraktion.
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Islamkonferenz war längst überfällig. Allerdings hat Bundesinnenminister Schäuble mit seiner Geheimniskrämerei um Zielsetzung, Teilnehmer und Programm der Islamkonferenz keinen guten Dienst erwiesen.
Der Dialog muss vor allem in der Bevölkerung und unter unmittelbarer Beteiligung der Volksvertretung, des Parlaments, fortgesetzt werden. Dabei könnte eine allgemein akzeptierte Organisation der deutschen Muslime helfen, die Integration der Muslime in Staat und Gesellschaft zu verbessern.
Schon im Vorfeld haben bestimmte Islamorganisationen Ansprüche auf rechtliche Gleichstellung mit den Kirchen angemeldet. Für mich wäre eine rechtliche Gleichstellung des Islam unter klaren Bedingungen grundsätzlich denkbar. Dazu gehört, dass der Islam die Grundwerte unserer Gesellschaft ohne Vorbehalt akzeptiert und mitträgt. Unbedingte Gewaltfreiheit und die Anerkennung der Trennung von Religion und Staat sind eine wesentliche Voraussetzung dafür. Eine Religionsgemeinschaft, die das Grundgesetz durch die Scharia ersetzen will, kann nicht anerkannt und nicht toleriert werden.
Eine rechtliche Gleichstellung mit den Kirchen erfordert ohne Wenn und Aber den vornehmlichen Gebrauch der deutschen Sprache, wie dies die anderen öffentlich-rechtlich verfassten Religionsgemeinschaften praktizieren; denn das Beherrschen der deutschen Sprache eröffnet beiden Seiten die Teilhabe am gesellschaftlichen Diskurs. Die deutsche Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, jederzeit zu verstehen, was von einer öffentlich-rechtlich verfassten Religionsgemeinschaft gelehrt wird. Die Angehörigen dieser Gemeinschaft haben ein Recht darauf, über ihre Religion in vollem Umfang mit der Gesamtgesellschaft zu kommunizieren. Gerade vor dem Hintergrund wachsender Ängste ist dies unverzichtbar. Die Demokratie lebt von solcher Teilhabe und damit von dem Beherrschen der Landessprache. Wer am hiesigen gesellschaftlichen Diskurs nicht teilnehmen kann, vielleicht sogar bewusst die Diskursfähigkeit verhindert und sich oder seine Angehörigen abschottet, der grenzt sich von der Demokratie ab und aus.
Deshalb brauchen wir auch in den Moscheen eine größere Offenheit. Die deutsche Sprache muss umfassend Einzug halten.
Die angestrebte Gleichberechtigung wirft aber noch andere Fragen auf. Würden muslimische Organisationen in Deutschland nicht glaubwürdiger, wenn sie ihre Forderungen nach Gleichstellung von Christen und Andersgläubigen auch in islamischen Ländern deutlich erheben würden?
Von den skizzierten Voraussetzungen scheint mir der gegenwärtige Islam in Deutschland - jedenfalls zum Teil - noch fern zu sein. Nicht die Beteuerungen einzelner Funktionäre sind dabei entscheidend. Entscheidend ist vielmehr, was jeden Tag in den Moscheen und Islamvereinen gelehrt und gepredigt wird. Angesichts befürchteter Übergriffe von Islamisten wächst in Deutschland leider ein Klima der Angst und Unsicherheit. Die Freiheit der Kunst und der Presse sowie die Meinungsfreiheit sind davon bedroht. Hat nicht schon der Karikaturenstreit die Neigung des aufgeklärten Europas zur Selbstzensur drastisch erhöht? Schon damals wurde weltweit gegen die Prinzipien der freiheitlich-demokratischen Grundordnung agitiert.
Die schnelle Kritik muslimischer Verbände am Vortrag Papst Benedikts XVI. in Regensburg hat mich besonders betroffen gemacht. Wer seinen Text unvoreingenommen liest, muss zugeben, dass es dem Papst um das Verhältnis der Vernunft zur Religion und das aus der Vernunft abzuleitende Postulat ging, dass Religion gewaltfrei sein müsse. Klarstellungen oder Entschuldigungen, wie sie etwa vom Zentralrat der Muslime in Deutschland gefordert wurden, waren aus meiner Sicht eigentlich nicht erforderlich.
Es ist zwar erfreulich, dass nach dem Bedauern des Vatikans eine Beruhigung aufseiten der muslimischen Verbände eingetreten ist. Aber die zuvor inszenierte Aufregung war unnötig. Hier ist die Frage an bestimmte Muslime in Deutschland zu richten, wie sie es denn mit dem vorurteilsfreien Dialog und der Meinungsfreiheit halten. In Deutschland muss jederzeit auch ein offener Diskurs über religiöse Meinungen möglich sein.
Die Absetzung der Mozart-Oper ?Idomeneo“ vom Spielplan der Deutschen Oper in Berlin wirkt vor diesem Hintergrund skandalös. Die Deutsche Oper stellt mit ihrer Begründung den Islam in Deutschland unter Generalverdacht, und zwar aufgrund von Hinweisen des Berliner Innensenators Körting. Seine Rolle sollte man sich noch einmal genauer betrachten. Selbst wenn eine Bedrohung vorläge, muss man fragen, ob eine solche Angst vor dem Islamismus nicht den Islamisten in die Hände spielt. Es ist bezeichnend, dass der Islamrat als Dachorganisation vor allem für Milli Görüs diese Selbstzensur, diese Kapitulation der Kunstfreiheit ausdrücklich begrüßt hat. Das Klima der Angst schadet unserer Gesellschaft und schadet allen positiven Bemühungen um Integration.
Insofern begrüße ich dieses symbolische Signal, Herr Innenminister, dass die Teilnehmer der Konferenz zu der nächsten Opernaufführung gehen wollen.
Vertreter des Islam haben sich in den letzten Wochen und Monaten manchmal in einer Weise zu Wort gemeldet, die ich für sehr unglücklich halte. Doch die weit überwiegende Mehrheit der Muslime in Deutschland ist nicht fundamentalistisch. Es hat immer wieder Stellungnahmen gegeben, die hoffnungsvoll stimmen, die die Integration eines aufgeklärten Islam in unsere westlich-demokratische Gesellschaft möglich erscheinen lassen. So hat sich der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde, Kenan Kolat, für die Kunstfreiheit und gegen die Berliner Opernabsetzung ausgesprochen. Frau Seyran Ates hat sich in vorbildlicher Weise gegen reaktionär-unmenschliche Praktiken wie die so genannten Ehrenmorde und gegen Zwangsheirat engagiert. Der deutsche Moslem Peter Schütt hat sich überzeugend für ein sinn- und zeitgemäßes Verstehen des Koran ausgesprochen.
Viele, sehr viele sind für einen offenen Dialog. Solche Ansätze machen Mut, Muslime in Deutschland willkommen zu heißen. Sie zeigen uns, dass der Islam in Deutschland differenzierter wahrgenommen werden muss, als manch aufgeregte Diskussion es suggeriert.
Ein so verstandener Islam, der sich unserer Gesellschaft, ihren Werten und ihrer Sprache öffnet, kann unser Zusammenleben sehr bereichern. Eine reaktionäre Gesinnung, die die Aufklärung bekämpft und ein Klima der Angst verbreiten möchte, hat dagegen keinen Platz in unserer Mitte.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das Wort hat der Kollege Michael Bürsch, SPD-Fraktion.
Dr. Michael Bürsch (SPD):
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! In der Politik wird dieser Tage sehr viel kritisiert und viel zu wenig gelobt. Deshalb fange ich mit einem deutlichen Lob an. Die Einberufung einer Deutschen Islamkonferenz ist eine sehr gute Idee. Sie ist ein wichtiges Signal für die Verständigung mit den in Deutschland lebenden Muslimen und damit auch ein Zeichen dafür, dass der Integrationsgedanke mittlerweile von allen politischen Parteien ernst genommen wird.
Es ist gut und wichtig, dass wir nicht mehr übereinander, sondern miteinander reden. Es ist wichtig, dass die Islamkonferenz keine einmalige Veranstaltung ist, sondern als ein langfristiger Prozess angelegt wird.
Nur durch das dauerhafte und fortgesetzte Gespräch kann man zu ernsthaften Verabredungen und damit zu der Chance kommen, mehr Verständnis füreinander zu entwickeln und Missverständnisse zu beseitigen. Zu einem solchen Dialog hat der Bundesinnenminister in seiner Einladung an die Teilnehmer der Konferenz aufgerufen. Allein darin liegt schon ein wichtiger Schritt in eine moderne, offene und durch Pluralismus gekennzeichnete Gesellschaft.
Nun komme ich zu der Frage, was die sozialdemokratische Fraktion in diesem Diskurs, in diesem langfristig angelegten Experiment sieht. Koalitionen leben von zweierlei, von Einheit und Unterschied. Ich stelle drei Fragen an die Konferenz und an die Konzeption. Ich verbinde sie mit einigen Aspekten sozialdemokratischer Integrationspolitik.
Erstens. Wer redet hier eigentlich mit wem? Bei der Deutschen Islamkonferenz will der Staat mit dem Islam sprechen, so der Innenminister. Über die eingeladenen Islamvertreter will ich nicht urteilen, sondern nur darauf hinweisen, dass lediglich 10 Prozent der Muslime in Deutschland überhaupt durch Organisationen vertreten sind. Insofern wird es jeder Gastgeber schwer haben, 15 repräsentative Vertreter des Islam in Deutschland zu finden. Auf der Seite des Staates sind Vertreter von Ministerien, von Ländern und von Kommunen eingeladen, etwas zugespitzt gesagt, die ?üblichen Verdächtigen“ der Administration. Abgeordnete sind nicht dabei. Es geht also, um es deutlich zu sagen, nicht um ein Gespräch zwischen und mit Bürgerinnen und Bürgern, sondern es sprechen hochrangige Regierungsvertreter mit einigen wenigen Vertretern des Islam. Gleichzeitig soll das Ziel eine verbesserte religions- und gesellschaftspolitische Integration der muslimischen Bevölkerung sein.
Aus meiner Sicht gilt Folgendes: Ein sinnvoller Dialog, der langfristig zu einer besseren Integration führen soll, kann nicht zwischen Staat und Islam geführt werden, er muss vielmehr maßgeblich zwischen Bürgerinnen und Bürgern stattfinden.
Integration ist nämlich eine Aufgabe der Bürgergesellschaft. Der Staat kann aus meiner Sicht Moderator sein. Er kann die Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Integration schaffen, beispielsweise ein ausreichendes Angebot an Sprachkursen.
Zweite Frage: Worüber soll gesprochen werden? Die Arbeitsbereiche der Konferenz sind - der Innenminister hat sie vorgestellt -: deutsche Gesellschaftsordnung und Wertekonsens; Religionsfragen im deutschen Verfassungsverständnis; Wirtschaft und Medien als Brücke; Sicherheit und Islamismus. Ehrlich gesagt, das klingt mir etwas unvollständig, womöglich etwas einseitig. Diese Themenwahl ist doch vor allem auf die Frage ausgerichtet, wie sich Muslime nahtlos in die bundesrepublikanische Gesellschaft einpassen können. Sie berücksichtigt aus meiner Sicht nicht hinreichend, dass die Integration von Zuwanderern auch von der Aufnahmegesellschaft etwas erfordert, nämlich auf diejenigen, die kommen, zuzugehen. Integration ist, richtig verstanden, ein wechselseitiger Prozess zwischen muslimischen Zuwanderern einerseits und der Aufnahmegesellschaft andererseits. Sie lässt sich auch nicht per Richtlinienkompetenz verordnen. Integration funktioniert ohnehin nicht - das wissen wir - per Assimilation.
Unbestritten ist: Die Muslime, die dauerhaft in Deutschland leben wollen, müssen zur Integration bereit sein, wenn das gesellschaftliche Zusammenleben gelingen soll. Deshalb dürfen wir auch legitime Forderungen stellen: Die Anerkennung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, unserer Rechtsordnung, die Beherschung der deutschen Sprache, die Bereitschaft zur aktiven Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und die Bereitschaft zur Toleranz, auch und gerade in Bezug auf religiöse Fragen und ihre Darstellung in der Kultur. Deshalb ist es wichtig, über die deutsche Gesellschaftsordnung zu sprechen und über Religionsfragen im deutschen Verfassungsverständnis, wie es vorgesehen ist.
Aber Integration verlangt auch der Aufnahmegesellschaft einiges ab, unter anderem die Bereitschaft zur Bekämpfung von Vorurteilen und die Bereitschaft zur Toleranz. Toleranz heißt nicht, dass wir Zwangsehen, Selbstjustiz oder die Unterdrückung von Frauen akzeptieren.
Sie setzt aber auf jeden Fall voraus, dass man sich mit der kulturellen und religiösen Identität des anderen beschäftigt und Vorurteile abbaut.
Um Vorurteile abbauen und Toleranz üben zu können, muss man zunächst Aufklärung betreiben. Daher vermisse ich einen Arbeitsbereich, Herr Innenminister, in dem über die - vermutlich nicht unbedingt einheitliche - muslimische Sicht der Dinge diskutiert wird und der über den Islam aufklärt, beispielsweise über das Verhältnis des Islam zur Gleichberechtigung von Mann und Frau, zu Familie, zu Erziehung und zum Recht muslimischer Kinder und Jugendlicher auf ein Leben in freier Entfaltung. Es fehlt ein Arbeitsbereich, in dem die Vertreter des Islam über den Inhalt der Scharia aufklären könnten und über das Verhältnis der Scharia zur demokratischen Rechtsordnung. Vielleicht bietet die Islamkonferenz künftig Raum für diese - aus meiner Sicht - notwendigen Betrachtungen.
Ich habe ein weiteres Anliegen - ich habe es schon angedeutet -: Wir brauchen für die Integration konkrete Schritte in Richtung Bürgergesellschaft und nicht nur Wunschkataloge auf Papier. Entscheidend ist aus meiner Sicht deshalb, über folgende Fragen zu reden: Was findet vor Ort, in der Gemeinde, im Bezirk, in der Nachbarschaft statt? Aus welchen guten Projekten können wir lernen?
Nehmen wir als Beispiel Badr Mohammed, der bei der Auftaktveranstaltung gestern dabei war. Badr Mohammed aus Berlin betont sehr entschieden die Bedeutung der muslimischen Familie und ihrer Struktur für den Prozess der Integration. Seine Überzeugung - die er auch lebt - ist: Integration ist ein Familienprojekt, weil die Familie bei den meisten Muslimen eine ungleich stärkere Bedeutung hat als bei uns weitgehend säkularisierten Westeuropäern. Vor Ort, in der Nachbarschaft, in der Kommune braucht man deshalb Personen mit interkultureller Kompetenz, die als Lotsen der Integration Brücken zwischen Muslimen und Nichtmuslimen bauen können, die die Bildungs-, Ausbildungs- und Teilhabechancen von Angehörigen muslimischer Familien durch Aufklärung, Information und Überzeugungsarbeit erhöhen. Diese Form von Integration ist ein Projekt der Bürgergesellschaft, bei dem der Staat zwar eine wichtige, aber nicht die zentrale Rolle spielt.
Dritte Frage: Was ist das Ziel der Islamkonferenz? Herr Minister, Sie haben erläutert: Ziel der Konferenz ist eine verbesserte religions- und gesellschaftspolitische Integration der muslimischen Bevölkerung in Deutschland; dies dient zum einen der Verhinderung von Islamismus und Extremismus, zum anderen wird der Segmentation von Muslimen in Deutschland entgegengewirkt.
Ich fürchte, dass diese Zielsetzung jedenfalls von manchen missverstanden werden kann. Wir müssen einen interkulturellen, interreligiösen Dialog mit dem Islam in erster Linie deshalb führen, weil ein relevanter Teil unserer Bevölkerung muslimisch ist. Wir wollen die religions- und gesellschaftspolitische Integration der muslimischen Bevölkerung in Deutschland in erster Linie deshalb fördern, weil wir endlich der Tatsache Rechnung tragen müssen, dass Deutschland - das ist auch Teil des Zuwanderungskompromisses 2005 gewesen - ein Einwanderungsland geworden ist, und weil deshalb ein zentrales Element unserer Gesellschaftspolitik die gerechte Teilhabe aller Menschen an der Gesellschaft sein muss.
Niemand will die Gefahren, die von Islamismus und Extremismus ausgehen, ausblenden, aber diese Gefahren sollten richtig gewichtet werden. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat uns darüber aufgeklärt, dass von den 3,2 bis 3,5 Millionen Muslimen hochgerechnet 1 Prozent Islamisten sind, also solche, die ihren Glauben mit einer politischen Überzeugung verbinden. Da kann auch Gefahr, kann auch Gewalt, kann auch Terrorismus drohen, aber es sind 1 Prozent, über die wir reden. Ich habe den Eindruck, dass in der öffentlichen Debatte Islam und Islamismus jedenfalls von manchen verwechselt werden oder diese 1 Prozent - das wären 32 000 bis 35 000 - von manchen vielleicht sogar für das Ganze genommen werden.
Ich betone nochmals: Die Deutsche Islamkonferenz ist ein ganz wichtiger erster Schritt und als Beginn des lange fälligen Dialogs mit dem Islam eindeutig zu begrüßen. Der interkulturelle und interreligiöse Dialog ist für mich eine Grundvoraussetzung für gegenseitiges Verständnis, Toleranz und den Abbau von Vorurteilen. Deshalb sollten wir diesen Dialog ausweiten.
Was spricht dagegen, nicht nur einen Dialog mit dem Islam zu führen, und zwar nicht nur zwischen Staat und Islam, sondern in Deutschland auch einen Dialog aller Weltreligionen - zwischen Christen, Juden und Moslems - zu organisieren? Was spricht dagegen, in der Frage, wie wir die Werteordnung unseres Grundgesetzes verstehen und wie wir das Zusammenleben regeln wollen, auch die Atheisten mit einzubeziehen?
Herr Innenminister, Sie haben mit einem Zitat eines Libanesen geschlossen. Es liegt nahe, dass man bei der Suche nach Zitaten zu dieser Debatte zu ähnlichen Ergebnissen kommt. Ich möchte mit einem Satz der ägyptisch-libanesischen Autorin Andrée Chedid schließen, das für mich Leitlinie für den Diskurs sein kann, den wir in den nächsten Jahren führen wollen. Andrée Chedid hat in sehr kurzer, aber prägnanter Form gesagt:
Wer auch immer du bist: Ich bin dir viel näher als fremd!
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Für die Linke hat das Wort der Kollege Dr. Hakki Keskin.
Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute im Bundestag über die Grundlagen eines gleichberechtigten Zusammenlebens der unterschiedlichen Kulturen und Religionen in Deutschland. Nach meiner Wahrnehmung besteht unter den im Bundestag vertretenen Fraktionen ein Konsens über folgende Positionen:
Als Demokraten lehnen wir jegliche Art von Gewaltanwendung kategorisch ab. Wir bekennen uns zu den universalen Menschenrechten und zu den Grundrechten unserer Verfassung. Hierzu gehören selbstverständlich auch die Religionsfreiheit sowie die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Wir sind auch der Meinung, Herr Bundesinnenminister, dass keine Religion für politische, ökonomische oder auch ideologische Zwecke instrumentalisiert werden darf. Der säkulare Staat ist nicht verhandelbar.
Wir stimmen darin überein, dass die Beherrschung der deutschen Sprache von wesentlicher Bedeutung ist.
Das sind die Punkte, die wir alle, glaube ich, interfraktionell teilen, über die also Konsens herrscht.
Leider bestehen in einer Reihe wichtiger Fragen aber erhebliche Differenzen.
Bundesinnenminister Schäube hat in der ?FAZ“ vom 27. September - Herr Bundesinnenminister, ich werde Sie jetzt zitieren - Folgendes gesagt:
Trennendes erkennen und Verbindendes stärken kann aber nur der, der sich seiner eigenen Wurzeln bewußt ist.
Herr Schäuble, Sie haben Recht. Bedauerlicherweise aber haben insbesondere viele Ihrer Unionskolleginnen und -kollegen diesen richtigen Grundsatz in Bezug auf die Migranten und Muslime bis heute ignoriert.
Die Fraktion Die Linke befürwortet die Erhaltung und Weiterentwicklung der kulturellen Identität der Migrantinnen und Migranten. Hierzu gehören das Erlernen der eigenen Muttersprache in den Schulen sowie die Anerkennung des Islam - ich begrüße es, wenn Sie, Herr Bundesinnenminister, das wirklich ernst meinen - als eine gleichberechtigte Religionsgemeinschaft. Neben dem christlichen Religionsunterricht sollte ein Wahlfach ?Islamkunde“ unter der Aufsicht deutscher Schulbehörden eingeführt werden. Kenntnis der Kulturen ist die Voraussetzung für das Einanderverstehen.
Für die Linke gehört die rechtliche, politische und - das ist ganz zentral, meine Damen und Herren - soziale Gleichstellung der kulturellen Minderheiten zu den Grundvoraussetzungen einer Integrationspolitik. Dies ist allerdings nur möglich, wenn die deutsche Staatsbürgerschaft ohne weiteres erworben werden kann, also die Schwierigkeiten, die es hierbei gibt, behoben werden.
Für alle politisch Verantwortlichen steht die Einbürgerung jedoch erst am Ende - das höre ich sehr oft auch von Unionspolitikern - des Integrationsprozesses. Was für ein Irrtum! Weite Teile der Union sind noch immer der Ansicht, dass die Migranten eine Bringschuld haben. Sie sollen sich der deutschen Mehrheitsgesellschaft unterordnen. Oftmals wird über Integration geredet, leider jedoch Assimilation gemeint.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe leider den Eindruck gewonnen, dass die gestrige Islamkonferenz vor allem aufgrund sicherheitspolitischer Überlegungen stattfand. Die tatsächlichen Motive dieser Konferenz hätten eigentlich integrationspolitischer Natur sein müssen. Dennoch begrüße ich die Islamkonferenz auch heute als Initiative zu einem interkulturellen Dialog. Ein wirklicher Dialog muss jedoch auf gleicher Augenhöhe und in wechselseitigem Respekt geführt werden.
Die Fraktion Die Linke fordert die Bundesregierung auf, die bei uns lebenden kulturellen Minderheiten als gleichberechtigte Bürger endlich in die deutsche Gesellschaft aufzunehmen und sie als ihren festen Bestandteil anzuerkennen. Dies erfordert, wenn ich resümieren darf, die Anerkennung der kulturellen Identität von Muslimen und anderen Minderheiten, die rechtliche, politische und soziale Gleichstellung durch den erleichterten Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft,
tatsächliche Chancengleichheit in den Bereichen Bildung und Ausbildung durch sozial gerechte Reformen im Bildungswesen sowie die berufliche Integration durch besseren Zugang zu Beschäftigung in Deutschland mit menschenwürdigen Einkommen.
Ich komme zum Schluss. Meine Damen und Herren, wenn wir die Integration und die gestrige Islamkonferenz wirklich ernst meinen, müssen diese berechtigten Forderungen ohne weiteren Zeitverlust umgesetzt und realisiert werden.
Ich danke Ihnen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das Wort hat Kristina Köhler, CDU/CSU-Fraktion.
Kristina Köhler (Wiesbaden) (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zunächst Ihnen, Herr Innenminister, sowie Herrn Staatssekretär Altmaier und Herrn Dr. Kerber herzlich für die umsichtige Art und Weise danken, auf die Sie den Auftakt der Deutschen Islamkonferenz geplant und vorbereitet haben.
Diese Konferenz kann für Deutschland eine Zäsur im Verhältnis von Staat und Muslimen bedeuten, aber nur, wenn sie keine dieser gängigen Dialogveranstaltungen wird, bei denen kritische Fragen einfach ausgeklammert, werden, und wenn sie nicht von inszenierter Betroffenheit und Gekränktheit getragen ist. Denn es ist richtig: Wer hinter jedem Muslim einen potenziellen Terroristen vermutet, trägt zum kritischen Dialog nichts bei. Genauso wenig aber trägt derjenige etwas bei, der sich ständig als Muslim diskriminiert fühlt, wenn islamistische Auswüchse bekämpft werden.
