Pressemitteilung
Datum: 03.09.2001
Pressemeldung des Deutschen Bundestages -
03.09.2001
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse vor der Ostsee-Parlamentarierkonferenz in Greifswald
Es gilt das gesprochene
Wort
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hält sich heute bei der 10. Ostsee-Parlamentarierkonferenz in Greifswald auf, die sich mit Fragen der Zivilgesellschaft beschäftigt. An der Konferenz nehmen Parlamentarier der Ostsee-Anliegerstaaten sowie Bundestagsabgeordnete und Mitglieder der Landesparlamente Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern Hamburg und Bremen teil. Bundestagspräsident Thierse befasst sich in seiner Rede mit dem Thema "Die Werte einer Zivilgesellschaft: Wesen und Wandel" und führt dabei aus:
"Ich freue mich sehr darüber, dass wir so kurz nach meinem Besuch beim Europarat wieder gemeinsam für eine gute Sache streiten dürfen. Dass die Zivilgesellschaft, um die es heute geht, eine gute Sache ist, daran scheint niemand zu zweifeln. Allerdings habe ich den Eindruck, dass sich - zumindest bisher noch - jeder etwas anderes darunter vorstellt.
Allein bei uns in Deutschland gibt es die unterschiedlichsten Ansichten darüber, was eine Zivilgesellschaft - oder auch eine Bürgergesellschaft - eigentlich ausmacht oder ausmachen sollte. Und um wie viel größer sind die Diskrepanzen zwischen vielen verschiedenen Ländern: zwischen den Ländern rund um die Ostsee, zwischen den Ländern in ganz Europa! Ich erhebe daher keineswegs den Anspruch, vollständige oder gar konsensfähige Aussagen über den sperrigen, schwierigen, schillernden Begriff "Zivilgesellschaft" zu treffen.
Meine ersten persönlichen Erfahrungen mit "Zivilgesellschaft" sind Erfahrungen des zivilen Ungehorsams. In der damaligen DDR zeigte sich "Zivilgesellschaft", ohne dass dieser Begriff existiert hätte, hätte existieren dürfen, im Zusammenhalt vieler Bürgerinnen und Bürger gegenüber der diktatorischen Staatsmacht. Wie auch in Polen oder in Tschechien wuchs dieser Zusammenhalt nach und nach zu einer Protestbewegung, die als "Bürgerbewegung" schließlich Geschichte geschrieben hat. Wer erinnert sich nicht an die glücklichen Momente des Jahres 1989, als die Bürgerbewegung ihr Ziel erreicht hatte: Freiheit und Demokratie waren erstritten, ohne dass Blut geflossen wäre.
Doch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Sieg der Demokratie in Osteuropa zeigte sich, wie schwierig es ist, die ungeheure Kraft der Bürgerbewegung auch in eine demokratische Bürgergesellschaft hinüber zu retten. Engagement, Streitbarkeit, Widerborstigkeit, Zivilcourage - solche Tugenden schienen sich im mühsamen demokratischen Alltag schnell zu verzehren. Nicht lange nach der ersehnten "Wende" hatte das Ansehen der Demokratie bereits spürbar Schaden genommen. In vielen osteuropäischen Ländern erstarkten die kommunistischen Kräfte, in Ostdeutschland bekam der Rechtsextremismus erschreckenden Zulauf.
Die historischen Voraussetzungen für diese Entwicklung sind in den einzelnen Ländern so unterschiedlich, dass sich pauschale Analysen eigentlich verbieten. Ich will dennoch über die vielen Unterschiede hinweg gehen und eine - wie mir scheint - gemeinsame Ursache dafür benennen: Das Aufbrechen so vieler zementierter Grenzen hat die Globalisierung enorm beschleunigt. Hier im Ostseeraum braucht man nicht zu erklären, was das für die Länder des ehemaligen Ostblocks bedeutet hat: Sie alle waren noch vollauf damit beschäftigt, den Übergang in ein anderes Wirtschaftssystem zu meistern, da sahen sie sich einem schnell wachsenden Druck des internationalen Wettbewerbs ausgesetzt. Bis heute haben sie den Anschluss an die alten, etablierten Marktwirtschaften noch nicht gefunden - mit allen sozialen Problemen, die das mit sich bringt.
Für viele Menschen in den Osteuropäischen Staaten verband sich der Gewinn der politischen Freiheit mit dem Verlust sozialer Sicherheit. Der tiefe, ungefederte Fall in Armut oder Arbeitslosigkeit hat es vielen schwer gemacht, sich mit der neuen, noch im Aufbau begriffenen Staatsform zu identifizieren. Sicher: Die Enttäuschungen fielen um so größer aus, je überzogener die Erwartungen an Demokratie und Marktwirtschaft waren. Doch auch in den "etablierten" westeuropäischen Demokratien sind die Ansprüche der Bürgerinnen und Bürger an den Staat immer weiter gestiegen, während der Staat längst die Grenzen seiner finanziellen Leistungsfähigkeit erreicht hat. Ein strukturelles Problem kommt hinzu: Die Langsamkeit, die im Wesen demokratischer Verfahren liegt und die mit dem Tempo wirtschaftlicher Entscheidungen immer weniger mithalten kann. Hier wie dort ist demokratische Politik in den Verdacht geraten, dass sie das Notwendige nicht mehr zu leisten vermag. Seit Jahren ist immer wieder von Enttäuschungen die Rede, von "Politikverdrossenheit", gar von einer "Krise der Demokratie".