Deshalb bin ich froh und dankbar über die Auswahl der Gesprächsteilnehmer. Das Innenministerium hat hier besondere Sorgfalt und Umsicht walten lassen. Neben den Vertretern islamischer Verbände waren auch einzelne muslimische Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kultur und Wirtschaft geladen, darunter etwa Frau Seyran Ates oder Frau Dr. Necla Kelek. Anders als bei vielen Diskussionsveranstaltungen zuvor spiegelt sich hier endlich die gesellschaftliche Realität wider. Realität ist nämlich, dass der Islam in Deutschland eben nicht zum Großteil aus Mitgliedern konservativ-orthodoxer oder gar islamistischer Verbände besteht, sondern vor allem aus säkular orientierten Muslimen, die gerne hier in Deutschland und unter dem geltenden Grundgesetz leben.
Deshalb geht die Kritik an der Auswahl der Teilnehmer völlig ins Leere. Auch die Vertreter islamischer Verbände müssen sich darüber klar werden, dass die Muslime in Deutschland eben kein monolithischer Block sind. Wer höchstens 30 Prozent der Muslime in Deutschland vertritt, kann nicht für 100 Prozent sprechen.
Die Konferenz gestern war ein Auftakt für einen Prozess. Was genau am Ende dieses Prozesses stehen wird, können wir heute noch nicht beantworten. Das Ziel muss es aber sein, Voraussetzungen für eine Übereinkunft zu schaffen, die es allen verfassungstreuen muslimischen Strömungen ermöglicht, ihre Religion hier in Deutschland frei von Ressentiments und frei von extremistischer Beeinflussung zu leben.
Diese Übereinkunft ist im Übrigen kein Gesellschaftsvertrag, wie es immer wieder anklang, und zwar weder einer im Sinne der politischen Philosophie noch einer im Sinne traditionalistischer islamischer Auffassung. Denn eines muss doch klar sein: Die Muslime in Deutschland sind bereits Teil dieser Gesellschaft. Wer hier lebt, hat den Gesellschaftsvertrag schon unterzeichnet und sich damit zu den Grundwerten unserer Verfassung und den hier geltenden Regeln und Normen bekannt. Dies muss ein Bekenntnis ohne Vorbehalt sein. Leider wird dies immer noch von so manchem Verband anders gesehen. In Publikationen finden Sie beispielsweise Sätze wie: ?Das deutsche Recht gilt für Muslime so lange, solange es dem islamischen Recht nicht widerspricht.“
Diese Diskussion jedoch, meine Damen und Herren, zielt ins Herz der Islamkonferenz. Sie ist keinesfalls nur theoretisch, sondern bildet die Grundlage dafür, dass Integration überhaupt möglich ist. Denn lassen Sie es uns doch ehrlich formulieren: Die Integration bestimmter muslimischer Gruppen in Deutschland ist nur dann möglich, wenn sich diese vom absoluten Geltungsanspruch der islamischen Pflichtenlehre, sprich: der Scharia, verabschieden.
Es war daher kein besonders gelungener Beitrag, als der Generalsekretär des Zentralrats der Muslime Anfang dieser Woche den Bundesinnenminister davor warnte - ich zitiere sinngemäß -, auf der Konferenz eine offene Wertediskussion anzuzetteln. Die Begründung des Generalsekretärs war, kein Staat könne die traditionellen Werte der Scharia in Einklang mit dem Grundgesetz und den Menschenrechten bringen; der Staat sei vielmehr zur Wertfreiheit verpflichtet und müsse sich ?da raus halten“.
Hier liegt ganz offensichtlich ein großes Missverständnis vor. Dieser Staat ist nicht wertfrei. Ganz im Gegenteil: Wie jede andere Gesellschaft auch haben wir einen Kern an gemeinsamen Werten, Normen und Symbolen, durch die Gemeinschaft erst begründet, erhalten und weiterentwickelt wird.
Zu diesem Kern gehört das aus unserem europäischen Erbe geformte und im Grundgesetz verankerte Verständnis von Demokratie und Menschenwürde, Freiheit, Solidarität, der Trennung von Staat und Kirche sowie der Gleichberechtigung der Geschlechter.
Wer in Deutschland lebt, muss diese zentralen Werte und Normen annehmen.
Er muss diese Werte nicht nur begrüßen und anerkennen, sondern er muss sie annehmen. Hier sehen wir - Herr Professor Keskin, Sie haben diesen Punkt eben angesprochen - in der Tat eine Bringschuld aller Menschen, die in Deutschland leben wollen.
Das heißt nicht, dass diese Menschen ihre Herkunft verleugnen oder ihre Wurzeln aufgeben sollen. Wo aber Menschenrechte und Demokratie infrage gestellt werden, da gibt es kein Recht auf kulturelle Differenz.
Hier gibt es viele offene Fragen, die die Islam-Konferenz beantworten muss. Wir haben gehört, dass es gestern große Einigkeit gab. Wir haben aber auch gehört, dass es an einigen Stellen - so sagte es der Innenminister - ?knirscht“. Vor allen Dingen hinsichtlich der Rolle der Frauen und Mädchen gibt es noch Klärungsbedarf.
Es ist wichtig, sich eines zu vergegenwärtigen: Alle in diesem Problemkreis diskutierten Phänomene - das sind sehr unterschiedliche Phänomene wie Ehrenmorde und Zwangsheiraten bis hin zur Abmeldung vom Sportunterricht und zu Zwangsverschleierungen - basieren auf einem bestimmten Ehrbegriff, der unserer westlichen Welt sehr fremd ist, auf einem Ehrbegriff, der sich wohl nicht von alleine in unsere freiheitlich-demokratische Gesellschaft integrieren wird.
Die Islamkonferenz wird daher auch über Folgendes zu reden haben: Was kann der Islam in Deutschland dazu beitragen, dass der Aufruf der Autorin Serap Cileli endlich umfassend gehört wird: ?Wir sind eure Töchter, nicht eure Ehre.“?
Wir als CDU/CSU maßen uns nicht an, uns in theologische Diskussionen über die Auslegung der Scharia einzumischen. Das wäre absolut nicht unsere Aufgabe. Aber wird sind als Volksvertreter verpflichtet, unzweideutig klarzustellen: In Deutschland gilt im Konfliktfall das Grundgesetz, nicht die Scharia. Dies muss Konsens der Konferenzteilnehmer sein.
Auf solch einer Basis ist es dann möglich, die Integration des Islams deutlich voranzubringen, sei es in Fragen des Islamunterrichts oder bei der Ausbildung von Imamen.
Bei aller Diskussion darüber sollten wir jedoch eines nicht vergessen, nämlich dass große Teile der muslimischen Bevölkerung in Deutschland bereits gut integriert sind. Diese Menschen wollen gar keinen kulturellen Sonderstatus. Sie wollen sich überhaupt nicht vom Rest der Gesellschaft absondern, sondern sie wollen schlichtweg nur, dass sie und ihre Kinder in Deutschland eine faire Chance bekommen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das Wort hat Renate Künast, Bündnis 90/Die Grünen.
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich als Erstes von einer regelmäßig geübten parlamentarischen Gepflogenheit abweichen: Auch ich möchte im Namen meiner Fraktion ganz ausdrücklich begrüßen, was Ihnen, Herr Schäuble, beim Aufbauen und Zustandekommen der Islamkonferenz gelungen ist.
Da ich schon Gepflogenheiten aufgebe, will ich ohne falsche Rücksichtnahme zugestehen: Das hätten wir uns schon von Ihrem Vorgänger gewünscht.
- Ich habe geahnt, dass Sie da klatschen. - Ich will nicht die Gründe dafür erörtern, warum dieser das wiederum nicht wollte, obwohl es auch zu seiner Amtszeit schon überfällig war.
Herr Schäuble, ich beglückwünsche Sie dafür, dass Sie gesagt haben: Muslime sind in unserer Gesellschaft ein Stück unserer Vergangenheit, unserer Gegenwart und unserer Zukunft. Wenn ein CDU-Bundesinnenminister am Rednerpult sagt, dass Muslime Teil unserer Gesellschaft sind und die Zeit der Einschätzung, es handele sich bei ihnen um Gastarbeiter, zu Ende ist, dann sind wir in der Gesellschaft einen Schritt weitergekommen; denn der Gastarbeitermythos gehörte längst abgeschafft.
Wir wissen längst, dass es in dieser Republik zum Beispiel in der Altenpflegeausbildung Menschen gibt, die Türkisch lernen müssen. Warum? Weil die erste und zweite Generation der Gastarbeiter hier geblieben ist. Hier ist vielleicht ihre zweite Heimat; aber hier ist die erste Heimat ihrer Kinder und Enkelkinder. Also weg mit dem Gastarbeitermythos! Sie leben hier so wie viele andere Migrantinnen und Migranten; sie leben so wie viele andere Bürgerinnen und Bürger.
An dieser Stelle will ich auf eines hinweisen, Herr Schäuble: Sie sagen, Muslima und Muslime seien Teil unserer Gesellschaft und das wolle man gemeinsam weiterentwickeln. Diesen Satz will ich denklogisch zu Ende bringen. Das heißt dann auch: Es ist nicht falsch, dass wir mit der Türkei Verhandlungen im Hinblick auf einen EU-Beitritt führen. Denn auch sie gehört dann zu Europa, zu unserer Vergangenheit, unserer Gegenwart und unserer Zukunft.
Vielleicht sollten wir den Integrationsgipfel und die Islamkonferenz dazu nutzen, zu sagen: Wir haben hier Bürgerinnen und Bürger, die die unterschiedlichen Religionen und Kulturen kennen und die mehrere Sprachen - zumindest zwei - können. Herr Schäuble, man könnte vielleicht ein wirtschaftliches Plus zustande bringen, wenn Sie auch das angehen würden.
Wir als Bündnisgrüne fordern schon lange die Einbürgerung des Islam. ?Einbürgerung des Islam“ soll heißen: Das ist eine Religion, an die Menschen hier glauben, die Menschen hier praktizieren, zu der sich Menschen hier bekennen. Deshalb ist ein Dialog darüber längst überfällig. Man hätte ihn eigentlich beginnen sollen,
als Zehntausende Gastarbeiter mit ihrer eigenen Religion und Kultur nach Deutschland kamen. - Jetzt ruft natürlich von der FDP wieder jemand - das sind immer die Gleichen - nach den Grünen. Ich danke dafür, dass Sie darauf verweisen. Das gibt mir die Möglichkeit, zu sagen, wie oft wir einen solchen Dialog eingefordert haben,
und darauf hinzuweisen, dass wir im Frühjahr dieses Jahres im Rahmen eines Integrationsvertragskonzeptes, das verschiedene Standbeine enthält, gesagt haben: Die Einbürgerung des Islam gehört dazu.
Herr van Essen, dass wir an der Regierung waren, weiß ich. Ich habe auf der Regierungsbank gesessen und immer Ihre traurigen Gesichter gesehen.
Ich sehe: Ihr Gesicht ist noch immer traurig. Das wird vielleicht längere Zeit so bleiben.
Diese Islamkonferenz benötigt als Basis Grundrechte für das Zusammenleben. Dazu gehören die Gleichberechtigung von Frau und Mann, die Glaubens- und Meinungsfreiheit und die Freiheit der Kunst.
Eines möchte ich in diesem Zusammenhang sagen: Ich habe mich gefreut, zu sehen, wie muslimische Verbände und Schriftstellerinnen und Schriftsteller sich in den letzten Monaten im gesellschaftlichen Diskurs verhalten haben. Die Reaktion der muslimischen Verbände in Deutschland darauf, dass der Papst gesagt hat, bei den Reaktionen auf sein Zitat handele es sich um ein Missverständnis, hat mich sehr gefreut; denn sie haben seine Erklärung sofort angenommen. Das gilt auch für ihr Verhalten beim Karikaturenstreit und im Hinblick auf die umstrittene Operninszenierung. Ich glaube, daraus kann sich etwas entwickeln. In der Erschrockenheit über die Absage der Operninszenierung und dem Innehalten und dem Nachdenken darüber, wie weit eigentlich die Entwicklung gediehen sei, dass nicht mehr jede Form von Kunst dargestellt werden könne, liegt eine Chance. Vielleicht finden wir uns alle am Ende bei einer Opernaufführung wieder.
Herr Schäuble, ich sage Ihnen auch: Zum Thema Integration, zur Einbürgerung des Islam, gehört nicht, dass wir ausschließlich von den Muslimen fordern, sich zu bewegen. Es ist vielmehr auch Aufgabe der aufnehmenden Gesellschaft, endlich zu zeigen, dass diese Gesellschaft jahrzehntelang nicht jeden Morgen gesagt hat: Die muslimische Religion ist hier willkommen. Sie hat auch nicht jeden Tag geholfen, Integrationsmaßnahmen durchzuführen oder ihnen, zum Beispiel durch die Vermittlung der deutschen Sprache oder durch Unterstützung bei der Ausbildung, weiterzuhelfen.
Die Vorstellung der Grünen ist es, zu sagen: Wir müssen es als einen Vertrag im rousseauschen Sinne verstehen. Die aufnehmende Gesellschaft und die Migranten müssen in dieser Beziehung aktiv werden. Beide Seiten sind gefordert und nicht, Frau Köhler, nur eine Seite.
Wir haben Erwartungen an diese Konferenz. Wir wollen, dass die besonderen Hindernisse, die der Verleihung des Körperschaftsstatus für die islamischen Religionsgemeinschaften im Wege stehen, beseitigt werden. Das müssen die Muslime zum Gutteil selbst tun. Wir wollen die Einführung des Islamunterrichts auf Deutsch in den deutschen Schulen; wir wollen Imame in Deutschland auf Deutsch ausbilden und wir wollen mehr als diese zwei Lehrstühle für islamische Religion, weil sich am Ende nur so ein europäischer Islam entwickeln kann, ein Islam, der eines gelernt hat, nämlich hier auf der Basis der Grundrechte aktiv zu werden.
Unsere Vorstellung ist es auch, weit über diese Islamkonferenz hinauszugehen - das ist mein letzter Satz an Sie, Herr Schäuble -: Ich wünsche mir, dass Sie an einer Stelle nicht mehr blockieren. Sie müssen mit den Migrantinnen und Migranten und den Muslimen auch über eine Reform des Staatsbürgerschaftsrechts, des Ausländerrechts reden. Sie müssen die muslimische Familie, die Familie von Ausländern genauso schätzen wie die deutsche Familie. Deshalb sage ich Ihnen: Zur Integration gehört auch, dass wir das Alter für den Familiennachzug bei Frauen und Kindern nicht erhöhen, weil das im Rahmen all Ihrer Bemühungen das falsche Zeichen wäre.
Lassen Sie uns also eines vermitteln: Beide Seiten bewegen sich. Dann wird etwas daraus.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Der Kollege Fritz Rudolf Körper, SPD-Fraktion, hat das Wort.
Fritz Rudolf Körper (SPD):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will eine persönliche Vorbemerkung an Herrn Schäuble richten. Lieber Herr Bundesinnenminister Schäuble, ich will deutlich unterstreichen: Die Art und Weise, wie Sie mit diesem Thema umgegangen sind und umgehen, finde ich richtig, weil sie sachlich, sachbezogen und unaufgeregt ist. Ich denke, das wird diesem Thema gerecht.
Ich weiß aus meiner Tätigkeit als Parlamentarischer Staatssekretär um die Schwierigkeiten, die damit verbunden sind. Ich weiß beispielsweise um die Schwierigkeit, die sich mit der Frage der Zusammensetzung und der Aufstellung der Teilnehmerliste verbindet. Ich weiß auch, dass es darüber Debatten gegeben hat. Man kann natürlich darüber streiten: Deckt die Zusammensetzung der Konferenz 10 Prozent der deutschen Muslime ab, deckt sie 15 Prozent ab, oder wie viel deckt sie ab? Nichtsdestotrotz glaube ich, dass es richtig war, dieses Risiko auf sich zu nehmen und die Zusammensetzung so vorzusehen, wie Sie es getan haben. Denn es wäre schlecht gewesen, wenn eine solche Debatte diese Islamkonferenz verhindert hätte. Deswegen muss man an dieser Stelle ein Stück Mut zur Lücke haben. Wenn man dann im Prozess erkennt, dass das eine oder andere noch zu verbessern ist, sollte man das einfach unaufgeregt tun.
Ich finde es wichtig, sich auch einmal damit zu beschäftigen, wie sich die Zahl der Muslime - in Deutschland leben rund 3,5 Millionen Muslime - zusammensetzt. Etwa drei Viertel von ihnen sind türkische Staatsbürger oder Deutsche türkischer Herkunft. Es folgen Bosniaken, Iraner, Marokkaner und Afghanen. Sie sind also nicht nur türkischer Herkunft. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass gut die Hälfte aller Muslime in Deutschland länger als 20 Jahre bei uns sind und sie klar ihre Entscheidung getroffen haben, dass Deutschland ein Stück weit ihre Heimat ist. Das sollten wir auch unterstützen.
Frau Künast, ich finde es richtig, deutlich zu machen, dass die meisten Muslime als Arbeitsmigranten zu uns gekommen sind. Das ist vor dem folgenden Hintergrund wichtig: Wir müssen uns zwar leider mit einem islamistisch orientierten Terrorismus auseinander setzen; es gibt aber absolut keine Anhaltspunkte für Berührungspunkte oder Beziehungen zwischen denjenigen, die islamistischen Terrorismus betreiben bzw. in diesem Feld agieren, und den Menschen, die aus dem Bereich der Arbeitsmigration kommen. Diese Erkenntnis ist - lieber Sebastian, du unterstützt das - für die Debatte in Deutschland wichtig.
Es ist richtig, dass der Islam als Religion bisher in unserem Land relativ wenig Beachtung fand. Er ist erst im Zusammenhang mit der Diskussion über den islamistischen Terrorismus in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt. Um es aber ganz klar festzuhalten: Niemand, der sich mit diesem Thema ernsthaft beschäftigt, darf Islam und Islamismus gleichsetzen.
Man muss allerdings feststellen, dass das Misstrauen der nicht muslimischen Bevölkerung in Deutschland gegenüber dem Islam in den letzten Jahren, insbesondere in den letzten Monaten, eher gewachsen als geringer geworden ist. Viele Ängste und Besorgnisse erwachsen aus mangelnder Kenntnis und Information über den Islam. Deswegen sind Information und Aufklärung geboten. Nur so können wir das Verhältnis und das Verständnis füreinander fördern. Es geht hierbei auch darum, das Verständnis für die in Deutschland lebenden Muslime zu fördern.
Allerdings darf dabei nicht übersehen werden, dass es unter den Muslimen auch Anhänger islamistischer Strömungen gibt, die uns Anlass zur Sorge geben. Es ist aber wichtig, sich das Mengengerüst deutlich zu machen: Ihr Anteil liegt bei unter 1 Prozent der muslimischen Bevölkerung in Deutschland. - Es ist gut und richtig, dass wir den Dialog mit dem Islam in Deutschland in Gang setzen. Ich hoffe, dass es möglich ist, auf diesem Weg differenziert vorzugehen.
Wichtig für jede Diskussion über religiöse Fragen ist für uns der seit der Weimarer Reichsverfassung in Deutschland endgültig anerkannte Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche. Der Staat darf und soll sich aus gutem Grund nicht in religiöse Fragen einmischen.
Umgekehrt dürfen Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht für sich in Anspruch nehmen, staatliches Handeln bestimmen zu dürfen.
Auf dieser Grundlage hat sich in Deutschland ein von gegenseitigem Respekt getragenes Verhältnis partnerschaftlicher Kooperation zwischen dem Staat auf der einen Seite und den christlichen Kirchen auf der anderen Seite entwickelt. Wir in Deutschland dürfen von den hier lebenden Muslimen und ihren Gemeinschaften erwarten, dass sie die Trennung von staatlichen und religiösen Fragen beachten, da dies für ein friedliches Miteinander in Deutschland von entscheidender Bedeutung ist.
Wir achten die Ernsthaftigkeit, mit der viele Muslime ihren religiösen Pflichten und Bräuchen im Alltagsleben nachkommen.
Wir werden jedoch nicht zulassen können, dass religiöser Eifer und religiöses Eiferertum staatliches Handeln beeinflussen.
Unser Grundgesetz gewährt in Art. 4 die Glaubens- und Gewissensfreiheit. Sie umfasst auch das Recht auf ungestörte Religionsausübung, sei es als Individuum oder in Gemeinschaft. Zur Religionsausübung gehört auch die religiöse Vereinigungsfreiheit. Religionsgemeinschaften können daher die Rechtsfähigkeit nach den allgemeinen Formen des bürgerlichen Rechtes, vor allem in der Form des eingetragenen Vereins erwerben. Diese Rechte gelten für alle Menschen in Deutschland, also auch für muslimische Mitbürgerinnen und Mitbürger, und zwar unabhängig davon, ob ihre Herkunftsstaaten ebenso verfahren.
Neben dem Grundrecht auf freie Religionsausübung gelten die staatskirchenrechtlichen Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung fort, wonach Religionsgemeinschaften unter bestimmten Voraussetzungen den besonderen Rechtsstatus einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erhalten können. Dieser den islamischen Vereinigungen bisher nicht verliehene besondere Status vermittelt einer Religionsgemeinschaft ohne Zweifel zusätzliche Vorrechte. Voraussetzung hierfür wäre, dass sich die Muslime eine Organisationsform in Deutschland geben, die sie in der Öffentlichkeit wahrnehmbar macht, so wie dies die christlichen Kirchen oder beispielsweise die jüdischen Gemeinden tun.
Die initiierte Islamkonferenz und der von ihr ausgehende Arbeitsprozess haben richtigerweise unter anderem den Schwerpunkt, das Thema ?Religionsfragen im deutschen Verfassungsverständnis“ zu erörtern. Wenn wir die anstehenden Probleme lösen können, können wir eine ganze Menge der sich daraus ergebenden Fragen, wie beispielsweise die des Religionsunterrichts, besser regeln als in der Vergangenheit.
Der mit der gestrigen Veranstaltung eingeleitete Prozess eröffnet uns große Chancen. Wir sollten diese Chancen für ein friedliches, freiheitliches Miteinander in Deutschland nutzen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Ich erteile das Wort der Kollegin Sibylle Laurischk, FDP-Fraktion.
Sibylle Laurischk (FDP):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Innenminister, Sie haben eine ganz zentrale Aussage gemacht, die ich für richtig halte. Sie haben gesagt: ?Muslime sind in Deutschland willkommen.“ Das muss gesagt werden; denn das muss bei dieser Diskussion klar sein. Nichts Unterschwelliges darf hier eine Rolle spielen.
Mir scheint es allerdings so zu sein, dass das Setzen von Highlights in Form verschiedener Integrationsgipfel über die sonstigen Schwächen der Koalition hinwegtäuschen soll.
Tatsächlich ist es so, dass in § 45 des Aufenthaltsgesetzes die Verpflichtung des Innenministers enthalten ist, ein bundesweites Integrationsprogramm unter Beteiligung der Religionsgemeinschaften zu erarbeiten. Frau Künast, es wäre vielleicht sinnvoll gewesen, den Bundesinnenminister in der vorherigen Regierung darauf hinzuweisen.
Wir haben im Bereich der Integration viele Probleme, die wir lösen müssen. Das liegt an Versäumnissen. Wir haben unsere Vorstellungen und Forderungen gegenüber den zu uns kommenden Menschen in der Vergangenheit nicht hinreichend klar gemacht. Wir haben sie auch nicht hinreichend unterstützt, in ihrer neuen Heimat Wurzeln zu schlagen.
Herr Innenminister, Sie haben etwas anderes sehr klar ausgesprochen, das für uns alle selbstverständlich ist: ?Das Grundgesetz ist nicht verhandelbar.“
Insofern ist auch das Selbstverständnis, das unsere Gesellschaft prägt, die Gleichstellung von Mann und Frau, nicht verhandelbar.
Das Grundgesetz geht sogar darüber hinaus. In Art. 3 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes heißt es:
Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
Hier fehlt mir vonseiten der Bundesregierung in der heutigen Debatte ein klares Zeichen. Wo ist die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung? Wo ist die Bildungsministerin der Bundesregierung?
Wo ist die Frauenministerin der Bundesregierung?
Sie nehmen an dieser Debatte nicht teil, obwohl es um die Zielsetzung des Grundgesetzes geht, Benachteiligungen im Zusammenhang mit der Gleichberechtigung zu beseitigen.
Benachteiligungen sind Bildungsnachteile - eine Problemlage, von der insbesondere Frauen und im Zuge ihrer Aufgabe als Mütter auch ihre Kinder betroffen sind. Wir stehen vor großen Bildungsproblemen, die wir zu lösen haben. Auch diese Themen müssen im Rahmen von Integrationsgipfel und Islamkonferenz behandelt werden. Die Mutter-Kind-Sprachkurse beispielsweise sind immer noch nicht so ausgestaltet, dass den Müttern ermöglicht wird, in ausreichendem Maße die deutsche Sprache zu erlernen.
Das Grundgesetz lässt auch im Hinblick auf Gewalt in der Familie kein Pardon zu. Die Familienehre ist in Deutschland kein Rechtfertigungsgrund für Gewalttaten oder Tötungsdelikte.
Problematisch erscheint mir allerdings die Vorstellung, von oben bestimmen zu wollen, in welcher Sprache in der Moschee gepredigt wird. Ziel dieser Überlegung ist ja nicht, dass man zum Erlernen bzw. besseren Verständnis der deutschen Sprache durch die Muslime beitragen möchte. Vielmehr möchte man das Aufspüren so genannter Hassprediger erleichtern. Wir dürfen den gläubigen Muslim aber nicht unter Generalverdacht stellen.
Auch in Deutschland war der Gebrauch der deutschen Sprache in der Kirche lange Zeit nicht selbstverständlich. Wir wissen, dass die Bibelübersetzung durch Martin Luther eine revolutionäre Tat war.
Die grundgesetzlich geschützte Glaubensfreiheit beinhaltet selbstverständlich auch die Freiheit der Wahl der Sprache. Allerdings würde ich mich sehr freuen, wenn die muslimischen Gemeinden eine klare Entscheidung für die deutsche Sprache treffen würden. Das wäre, ganz pragmatisch gesehen, auch ein Beitrag zur Sprachförderung. Die Hoover-Schule, die eine ähnliche Zielsetzung verfolgt und solche Impulse gesetzt hat, hat dafür den Nationalpreis bekommen.
Ein Integrations- und ein Islamgipfel der Bundesregierung reichen nicht aus, um die Probleme der Integration in den Griff zu bekommen. Es ist an der Zeit, im Bundestag gemeinsam und überparteilich Wege aus den Fehlern der Vergangenheit zu suchen. Hierzu eignet sich eine Enquete-Kommission in hervorragender Weise.
Die Thematik ist zu wichtig, um die Debatte über Integrationsprobleme und Integrationslösungen auf tagespolitische Schlagzeilen zu verkürzen. Dieser Dialog gehört ins Parlament. Es muss in den Diskussionsprozess eingebunden werden. Für die FDP ist es nicht hinnehmbar, dass der notwendige Dialog über Integration und Islam ausschließlich zwischen Regierung und Verbänden, aber ohne den Deutschen Bundestag geführt wird.
Integrationspolitik darf nicht als mediale Veranstaltung einiger Minister missbraucht werden.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Sibylle Laurischk (FDP):
Ich komme zum Schluss. - Wir wollen, dass eine Enquete-Kommission zu Integration und Migration diese wichtigen Themen anstößt und vertieft. Ich lade alle Fraktionen ein, zusammen mit der FDP die Möglichkeiten zur Einsetzung einer Enquete-Kommission ?Integration und Migration“ auszuloten.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das Wort hat für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl.
Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ganz offensichtlich besteht eine überwältigende Einigkeit darüber, dass die gestrige Auftaktveranstaltung der Islamkonferenz ein voller Erfolg war. Deswegen möchte auch ich mich von dieser Stelle aus bei all denen bedanken, die diese Konferenz vorbereitet und an ihr teilgenommen haben, vor allem aber bei demjenigen, der diese Konferenz ins Leben gerufen hat, Herrn Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble. Danke schön!
In Art. 4 unseres Grundgesetzes heißt es:
Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.
Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.
So weit unser Grundgesetz. Diese Religionsfreiheit wird bekanntlich nicht nur den christlichen Kirchen, sondern allen Religionsgemeinschaften gewährt. Doch auch dieses Freiheitsrecht gilt, wie wir wissen, nicht grenzenlos. Es findet seine Grenze in den unveräußerlichen Menschenrechten. Niemand hat also das Recht, unter Berufung auf seinen Glauben die vom Grundgesetz garantierten Rechte anderer zu verletzen.
Das Grundgesetz fordert jedoch nicht, dass die politische Öffentlichkeit eine strikte Äquidistanz zu allen Religionen einnimmt. Es ist sehr wohl erlaubt, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass es substanzielle Unterschiede zwischen den Religionen gibt.
Alle Christen sind sich heute einig, dass Gewalt, Kriege und die Verfolgung von Minderheiten mit dem Evangelium völlig unvereinbar sind.
Zum Selbstverständnis des Christentums gehört es heute, die Verbrechen, die im Namen der eigenen Religion in früheren Zeiten begangen wurden, einzugestehen und entschieden abzulehnen.
Insofern hat das Christentum hier einen Weg der religiösen Toleranz beschritten. Das friedliche Nebeneinander der Konfessionen in Deutschland hat dazu geführt, dass konfessionell geprägte Kulturräume entstanden sind: das eher katholisch geprägte Süddeutschland und das eher protestantisch geprägte Norddeutschland. Wir empfinden dies heute als Bereicherung und nicht als Grund, Konflikte auszutragen.
Blickt man heute in die Welt, so sieht man, dass Religionsfriede und Religionsfreiheit auch im 21. Jahrhundert nichts Selbstverständliches sind. Der Dialog mit den Gläubigen anderer Religionen, die heute in unserer pluralen Gesellschaft leben, insbesondere der Dialog mit unseren islamischen Mitbürgern, erfordert zweierlei: das Wissen um die eigenen Glaubensinhalte, aber auch zumindest ein Basiswissen über die anderen Religionen. Deswegen ist es wichtig und notwendig, sich mit den Fragen nach der kulturellen und der religiösen Identität auseinander zu setzen. Die Religionsfreiheit des Grundgesetzes fordert etwas Anderes als Äquidistanz; das Grundgesetz fordert gegenseitige Achtung.
Papst Benedikt hat dies in seiner Predigt in München sehr zutreffend zum Ausdruck gebracht. Er sagte:
... Zynismus, der die Verspottung des Heiligen als Freiheitsrecht ansieht …, ist nicht die Art von Toleranz und von kultureller Offenheit, auf die die Völker warten … Die Toleranz, die wir dringend brauchen, schließt die Ehrfurcht vor Gott ein - die Ehrfurcht vor dem, was dem anderen heilig ist.
Das ist der Gedanke, der ihm so wichtig ist und auf den wir uns besinnen müssen: Wenn wir kein Gespür mehr haben für das, was uns heilig sein muss, wie können wir dann sensibel sein im Umgang mit dem, was anderen heilig ist? Das ist die Grundlage echter Toleranz.
Das heißt, das Ausklammern der Frage, welche prägende Tradition eine Gesellschaft hat, macht diese Gesellschaft nicht eo ipso offener und toleranter. Im Gegenteil, kulturelle und religiöse Verwurzelungen ermöglichen erst eine selbstbewusste Offenheit, ermöglichen erst eine Dialogfähigkeit.
Vor einiger Zeit stellte bei einem Kamingespräch mit Bischof Huber ein Kollege von uns eine Frage, die mir am Anfang peinlich war: Sagen Sie, Herr Bischof, sind Sie der Meinung, dass das Christentum dem Islam überlegen ist? - Mir war diese Frage peinlich, weil ich dachte: Was soll der arme Bischof dazu sagen? Ohne nachzudenken aber antwortete er: Selbstverständlich ist das Christentum dem Islam überlegen, aber ich werde niemals aufhören, jeden gläubigen Muslim als Person zu achten und zu respektieren.
Dies war eine ganz spontane Äußerung eines evangelischen Bischofs. Ich finde, es ist wert, darüber nachzudenken.
Anerkennung und Achtung der Lebensweise, der Gesetze und der Traditionen des Landes, in dem man lebt, gehören eben dazu. Jede Seite sollte gegenüber der anderen Wertschätzung empfinden.
Wer sich aber bewusst selbst abschottet, wie das viele Muslime derzeit leider tun, und wer Andersgläubige als Ungläubige ansieht und damit abwertet, wie das manche Muslime leider auch tun, der kann nur schwer integriert werden. Vielleicht will er sich dann auch nicht integrieren lassen. Wir fordern also den Respekt unserer Werteordnung und die Achtung unseres Grundgesetzes. Wer dazu nicht bereit ist, der muss sich fragen lassen, warum er dann ausgerechnet in unserem Lande leben will.
Eines muss ganz klar sein - lassen Sie mich das auch noch sagen -: Es kann nur null Toleranz gegenüber jenen geben, die gewaltbereit sind, die Hass predigen und die gegen unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung eingestellt sind. Eine abwehrbereite Demokratie muss diesen Versuchen, unsere Grundordnung zu zerstören, entgegenstehen. Der gewaltbereite Muslim muss aber auch auf Ablehnung bei den gemäßigten Muslimen stoßen.
Hier wäre an manchen Stellen vielleicht ein klareres und tatkräftigeres Bekenntnis gegen Gewalt und Hass wünschenswert.
Die gestrige Islamkonferenz war der Auftakt zu einem notwendigen und längst überfälligen interkulturellen Dialog. Es war interessant, dass Frau Künast dies auch so empfindet und eine solche Konferenz von dem Vorgänger von Herrn Minister Schäuble in ihrer siebenjährigen Regierungszeit eingefordert hat. Diese sieben Jahre sind auf dem Gebiet aber vertan worden.
- Frau Kollegin Künast, ich will Sie auch nicht über Gebühr loben. Ihr Gedanke und die Logik, von einem Islamdialog zu einem Automatismus bezüglich der Aufnahme der Türkei in die EU zu kommen, verschließen sich mir in der Tat.
Der Dialog, der gestern begonnen hat, wird sich sicher über zwei, drei Jahre fortsetzen und darf nicht einseitig sein. Die Muslime müssen auf uns zugehen und auch wir müssen uns bewusst machen, dass die Verweigerung des Dialogs angesichts von 3 Millionen Muslimen deren Isolation und die Spaltung unserer Gesellschaft bewirken würde. Wer will dies verantworten? Dieser Dialog muss von einem festen und eigenen Wertefundament aus geführt werden. Alles andere würde nicht Toleranz, nicht Integration, sondern Aufgabe unserer kulturellen Wurzeln bedeuten. Wir sollten den Dialog mit den Muslimen zum Anlass nehmen, veraltete und religionsfeindliche Affekte endlich hinter uns zu lassen.
Die gestrige Islamkonferenz war ein hoffnungsvoller Anfang. Dieser offene Prozess muss zu einem besseren Verständnis und zu einem Regelwerk über das Zusammenleben der aufgeklärten deutschen Muslime mit uns führen. Wenn dieser Dialog dazu führt, dass auch wir uns wieder bewusster darüber werden, was die christlich-abendländische Kultur im Innersten zusammenhält, dann wird dieser Dialog von allen Beteiligten mit Sicherheit als große Bereicherung empfunden werden.
Danke schön.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Für Die Linke hat die Kollegin Sevim Dagdelen das Wort.
Sevim Dagdelen (DIE LINKE):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Uhl, Sie haben Bischof Huber zitiert. Dazu muss ich sagen: Die christliche Arroganz, die in diesem Zitat zum Ausdruck kommt, beweist wieder einmal, dass es so wirklich nie zu einem fairen und gleichberechtigten Miteinander zwischen den Religionen kommen kann. Das wollte ich vorweg sagen.
Grundsätzlich begrüßt die Fraktion Die Linke jede Form der Konfliktvorbeugung, -vermeidung und -bewältigung im Rahmen der gegenseitigen Achtung und eines offenen, transparenten und regelmäßigen Dialogs. Die Bundesregierung hat jedoch die gestrige Islamkonferenz für ihre eigenen Zwecke instrumentalisiert. Migranten muslimischen Glaubens werden wegen ihrer Religion per se zu Integrationsunwilligen und -unfähigen erklärt. Viel schlimmer noch: Sie werden zu potenziellen Unterstützern von Terror und somit zu einer Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik erklärt. Mit dieser Begründung werden unter anderem Daten für die Antiterrordatei mit der Angabe der Religionszugehörigkeit gesammelt.
Wann immer die Themen ?Integration“ und ?Islam“ in die öffentliche Debatte gebracht werden, wird suggeriert, dass Migranten nicht die notwendige demokratische Gesinnung besitzen. Deshalb wird von den Migranten ein faktisches Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Leitkultur verlangt. Dies ist ein eindeutiger Versuch, die Verfassung zu kulturalisieren, und steht im Gegensatz zum kulturellen Individualismus und Pluralismus des aufgeklärten Verfassungsstaats.
Für Die Linke ist Religion Privatsache! Die Unterscheidung von Öffentlich und Privat halten wir für eine Grundvoraussetzung einer jeden aufgeklärten und emanzipatorischen Gesellschaft.
- Da lachen Sie, Frau Künast. - Die Zugehörigkeit der Religion zum Bereich des Privaten ist eine gesellschaftliche Errungenschaft, die man nicht aufgeben kann. Deshalb sollte es auch nicht zu dem Aufgabengebiet des Bundesinnenministers gehören, einen Euro-Islam oder gar einen Germano-Islam zu konstruieren oder zu institutionalisieren.
Das schließt eines jedoch nicht aus: eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit allen Religionen, wenn es darum geht, dass Grundwerte der Aufklärung beschnitten werden.
Ich muss aber auch sagen, dass die Debatte in das Gesamtbild passt, das wir seit dem 11. September 2001, der Ermordung des Regisseurs Theo van Gogh 2004 und dem Karikaturenstreit 2006 haben. Bei jeder mit Glaubensfragen im Zusammenhang stehenden Krise ist man schnell mit der Behauptung bei der Hand, der Kampf der Kulturen sei ausgebrochen.
In den letzten Jahren spielt die Frage der Religion in der Öffentlichkeit eine immer stärkere Rolle. Klassische Vorstellungen von Säkularisierung verlieren an Relevanz. Länder werden nach der Religionszugehörigkeit ihrer Bevölkerungsmehrheit definiert und zu so genannten Problemländern erklärt. Herr Kollege Bosbach von der Union fordert, die Reisefreiheit von Menschen aus ebendiesen Problemländern einzuschränken. Ich frage mich, was er sagen würde, wenn Deutschland wegen der Neonazis, die es bis in die Länderparlamente geschafft haben, ebenfalls zu einem Problemland erklärt würde.
Die Bedeutung der Religion an sich hat auch in unserem Land zugenommen. In einem nicht unwesentlich von Vorurteilen und Angst durchsetzten Klima wird allseits zum Dialog aufgerufen. Inzwischen hat sich der interreligiöse Dialog respektive christlich-islamische Dialog zu einem Knotenpunkt in den interkulturellen Angelegenheiten entwickelt. Im Rahmen des Diskurses vom Kampf der Kulturen werden Integrationsfragen mehr und mehr in Kulturfragen übersetzt und ihre Lösung von einer interreligiösen Verständigung abhängig gemacht. Der interreligiöse Dialog wird öffentlich mit der Aufgabe betraut, bei der Integration von muslimischen Einwanderern zu helfen. So hat sich aus dem muslimischen Einwanderer der eingewanderte Muslim entwickelt.
Die politische und gesellschaftliche Anerkennung des Islam als gleichberechtigte Religion neben allen anderen Religionen ist auch eine Forderung, welche Die Linke unterstützt. Die Integration kann jedoch nicht erfolgen, wenn man sie von sozialen, politischen und wirtschaftlichen Zusammenhängen isoliert und auf die Fragen der Religion reduziert.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Sie müssen bitte zum Ende kommen, Frau Kollegin.
Sevim Dagdelen (DIE LINKE):
Mein letzter Satz, Frau Präsidentin. - Sofern es ein integrationspolitischer Dialog sein soll, wie es auch auf dem Integrationsgipfel angekündigt worden ist, muss dieser übergreifend und nicht nur auf Muslime bezogen geführt werden. Andernfalls wird in der Debatte eben doch wieder eine einseitige Problemlastigkeit im Islam suggeriert.
Danke schön.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das Wort hat der Kollege Omid Nouripour, Bündnis 90/Die Grünen.
Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir - gerade weil es meine erste Rede vor diesem Hohen Hause ist - eine persönliche Vorbemerkung. Ich muss feststellen, dass ich dem Deutschen Bundestag, dem Haus der Freiheit, nur deshalb angehören kann, weil dieses Haus unter Rot-Grün 1999 das Staatsangehörigkeitsrecht geändert hat. Für die Chance, dieses Land nicht nur als Heimat zu empfinden, sondern ihm auch auf diese Weise dienen zu können, bin ich zutiefst dankbar.
Nun komme ich zur Sache. Meine Fraktion und ich begrüßen bei aller Kritik an Details die Einrichtung der Deutschen Islamkonferenz. Sie hat das Potenzial, mehrere richtige, aber auch wichtige Signale zu setzen: an die Muslime in Deutschland, aber auch an die so genannte Mehrheitsgesellschaft.
Angesichts der lobenswerten medialen Vorarbeit des Bundesinnenministers kann man sich nur freuen, dass er sehr viele dieser Signale gegeben hat. Ich hatte den Eindruck, dass er gerade im konservativen Milieu dafür sorgen wollte, dass der Islam in diesem Land als gesellschaftliche Realität anerkannt wird. Das ist ein sehr gutes Ziel, für das wir Grüne seit Jahrzehnten kämpfen, Herr Minister. Ich heiße Sie herzlich willkommen auf der Seite der Realisten in diesem Land.
Der mit der Islamkonferenz begonnene Dialog bietet Chancen. Er kann und muss die längst überfällige Gleichstellung des Islams mit den anderen Religionen in Deutschland entscheidend voranbringen und schließlich verwirklichen. Ich wünsche mir sehr, dass am Ende dieses Dialoges ein Staatsvertrag steht, der ganz konkrete und praktische Fragen wie die Ausbildung von Vorbetern und Imamen - ich hoffe eines Tages auch von Vorbeterinnen und Imaminnen - an deutschen Universitäten, den Islamunterricht an Schulen, die Teilnahme von Mädchen an Klassenfahrten oder offene Fragen beim Bau von Moscheen regelt.
Betreffend die rechtliche Verfasstheit des Islams muss ich feststellen, Herr Minister, dass Ihre Rede leider wenig konkret und ambitioniert war. Hierbei hoffen wir auf mehr.
Aber auch die innerislamische Debatte kann dadurch forciert werden. Diese Debatte ist ein Wert an sich und ein fundamentaler Bestandteil der Einbindung des Islams in die Moderne.
Dieser Dialog braucht eine sensible Moderation, die wir Ihnen zutrauen, Herr Minister. Trotzdem hat es mich irritiert, im Vorfeld lesen zu müssen, dass Sie bisher immer nur über den Koran, aber nicht den Koran selbst gelesen haben. Deshalb will ich Ihnen als Vorsitzender der Deutschen Islamkonferenz heute ein Geschenk machen. Ich hoffe, dass Ihnen diese Koranausgabe bei den weiteren Beratungen der Konferenz behilflich sein wird.
- Ich habe selbstverständlich ein Neues Testament zu Hause und habe es schon häufiger gelesen.
Sie bekommen das Geschenk als Hilfe für Ihre Arbeit. Geburtstag hat heute jemand anders, nämlich der bayerische Ministerpräsident. Meine herzlichen Glückwünsche von dieser Stelle aus!
Damit komme ich aber auch zu der unangenehmen Begleitmusik im Vorfeld der Konferenz. Der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende hat der ?Bild“-Zeitung am 7. September ein Interview gegeben, das meiner Ansicht nach immens schädlich war. Ich zitiere:
Das Christentum unterscheidet sich etwa vom Islam dadurch, dass wir Intoleranz ablehnen, Religionsfreiheit gewähren, die Gleichberechtigung von Mann und Frau vertreten, Zwangsheiraten ganz entschieden nicht billigen. Für uns ist jeder Mensch einzigartig, jeder Mensch hat Würde, Freiheitsrechte und ist gleichberechtigt.
So geht es nicht,
nicht nur deshalb, weil Herr Stoiber den großen Theologen heraushängen lässt, sondern auch, weil er sich - ich hoffe sehr, unbewusst - eine fundamentalistische Interpretation des Islams aneignet. Er verkennt in Muftimanier die Tatsache, dass die Pluralität bzw. die Vielfalt der Interpretation im Islam und der Rechtsschulen und vor allem im Rahmen des Grundgesetzes der Schlüssel zur Moderne ist.
Diese unqualifizierte einseitige Abgrenzung zwischen dem guten, toleranten Christen auf der einen Seite und dem intoleranten, zurückgebliebenen Muslim auf der anderen Seite ist falsch. Wir müssen feststellen, dass der Graben nicht zwischen Muslimen und Musliminnen auf der einen und Christen und Christinnen auf der anderen Seite, sondern zwischen demokratischen, freiheitsliebenden Menschen und den Kräften verläuft, die Demokratie und Freiheit in diesem Land bekämpfen. So muss man den Graben ziehen. Sonst hat man keine Chance, an die Herzen und Köpfe der jungen Menschen heranzukommen, die noch nach Orientierung suchen und die wir gewinnen müssen. Das ist der zentrale Punkt, für den wir eintreten müssen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich komme zum Schluss. Wir hoffen, dass die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen all das, was im Vorfeld gesagt wurde, ernst meinen und sich dafür einsetzen, dass der Dialog kritisch geführt wird. Wir unterstützen sie dabei tatkräftig, aber selbstverständlich mit der Wachsamkeit einer kritischen Opposition. Wir werden alles daran setzen, dass dieser Dialog fruchtbar wird und dass letztendlich der Islam als gleichberechtigte Religion in diesem Land anerkannt wird.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege, das war Ihre erste Rede. Wir alle gratulieren Ihnen sehr herzlich und wünschen Ihnen viel Erfolg bei der Arbeit.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Lale Akgün, SPD-Fraktion.
Dr. Lale Akgün (SPD):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Schäuble, von den Komplimenten, die Sie heute bekommen haben, können Sie in den nächsten Wochen zehren. Ich möchte mich dem Lob anschließen. Es ist ein schönes Symbol, dass Sie sich mit den Muslimen getroffen haben. Ich möchte Sie zu diesem mutigen Schritt beglückwünschen. Sie haben ein heißes Eisen angepackt. Ich freue mich außerdem, zu hören, dass sich die Teilnehmer der Islamkonferenz entschlossen haben, sich gemeinsam ?Idomeneo“ in der Deutschen Oper anzusehen. Auch das ist ein schönes Symbol. Wir, die Abgeordneten, kommen gerne mit, wenn Sie uns einladen.
Wer sollte gegen einen Dialog mit den Muslimen sein? Der Dialog muss aber zielgerichtet sein. Ich halte die Prämisse, dass die meisten Muslime in diesem Land nicht integriert sind, schlicht für falsch. Für ganz typisch, aber für genauso falsch halte ich die Vermischung der Themen Integration und Islam.
Zum ersten Punkt: Welche Assoziationen hat man denn heute bei dem Wort ?Moslem“? Ich sage es Ihnen: Der Moslem sitzt den ganzen Tag in der Moschee und betet. Er unterdrückt seine Frau und seine Kinder. Ansonsten ist er arbeitslos, lebt vom Staat und versucht ganz nebenbei, unser Rechtssystem zu unterwandern. Kurz: Er lebt in einer unerforschten Parallelgesellschaft. Der Moslem ist heute die Folie für den unintegrierten Ausländer. Dabei ist es ganz anders. Die überwiegende Mehrheit der Muslime in Deutschland ist gut integriert und steht ganz selbstverständlich zu den Werten des Grundgesetzes. Nach der neuesten Studie des Bonner Instituts zur Zukunft der Arbeit, IZA, bringen die rund 7 Millionen Ausländer in Deutschland den Sozialkassen zusätzliche Einnahmen in Höhe von sage und schreibe 12,8 Milliarden Euro. Der Wissenschaftler Bonin vom IZA sagt wörtlich: Das Stammtischgerede, dass Ausländer die Sozialsysteme ausplündern, ist blanker Unsinn.
Dieses kleine Beispiel soll belegen, wie wenig die Realitäten der Zugewanderten wahrgenommen werden. Auch wenn die Debatte manchmal diesen Anschein erwecken mag, sprechen wir nicht von irgendwelchen Außerirdischen. Wir reden vielmehr von Menschen, die schon seit über 40 Jahren hier leben und zum Teil die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Wir sprechen von Familien, die in zweiter oder dritter Generation ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben, von Menschen, die ihrer Arbeit nachgehen, Unternehmen gründen, Steuern zahlen, deren Kinder die deutschen Schulen besuchen usw. usf. Diese Menschen mit muslimischem Hintergrund sind ein selbstverständlicher Teil der deutschen Gesellschaft und stehen selbstverständlich zu den Werten des deutschen Grundgesetzes. Die deutschen Muslime, die ständig gefordert werden, gibt es längst. Diese Bürgerinnen und Bürger sind in allen gesellschaftlichen Schichten, allen sozialen Milieus - traditionellen und modernen - vertreten. Manche sind sehr fromm, andere säkular, wiederum andere bezeichnen sich als Kulturmuslime. Sie haben genauso unterschiedliche Lebensformen wie Deutsche auch. Auch von den Muslimen sind 10 Prozent homosexuell, auch bei den Muslimen gibt es Scheidungen, Gewalt, Patriarchat, aber auch nicht mehr familiären Zusammenhalt als bei deutschen Familien. Die muslimische Familie, was auch immer sie sein mag, ist nicht anders als die anderen Familien auch. Deswegen kann auch der Islam den Deutschen nicht die Bedeutung von Familie näher bringen. Auch positive Klischees sind Klischees.
Aber von Klischees haben Muslime eigentlich schon genug. Was sie stattdessen brauchen, genauso wie jeder andere Mensch, der in Deutschland lebt, ist Chancengleichheit, die Möglichkeit zur gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.
Das ist für mich Integration. Die soziale Frage müssen wir ganz klar von Fragen nach dem Islam in Deutschland trennen.
Nicht die Religion ist daran schuld, wenn Migrantenjugendliche geringere Bildungschancen haben oder keinen Ausbildungsplatz bekommen.
Hat die doppelt so hohe Arbeitslosenrate unter Migranten etwas damit zu tun, dass manche von ihnen an Allah glauben und andere an den dreieinigen Gott? Wohl eher nicht. Da werden Sie mir zustimmen. Es entspricht der Tatsache, dass viele muslimische Migranten aus bildungsfernen und sozial benachteiligten Familien stammen und in den letzten 30 Jahren den Anschluss nicht geschafft haben. Wir haben eine ethnisch-religiöse Unterschichtung der Gesellschaft. All das sind Fragen von Integration, also von Chancengleichheit. Sie erfordern knallharte und greifbare Antworten aus dem Bereich der Sozial-, Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik, aber keine religiösen Erörterungen.
Meine Forderung ist daher: Die Islamkonferenz soll sich mit dem Islam und der Frage nach den Perspektiven des Islam in Deutschland beschäftigen und mit nichts anderem. Die Konferenz muss das Ziel haben, das Selbstverständnis der Muslime zu installieren. Aber die Tatsache, dass sich die muslimischen Organisationen gestern beeilt haben, erst einmal zu sagen, dass sie auf dem Boden des Grundgesetzes stehen, zeigt, dass es mit dem Selbstverständnis noch nicht so weit ist. Wären die katholischen Bischöfe eingeladen gewesen, sie wären nicht auf die Idee gekommen, sich erst einmal zu den Werten des Grundgesetzes zu bekennen, weil das selbstverständlich ist.
Ich wünsche mir dieses Selbstverständnis für alle.
Aufgrund des historisch gewachsenen Verhältnisses von Staat und Kirche, auf das in diesen Tagen immer wieder hingewiesen wird, ist in Deutschland die Trennung von Staat und Kirche vorgesehen. Das heißt, dass Staat und Kirche eben nicht gegenseitig in die Aufgaben des jeweils anderen hineinreden. Das hat Fritz Rudolf Körper als Pastor eben sehr gut erklärt. Ich kann es nicht besser. Aber genauso wie der Staat erwartet, dass sich die muslimischen Gemeinden nicht in die Angelegenheiten des Staates einmischen, darf sich auch der Staat nicht in religiöse Fragen, zum Beispiel die nach der Liturgie, einmischen. Dort aber, wo Gewalt verübt oder dazu aufgerufen wird, muss er einschreiten. An diesem Punkt sollten die muslimischen Gemeinden nicht anders behandelt werden als die christlichen und die jüdischen.
Das Grundgesetz ist selbstverständliche Grundlage unseres Zusammenlebens und die rechtliche Gleichstellung der Muslima das Megathema, über das eine Islamkonferenz diskutieren muss. Damit aber eine rechtliche Gleichstellung möglich wird, muss mit dem Kriterium der Verfassungstreue ernst gemacht werden. Wir müssen schon sehr genau fragen, mit wem wir reden und wen wir als Ansprechpartner akzeptieren. Wir alle wissen, dass der Islamrat, der mit am Konferenztisch saß, an dieser Stelle ein Problem hat, und zwar insofern, als eines seiner Mitglieder, nämlich Milli Görüs, vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Wie gehen wir damit um? Schwören wir sie auf die Demokratie ein und sanktionieren sie ernsthaft bei Wortbruch oder schließen wir sie aus, weil sie vom Verfassungsschutz beobachtet werden? Wir müssen uns entscheiden. Ein Sowohl-als-auch geht nicht.
Es soll auf der Islamkonferenz nicht nur um die großen Wertefragen, sondern auch um das Kopftuch, den Islamunterricht und das Schächten gehen. Das alles sind sehr wichtige Fragen, die einer Regelung bedürfen. Hier möchte ich an die Föderalismusreform erinnern, die die große Koalition nach langem Ringen verabschiedet hat. Diese Fragen sind nämlich Ländersache. In der Kopftuchfrage zum Beispiel hat das Bundesverfassungsgericht eindeutig entschieden, dass die Bundesländer Regelungen treffen sollen. Auch der Islamunterricht unterliegt der Kultushoheit der Länder. Einige erfolgreiche Modellprojekte haben wir schon in diesem Bereich. Das haben die Konferenzteilnehmer gestern selbst erwähnt.
Diese Beispiele zeigen: Der Islam ist längst Teil der deutschen Realität. Allerdings hat er seinen Platz in der Gesellschaft und in der Rechtsordnung noch nicht gefunden. Genau diesen Platz müssen wir ihm aber analog zu den christlichen und jüdischen Religionen auch einräumen wollen. Da bin ich dabei. Der deutsche Islam braucht keine Sonderbehandlung. Der deutsche Islam braucht eine Perspektive, Anerkennung und Gleichbehandlung, und zwar ganz selbstverständlich und ohne Rabatt.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das Wort hat der Kollege Ralf Göbel, CDU/CSU-Fraktion.
Ralf Göbel (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Deutschland leben 3,3 Millionen Muslime. Sie sind unsere Nachbarn, Freunde und Arbeitskollegen. Niemand hat das Recht, sie unter einen Generalverdacht zu stellen, nur weil sie einer anderen Religion angehören.
Die Unkenntnis des Islam und auch der Muslime - Frau Kollegin Akgün hat eben einige Klischees genannt -, vor allen Dingen aber die Instrumentalisierung des Islam zur Rechtfertigung schwerer Gewalttaten beunruhigt und verunsichert viele Menschen. Es ist daher höchste Zeit, dass eine Debatte über das Zusammenleben von Muslimen, Christen und Menschen, die ein anderes oder gar kein Bekenntnis haben, geführt wird; denn nur in einer streitigen Auseinandersetzung können die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten deutlich werden und kann der Weg für eine gemeinsame Zukunft gezeichnet werden.
Ich danke dem Innenminister sehr dafür, dass er mit der Islamkonferenz, die gestern begonnen hat, den ersten Schritt dazu getan hat, diese Debatte zu führen und diesen Weg zu beschreiten.
Zu Beginn einer umfassenden Bestandsaufnahme des derzeitigen Zustandes gehört auch, anzusprechen, was die Ursache für besondere Besorgnisse und Vorurteile ist. Ein ehrlicher Dialog verkommt ohne diese Offenheit schnell zu einem seichten Gerede.
Zu diesen Tatsachen gehört - das ist heute schon erwähnt worden -, dass eine verschwindend geringe, aber dennoch gefährliche Minderheit der Muslime in Deutschland den Islam für ihre politischen Zwecke und für Gewaltanwendung instrumentalisiert. Gegen diese müssen wir uns gemeinsam wenden, Muslime und Nichtmuslime in Deutschland.
Große Sorge bereiten uns die so genannten Hassprediger; auch sie sind angesprochen worden. Dieses Phänomen zeigt auch, wie wichtig die Diskussion um die Ausbildung von Imamen in Deutschland ist. Es zeigt ferner, wie wichtig es ist, dass wir einen Dialog darüber führen, wie die deutsche Sprache in islamische Gottesdienste einzuführen ist.
Probleme sind auch Geistliche, die große Menschenmassen aufgrund bewusst missverstandener Aussagen von Politikern oder geistlichen Führern zu Gewalttaten aufstacheln, wie wir es vor kurzem im Zusammenhang mit der Äußerung des Papstes erlebt haben. Im Nahen und im Mittleren Osten, gab es, bereits kurze Zeit nachdem das umstrittene Papstzitat bekannt geworden war, Demonstrationen mit brennenden Papstpuppen und brennenden Deutschlandfahnen. Der Islamismus verfügt offensichtlich über ein sehr großes Potenzial, das schnell aktiviert werden kann. Deshalb war und ist es ein gutes Zeichen, dass die religiösen Verbände der Muslime in Deutschland die infolge der Mohammed-Karikaturen und des Papstzitates entstandenen Gewalttätigkeiten deutlich verurteilt haben.
Ein Schlagwort, das immer wieder in die Diskussion eingebracht wird, lautet: Toleranz. Wer wollte für sich gelten lassen, dass er nicht tolerant ist? Toleranz setzt aber voraus, dass man sich selber über die eigenen Wertvorstellungen im Klaren ist. Jede Toleranz hat Grenzen; sonst wird sie zur Beliebigkeit.
Diese Grenze ist für mich die Wertordnung, wie sie in unserem Grundgesetz zum Ausdruck kommt.
Im Verhältnis zwischen dem Staat und allen Religionen muss eines gelten: Keine Religion darf die staatliche Ordnung und die Wertentscheidung des Grundgesetzes infrage stellen. Diese beiden Punkte sind, wie Innenminister Dr. Schäuble zu Recht und unmissverständlich festgestellt hat, nicht verhandelbar. Die Wertordnung ist für alle gültig. Im Dialog mit dem Islam müssen wir betonen, dass auch die Gleichberechtigung von Frau und Mann zu dieser Wertordnung gehört.
Die Diskussion um die Absetzung der Mozart-Oper ?Idomeneo“ ist ein Beispiel dafür, wie wichtig das Bewusstsein für unsere Wertordnung ist. Zu unserer Wertordnung gehört die Freiheit der Kunst. Ich will nicht bestreiten, dass die abgeschlagenen Häupter von Jesus oder des Propheten Mohammed religiöse Gefühle von Christen und Muslimen verletzen können. Niemand muss diese Inszenierung gut finden. Nach unserem Verständnis muss man aber Kritik sowie die Infragestellung der eigenen Position und damit auch seiner Religion ein Stück weit ertragen können.
Wer sich verletzt fühlt, kann seine Kritik offen äußern und so einen Beitrag zum öffentlichen Diskurs leisten. Ich bin auch sicher, dass Muslime mit ihren Werten und Überzeugungen eine Menge zu diesem öffentlichen Diskurs in unserem Land beitragen können und ihn bereichern werden. Was jedoch nicht hingenommen werden kann, sind Gewalt und die Androhung von Gewalt. Ich hoffe, dass die Islamkonferenz das Verhältnis von Islam und Gewalt, das von vielen als kritischer Punkt angesehen wird, abschließend und endgültig klärt.
Die Absetzung der Mozart-Oper verdeutlicht auch, wie gefährlich Islamismus wirken kann. Der Streit um die Mohammed-Karikaturen und das Papstzitat darf nicht zu einer Selbstzensur führen. Die Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit sind für unsere Demokratie konstituierend. Wenn wir uns im vorauseilenden Gehorsam eine Selbstzensur auferlegen, haben wir viel zu verlieren. Eine kritische Auseinandersetzung mit religiösem Fanatismus ist dann nämlich nicht mehr möglich. Wir müssen den Respekt vor unserer Werteordnung dadurch fördern, denke ich, dass wir selbst zu unseren Werten stehen und diese auch verteidigen.
Im Vorfeld der Islamkonferenz kam vielfach die Frage auf, welche Organisation denn den Islam in Deutschland vertritt. Die Diskussion darüber - das ist mehrfach angesprochen worden -, ist bekannt. Es ist klar geworden, dass es eben keine allgemeine Vertretung der Muslime in Deutschland gibt. Es ist nach meiner Auffassung aber nicht die Aufgabe des Staates, hier eine gemeinsame Basis herzustellen, die eine Vertretung der Muslime gewährleistet. Dies ist Aufgabe der Religionsgemeinschaften selbst. Deshalb wehre ich mich auch dagegen, den Muslimen in Deutschland vorzuschreiben, wie sie sich zu organisieren haben.
Die Frage, ob der Körperschaftsstatus verliehen werden sollte, kann daher nicht am Beginn des zu beschreitenden Weges stehen.
Es gibt rechtliche Voraussetzungen, die zu erfüllen sind, um diesen Status zu erlangen.
Nach meiner Auffassung liegt es also bei den Religionsgemeinschaften selbst, sich diese Voraussetzungen zu erarbeiten. Auch wenn eine einheitliche Vertretung der Muslime in Deutschland für uns wünschenswert ist, so liegt der Schlüssel hierfür doch bei den Muslimen selbst. Wir können diesen Prozess unterstützen, wir können ihn aber nicht staatlich verordnen.
Ich schließe mit einem Zitat von Benedikt XVI., der in den letzten Wochen vor allem wegen einer - missverstandenen - Äußerung Gegenstand vieler Debatten war. Benedikt XVI. sagt: Vom Dialog zwischen Christen und Muslimen hängt zum großen Teil unsere Zukunft ab. - Ich glaube, das gilt auch in Deutschland. Ich wünsche uns allen einen fruchtbaren Dialog. Er hat gestern begonnen. Ich wünsche uns auch, dass er viele Jahre dauern möge und dass er uns alle zu guten Ergebnissen bringt.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk Niebel, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Modernes Kündigungsschutzrecht und flexible Befristungsregelungen im Interesse der Arbeitsuchenden
- Drucksache 16/1443 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Werner Dreibus, Dr. Barbara Höll, Kornelia Möller, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Ausweitung und Stärkung des Kündigungsschutzes
- Drucksache 16/2080 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Heinrich Kolb, FDP-Fraktion.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist in der letzten Zeit in Deutschland und namentlich in der Union, Herr Kollege Brauksiepe, viel über Lebenslügen gesprochen worden, von denen man sich befreien müsse. Ich will hier ganz klar sagen: Für mich ist eine der größten und auch meistverbreiteten Lebenslügen in der Politik, der Kündigungsschutz habe nichts, aber auch gar nichts damit zu tun, ob in Deutschland Arbeitsplätze entstehen oder nicht.
Dabei ist aus unserer Sicht die Diagnose bzw. der Befund sehr eindeutig: Wir freuen uns über die heute bekannt gegebene Fortsetzung der positiven Entwicklung am Arbeitsmarkt in Form von weniger Arbeitslosen und mehr Erwerbstätigen und einem leichten Anstieg der Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Aber die Tatsache, dass auch in Zeiten eines beginnenden Aufschwungs die wirtschaftliche Dynamik den Arbeitsmarkt nur sehr, sehr gebremst erreicht, offenbart jedem, der sehen will, die strukturellen Markteintrittsschwellen, die für Arbeitsplatzsuchende durch den bestehenden Kündigungsschutz aufgebaut sind.
Umgekehrt zeigt ein Blick über die Grenzen hinaus, etwa in die Schweiz oder nach Dänemark, dass dort, wo ein mit dem deutschen vergleichbarer Kündigungsschutz nicht existiert, annähernd Vollbeschäftigung herrscht. Von Vollbeschäftigung sind wir in Deutschland allerdings noch weit entfernt.
Besonders paradox ist, dass es, obwohl das Kündigungsschutzrecht in Deutschland auf den Bestand des Arbeitsverhältnisses ausgerichtet ist, nach einer Kündigungsschutzklage in der Praxis nur in wenigen Fällen tatsächlich zu einer Weiterbeschäftigung kommt. Tatsächlich ist die arbeitsgerichtliche Realität von einem Feilschen um Abfindungszahlungen und fragwürdigen Vergleichen gekennzeichnet. Die Arbeitsgerichte werden durch diese Prozesspraxis - ich sage: unnötigerweise - bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit belastet.
Kleine Unternehmen ohne eigene Personalabteilung haben nach wie vor große Schwierigkeiten bei der Anwendung des sehr komplizierten und sehr vielschichtigen Kündigungsrechts. Es ist für viele Betriebsinhaber immer noch schwer, wenn nicht unmöglich, ohne rechtskundigen Rat eine auch nach dem Kündigungsschutzgesetz wirksame Kündigung auszusprechen. Genau dies, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat dazu geführt, dass gerade kleine Unternehmen bei einem beginnenden Aufschwung oder bei Nachfragespitzen weiterhin versuchen, mit der vorhandenen Belegschaft mittels Überstunden auszukommen, anstatt neue Mitarbeiter einzustellen. Das Kündigungsschutzrecht hat sich damit von seiner Funktion als soziales Schutzrecht hin zu einer Einstellungshürde für diejenigen verkehrt, die arbeitslos sind und eine neue Stelle suchen.
Die FDP-Fraktion will mit ihrem Antrag daher Flexibilität dort schaffen, wo heute verkrustete Strukturen und ideologische Denkmuster vorherrschen. Dabei sind wir mit unserer Analyse nicht allein. Wir sehen uns vielmehr durch das Jahresgutachten 2005/06 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung eindrucksvoll bestätigt. Selbst in einem ?IAB Kurzbericht“ heißt es:
Will man aber mehr Bewegung ins Beschäftigungssystem bringen, bedarf es beim Kündigungsschutz eines Paradigmenwechsels. Es geht um den Übergang vom Bestandsschutzprinzip zum Abfindungsprinzip.
Auch in der Union wird durchaus Handlungsbedarf gesehen. So hat der Präsident des CDU-Wirtschaftsrates, Kurt Lauk, im März dieses Jahres gesagt, wenn der Kündigungsschutz ein Einstellungshindernis sei, dann müsse er verändert werden. Wörtlich sagte er:
Wir können ja nicht die Arbeit dadurch verhindern, dass wir gesetzliche Hürden aufbauen.
Recht hat der Mann. Das muss man hier einmal klipp und klar sagen.
Doch wie findet das seinen Niederschlag in der Politik der großen Koalition? Anstatt endlich die notwendigen Reformen des Arbeitsmarktes in Angriff zu nehmen, herrscht in der großen Koalition nur großes Chaos. Ein Umstand, den die ?Berliner Morgenpost“ vor wenigen Tagen in der Überschrift zusammenfasste: ?Chronik des Scheiterns: Der Kündigungsschutz bleibt“. - Ich stelle hier unmissverständlich fest: Es ist vor allem die Chronik des Scheiterns der CDU und ihres Generalsekretärs, Ronald Pofalla. Es offenbart, wie wenig Ahnung ein führender Vertreter der Union davon hat, was den Mittelstand in Deutschland davon abhält, neue Arbeitsplätze zu schaffen.
Dass die SPD mit dem Mittelstand nichts am Hut hat, war seit langem bekannt.
Dass die CDU zwar viel über die Nöte des Mittelstandes redet, aber in der Praxis, von wenigen Ausnahmen - Ernst Hinsken, Peter Rauen und Kollegen Dr. Fuchs - abgesehen,
nichts wirklich dafür tut, diese Nöte zu lindern, wurde offenbar, als die Regelungen des Koalitionsvertrages zum Kündigungsschutz bekannt wurden. Man muss schon sehr wenig Ahnung haben - und davon viel -, wenn man wie Ronald Pofalla die einschlägigen Passagen des Koalitionsvertrages als größte Reform in den letzten Jahrzehnten glaubte etikettieren zu müssen.
Tatsache ist: Jeder, der in seinem Leben schon einmal in der Situation war, einen Arbeitnehmer einzustellen - als mittelständischer Unternehmer weiß ich hier sehr genau, wovon ich rede -, hat sofort erkannt, dass es eine Verschlimmbesserung war, was dort ausgehandelt wurde. Der Verhandlungsführer der Union, eben Ronald Pofalla, hatte sich ganz offensichtlich über den Tisch ziehen lassen. Deswegen war es nur konsequent, dass die deutschen Unternehmen und die sie vertretenden Verbände in der Folge das vergiftete Geschenk dankend ablehnten.
Nun herrscht große Ratlosigkeit in der Union. Ich frage Sie: Soll es das jetzt wirklich gewesen sein? Die FDP-Bundestagsfraktion ist jedenfalls entschieden der Meinung, dass die Reform des Kündigungsschutzes nicht einfach ersatzlos ausfallen darf.
Deswegen legen wir heute einen Antrag vor, der den Kündigungsschutz reformiert und gleichzeitig das Instrument der befristeten Beschäftigung weiterentwickelt. Denn das war doch der faule Kompromiss, den am Schluss keiner haben wollte, dass nämlich für eine, noch dazu bürokratisch ausgestaltete, Änderung der Wartezeit im Kündigungsschutzgesetz die sachgrundlose Befristung ersatzlos abgeschafft werden sollte. Wir brauchen aber nicht das eine oder das andere, wir brauchen beides: Änderung im Kündigungsschutzgesetz und Erhalt der sachgrundlosen Befristung.
Weil gerade kleine Unternehmen mit der sachgrundlosen Befristung ein unbürokratisches Mittel haben, Auftragsspitzen mit Neueinstellungen zu bewältigen, schlagen wir vor, die Dauer der sachgrundlosen Befristung auf vier Jahre zu verlängern, wie sie heute bei Neueinstellungen schon gilt. Wir schlagen vor, dass das Verbot, einen Arbeitnehmer sachgrundlos befristet zu beschäftigen, wenn er bei dem gleichen Arbeitgeber schon einmal beschäftigt war, aufgehoben wird. Wir wollen eine Verlängerung der Wartezeit auf zwei Jahre, und zwar nicht per Vertrag, sondern per Gesetz. Wir wollen, dass der Geltungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes auf Betriebe mit mehr als 20 Beschäftigten begrenzt wird; denn ein Mittelständler stellt in der Regel nicht ein, um zu entlassen, aber er muss dann, wenn eine konjunkturelle Notlage entsteht, die Chance haben, auf einen Auftragsrückgang zu reagieren.
Wir glauben, dass das Lebensalter als Kriterium für die Sozialauswahl - das ist nämlich das entscheidende Handicap eines älteren Arbeitnehmers am Arbeitsmarkt - gestrichen werden muss. Außerdem wollen wir, wie auch der Sachverständigenrat, das Vertragsoptionsmodell in das Kündigungsschutzgesetz einarbeiten.
Das sind Vorschläge, die sicherlich nicht alle populär sind. Aber am Ende wird es ohne einen Paradigmenwechsel nicht gehen. Denn das, was Albert Einstein gesagt hat, gilt auch heute noch: ?Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“
Ausschlaggebend ist nicht die Sichtweise eines SPD-Parteitages oder eines CDU-Generalsekretärs, sondern allein die Sicht desjenigen, der darüber entscheidet, ob ein Mitarbeiter neu eingestellt wird oder nicht. Wie sich die Politik dabei fühlt, ist nachrangig. Der Köder muss dem Fisch schmecken und nicht dem Angler.
Deswegen laden wir Sie mit dem vorliegenden Antrag heute ein, das Notwendige zu tun. Es geht um Millionen von Menschen in unserem Lande, vor allen Dingen solche mit geringer Qualifikation, die eine Chance auf die Rückkehr in das Erwerbs- und Arbeitsleben bekommen müssen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Kollegen Wolfgang Meckelburg, CDU/CSU-Fraktion.
Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige Debatte zum Kündigungsschutz und die Anträge von der Linken und der FDP zeigen, dass die Bandbreite, in der dieses Thema in der Gesellschaft diskutiert wird, auch hier im Parlament vorhanden ist.
- Das ist auch gut so. Dennoch muss man im Parlament immer darauf schauen, wie man zu Mehrheiten kommt.
Das Thema ist aus meiner Sicht ein Symbolthema. Die einen sagen, besonders sozial sei es, die Grenzen zu erweitern; die anderen sagen, sie seien Modernisierer, wenn sie möglichst viele Hürden einreißen. Die Wirklichkeit bewegt sich möglicherweise in der Mitte. Jedermann weiß, dass es bei jeder Koalition bestimmte Bandbreiten und unterschiedliche Schnittmengen gibt. Ich persönlich glaube nicht, dass der Kündigungsschutz zurzeit das entscheidende Rädchen ist, um den Arbeitsmarkt voranzubringen.
Wir wissen aus der Diskussion der vergangenen Jahre, dass der Kündigungsschutz immer ein Thema war. Es gibt verschiedene Stellschrauben: die Höhe des Schwellenwertes, befristete und unbefristete Arbeitsverhältnisse, längere Einstiegsfristen für Neueinstellungen, Alternativen zu Kündigungsschutzregelungen, zum Beispiel in der Form von vereinbarten oder angebotenen Abfindungsregelungen. Wir haben uns in den letzten Jahren durchaus in die Richtung der Modernisierung bewegt. Schon heute ist es möglich, bis zu viermal befristet einzustellen.
Das Gegenteil ist der Fall.
Ihre Position ist rückwärts gewandt. Sie wollen um diejenigen, die Arbeit haben, einen Schutzzaun errichten. Das ist - ich sage es deutlich - sehr unsozial und unsolidarisch; denn Sie errichten eine Mauer um die Betriebe.
Das ist eine Closed-Shop-Politik; denn diejenigen, die Arbeit suchen, bekommen keine Arbeit.
Auch Ihnen sage ich: Für diese Vorstellung finden Sie keinen Partner im Parlament.
Sie haben keine Chance auf Realisierung und finden in der gesamten Bevölkerung keinen Zuspruch; auch das müssen Sie wissen.
- Ich habe gesagt: in der gesamten Bevölkerung. Denn jeder, der zumindest mit anderthalb Beinen im Leben steht, weiß, dass das, was Sie vorschlagen, völlig lebensfremd ist, an der Realität vorbeigeht und so sicherlich nicht mehr kommt.
- Das mag so sein. Denjenigen, die das anders sehen, sage ich: Schaut genau hin. Die schließen die Betriebe für diejenigen, die einen Arbeitsplatz haben, ab, sodass diejenigen, die außerhalb der Betriebe sind, nicht hineinkommen. Das ist die Wirkung Ihrer Regelung.
Noch einmal zum FDP-Antrag. Auch Ihr Antrag ist - das habe ich bereits gesagt - ein Schauantrag. Über einzelne Punkte könnten wir sicherlich miteinander reden. Das wissen wir; das haben wir in der Vergangenheit auch getan. Aber schauen Sie sich die Mehrheitsverhältnisse an: Es gibt keine Chance, in die Richtung etwas zu verändern, wie Sie das wollen.
Herr Kolb, ich weiß nicht, ob Kollege Brüderle und andere, die neuerdings mit den Roten flirten - das liest man ja in den Medien -,
diesen Antrag schon vorab mit der SPD besprochen haben. Ich glaube, die Chancen auf Realisierung wären noch geringer. Es geht nicht, einerseits mit den Roten zu flirten und andererseits einen Antrag einzubringen, bei dem überhaupt keine Chance besteht, ihn mit der SPD durchzusetzen.
Sie von der FDP haben alle, aber auch wirklich alle Vorschläge, die es zur Lockerung des Kündigungsschutzes gibt oder gegeben hat, in ein Papier geschrieben.
Ein modernes und in sich stimmiges Modell haben Sie damit nicht vorgelegt. Denn es fehlt der Gesamtzusammenhang, der Bezug zu anderen Bereichen. Der Kündigungsschutz spielt zwar eine Rolle, aber nicht die zentrale Rolle. Ich glaube, noch andere Dinge sind da wichtig. Deswegen werden Sie hierzu nicht die Zustimmung der CDU/CSU finden. Wenn Sie über Wartezeiten nachdenken, besteht zum Beispiel die Frage: Warum sehen Sie vier Jahre und nicht drei oder fünf Jahre vor? Warum wollen Sie beim Schwellenwert von zehn auf 20 und nicht auf 50 Arbeitnehmer gehen?
Das alles sind Fragen, über die man einmal reden muss. So wie Sie diese Dinge vorsehen, sind sie nicht stimmig.
Lassen Sie mich zum Ende festhalten, dass wir in der Koalitionsvereinbarung vorgesehen haben, bei Neueinstellungen eine Wartezeit von bis zu zwei Jahren bis zur Begründung des Arbeitsverhältnisses festzulegen. Wir wissen, dass in der Wirtschaft eher das Interesse vorhanden ist, bei befristeten Arbeitsverhältnissen zu bleiben. Darüber muss geredet werden. Möglicherweise kommt man, wenn man sich dazu entscheidet, zu der einen oder anderen kleinen Regelung.
Das müssen wir in der großen Koalition ausloten. Denn wir müssen im Rahmen der Schnittmengen, die bei uns bestehen, so viel wie möglich an Flexibilisierung durchsetzen. Jedenfalls ist das der Wille der Union in der großen Koalition.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Kollegen Werner Dreibus, Fraktion Die Linke.
Werner Dreibus (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will anders als meine beiden Vorredner versuchen, in diese Debatte auch ein Stück weit die gesellschaftliche Realität einzubringen.
Die gesellschaftliche Realität sieht leider so aus: Es vergeht kaum eine Woche ohne Nachrichten über Massenentlassungen. Es vergeht kaum eine Woche, ohne dass angekündigt und auch vollzogen wird, dass Tausende Menschen ohne ihr Verschulden ihren Arbeitsplatz verlieren. Ihnen wird gekündigt. Sie dürfen sich in das Heer der Millionen Arbeitslosen einreihen.
Nur um eine Größenordnung aus verschiedenen Forschungsergebnissen zu nennen, Herr Dr. Kolb: Jedes Jahr erhalten über 2 Millionen Beschäftigte eine so genannte arbeitgeberseitige Kündigung.
In dieser Situation - das ist die Realität - meint nun die FDP, dass es am Besten für die Beschäftigten sei, wenn der Kündigungsschutz weiter abgebaut wird. Was soll eigentlich der Ingenieur bei Siemens, die Sachbearbeiterin bei der Allianz, der Elektrotechniker bei der AEG, die Telefonistin im Callcenter der Telekom, was sollen diese Menschen von einer solchen Politik halten? Diese Menschen haben Angst, Angst davor, morgen auf der Straße zu stehen, und die FDP sagt ihnen: Wir möchten den Unternehmen Entlassungen noch leichter machen. Sie behauptet dann auch noch, dadurch würden mehr Menschen eingestellt.
Das ist schlicht und ergreifend grotesk.
Das ist blanker Zynismus. Dann wundern wir uns an Wahlsonntagabenden gemeinsam, warum immer weniger Menschen zur Wahl gehen. Wer die Sorgen der Menschen so missachtet, wie es die FDP mit diesem Antrag tut, der das Ziel hat, das ?Hire and Fire“ zu erleichtern, der leistet der Abkehr der Menschen von der Demokratie und den demokratischen Parteien wissentlich oder unwissentlich Vorschub.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb?
Werner Dreibus (DIE LINKE):
Aber gern.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Herr Kollege Dreibus, damit keine Missverständnisse aufkommen: Auch wir bedauern natürlich, wenn Menschen in unserem Lande ihren Arbeitsplatz verlieren, sei es durch Kündigung, sei es durch Konkurs des Unternehmens. Die entscheidende Frage ist doch, ob es für diese Menschen eine Chance gibt, erneut in den Arbeitsmarkt zurückzukehren.
Man muss doch feststellen, dass für bestimmte Personenkreise, beispielsweise ältere Arbeitnehmer, Menschen mit einer geringeren Qualifikation, durch das Kündigungsschutzgesetz Eintrittsschwellen errichtet worden sind, die zu überwinden einer großen Zahl von Menschen schwer fällt. Das hat dazu geführt, dass in den letzten Jahrzehnten mit jedem Abflachen der Konjunktur der Sockel an Arbeitslosigkeit in Deutschland erneut zugenommen hat. Diese Analyse muss man ehrlicherweise vornehmen. Stimmen Sie dieser Auffassung zu?
Werner Dreibus (DIE LINKE):
Nein.
Herr Dr. Kolb, klar und deutlich: Reden ist das eine; Schreiben und Handeln ist das andere. Wenn zum Beispiel das, was Sie in Ihrem Einleitungssatz als Bedauern formuliert haben, in die Situationsanalyse Ihres Antrags eingegangen wäre, dann könnten wir wenigstens über die Realität reden. Die blenden Sie jedoch in Ihrem Antrag völlig aus.
Wer tatsächlich Demokratie will - das ist unsere feste Überzeugung -, muss dafür sorgen, dass die Demokratie eben nicht am Betriebstor endet. Das erfordert betriebliche Mitbestimmung und das erfordert ebenso Schutz vor Kündigungen. Und es erfordert einen Blick auf den Arbeitsmarkt, der eben nicht von solchen ideologischen Vorurteilen - wie das eben auch in Ihrer Frage zum Ausdruck kam - verstellt ist.
Was hat denn die Aufweichung des Kündigungsschutzes in den letzten Jahren gebracht? Was etwa hat die Heraufsetzung des Schwellenwertes auf zehn Beschäftigte und die Einschränkung der Sozialauswahl, was hat die Möglichkeit für Existenzgründer zur grundlosen Befristung von Arbeitsverträgen tatsächlich bewirkt? Die so genannten Reformen des Kündigungsschutzes haben nicht zu einem zusätzlichen Arbeitsplatz geführt. Die Hürde ist - entgegen dem, was Sie behauptet haben - nicht niedriger geworden.
Das verwundert auch nicht - ich schätze Ihre praktische Erfahrung; deswegen wundert es mich, dass Ihr Blick in Ihren Reden ideologisch verstellt ist; in der Praxis verhalten Sie sich wahrscheinlich ganz anders -, weil jeder Unternehmer bestätigen kann: Unternehmer schaffen neue Arbeitsplätze, wenn sie Aussicht auf höheren Absatz und auf höhere Gewinne haben, und nicht, wenn sie Beschäftigte leichter rauswerfen können.
Zwischen beiden Sachverhalten besteht doch keine Beziehung.
Die OECD hat mehrfach, in X Studien, herausgestellt, dass auch ein umfassender Kündigungsschutz kein Beschäftigungshemmnis ist. Es ist vorhin durchaus schon zu Recht gesagt worden: Der von Ihnen und von der Mehrheit des Sachverständigenrates - es ist ja nur die Mehrheit - aus ideologischen Gründen hergestellte Zusammenhang zwischen Beschäftigung und Kündigungsschutz ist wissenschaftlich nicht herleitbar, nicht in Deutschland und auch nicht in Europa.
Lesen Sie die Studien der OECD!
- Es gibt auch andere Wissenschaftler.
Auch ein Blick in die Wirklichkeit der Unternehmen ist hilfreich.
Welche Anforderungen stellen denn Unternehmen an ihre Beschäftigten? Sie wünschen sich motivierte, kreative und flexible Beschäftigte. Wer Angst um seinen Arbeitsplatz hat, weil er von heute auf morgen vor die Tür gesetzt werden kann, der wird doch nicht motiviert, kreativ und flexibel sein. Vielmehr wird er in seiner Leistungsfähigkeit und seiner Motivation massiv eingeschränkt sein. Das kann nicht im Interesse der Unternehmen sein.
Die Durchsetzung der Rechte von Beschäftigten - die Einhaltung von Tarifverträgen, die Einhaltung der Gesetze über Arbeitszeit usw. - basiert auf einem Kündigungsschutz, der diese Bezeichnung tatsächlich verdient. Ohne diesen wären und sind Beschäftigte erpressbar. Genau auf einen solchen Zustand laufen Ihre Vorschläge hinaus. Ihr so genanntes Vertragsoptionsmodell suggeriert, dass die Beschäftigen bei Vertragsabschluss zwischen gesetzlichem Kündigungsschutz, Abfindungszahlungen und Weiterbildungsangeboten wählen könnten. Zu einer Wahl aber gehören tatsächlich gleichwertige Optionen und das Agieren auf Augenhöhe. Ein betriebliches Weiterbildungsangebot beispielsweise kann niemals auch nur eine ähnliche Sicherheit bieten wie der Schutz vor ungerechtfertigten Kündigungen. Die Behauptung, Arbeitnehmer und Arbeitgeber seien gleichberechtigte Vertragspartner, ist bei 7 Millionen fehlenden Arbeitsplätzen pure Ideologie.
Die Begründung Ihres Antrages ist irreführend. Die Beschäftigten gewinnen eben nicht an Selbstbestimmung hinzu, wenn der Kündigungsschutz geschliffen wird. Stattdessen würden sie mit den gesetzlich garantierten Rechten den Rückhalt für selbstbestimmtes Handeln verlieren. Allein die gesetzliche Einschränkung der unternehmerischen Freiheit ermöglicht die Freiheit der Beschäftigten. Der Antrag der FDP konterkariert diesen Zusammenhang: Wer den Kündigungsschutz einschränkt, schränkt die Möglichkeiten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ein, ihre Interessen wahrzunehmen. Das ist nicht mehr, sondern weniger Demokratie.
Die Linke will mehr Demokratie. Das bedeutet an dieser Stelle konkret: Wir brauchen tendenziell eher eine Ausweitung des Kündigungsschutzes. Das betrifft vor allem den Geltungsbereich. Die Dauer des Beschäftigungsverhältnisses und die Zahl der in einem Betrieb notwendigerweise beschäftigten Menschen, ab der der Kündigungsschutz greift, diskriminieren bereits heute über 6 Millionen Beschäftigte. Über 6 Millionen Beschäftigte haben keinen gesetzlichen Kündigungsschutz.
Das ist in etwa so, als würde man Führerscheinanfänger aus dem Geltungsbereich der Straßenverkehrsordnung ausschließen - Drängeln, Schneiden und Vorfahrtnehmen wären bei Anfängern erlaubt -; die Begründung dafür würde lauten: So finden die Fahranfänger leichter in den Straßenverkehr hinein und die übrigen Verkehrsteilnehmer können sich flexibler bewegen. Das ist doch pure Ideologie!
- Nein, überhaupt nicht. Den habe ich in einem Betrieb gehört. Da bin ich öfter als Sie.
Wenn Sie meinen, eine solche Begründung wäre absurd, dann bitte ich Sie, einen Blick in das bestehende Kündigungsschutzgesetz zu werfen. Was verschleiernd als Wartezeit oder Schwellenwert bezeichnet wird, ist nichts anderes als der Ausschluss von Millionen Menschen von Schutzregeln mit der Begründung, sie würden dann leichter in den Arbeitsmarkt hineinfinden.
Ähnliches gilt - auch das ist ein wichtiges Thema - für ältere und kranke Beschäftigte. Während wir diesen Menschen im Straßenverkehr - um bei diesem Beispiel zu bleiben - mit besonderer Rücksicht begegnen, meinen Sie - ich spreche die FDP und die Koalition gleichermaßen an -, auf besondere Schutzvorschriften für Kranke und Ältere auf dem Arbeitsmarkt verzichten zu können.
Dieser Zustand der Rechtsfreiheit von Millionen Beschäftigten muss aus unserer Sicht beendet werden. Deshalb fordern wir unter anderem die Aufhebung des Schwellenwerts, die Verbesserung des Kündigungsschutzes für Ältere und Kranke und die Reduzierung der Wartezeit auf drei Monate; das ist ein Zeitraum, der nach aller betrieblichen Erfahrung für die Erprobung eines Arbeitsverhältnisses vollkommen ausreichend ist. Selbstverständlich sind weitere Maßnahmen notwendig, um die Unsicherheit, die am Arbeitsmarkt herrscht, zurückzudrängen.
Die Regierung Kohl und die Regierung Schröder haben viel dafür getan, das Leben vieler Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unsicherer zu machen. Die so genannten Arbeitsmarktreformen haben die Arbeitslosigkeit nicht reduziert. Sie bedrohen aber die Zukunftsperspektive von immer mehr Beschäftigten. Wer zu Hungerlöhnen arbeitet, wer vom Mini- in den 1-Euro-Job und wieder zurückwechselt, wer aus einem unbefristeten Beschäftigungsverhältnis entlassen wird, um als Leiharbeitskraft am selben Arbeitsplatz mit weniger Lohn und ungewisser Beschäftigungsdauer wieder eingestellt zu werden - als das ist Realität; all das haben wir mittlerweile -, der verliert die Grundlage für eine Lebensplanung, die über den Tag hinausgeht.
Die Regierung Merkel führt diese - so sieht es jedenfalls aus - aus unserer Sicht völlig falsche Politik ihrer Vorgänger nahtlos fort. Gleichzeitig beklagen die alten neuen Reformer sonntagabends die Verrohung der Gesellschaft, die geringe Geburtenrate, die Finanzmisere der Sozialversicherungen usw.
Der Arbeitsmarkt ist - darin stimme ich meinem Vorredner durchaus zu - nicht der Generalschlüssel zur Lösung dieser Probleme. Sicher aber ist, dass diese Probleme nicht so gravierend wären, wenn das Credo der so genannten Arbeitsmarktreformen nicht im Abbau unbefristeter, sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse liegen würde; denn nichts anderes bedeuten Mini- und Midijobs, Leiharbeit, 1-Euro-Jobs und Co. Dass diese Instrumente zum Abbau der Arbeitslosigkeit untauglich sind, hat ein unideologischer Blick auf die Praxis längst erwiesen.
Wer heute das Problem der Arbeitslosigkeit ernsthaft angehen will, muss auch die bereits existierende Beschäftigung sicherer machen. Meine Fraktion wird deshalb in den kommenden Monaten weitere Vorschläge zur Zurückdrängung prekärer Beschäftigung - also Beschäftigung, die keine Arbeitsplätze schafft, aber den Menschen Einkommen und Zukunftsperspektiven nimmt - vorlegen. Wir werden dabei unter anderem die Vorschläge der DGB-Gewerkschaften ernsthaft prüfen, die beispielsweise die Verlagerung von Standorten und Kündigungen trotz gut laufender Geschäfte und Profite einschränken wollen.
Bevor jetzt all die Marktradikalen wieder aufschreien, möchte ich einen der erfolgreichsten deutschen Unternehmer zitieren, den Porschechef Wiedeking. Er sagte vergangene Woche:
Es ist nicht nachzuvollziehen, wenn Konzerne Rekordgewinne melden und zugleich ankündigen, dass sie Tausende von Arbeitsplätzen streichen. ...
Ich sehe in dieser Entwicklung ein Warnzeichen für die Gesellschaft.
Ich schließe mich diesen Worten eines großen, bedeutenden und sehr erfolgreichen Unternehmers ausdrücklich an.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollegin Anette Kramme, SPD-Fraktion.
Anette Kramme (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herzlich willkommen zur Märchenstunde von Linken und FDP -
oder sollte ich sagen: vom Möchtegern-Robin-Hood und dem Sheriff von Nottingham?
Beim Märchen handelt es sich um eine relativ kurze Erzählung mit ausgeprägten surrealen Elementen. Das trifft ohne Wenn und Aber auf die hier vorliegenden Anträge zu. Es war einmal die FDP, diese erzählte allen Menschen, dass sie mit einer Abschaffung des Kündigungsschutzes nur dem Wohl der Arbeitnehmer dienen wolle. Tatsächlich war und ist sie - wie schon immer - der Wolf im Schafspelz.
Meine Damen und Herren, Sie sind wie eine leiernde Schallplatte oder, um es moderner auszudrücken,
Sie sind wie Spammails. Sie wiederholen sich unendlich und nerven.
Ihre Sprücheklopferei kann man nicht mehr hören. Es sei der rigide Kündigungsschutz, der Arbeitgeber davon abhalte, Neueinstellungen vorzunehmen. Ich weiß gar nicht, wie viele solche unsinnige Anträge Sie in diesem Haus schon gestellt haben.
Eines ist allen Ihren Anträgen gemeinsam: Die Empirie bleibt außen vor.
Alle Untersuchungen der OECD oder wissenschaftlicher Institute im In- und Ausland belegen hinlänglich, dass ein Abbau der Schutzrechte von Arbeitnehmern die Beschäftigungslage nicht verbessert.
Wir haben registriert - Herr Kolb, Sie sollten mir zuhören -,
dass Ihre Forderungen bei Ihren Gedankenspielen im Hinblick auf eine sozial-liberale Koalition moderater geworden sind. Es ist noch gar nicht so lange her, dass Sie von einer vierjährigen Wartezeit und einem Schwellenwert von 50 Arbeitnehmern sprachen.
Aktuell wollen Sie den Schwellenwert von heute zehn auf nur 20 Arbeitnehmer erhöhen. Wenn Sie, meine Damen und Herren von der FDP, tatsächlich irgendwann mit der SPD koalieren wollen,
müssen Sie sich viel weiter bewegen. Das gilt insbesondere für Sie, Herr Kolb.
Bei einer Umsetzung Ihres Vorschlags würden 90 Prozent der Betriebe nicht mehr dem Kündigungsschutz unterliegen. 28 Prozent bzw. 9 Millionen Beschäftigte stünden im Falle einer ungerechtfertigten Kündigung ohne Schutz da. Die Erhöhung des Schwellenwertes hat im Übrigen keinerlei Bedeutung für den Arbeitsmarkt. Ich erinnere an die großen Erwartungen, die damals entstanden, als die Regierung Kohl den Schwellenwert auf zehn heraufgesetzt hat.
In der Bundestagsdrucksache 13/4612 vom 10. Mai 1996 heißt es:
Es kann davon ausgegangen werden, daß ein Teil der Betriebe ... bei Anhebung des Schwellenwertes neue Einstellungen vornehmen wird.
Wenn jeder der Betriebe, die gegenwärtig zwischen fünf und neun Arbeitnehmer beschäftigen, zusätzlich nur einen Arbeitnehmer einstellt, ergibt das eine halbe Million möglicher Neueinstellungen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Kollegin Kramme, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel?
Anette Kramme (SPD):
Aber selbstverständlich. Herr Niebel erfreut mich immer.
Dirk Niebel (FDP):
Ich glaube, Kollegin Kramme, Sie machen Ihren Koalitionspartner durch solche Äußerungen außerordentlich nervös.
Anette Kramme (SPD):
Das macht nichts.
Dirk Niebel (FDP):
Sie haben gerade die Anhebung des Schwellenwertes beim Kündigungsschutz auf zehn Arbeitnehmer durch die Bundesregierung Kohl kritisiert, die Sie durch Ihre Korrekturgesetze unmittelbar nach dem Regierungsantritt von Rot-Grün im Jahre 1998 rückgängig gemacht haben. Würden Sie mir zustimmen, dass Sie den gleichen Text fünf Jahre später mit Ihrer rot-grünen Mehrheit exakt wortgleich - Punkt für Punkt und Komma für Komma - wieder haben Gesetz werden lassen?
Anette Kramme (SPD):
Das stimmt,
wie Sie wissen, nur zum Teil. Ihnen ist sehr wohl bekannt, dass die Anhebung des Schwellenwertes von fünf auf zehn Arbeitnehmer auf unseren jetzigen Koalitionspartner zurückgeht.
Dem haben wir angesichts des Gesamtpakets, um das es ging, zustimmen müssen. Aber wir wissen - das ist die Position der SPD -, dass das Ganze nichts bringen wird.
- Das sehe ich anders.
Politik bedeutet, Vergleiche einzugehen. Vergleiche einzugehen, heißt immer gegenseitiges Nachgeben.
Ich komme auf die heute vorliegenden Anträge und auf die Bundestagsdrucksache aus dem Jahr 1996 zurück, die ich bereits angesprochen habe. Die Rechnung von damals ist nicht aufgegangen. Selbst der Zentralverband des Deutschen Handwerks räumte ein, dass die entscheidenden Motive im Hinblick auf das Einstellungsverhalten - wie könnte es auch anders sein? - die konjunkturelle Lage
und die Beschäftigungserwartungen sind.
Eine aktuelle Studie der Universität Hamburg - sie wurde erst gestern veröffentlicht - belegt ebenfalls, dass der Kündigungsschutz bei Neueinstellungen keine große Rolle spielt. Nur drei von 41 Personalverantwortlichen waren der Meinung, der Kündigungsschutz spiele bei Neueinstellungen eine erhebliche Rolle.
Trotzdem haben wir den Schwellenwert in der vergangenen Legislaturperiode - ich sage an dieser Stelle ganz klar: aufgrund der Forderung unseres jetzigen Koalitionspartners - auf zehn Arbeitnehmer erhöht. Allerdings erwarten wir nicht, dass sich daraus erkennbar positive Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt ergeben. Die Evaluierung wird kein anderes Ergebnis bringen.
Wir dürfen die Unsicherheiten unserer Zeit nicht vergrößern. Wer kauft sich ein Haus oder ein Auto, wenn er ständig Angst haben muss, seinen Job zu verlieren? Wie soll sich ein Arbeitnehmer mit seinem Unternehmen identifizieren, wenn er nicht weiß, wie lange er dort noch arbeitet?
Zu den Abfindungsoptionen. Auch Ihnen, meine Damen und Herren von der FDP, dürfte bekannt sein, dass es keine Vertragsparität zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gibt. Vertragsfreiheit genießt in der Realität nur eine Seite: die Arbeitgeberseite. Für den Arbeitnehmer hätte ein Wechsel vom Bestandsschutz zum Abfindungsschutz nur eine Folge: den Verlust des Arbeitsplatzes, selbst wenn die Kündigung des Arbeitgebers nicht sozial gerechtfertigt wäre.
Auch für den Arbeitgeber wäre die vorgeschlagene Regelung von Nachteil, weil eine Abfindung auch dann gezahlt werden müsste, wenn die Kündigung sozial gerechtfertigt wäre und der Arbeitnehmer nach geltendem Recht gar keinen Abfindungsanspruch hätte. Deshalb - jetzt sollten Sie aufmerksam sein - beurteilen BDH und ZDH eine solche Regelung sehr kritisch.
Eines der Argumente, die in der Diskussion über den Kündigungsschutz angeführt werden, ist, dass die Betriebe diese Änderung beim Kündigungsschutz dringend benötigten, weil sie sich von ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nur mühselig trennen könnten. Von denjenigen Menschen, die in diesem Lande gekündigt werden, gehen nur etwa 16 Prozent zum Arbeitsgericht. Das sind zwar doppelt so viele wie noch 1979. Im gleichen Zeitraum stieg allerdings auch die Arbeitslosigkeit rapide an. Von allen Gekündigten bekommen lediglich 15 Prozent eine Abfindung. Unkalkulierbare Risiken birgt das Kündigungsschutzgesetz für den Arbeitgeber also wahrlich nicht.
Die große Mehrheit der Deutschen steht zum Kündigungsschutz: Laut einer repräsentativen Studie der Universitäten Jena und Hannover möchten 48 Prozent die bestehenden Regelungen beibehalten. 19 Prozent plädieren sogar für eine Ausweitung. Interessant ist dabei, dass vor allen Dingen Arbeitslose einen starken Kündigungsschutz bevorzugen. Die These ?Lieber Arbeit ohne Kündigungsschutz als arbeitslos mit Kündigungsschutz!“ stimmt also nicht.
Kommen wir zum anderen Extrem, lassen Sie mich noch ein Wort zu den Linken verlieren: Der Unterhaltungswert Ihrer Forderungen mag groß sein, mehr als blanker Populismus ist das jedoch nicht gewesen.
Den Schwellenwert für den Kündigungsschutz abzuschaffen, bedeutet, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aus den Augen zu verlieren. Ihre Forderung verstößt gegen das Grundgesetz. Denn durch Art. 12 Grundgesetz werden nicht nur die Interessen des Arbeitnehmers geschützt, sondern ebenso das Interesse des Kleinunternehmers, in seinem Unternehmen nur Mitarbeiter zu beschäftigen, die seinen Vorstellungen entsprechen. Ich darf an dieser Stelle aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1998 zitieren:
Auf der anderen Seite ist auch das Kündigungsrecht des Kleinunternehmers in hohem Maße schutzwürdig. In einem Betrieb mit wenigen Arbeitskräften hängt der Geschäftserfolg mehr als bei Großbetrieben von jedem einzelnen Arbeitnehmer ab. Auf seine Leistungsfähigkeit kommt es ebenso an wie auf Persönlichkeitsmerkmale, die für die Zusammenarbeit, die Außenwirkung und das Betriebsklima von Bedeutung sind.
Trotz einer Störung des Vertrauensverhältnisses dürfte ein Arbeitgeber seinem einzigen Arbeitnehmer, ginge es nach dem Vorschlag der PDS, verhaltensbedingt nur noch dann kündigen, wenn dieser tatsächlich und wahrhaftig den goldenen Löffel klaut.
Im Koalitionsvertrag ist vorgesehen, den Arbeitgebern die Möglichkeit einzuräumen, die gesetzliche Regelwartezeit von 6 auf bis zu 24 Monate auszudehnen. Dafür wollen wir die Möglichkeit streichen, Arbeitsverträge in den ersten 24 Monaten sachgrundlos zu befristen. Ein letzter Satz: Diese Pläne wurden von den fünf Wirtschaftsverbänden BDA, BDI, DIHK, HDE und ZDH gemeinschaftlich abgelehnt. Ich sage ganz klar: Weiter gehende Änderungen gibt es nicht. Wenn die Wirtschaft mit diesen Vorschlägen nicht einverstanden ist, belassen wir es einfach beim Alten. Die SPD braucht keine Änderung des Kündigungsschutzgesetzes.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Kollegin Brigitte Pothmer, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Debatte über den Kündigungsschutz in Deutschland ist eine hoch ideologisierte Debatte; das zeigen die beiden Anträge, die uns heute vorliegen. Herr Dreibus und Herr Kolb sind Protagonisten dieser Debatte. Sie führen diese ideologische Debatte, obwohl wir inzwischen wissen - Sie selbst, Herr Dreibus, haben in Ihrer Rede darauf hingewiesen und auch im Vorspann Ihres Antrages steht es sehr deutlich -: Der Kündigungsschutz hat keinen entscheidenden Einfluss darauf, wie viele Leute eingestellt werden und wie viele Leute entlassen werden. Da fragt sich doch die geneigte Leserin: Warum trägt diese richtungweisende Erkenntnis nicht den Forderungsteil Ihres Antrages, warum sprechen Sie dort eine andere Sprache?
Herr Kolb, noch einmal zu Ihnen: Ich finde es phänomenal, wie stark eine interessengeleitete Einsichtsbarriere wirken kann: Sie sind in der Lage, Studien zu zitieren, die haargenau das Gegenteil von dem beschreiben, was Sie hier behaupten.
Sie sagen, die Menschen sind blind und erkennen nichts - dabei machen Sie beide Augen zu und auch noch die Hühneraugen!
Das hilft uns in dieser Debatte nicht weiter.
Auch wenn der Kündigungsschutz nicht darüber entscheidet, in welchem Umfang eingestellt oder entlassen wird, muss man zur Kenntnis nehmen, dass es nicht egal ist, wie der Kündigungsschutz im Einzelnen ausgestaltet ist. Herr Dreibus, wenn Ihre Forderungen gesellschaftliche Realität werden, dann führt die Regulierungsdichte tatsächlich zu einem bürokratischen Quantensprung. Das wird allerdings negative Auswirkungen auf Einstellung und Beschäftigung haben.
Sie stellen dar, dass Sie zur dreimonatigen Probezeit zurück wollen.
- Sie wollen die dreimonatige Probezeit. - Das mag für einen Industriearbeitsplatz angemessen sein. Dort kann man in drei Monaten vielleicht erkennen, ob Arbeitgeber und Arbeitnehmer sowie Arbeitsanforderungen und Potenzial des Arbeitnehmers zusammenpassen. Bei Arbeitsverhältnissen, die ein vielschichtiges Anforderungsprofil haben, ist das aber ganz anders.
Ich bin der Auffassung, dass dort eine sechsmonatige Probezeit völlig richtig und notwendig wäre.
Ich frage Sie: Wem dient es, wenn an einem Arbeitsplatz das Potenzial, das eine Arbeitnehmerin bzw. ein Arbeitnehmer mitbringt, und das Anforderungsprofil nicht zusammenpassen? Dann kommt es nämlich zu erheblichen Schwierigkeiten für beide Seiten. Was spricht also gegen diese Probezeit von sechs Monaten?
Sie wollen weiter, dass über eine Umlagefinanzierung Abfindungen reguliert werden. Ich kann nicht glauben, dass das Ihr persönlicher Ernst ist, Herr Dreibus. Dafür halte ich Sie für viel zu vernünftig und zu gescheit. Wie soll das denn funktionieren? Ein fehlerhaftes Verhalten einzelner Arbeitgeber sollen andere Arbeitgeber ausbaden. Wie soll diese Umlage denn gestaltet werden? Wer soll für wen wie viel einzahlen? Ich kann Ihnen sagen: ?Umlageverfahren“ klingt immer schön einfach und nach Solidarität. Die Umsetzung bedeutet aber einen hochgradig bürokratischen Akt, der sehr viele Ungerechtigkeiten in sich birgt. Deswegen ist das falsch.
Die Ausgestaltung des Kündigungsschutzes hat Auswirkungen auf die Struktur der Beschäftigten.
Wenn der Kündigungsschutz zu weitgehend ist und Arbeitsverhältnisse gewissermaßen zubetoniert werden, dann hat das tatsächlich die Wirkung, dass die Arbeitgeber auf noch mehr Zeitarbeitsverträge und auf Leiharbeit ausweichen.
Das kann gerade nicht im Interesse der Schwächeren am Arbeitsmarkt sein. Deswegen kommt es auf das richtige Verhältnis und die richtige Ausgestaltung an.
Herr Kolb, mit Ihrem Antrag zeigen Sie, dass Sie davon noch nie etwas gehört und gesehen haben. Ich will Ihnen einmal etwas sagen: Auch eine falsche Lockerung des Kündigungsschutzes kann genau gegenteilige Wirkungen haben.
Wenn der Kündigungsschutz in einer Situation hoher Arbeitslosigkeit, in der wir uns jetzt ja bekanntermaßen befinden, so weit gelockert wird, dass die Beschäftigten, die daran interessiert sind, ihr Arbeitsverhältnis zu verändern und zu einer anderen Firma zu gehen, damit rechnen müssen, dass sie eine zweijährige Probezeit haben und dass ihr Arbeitsvertrag einer vierjährigen sachgrundlosen Befristung unterliegt, dann überlegen sie sich das sehr gut.
Das heißt, die Fluktuation auf dem Arbeitsmarkt wird geringer. Damit zementieren Sie die Strukturen.
Das ist zumindest in der Situation, in der wir uns jetzt befinden, in jeder Hinsicht kontraproduktiv.
Wenn Sie sich mit Ihrer Vorstellung durchsetzen, dann sind ungefähr 6 Millionen Menschen auf dem Arbeitsmarkt davon betroffen. Das heißt, diese Menschen werden sich entsprechend vorsichtig verhalten. Das gilt übrigens auch beim Konsum. Sie produzieren 6 Millionen Angstsparer, Herr Kolb.
Ich kann Ihnen sagen: Das hat auch Auswirkungen auf die Konjunktur in diesem Land.
Herr Kolb, solche Regelungen haben auch in anderer Weise Wirkungen auf die Entscheidungen der Menschen. Wir führen hier endlose und wortreiche Debatten über die Frage, wie wir junge Paare davon überzeugen können, Kinder in die Welt zu setzen, also Kinder in ihre Zukunftsplanung mit einzubeziehen. Kinder brauchen Verlässlichkeit. Kinder brauchen ein Stück Sicherheit. Wenn aber der Kündigungsschutz so ausgestaltet wird, wie Sie das wollen, dann wird das auch Rückflüsse auf solche gesellschaftlichen Fragen haben. Jedenfalls wird mit dem, was Sie vorschlagen, die Dynamik auf dem Arbeitsmarkt nicht zu-, sondern eher abnehmen.
Ihre Einäugigkeit, Herr Kolb, bei Vergleichen mit anderen Ländern ist uns inzwischen vertraut. Sie bringen als Beispiel Dänemark und erklären, dass dort alles besser ist, weil es dort so gut wie keinen Kündigungsschutz gibt. Sie sehen aber nicht die andere Seite der Medaille, Herr Kolb: In Dänemark ist nämlich die Absicherung im Falle von Arbeitslosigkeit extrem hoch.
Wo ist denn der Antrag, Herr Kolb, in dem auch das einmal eingefordert wird? In den Niederlanden gibt es einen sehr viel höheren Kündigungsschutz. Das führt dann aber auch dazu, Herr Dreibus, dass dort die Zahl von Zeitarbeitsverhältnissen sehr hoch ist. Zusammengenommen zeigt dies, dass es vernünftig ist - ich finde, das ist in Deutschland inzwischen der Fall -, den Kündigungsschutz und die Bedingungen für Leiharbeit zwischen Flexibilität und Sicherheit ausgewogen zu gestalten.
Wissen Sie, was ich glaube? Wirklicher Handlungsbedarf besteht nicht so sehr im Kündigungsschutz, sondern wirklicher Handlungsbedarf besteht beim Arbeitsrecht.
Das Arbeitsrecht in Deutschland ist so schlank, dass es in der Auslegung zum Richterrecht wird. Das verursacht Probleme. Es lohnt, sich damit auseinander zu setzen. Ich verspreche Ihnen hier schon einmal, dass wir das tun werden.
Noch ein paar Worte zur großen Koalition. Es ist falsch, sich in der Arbeitsmarktpolitik auf die Debatte um den Kündigungsschutz zu konzentrieren. Andere Themen sind viel wichtiger, zum Beispiel die hohe Belastung von kleinen Einkommen, mangelnde Investitionen in Weiterbildung und lebenslanges Lernen, Lohndumping, Unterbietungskonkurrenz zulasten von Beschäftigten und die bessere Förderung von Langzeitarbeitslosen. Genau diese Projekte stehen jetzt an. Damit könnte man wirklich für mehr Beschäftigung sorgen.
Stattdessen gab es bei der großen Koalition unter Führung des CDU-Generalsekretärs, den ich jetzt gerade nicht sehe - ist er fahnenflüchtig? -,
ein Jahr lang ein einziges Hin und Her in Sachen Kündigungsschutz. Ein solcher Murkskurs sucht wirklich seinesgleichen. Auch Sie in der CDU/CSU-Fraktion sehen dieses arbeitsmarktpolitische Fiasko und feixen darüber. Gut ist, dass sich der Generalsekretär nicht durchsetzen konnte. Gut ist das vor allem für die Beschäftigten in unserem Lande.
Ich danke Ihnen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Kollegen Paul Lehrieder, CDU/CSU-Fraktion.
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Schluss mit dem Flirten! Die FDP hat sich in den letzten Wochen unserem in fester Partnerschaft lebenden Koalitionspartner angenähert. Diese Flirtversuche sind zwischenzeitlich offensichtlich gescheitert.
Mit Blick auf die Linkspartei muss ich sagen: Mit den beiden heutigen Anträgen hat sie gezeigt, dass sie als Partnerin für Sie denkbar ungeeignet ist. Auch da wird nichts passieren.
Wenn ich den linken und den rechten Rand des Plenums so vor mir sehe
- der rechte Rand ist für mich jetzt die FDP -, dann bin ich froh, dass wir mit dem, was dort ausgebrütet worden ist, nicht werden leben müssen.
Davor bewahrt uns Gott sei Dank ein gesunder Mittelweg, den wir als große Koalition mit Augenmaß beschreiten wollen. Vielleicht hat der breite Block in der Mitte des Plenums nicht nur einen optischen, sondern tatsächlich auch einen ganz praktischen Effekt. Frau Pothmer, ich möchte Sie ausdrücklich einbeziehen, wenngleich mir die letzten Ausführungen Ihrer Rede nicht sonderlich gefallen haben.
Aber in vielen Bereichen sind Sie arbeitsmarktpolitisch nicht auf dem Holzweg.
Wenn sich die Kollegen von der Linkspartei und der FDP die Mühe gemacht hätten, ihre Anträge einmal vom jeweils anderen gegenlesen zu lassen, dann wären hier Tumulte zu befürchten. Spätestens jetzt wird jeder merken, was für ein unverträgliches Gemisch die beiden Anträge zum Tagesordnungspunkt Kündigungsschutz darstellen. Insofern wundert es mich nicht mehr, dass die FDP aus der Opposition raus will. Die Gemeinsamkeiten der Oppositionsparteien beschränken sich darauf, dass keiner von beiden regiert.
So gut wie nichts ist in beiden Anträgen deckungsgleich: Während die Linkspartei keinen belegbaren Zusammenhang zwischen Kündigungsschutz und Beschäftigungsentwicklung sieht, ist er laut FDP für die hohe Arbeitslosigkeit mit verantwortlich.
Die Linken wollen die Schwelle, ab der das Kündigungsschutzgesetz gilt, von jetzt sechs auf drei Monate senken. Auf Wunsch der FDP soll es erst nach zweijähriger Betriebszugehörigkeit anwendbar sein, als ob nicht schon heute eine entsprechende Befristung möglich wäre.
Ähnlich radikal gehen die Meinungen bei den sachgrundlosen Befristungen auseinander. Die FDP will sie bis zu vier Jahren ermöglichen, die Linkspartei sie ganz abschaffen.
Dasselbe Bild bietet sich beim Kündigungsschutz: Die FDP will die Zahl der Beschäftigten in einem Betrieb, ab der der Kündigungsschutz eintritt, von zehn auf 20 erhöhen;
die Linken wünschen dem Schwellenwert eine Beerdigung erster Klasse. Aus unserer Sicht macht die Grenze von zehn Beschäftigten schon deshalb Sinn, weil wir kleinen und mittleren Betrieben entgegenkommen müssen.
Wenn es nach den Linken ginge, würden ordentliche Kündigungen für Arbeitnehmer ab 55 Jahren und einer Betriebszugehörigkeit von mehr als zehn Jahren völlig ausgeschlossen. Ihr Oppositionspartner sieht das etwas anders: Die Liberalen wollen das Lebensalter als Kriterium für die Sozialauswahl streichen, wenn es um betriebsbedingte Kündigungen geht, weil es die Einstellungschancen älterer Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt erschwere.
Wie die Einstellungschancen verbessert werden sollen und was sie als Alternative zu bieten haben, sagen die Liberalen allerdings nicht. Was aber ein Liberaler - Sie, Herr Niebel - in der vergangenen Wahlperiode gesagt hat, als es schon einmal um einen FDP-Antrag zum Kündigungsschutz ging, gibt allerdings zu denken. In der Debatte am 3. April 2003 wurde gesagt:
Denn wir sind durchaus der Überzeugung, dass Arbeitgeber eine soziale Verpflichtung gegenüber ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern haben. Wir wollen nur die jetzige Situation beenden, in der oftmals die Luschen bleiben können und die Leistungsträger gehen müssen.
Damals hat Herr Niebel noch für das Lebensalter als Kriterium der Sozialauswahl plädiert, das in dem aktuellen Antrag bezeichnenderweise gestrichen werden soll. Ein Schelm ist, wer Schlechtes denkt und als Luschen ältere Mitarbeiter gemeint sieht.
Die Initiative 50 plus, die Bundesarbeitsminister Müntefering kürzlich vorgestellt hat, geht schon sehr viel weiter als der FDP-Antrag. Darin sind übrigens auch Befristungsregelungen ab dem 52. Lebensjahr vorgesehen. Die Regierung hat längst etwas getan, was die liberalen Kollegen unter Punkt 1 ihres Antrages fordern.
Was die Bundesregierung sicherlich nicht umsetzen wird, ist das, was die Linkspartei unter den Punkten 5 und 6 auf ihrem Wunschzettel fordert: Wir werden die Sozialauswahl nicht um Kriterien wie Arbeitsmarktchancen oder Mobilitätseinschränkungen erweitern. Welches Unternehmen soll das wasserdicht überprüfen? Unter solchen Bedingungen würden betriebsbedingte Kündigungen nachhaltig erschwert. Eine weitere Zunahme der Klagen vor den Arbeitsgerichten wäre zwangsläufig die Folge.
Gänzlich widersinnig ist ein anderer linker Wunsch: Die Linkspartei fordert, die Möglichkeit, Betriebsvereinbarungen zur Sozialauswahl und Namenslisten zu den zu Kündigenden abzuschließen, zu streichen. Der individuelle Rechtsschutz würde dadurch unzulässig eingeschränkt.
Liebe Kollegen, Ihre Möchtegern-Bündnispartner von den Gewerkschaften werden sich für diesen Tritt vor das Schienbein bedanken und es sicherlich nicht gerne sehen, wenn die Rechte der Betriebsräte auf diese Art beschnitten werden. Das müssten Sie aufgrund Ihres beruflichen Hintergrundes sehr wohl wissen, Herr Dreibus. Sie können zwar gerne sozusagen als Trotzpflaster ein Verbandsklagerecht fordern; im AGG haben wir das aber glücklicherweise gerade noch abwenden können.
Beim Kündigungsschutz kann die Opposition keine tragfähige Alternative bieten. Die Liberalen würden den Kündigungsschutz wohl am liebsten ganz abschaffen und den Arbeitsmarkt mit seinen schwächsten Gliedern dem freien Spiel der Kräfte überlassen. Das Ergebnis wäre ein Marktfundamentalismus ohne soziale Rahmenbedingungen.
Die Linkspartei lädt den Kündigungsschutz ideologisch auf und stellt ihn auf einen Sockel aus falschen Sicherheiten.
Sie will den Status quo einmauern und Stellschrauben, die helfen würden, auf Veränderungen am Arbeitsmarkt flexibel zu reagieren, gleich mit einbetonieren.
Ihr Kündigungsschutz, liebe Kollegen von der Linksfraktion, ist nicht mehr als Besitzstandswahrung für Arbeitsplatzbesitzer. Sie wird den Arbeitslosen dieser Republik nichts bringen.
Für so viele überzogene Forderungen entschädigt der Blick auf die große Koalition.
Anders als unsere Opposition wollen wir die Sozialsysteme nicht zerstören
- ja, die Grünen sitzen in der Mitte; ich habe Sie deshalb eben zum Teil mit angesprochen, Frau Pothmer -, sondern sie den Realitäten anpassen.
Es gilt, einen verfassungsgemäßen Interessenausgleich zwischen der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerseite zu gewährleisten. Wir sollten nicht darüber streiten, ob, sondern wie wir Kündigungsschutz wollen,
damit zum einen die Menschen geschützt werden und zum anderen das nötige Maß an Flexibilität gewährt wird.
Zusammen mit der SPD behalten wir das Machbare im Auge. Gemeinsam werden wir in Ruhe ausloten, welche Änderungen wann und wie möglich sind.
Nur so können wir größtmögliche Rechtssicherheit schaffen und Transparenz gewährleisten. Es wird nicht einfach, aber der Schlüssel liegt bei uns Politikern. Wir müssen den Menschen erklären, warum und welche Änderungen beim Kündigungsschutz und welche Arbeitsmarktreformen notwendig sind und wie man die Solidarität zusammen mit der Flexibilität erhalten kann.
Ich habe zwar noch fast zwei Minuten Redezeit. Diese Zeit schenke ich aber dem Plenum. Ich habe auf eine Zwischenfrage der FDP gewartet. Leider ist sie nicht gekommen.
Ich bedanke mich und wünsche Ihnen noch eine gute Diskussion.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Kollegen Jörg Rohde, FDP-Fraktion.
Jörg Rohde (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Lehrieder, es hätte mich eher verwundert, wenn Sie Gemeinsamkeiten zwischen dem Antrag der FDP und dem der Linken gefunden hätten. Ich denke, der Linksfraktion geht es genauso wie mir. Ich denke, dass wir alle über die Fraktionsgrenzen hinweg das Ziel im Auge haben, die Massenarbeitslosigkeit zu bekämpfen sowie Wachstum und Beschäftigung in Deutschland zu fördern.
Wenn wir die Beschäftigung in Deutschland fördern und Arbeitslosen zu einem Arbeitsplatz verhelfen wollen, dann müssen wir für Arbeitgeber und Unternehmer flexible und moderne Rahmenbedingungen schaffen. Alle gesetzlichen Barrieren, die einen Arbeitgeber heute noch davon abhalten, neue Jobs zu schaffen, müssen abgeschafft oder minimiert werden. Das ist unsere Aufgabe im Deutschen Bundestag.
Das Kündigungsschutzrecht ist nur eines von vielen Beispielen, die zeigen, wie sich Gesetze gegen die Interessen der Beschäftigten - genauer gesagt: der Nichtbeschäftigten - gewendet haben. Durch den Kündigungsschutz werden Arbeitgeber, die Zweifel haben, ob potenzielle Stellen dauerhaft geschaffen werden können, davon abgehalten, neue Jobs zu schaffen. Mit dem besonderen Kündigungsschutz für Behinderte werden ebenfalls Barrieren für die Betroffenen auf dem ersten Arbeitsmarkt erzeugt. Mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz sind vor einigen Wochen die Chancen für Behinderte, den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt zu schaffen, deutlich gesunken. Wenn nun zur ersten Barriere eine zweite Barriere hinzukommt, dann dürfen wir uns in Deutschland nicht wundern, wenn sich die Arbeitslosigkeit bei den Schwerbehinderten weiter negativ entwickelt. Hier müssen wir umsteuern.
Ich habe als behindertenpolitischer Sprecher der FDP-Fraktion diese Forderung auch bei Behindertenverbänden offen angesprochen. Dort ist man zwar reserviert, aber auch bereit, über dieses heiße Thema offen zu diskutieren; denn wenn die Wirtschaft auf einen nachhaltigen Pakt zugunsten der Integration von Menschen mit Behinderung in den ersten Arbeitsmarkt einginge, dann könnte man im Gegenzug den Kündigungsschutz für Schwerbehinderte lockern. Das ist ein schönes Betätigungsfeld für die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen; das könnte man doch einmal ausloten. Wir müssen gemeinsam die Barrieren für mehr Beschäftigung in Deutschland abbauen.
Mit dem uns heute vorliegenden Antrag der Linksfraktion auf Ausweitung des Kündigungsschutzes sollen aber viele neue Beschäftigungsbarrieren errichtet werden. Dieser Antrag geht in die völlig falsche Richtung.
Bevor ich aber auf einzelne Punkte dieses Antrags eingehe, möchte ich festhalten, dass wir zumindest beim ersten Satz des Antrages der Linksfraktion übereinstimmen:
Die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit ist das drängendste innenpolitische Problem in Deutschland.
Aus Sicht der FDP ist dies aber auch der einzige Satz in dem Antrag der Linksfraktion, mit welchem wir übereinstimmen. Sie haben mit Ihren Forderungen ausschließlich die Arbeitsplatzbesitzer im Blick. Die Arbeitslosen bleiben bei Ihnen durch die Erhöhung der Barrieren für die Schaffung von Jobs auf der Strecke. Hier schließe ich mich Herrn Meckelburg und Herrn Lehrieder an. Liberale Politik dagegen berücksichtigt beide Gruppen: Beschäftigte und Jobsuchende.
Herr Dreibus und Frau Pothmer, Sie müssen Ihren Blickwinkel einmal um 180 Grad drehen. Wenn wir einen echten flexiblen Arbeitsmarkt hätten, dann müssten sich Beschäftigte keine Sorgen um eine Kündigung machen, weil sie wüssten, dass sie wieder eine Chance auf einen neuen Job haben. So wird ein Schuh daraus.
Während meiner Tätigkeit als ehrenamtlicher Betriebsrat habe ich fast zwölf Jahre mit vielen Arbeitnehmern und Chefs gesprochen. Auch als ehrenamtlicher Politiker und nun als Abgeordneter habe ich mich in dieser Zeit mit Entscheidern und Betriebsräten beraten. Herr Dreibus, auch liberale Politiker haben das Ohr in den Betrieben. Wir reden mit allen Beteiligten.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schaaf?
Jörg Rohde (FDP):
Ja, bitte.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Bitte schön, Herr Schaaf.
Anton Schaaf (SPD):
Herr Kollege Rohde, stimmen Sie mit mir überein, dass dann, wenn Ihre Theorie, dass weniger Kündigungsschutz und weniger Schutzrechte für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mehr Arbeitsplätze schafften, stimmte, gar kein Kündigungsschutz unter Umständen zu Vollbeschäftigung führen müsste? Das heißt, wie viel weniger Rechte brauchen die Menschen, damit tatsächlich mehr Arbeitsplätze geschaffen werden? Wenn Sie diese Theorie tatsächlich aufrechterhalten wollen: Auf welche Daten berufen Sie sich bei dieser Theorie? Mir wird überhaupt nicht klar, woher Sie Ihre Erkenntnisse nehmen; denn alle unsere Erkenntnisse, auch die aus dem europäischen Ausland, besagen, dass weniger Schutzrechte nicht mehr Arbeit schaffen. Sagen Sie uns in diesem Hohen Hause bitte, woher Sie Ihre Erkenntnisse beziehen.
Jörg Rohde (FDP):
Herr Schaaf, ich bin Ihnen für die Frage dankbar. Beim ersten Teil hatte ich schon gehofft, Sie hätten Einsicht in unsere Bemühungen gezeigt. Es gibt wirklich Unternehmer, die sagen, bei diesen Schwellenwerten stelle ich nicht ein, weil der Kündigungsschutz für alle Arbeitnehmer greift, wenn ich einen zusätzlichen Arbeitnehmer einstelle. Deswegen schaffen sie keine neuen Jobs. Ich habe mehrere Beispiele aus verschiedenen Branchen. Sie haben es überspitzt dargestellt. Wir wollen nicht gar keinen Kündigungsschutz, sondern wir brauchen flexiblere Regelungen, wie sie zum Beispiel im Antrag der FDP gefordert werden.
Gerade als ehemaliger Betriebsrat setze ich mich für einen flexiblen Arbeitsmarkt ein. Die FDP ist eben die echte Arbeitnehmerpartei.
Wir wissen alle, dass wir in Deutschland ein Problem bei der Beschäftigung älterer Arbeitnehmer haben. Das Lebensalter hat Einfluss auf die Gestaltung der Sozialpläne und daher finden ältere Arbeitslose kaum einen neuen Job. Die Initiative 50 plus von Herrn Müntefering bekämpft hier übrigens nur die Symptome, aber nicht die Ursachen. Würden wir als Bundestag dem Antrag der Linken zum Beispiel bei der Ausweitung des Kündigungsschutzes für ältere Arbeitnehmer in Punkt 3 folgen, so hätten schon 45-Jährige ein Problem, einen neuen Job zu finden. Bei der Forderung in Ihrem Punkt 8, ein Umlagesystem für Abfindungsansprüche in kleinen und mittleren Unternehmen einzurichten, sträuben sich mir sogar die Nackenhaare. Sie erfinden ein neues bürokratisches Monster, welches kleine und mittlere Unternehmen finanziell belastet, und viele schwache Firmen werden zur sofortigen Aufgabe ermuntert. Eine Rückfrage, liebe Linke: Wie lange müsste ich denn als Unternehmer in welcher Höhe in das Umlagesystem einzahlen, damit ich das Recht habe, einem langjährigen Mitarbeiter zu kündigen und diesem zu einer Abfindung zu verhelfen? Ihr Vorschlag ist weder praktikabel noch finanzierbar. Wer befristete Arbeitsverhältnisse nicht erlauben will, der hat auch keine Chance, dass wenigstens solche Jobs entstehen.
Es wird Sie ebenfalls nicht überraschen, dass die Liberalen das Verbandsklagerecht für Gewerkschaften ablehnen. Wenn die Sozialauswahl um die von Ihnen geforderten Kriterien erweitert wird, dann wird es etliche Unternehmensteile geben, die nicht mehr saniert, sondern sofort aufgelöst werden. Wenn die Leistungsträger der Firma auf die Strasse gesetzt werden, dann kann der Chef den Laden auch gleich zusperren. Das kann doch nicht wirklich Ziel Ihrer Politik sein. In Deutschland brauchen wir, wie es auch der Sachverständigenrat gefordert hat, ein Vertragsoptionsmodell. Vorschläge dazu haben wir vorgelegt.
Ich empfehle daher der Bundesregierung und den beiden Koalitionsfraktionen, den Antrag der FDP anzunehmen und gleichzeitig den Antrag der Linken abzulehnen. Entfernen Sie Barrieren, damit schnell neue Jobs in Deutschland entstehen!
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Kollegen Frank Spieth, Fraktion Die Linke, zu einer Kurzintervention.
Frank Spieth (DIE LINKE):
Herr Kollege Rohde, ich habe gehört, dass Sie mit Ihrem Antrag, beim Kündigungsschutzgesetz den Schwellenwert zu erhöhen, die Arbeitslosigkeit bekämpfen wollen. Kennen Sie die IAB-Panels für Ostdeutschland, die auf der Grundlage von SÖSTRA-Studien seit mittlerweile über zehn Jahren erfasst werden? Wissen Sie, dass mit der Anhebung des Schwellenwertes auf 20 Beschäftigte - es werden nicht Vollzeitbeschäftigte, sondern Köpfe gezählt, also auch Teilzeitbeschäftigte - in Ostdeutschland der Kündigungsschutz nur noch in 5 Prozent aller Betriebe überhaupt gelten würde? Das heißt, 95 Prozent aller ostdeutschen Betriebe würden vom Kündigungsschutzgesetz nicht mehr betroffen sein. Ist Ihnen das bewusst? Wollen Sie tatsächlich so weit gehen?
Jörg Rohde (FDP):
Herr Kollege, der Kündigungsschutz, den wir hier im Bundestag besprechen, gilt natürlich für ganz Deutschland. Wir wissen, dass in Ostdeutschland ein strukturelles Problem herrscht. Wir haben schon damals zu Beginn, als die neuen Bundesländer hinzukamen, andere Vorschläge gemacht, zum Beispiel zum Steuerrecht, um genau diese Situation nicht entstehen zu lassen. Jetzt haben wir leider die Situation, die wir heute vorfinden. Deswegen müssen wir für die gesamte Wirtschaft - das Arbeitsrecht gilt ja für Gesamtdeutschland - die Gesetze, die die FDP vorschlägt, einführen. Dann besteht die Chance, unter anderen Rahmenbedingungen einen Wirtschaftsaufschwung in Deutschland zu erreichen. Die Situation in Ostdeutschland ist verfahren. Wir dürfen uns aber nicht nur regionalen Problemen widmen, sondern wir müssen die Probleme für ganz Deutschland anpacken.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Kollegin Doris Barnett, SPD-Fraktion.
Doris Barnett (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei den beiden Anträgen beschleicht mich wie den Kollegen Lehrieder der Gedanke: Es muss wohl daran liegen, dass diese beiden Fraktionen am Rande sitzen. Das sage ich, auch wenn ich sie damit - um Gottes willen - nicht als Randerscheinung bezeichnen will. Die von ihnen vorgelegten und heute diskutierten Anträge verdienen wirklich nur ein Prädikat: besonders daneben.
Während die FDP in gewohnter Manier dem Heuern und Feuern frönt und dabei noch behauptet, sie sei die wahre Arbeitnehmerpartei,
fordert die Linke, dass einem 56-jährigen Mitarbeiter in einem Handwerksbetrieb mit zwei Angestellten, der längere Zeit keine Aufträge hat - dieser Mitarbeiter ist dort schon zehn Jahre tätig, hat sich über den Chef geärgert und macht deswegen nur noch Dienst nach Vorschrift -, nicht gekündigt werden darf, während einem erst 45-jährigen Leistungsträger - er ist in diesem Betrieb drei Jahre tätig und rackert für zwei - gekündigt werden muss. Dadurch geht der Betrieb endgültig ein. Sechs Jahre nach der Jahrtausendwende kann das alles doch nicht wahr sein.
Seien wir also froh, dass in Deutschland Augenmaß herrscht und dass wir mit dem bestehenden und bewährten Kündigungsschutz den Bedürfnissen unserer modernen und flexiblen Arbeitswelt entsprechen. Das war mein Fazit; ich habe es vorweggenommen. Jetzt komme ich zu den Anträgen.
Zunächst einmal komme ich auf den FDP-Antrag zu sprechen. Sie verweisen auf den Sachverständigenrat und sagen, die Liberalisierung des Kündigungsschutzes sei erforderlich, um die Verfestigung der Arbeitslosigkeit aufzubrechen; dies gelte besonders für Langzeitarbeitslose und Geringverdiener.
Wenn das alles so wäre, wie Sie es darstellen! Langzeitarbeitslose und Geringverdiener haben doch nicht wegen des Kündigungsschutzes ein Problem, sondern wegen ihrer Defizite. Man muss sie erst einmal ordentlich qualifizieren. Warum stecken wir denn so viel Geld in die Qualifizierung, damit diese Menschen den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt schaffen? Das hat doch mit Kündigungsschutz überhaupt nichts zu tun. Wenn es einen solchen Zusammenhang gäbe, dann hätte man sämtliche älteren Langzeitarbeitslosen schon längst eingestellt; schließlich ermöglicht dies die Gesetzeslage, Stichwort ?ständige Befristung“.
- Doch, doch, doch!
In Ihrem Antrag steht, nötig sei der Übergang vom Bestandsschutz zum Abfindungsprinzip. Die FDP verabschiedet sich damit ganz offensichtlich vom Kündigungsschutz als gesetzlicher Regelung. Sie wollen ein Kündigungsschutzrecht für eine moderne Wirtschaftsordnung. Wie sieht dieses Recht aus? Es soll entfallen! Das kann doch alles nicht sein.
Sie wollen ein Vertragsoptionsmodell, das vorsieht, dass beim Vertragsabschluss die Höhe der Abfindung vereinbart wird. Ich stelle mir einmal Folgendes vor: Ein Geringverdiener oder ein Langzeitarbeitsloser - diese Menschen liegen Ihnen ja am Herzen - versucht, mit einem möglichen Arbeitgeber über die Höhe einer Abfindung zu verhandeln. Ich kann mir das beim besten Willen nicht vorstellen. Offensichtlich glauben Sie, dass der Arbeitssuchende mit seinem Rechtsanwalt kommt und eine Abfindungssumme vereinbart. Was Sie hier vorschlagen, das ist doch alles nicht von dieser Welt.
Ganz besonders komisch ist es, dass Sie vorschlagen, ein Arbeitssuchender könne statt einer Abfindung eine Weiterbildung vereinbaren. Ich stelle mir jetzt vor: Ein Fahrer unseres Fahrdienstes verhandelt dahin gehend, dass er, wenn er zwei, drei oder fünf Jahre angestellt war, eine Ausbildung bekommt, wobei er selbst Inhalt und Kosten der Ausbildung bestimmt; der Arbeitgeber nickt das alles ab. Das ist blanker Unsinn.
Wissen Sie, was dann geschehen würde? Eigentlich müssten wir uns über die Umsetzung Ihres Vorschlags freuen, weil die Arbeitsverwaltung dadurch - theoretisch - entlastet würde; schließlich ist sie bisher für die Eingliederung zuständig. Eine solche Änderung wäre eine schöne Sache. Ich frage Sie: Warum fordern Sie nicht Ihre Seite, also die Arbeitgeberseite, auf, das ganze Geld in die Qualifizierung vor der Kündigung zu investieren, damit die Angestellten erst gar nicht entlassen werden müssen?
Dann würde ein Schuh daraus. Aber darüber kann man mit Ihnen offensichtlich überhaupt nicht sprechen.
Ihren Forderungen liegen ein Menschenbild und ein Gesellschaftsbild zugrunde, über die man nur den Kopf schütteln kann. Sie wollen die Sperrzeiten so ändern, dass es keine Kettenverträge gibt. An und für sich wollen Sie aber Kettenverträge; schließlich fordern Sie die Möglichkeit von Befristungen ohne sachlichen Grund bis zu vier Jahren; in den ersten zwei Jahren soll sowieso kein Kündigungsschutz bestehen. Wenn überhaupt, dann soll es einen Kündigungsschutz nur für Betriebe ab 20 Arbeitnehmer geben. Aber jetzt kommt es: Die Pro-rata-temporis-Regelung soll gelten. Wir sprechen also über eine Grenze von - im schlimmsten Fall - 40 Arbeitnehmern und da sagen Sie, das sei ein moderner Kündigungsschutz in unserem Staat.
Hinzu kommt noch: Bei der Vertragsoption verlangen Sie, dass es nicht zu einer Sperrzeit kommen soll, wenn man sich auf so etwas einlässt. Damit belasten Sie wieder die Kasse der Arbeitslosenversicherung, die es nämlich tragen muss, wenn die Arbeitnehmer ihr Geld einfach bekommen. Das ist eine Besserstellung, wiederum zulasten Dritter, nämlich hier der Arbeitsverwaltung.
Zum Antrag der Linken ist Folgendes zu sagen: Über die eine oder andere Formulierung könnte man sich mit Ihnen verständigen. So sagen Sie, dass der Kündigungsschutz vor unbegründeter Entlassung und willkürlicher Entscheidung des Arbeitgebers bewahrt. Das ist insoweit richtig. Aber bei den einzelnen Forderungen von Ihnen muss ich doch einige Fragezeichen setzen.
Sie sagen, Motivation und Kreativität der Beschäftigten seien höher, wenn sie keine Angst hätten. Angst ist immer der schlechteste Ratgeber und führt auch im Arbeitsleben nicht zu mehr Leistung. Wenn man den Beschäftigten einen interessanten Arbeitsplatz gibt und wenn man sie fortbildet, dann wird ein Schuh daraus. Wir brauchen deswegen nicht unbedingt nur einen besseren Kündigungsschutz, sondern wir brauchen auch gute Betriebsräte und gute Tarifverträge, die absichern.
Sie sagen, dass man den Kündigungsschutz unbedingt braucht, um Rechte durchzusetzen, weil nämlich die Menschen sonst erpressbar sind. Ich erwidere darauf: Um Rechte durchzusetzen, braucht man auch einen vernünftigen Betriebsrat, vernünftige Gesetze - ein gutes Betriebsverfassungsgesetz gehört dazu - und Tarifverträge, die die Arbeitnehmer schützen. Da darf man sich nicht leicht herausschleichen können.
Ich sehe, dass meine Redezeit abläuft; deswegen kann ich nur noch Folgendes sagen:
Die Linke will zwar vordergründig durch den Kündigungsschutz die Arbeitnehmer stärken. Leider behindert der aber massiv Neueinstellungen. Sie von der Linken scheinen aber auch einen Systemwechsel zu wollen, nämlich weg von der Interessenvertretung durch Betriebsräte hin zu einer solchen durch Gewerkschaften, die direkt in Betriebe eingreifen, wie das in Spanien der Fall ist. Wenn Sie das wollen, dann würde ich Sie schon auffordern, das dann auch so zu sagen.
Beim Kündigungsschutz geht es um die Art und Weise, in der wir mit den Arbeitnehmern umgehen. Die Arbeitnehmer brauchen ein Mindestmaß an Sicherheit, um ihre Existenz und möglicherweise eine neue, nämlich die einer Familie, zu sichern. Sie wollen vorwärts kommen und sind bereit - dazu müssen sie auch bereit sein -, ihre Beschäftigungsfähigkeit durch ständige Weiterbildung zu gewährleisten. Das nützt ihnen, ihrem Preis, aber auch den Arbeitgebern; denn nur hoch qualifizierte und motivierte Mitarbeiter bringen die notwendige Innovation. Beide Seiten sind mit ihren Schicksalen eigentlich so ineinander verwoben und voneinander abhängig, dass nur ein gerechter Ausgleich Ordnung auf dem Arbeitsmarkt schafft. Deswegen brauchen wir einen guten Kündigungsschutz. Den haben wir. Den brauchen wir nicht zu verändern.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollege Michael Fuchs, CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Kolb, ich vermisse heute hier eigentlich den rheinland-pfälzischen Dampfplauderer und Kuschelkursfahrer Rainer Brüderle.
Es hätte mich sehr gefreut, wenn Sie in dieser Woche diesen Termin zur Brautschau tatsächlich durchgeführt hätten
und Ihren Antrag mitgenommen hätten, um einmal auszuloten, wie groß die Gemeinsamkeiten sind; das kann man an diesem Antrag sicherlich sehr gut machen.
Verehrte Frau Pothmer, der - inzwischen leider verstorbene - Professor Nipperdey hat sich mit Arbeitsrecht und dieser Materie insgesamt in Deutschland beschäftigt. Er hat ein dickes Werk dazu verfasst. Es gibt über 90 Gesetze und Verordnungen nur zum Arbeitsrecht. Da kommt kaum noch ein normaler Jurist mit. Man braucht hoch spezialisierte Fachjuristen; denn das Arbeitsrecht ist außerordentlich kompliziert und unübersichtlich. Das ist sicherlich auch einer der Gründe dafür, dass sich Unternehmer, vor allem kleinere Unternehmer, schwer damit tun, jemanden einzustellen. Das haben wir dann ja auch in den letzten Tagen, genauer gesagt: gestern, wieder bestätigt bekommen. In einer Studie des World Economic Forum landen wir in puncto Regulierung von 125 Staaten auf Platz 79,
beim Kündigungsschutz belegen wir sogar Platz 120.
Wir brauchen also eine grundlegende Vereinfachung des Arbeitsrechtes in Deutschland.
Jeder Arbeitgeber sollte Einstellungen und die zusätzliche Beschäftigung von Mitarbeitern als Chance und nicht als ein unkalkulierbares Risiko ansehen können.
Es ist, nebenbei gesagt, fast genauso wie im Steuerrecht. Wir haben da ja auch mittlerweile die Situation, dass nur noch Experten mit diesem Steuerrecht überhaupt klarkommen. Diese sind dann allerdings in der Lage, die berühmten Nischen zu finden, die wir noch nicht zugemacht haben.
Dank einer verbesserten Auftrags- und Beschäftigungslage, die wir ja Gott sei Dank gemeinsam geschaffen haben - ich bin sehr froh, jetzt Zahlen mitteilen zu können, die gerade eben aus Nürnberg veröffentlicht worden sind -, haben wir 409 000 Arbeitslose weniger als vor einem Jahr - ein echter Beschäftigungsaufwuchs! Ich freue mich gemeinsam mit unseren Partnern von der SPD darüber, dass wir da ein ganzes Stück vorangekommen sind. Das ist nämlich eine zentrale Aufgabe für uns in diesem Hohen Hause.
Der Antrag der FDP-Fraktion enthält aus meiner Sicht - das wird Sie vielleicht nicht überraschen - viele sinnvolle Schritte zur Modernisierung des Arbeitsrechts.
Über einige Einzelheiten dieses Antrags könnte man auch intensiv nachdenken. Aber - das ist kein Vorwurf an die FDP - der Antrag ändert nichts an der Unübersichtlichkeit und Kompliziertheit unseres Arbeitsrechts. Da müssen wir noch ein ganzes Stück weiterkommen.
Was wir in Deutschland eigentlich brauchen, ist ein großer Wurf beim Arbeitsrecht.
Es gibt in diesem Zusammenhang Gott sei Dank Bemühungen, das zu verändern und ein einheitliches Arbeitsvertragsgesetzbuch zu schaffen.
Ich halte die Diskussion darüber für ausgesprochen wichtig, Herr Kollege Niebel, ob man nicht die über 40 Gesetze, in denen heute das Arbeitsvertragsrecht einschließlich des Kündigungsschutzrechts verstreut ist, in einem Gesetz zusammenfasst. Das kann ja eigentlich nur Sinn machen.
Die Bertelsmann Stiftung hat eine entsprechende Kommission eingesetzt und ein erster Arbeitsentwurf liegt vor. Damit sollten wir uns beschäftigen. Angesichts der vielen in den letzten Jahren neu erlassenen Gesetze ist es sicherlich sinnvoll, hier ein vernünftiges Werk zu schaffen. Das könnten wir dann auch gemeinsam in Gang setzen.
Meine Damen und Herren, es ist kein Geheimnis, dass es zur Zukunft des Arbeitsrechts in diesem Hohen Hause immer unterschiedliche Auffassungen gegeben hat und auch weiterhin geben wird. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat in der letzten Legislaturperiode einen Gesetzentwurf zur Vereinfachung des Arbeitsrechtes und zur Modernisierung des Kündigungsschutzrechtes vorgelegt. Leider - daraus mache ich jetzt auch keinen Hehl - gibt es in der jetzigen Regierungskonstellation und auch in den Koalitionsfraktionen hierüber keinen Konsens. Wir werden entsprechend der Koalitionsvereinbarung eine Nachfolgeregelung für die sachgrundlose Befristung von Arbeitsverträgen mit älteren Arbeitnehmern, die so genannte 52er-Regelung, finden müssen. Ich gehe davon aus, dass wir im Zusammenhang mit der Initiative 50 plus des Arbeitsministers Müntefering jetzt einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen werden, der die Beschäftigungshemmnisse gerade für ältere Arbeitnehmer abbaut. Das muss unser Ziel sein.
Außerdem sollten wir bei dieser Gelegenheit einen auf dem Jobgipfel im Jahr 2005 gemachten Vorschlag aufgreifen. Da wurde vereinbart, das Verbot aufzuheben, einen ohne sachlichen Grund ehemals befristet Beschäftigten ein zweites Mal befristet einzustellen. Ich halte das für sinnvoll. Es handelt sich um diese berühmte Praktikantenregelung. Jemandem, der also einmal ein Praktikum in einem Betrieb gemacht hat, eine befristete Einstellung zu verwehren, halte ich für schlicht unsinnig. Wir werden das hoffentlich gemeinsam angehen. Ich denke, da besteht Konsens auf allen Seiten des Hauses.
Den Vorschlag der FDP, zwischen wiederholten Einstellungen nur eine dreimonatige Frist vorzusehen, halte ich für falsch. Hier sollten wir bei sechs Monaten bleiben, wie wir es auf dem Jobgipfel diskutiert haben. Ich halte es für sinnvoll, in diese Richtung zu gehen. Bei einer Frist von nur drei Monaten ist mir die Gefahr, dass Missbrauch betrieben wird, einfach zu groß.
Meine Damen und Herren, der Vorschlag aus dem Koalitionsvertrag, anstelle der sachgrundlosen Befristung eine neue Wartezeitoption einzuführen, hat sich als nicht sinnvoll umsetzbar erwiesen. Unter anderem hätten wir einen Sonderkündigungsschutz während einer 24-monatigen Warteoption aufgeben müssen, wenn man die sachgrundlosen Befristungen durch eine solche Option hätte ersetzen wollen. Rechtlich gesehen wäre das sehr schwierig geworden. Deswegen wird es so etwas nicht geben. Wir müssen aber trotzdem an die 52er-Regelung für ältere Arbeitnehmer herangehen. In diesem Zusammenhang sollten wir auch über den Wegfall des Verbots der Wiedereinstellung durch den gleichen Arbeitgeber diskutieren.
Wir werden darauf achten - das halte ich für sehr wichtig -, ob und wie betriebliche Bündnisse für Arbeit im Rahmen der Tarifautonomie genutzt werden. Auch das haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart. Die tarifvertragliche Öffnung ist für mich ein wichtiges Flexibilisierungsinstrument bei unseren überregulierten Märkten. Sie funktioniert aber immer noch nicht in allen Branchen. Ehrlicherweise muss ich hier Gerhard Schröder loben, der in seiner Agenda 2010 gerade diesen Punkt aufgegriffen und gesagt hat, dass wir dann, wenn keine vernünftigen Bündnisse für Arbeit entstehen, über das Gesetz regeln müssen, dass solche Öffnungen ermöglicht werden. Wir sollten daran herangehen und das Ganze völlig emotionslos betrachten. Ich glaube, das wird die große Koalition auch so tun.
Meine Damen und Herren, ich habe eigentlich überhaupt keine Lust, etwas zu dem zweiten Antrag, dem der Linken, zu sagen.
Man merkt, dass die Herrschaften noch nie in Betrieben gewesen sind,
schon gar nicht in kleinen Betrieben. Sie, Herr Dreibus, waren vielleicht als Gewerkschaftssekretär der IG Metall einmal bei irgendwelchen Betriebsratsseminaren.
Aber mit der wirklichen Arbeit haben Sie noch nie etwas zu tun gehabt, sonst könnten Sie so einen Unfug gar nicht erzählen.
Wenn Sie glauben, den Gewerkschaften ein Verbandsklagerecht bei sozial ungerechtfertigter Kündigung geben zu müssen, frage ich mich, wer eigentlich feststellt, dass die Kündigung sozial ungerechtfertigt ist: die Gewerkschaften in ihrer völligen Neutralität? Wie soll das bitte gehen? Wir schaffen damit ein zusätzliches Richterrecht, davon haben wir in Deutschland wahrlich genug.
Das Arbeitsrecht sollte ein Recht für Arbeit sein und nicht ein Recht gegen Neueinstellungen.
Wir schützen oftmals aber diejenigen, die einen Job haben. Aber noch effektiver schützen wir Arbeitslose davor, einen zu bekommen.
Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass weder unser geltendes Recht noch die vorliegenden Anträge diesem Ziel endgültig entsprechen und dass wir tiefer greifende Veränderungen für ein vereinfachtes und grundlegend modernisiertes Arbeitsrecht brauchen. In dem Sinne sollten wir vernünftig weiter zusammenarbeiten.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich erteile dem Kollegen Josip Juratovic von der SPD-Fraktion das Wort.
Josip Juratovic (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle Jahre wieder kommt der Kündigungsschutz auf die Tagesordnung. Die Mär, der Kündigungsschutz sei ein Beschäftigungshemmnis, hält sich hartnäckig, besonders in den Reihen der Liberalen. Die Argumente der Liberalen, warum der Kündigungsschutz aufgeweicht werden sollte, sind bereits mehrfach widerlegt worden. Ich werde das Gefühl nicht los, dass der immer wieder beinahe ideologisch thematisierte Kündigungsschutz nichts anderes als Augenwischerei und Rechtfertigung der FDP und einzelner Verbände für ihre Konzeptlosigkeit und mangelnde Kreativität ist.
Aus meiner Erfahrung sind die Betriebe beschäftigungspolitisch erfolgreich, die in Bildung, Qualifizierung, Innovation und Organisation investieren, und vor allem diejenigen, die ihr Kapital im Betrieb anlegen und nicht in Villen und Yachten.
Zu dem Antrag von PDS und Linken stelle ich fest: Sie versuchen mit Versprechen, die an der Realität völlig vorbeigehen, Punkte zu sammeln. Ihr vermeintlicher Schutz älterer Arbeitnehmer würde in der Realität das Gegenteil bewirken.
Dazu ein Beispiel aus der Praxis. Nehmen wir einen Kleinunternehmer mit einem Mitarbeiter, der nach zehn Jahren Betriebszugehörigkeit 55 Jahre alt ist, die Hälfte seine Arbeitszeit krankheitsbedingt fehlt und erst mit 65 Jahren in Rente gehen kann: Bei Umsetzung Ihres Antrages hätten wir nicht eine Beschäftigungssicherung, sondern zwei Arbeitslose mehr, nämlich den Arbeitnehmer und den Arbeitgeber, da der Kleinunternehmer die Belastung nicht mehr tragen könnte.
Es ist in der Tat so, dass das nur jemand fordern kann, der keine Ahnung von betrieblicher Realität hat oder der die Menschen mit der reinen Lehre beglücken will.
Bei der Fülle hochrangiger Gewerkschaftsfunktionäre in Ihren Reihen grenzt es übrigens an ein Wunder, dass sich dieser Unsinn bis zum Antrag entwickeln konnte.
Für uns ist der Kündigungsschutz mehr als nur ein ökonomischer Wert oder ein betrieblicher Kostenfaktor. Er gibt den Beschäftigten Sicherheit und Planungsmöglichkeit. Eine Kündigung ist ein tiefer Eingriff in das Leben eines Menschen, da der Arbeitsplatz die einzige Quelle für seinen Lebensunterhalt ist. Außerdem ist der Kündigungsschutz mehr als ein Schutz vor dem Arbeitsplatzverlust. Ohne Kündigungsschutz sind auch die kollektiven Rechte aus der Betriebsverfassung kaum einzufordern, ohne befürchten zu müssen, deshalb den Arbeitsplatz zu verlieren. Ein geringerer Kündigungsschutz schürt nur Ängste.
Zu beiden Anträgen kann ich aus meiner 22-jährigen Betriebserfahrung sagen: Die Menschen vor Ort sind sehr sensibel. Viele bangen um ihren Arbeitsplatz; viele sind bereits arbeitslos. Doch sie wissen, dass es in der verstärkt globalisierten Welt keine Patentrezepte gibt. Deshalb erwarten sie berechtigterweise von uns mehr Seriosität und ein ernstes Herangehen an ihre Probleme. Dies trägt zur Sicherheit bei. Diese Sicherheit motiviert zum Konsum. Kauffreudigkeit stärkt die Beschäftigung. Das ist das Ziel der großen Koalition.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Kollegen Clemens Bollen, SPD-Fraktion.
Clemens Bollen (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist für mich erstaunlich, wie locker ein existenzielles Recht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von der FDP-Fraktion zur Disposition gestellt wird.
Das, was über Jahrzehnte als Schutz im Rahmen eines Sozialkonsenses in dieser Gesellschaft erkämpft worden ist, wird nun umgedeutet als Barriere. Die Menschen, die arbeitslos sind und die nicht für den Abbau der Rechte der Beschäftigten missbraucht werden wollen, und auch die Menschen, die Arbeit haben, fragen sich: Wo leben eigentlich die, die da jetzt diskutieren?
Alle wissenschaftlichen Untersuchungen - davon war bereits die Rede; gestern legte das Institut für Öffentliche Wirtschaft und Personalwirtschaft der Universität Hamburg die neuesten Ergebnisse einer Untersuchung vor - machen deutlich: Es gibt keinen relevanten Zusammenhang zwischen Einstellungsverhalten der Betriebe und Kündigungsschutz.
Marcus Allen, ein amerikanischer Soziologe, sagte sehr schön: Manche leiden mehr unter ihren Vorstellungen als unter der Wirklichkeit.
Die Hamburger Forscher haben erneut mit dem Vorurteil aufgeräumt, dass der Kündigungsschutz Einstellungen verhindert. Im Gegenteil: Schon jetzt zeigt der Arbeitsmarkt in Deutschland eine hohe Fluktuation. 4 Millionen Menschen wechseln jährlich den Arbeitsplatz. Man muss sich einmal vorstellen, was diese Mobilität aufgrund des Arbeitsplatzwechsels für schulpflichtige Kinder bedeutet! Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beweisen hohe Flexibilität und hohe Mobilität. Arbeitnehmerrechte wie Kündigungsschutz und Mitbestimmung unterstützen die Betriebsräte, wenn es um die Vereinbarung von Sozialplänen geht. Dagegen sind Abbau von Kündigungsschutz und Ausweitung von befristeten Verträgen auch aus betriebswirtschaftlicher Sicht - das sollte besonders die FDP interessieren - problematisch.
Vor wenigen Tagen ist eine neue Kölner Langzeitstudie unter dem Titel ?Die hohen Kosten der Angst“ veröffentlicht worden. Die Zahlen sind für alle, die Verantwortung tragen, in der Tat alarmierend und machen deutlich, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unsicheren Arbeitssituationen eine dramatisch verringerte Produktivität haben. Ihre prekäre Situation erfüllt die Menschen mit Zukunftsangst, wodurch sie gelähmt werden. Angst beeinträchtigt die Motivation, das Engagement und die Kreativität. Dabei sind genau diese Faktoren für die Betriebe wichtig. Aus diesem Grunde ist ein Drehen am Kündigungsschutz so gefährlich, wenn es um das Mitziehen der Arbeitnehmer in den Betrieben geht. Die Kölner Studie - diese Zahlen muss man sich einmal vor Augen halten - beziffert den Produktivitätsverlust für die Wirtschaft zwischen 50 und 100 Milliarden Euro. Das muss alle alarmieren.
Wir dagegen wollen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich bei ihrer Arbeit engagieren, die sich mit ihren Betrieben identifizieren und die mit Einsatz und Kreativität die Produktion und Verwaltung nach vorne bringen. Was geht in einem Arbeitnehmer vor, der vielleicht morgen seinen Stuhl vor der Tür stehen hat? Wie soll er sich engagieren? Was geht in einem Arbeitnehmer vor, der nicht weiß, ob sein Vertrag verlängert wird? Um dies alles zu verhindern, müssen wir uns für feste Arbeitsverhältnisse einsetzen und benötigen wir Arbeitnehmerrechte und soziale Sicherheit.
Wir brauchen dies aber nicht nur aus betriebswirtschaftlichen Gründen, sondern auch für unsere Gesellschaft. Es wird die alternde Gesellschaft beklagt und dass es immer weniger Familien mit Kindern gibt. Wir brauchen eine familienfreundlichere Arbeitswelt. Die Vorschläge der FDP führen zum genauen Gegenteil. Sie behauptet, dass ältere und jüngere Arbeitnehmer von einem gelockerten Kündigungsschutz oder von befristeten Arbeitsverträgen profitieren würden.
Ich frage Sie ganz ehrlich: Wie sollen jüngere Menschen eine Familie gründen und ihre Zukunft planen, wenn sie keine gesicherte wirtschaftliche Grundlage haben, auf die sie sich verlassen können? Wer vom Praktikum zum Kurzzeitjob und zum Zeitvertrag wandert, kann keine Zukunft planen. Zukunftsangst und wirtschaftliche Unsicherheit sind keine Grundlage für eine familiengerechte Zukunft.
Deshalb bleibt festzuhalten: Der Antrag der FDP ist beschäftigungspolitisch wirkungslos, betriebswirtschaftlich kontraproduktiv und sozialpolitisch nicht zu verantworten. Stattdessen müssen und werden wir in der großen Koalition eine Balance zwischen der notwendigen Flexibilität der Unternehmen und der ebenso notwendigen sozialen und wirtschaftlichen Sicherheit für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer halten.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Kollege Bollen, dies war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Herzliche Gratulation und alles Gute für die weitere Arbeit!
Ich erteile nun das Wort Kollegen Andreas Steppuhn, SPD-Fraktion.
Andreas Steppuhn (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die hier zur Beratung anstehenden Anträge der Fraktion der FDP und der Fraktion Die Linke zum Thema Kündigungsschutz könnten wohl kaum unterschiedlicher ausfallen. Sie, meine Damen und Herren von der FDP, wollen den Kündigungsschutz gänzlich abschaffen.
Bravo, sage ich da nur; denn damit schärfen Sie erneut deutlich Ihr Profil als arbeitnehmerfeindlichste Partei Deutschlands. Herr Kolb, ich schlage Ihnen deshalb vor, Ihre Partei am besten gleich umzubenennen - ich habe mir schon einen Namen ausgedacht -, und zwar in AFPD, in arbeitnehmerfeindlichste Partei Deutschlands, um damit in Ihrem Namen gleich für alle erkennbar Ihre Arbeitnehmerfeindlichkeit zum Ausdruck kommen zu lassen.
Ich kann Ihnen eines mit auf den Weg geben: Das Heuern und Feuern von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ist mit uns Sozialdemokraten nicht zu machen.
Im Übrigen empfehle ich an dieser Stelle, einen Blick nach Italien zu werfen, wo man den Kündigungsschutz fast vollständig abgeschafft hat und nunmehr feststellt - wir Sozialdemokraten haben das schon immer gewusst -, dass eine Lockerung des Kündigungsschutzes gänzlich ohne beschäftigungspolitische Wirkung bleibt.
Nun zu Ihnen, meine Damen und Herren vom ganz linken Spektrum. Auch Ihr Antrag lässt jeglichen Realitätssinn vermissen, obwohl auch ich finde, dass es beim Kündigungsschutz durchaus Verbesserungen geben könnte. Den Menschen jedoch vorzugaukeln, im Himmel sei Jahrmarkt, und mal eben pauschal all das zu fordern, was einem so einfällt, zeugt nicht unbedingt von Glaubwürdigkeit, sondern hat schon etwas von Populismus.
Sie stellen Forderungen auf, die noch nicht einmal von den Gewerkschaften zu hören sind. Da fordern Sie zum Beispiel - das ist ja an sich lobenswert - den absoluten Kündigungsschutz für ältere Arbeitnehmer ab 55 Jahre und nach zehn Jahren Betriebszugehörigkeit. Soll ich Ihnen sagen, wie das werden würde, wenn wir das so beschließen würden? Alle Unternehmen würden versuchen, ihren älteren Beschäftigten vor dem 55. Lebensjahr und vor dem Erreichen einer Betriebszugehörigkeit von zehn Jahren zu kündigen, da dies nach Überschreitung dieser beiden Zeitpunkte faktisch nicht mehr möglich wäre. Die Folge wäre eine noch höhere Arbeitslosigkeit älterer Arbeitnehmer.
Wir Sozialdemokraten wollen, dass ältere Arbeitnehmer wieder mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, und wollen sie nicht in die Arbeitslosigkeit treiben.
Dann fordern Sie, den Schwellenwert, also die Beschäftigtenzahl eines Unternehmens, ab der der Kündigungsschutz einsetzt, gänzlich abzuschaffen, sodass dieser faktisch beim ersten Beschäftigten einsetzt.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Kollege Steppuhn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreibus?
Andreas Steppuhn (SPD):
Ja, gleich. Ich möchte diesen Gedanken noch zu Ende bringen. - Meine Damen und Herren von der Linkspartei, ich habe einmal nachgeschaut: So etwas hat noch nicht einmal die alte DKP im alten wilden Westen gefordert.
Bitte sehr, Herr Dreibus.
Werner Dreibus (DIE LINKE):
Kollege Steppuhn, ist Ihnen bekannt, dass die Regelung, die wir für ältere Beschäftigte ab dem 55. Lebensjahr und nach zehn Jahren Betriebszugehörigkeit im Sinne eines Schutzes vor ordentlicher Kündigung - das ist kein vollkommener Kündigungsschutz; ich hoffe, dass Sie das wissen - vorsehen, bereits seit 40 bis 50 Jahren für Millionen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland gilt, nämlich per Tarifvertrag, und dass es in den Bereichen, in denen dies gilt, beispielsweise in der Metall- und Elektroindustrie, sehr viele Menschen gibt, die älter als 55 Jahre sind und einen Arbeitsplatz haben?
Andreas Steppuhn (SPD):
Das ist mir bekannt. Ich habe ja sehr deutlich gesagt, dass auch wir Sozialdemokraten uns Verbesserungen vorstellen können. Aber ich halte es für falsch, solche Regelungen im Kündigungsschutzgesetz flächendeckend in Deutschland einzuführen.
Das, was von FDP und der Linken in ihren Anträgen formuliert worden ist, ist mehr als jenseits von Gut und Böse. Deshalb bin ich froh, dass wir Sozialdemokraten für einen wirksamen Kündigungsschutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern eintreten und dies auch gegenüber unserem Koalitionspartner beharrlich vertreten.
Wir Sozialdemokraten haben das Ziel, den Kündigungsschutz weiterzuentwickeln, Beschäftigung zu fördern, die Schutzfunktion für bestehende Arbeitsverhältnisse nachhaltig zu sichern und die unbefristete Beschäftigung gegenüber den befristeten Arbeitsverhältnissen zu stärken.
Die großen Wirtschaftsverbände haben sich gegen das in der Koalitionsvereinbarung verankerte Vorhaben der sachgrundlosen Befristung ausgesprochen. Die Gewerkschaften lehnen diese Pläne wegen der Wartezeitverlängerung gänzlich ab. Wir stehen zum Kündigungsschutz, wie er zurzeit existiert, und sind überhaupt nicht böse darüber, dass der in der Koalitionsvereinbarung niedergeschriebene Änderungswille nunmehr nicht umgesetzt wird.
Wir Sozialdemokraten sehen keine Veranlassung, den Kündigungsschutz und das darin enthaltene Befristungsrecht gegen den Willen der Sozialpartner in Deutschland zu ändern. Eine erneute Debatte über Änderungen im Kündigungsschutzgesetz und im Befristungsrecht würde die Wirtschaft, aber auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verunsichern und den beginnenden Aufschwung am Arbeitsmarkt negativ beeinflussen. Wir haben in Deutschland einen Kündigungsschutz, der sich in der Vergangenheit bewährt hat, und dieses soll auch zukünftig so bleiben.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/1443 und 16/2080 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 54. Sitzung - wird morgen,
Freitag, den 29. September 2006,
an dieser Stelle veröffentlicht.]