Für mich wäre es eine unerträgliche Ironie der Geschichte, wenn ausgerechnet jetzt, nach dem großartigen Sieg der Demokratie in Europa, immer mehr Menschen ihr Vertrauen in die Demokratie und ihre Bereitschaft zu politischer Mitgestaltung verlören. Der Versuch, das Verhältnis zwischen staatlichem Engagement und bürgerschaftlichem Engagement neu auszutarieren, muss sich deshalb an dem Ziel messen lassen, die Demokratie neu zu verankern und zu stärken.
Das Wort "Zivilgesellschaft" löst unterschiedliche Assoziationen aus, die diesem Ziel nicht immer dienlich erscheinen. So fordern die einen Zivilgesellschaft als Gegenspielerin einer vermeintlich aufgeblähten Bürokratie, die sich längst zu weit von den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger entfernt habe. Andere verstehen Zivilgesellschaft offenbar als einen bequemen Weg, sich der staatlichen Verantwortung für soziale Belange zu entledigen. Beide Extreme beruhen auf dem fatalen Missverständnis, das Verhältnis von staatlichem Engagement und von bürgerlichem Engagement sei ein "Nullsummenspiel" (Hans Jonas): Je mehr Zivilgesellschaft, desto weniger Staat - und umgekehrt. Abgesehen davon, dass diese Gleichung in der Realität nicht aufgeht: Jedes Aufrechnen staatlichen und privaten Engagements weckt den irrigen Eindruck, als seien Bürger und Staat Konkurrenten, die ihre Kräfte aneinander messen und untereinander aufteilen. Das aber entspricht zumindest nicht meinem Verständnis von Demokratie.
In einer Demokratie sind Staat und Bürger wechselseitig aufeinander angewiesen. Aus bitterer Erfahrung wissen wir, dass es gerade die undemokratischen Länder sind, in denen sich Zivilgesellschaft nur atomisiert, nur partikular organisieren kann oder organisieren darf. Demokratische Staaten aber haben ein vitales Interesse daran, bürgerschaftliches Engagement zu ermöglichen und zu ermuntern. Auf der anderen Seite darf der "aktivierende Staat", wie er zur Zeit häufig gefordert wird, aber auch kein Staat sein, der sich weitgehend oder vollkommen aus seiner sozialen Verantwortung zurückzieht. Die soziale Abfederung der freien Marktwirtschaft hat wesentlich zum Erfolg der europäischen Demokratien beigetragen, zur Zustimmung und zum Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger.
Der Sozialstaat, so reformbedürftig er sein mag, ist eine der großen europäischen Kulturleistungen. Unsere Demokratie ist nicht nur eine freiheitliche, sondern auch eine solidarische. Ich kann mir keine Stärkung der Zivilgesellschaft ohne soziale Verantwortung des Staates vorstellen, sorgt doch gerade das soziale Netz dafür, dass alle vergleichbare Chancen auf Teilhabe haben. Zu den Gesetzen des freien Marktes gehört es jedenfalls nicht, dass auch die Schwachen eine Chance bekommen. Damit nicht an die Stelle der hart erkämpften Balance zwischen Markt, Staat und Gesellschaft eine eindimensionale Marktgesellschaft tritt, halte ich es für eine der wichtigsten Aufgaben der Politik, die soziale Dimension der Demokratie zu verteidigen.
Doch eines ist klar: So wenig Demokratie funktionieren kann, wenn die Bürger sich selbst überlassen sind, so wenig kann sie funktionieren, wenn ihnen der Staat eine "Rundumversorgung" bietet, die jede Eigeninitiative erstickt. In der Tat ist eine Konsumhaltung gegenüber staatlichen Leistungen in unseren Wohlstandsgesellschaften inzwischen weit verbreitet. Die Bereitschaft des Einzelnen, sich für das Gemeinwohl zu engagieren, scheint im gleichen Maße zurückgegangen zu sein. Der Umbruch der wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Strukturen hat einen Prozess der gesellschaftlichen Differenzierung in Gang gesetzt, einen Prozess der Individualisierung und der Erosion des sozialen Zusammenhalts. Wenn man den einschlägigen Studien glauben darf, beziehen sich die Werte junger Menschen schon heute überwiegend auf die Entfaltung individueller Eigenschaften und die Entwicklung individueller Lebensziele. Dagegen treten Werte, die sich auf das Miteinander mit anderen beziehen, deutlich in den Hintergrund.
Arbeit ist in unserer Gesellschaft eine unverzichtbare Bedingung - nicht nur für materielle Sicherheit, sondern auch für ein geglücktes Leben. Ja, in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit ist der Arbeitsplatz an sich zu einem Wert geworden. Doch der Mensch ist mehr als ein homo oeconomicus. Wenn der ökonomische Erfolg zur wichtigsten Richtschnur in einer Gesellschaft wird, kann das nicht ohne Auswirkungen auf den gemeinsamen Wertekanon einer Gesellschaft bleiben. In einem Klima von Konkurrenz und Wettbewerb sinkt der Wert von Solidarität. Schon heute glauben immer weniger Menschen, dass es durch gemeinsame Anstrengungen am Ende allen besser gehen könne. Doch der Londoner Soziologie-Professor Richard Sennett hat zu Recht gewarnt: "Eine Gesellschaft, die den Menschen keinen Grund gibt, sich umeinander zu kümmern, kann ihre Legitimation nicht lange aufrecht erhalten."
Die normativen Bindungen werden schwächer, aber sie werden gebraucht um des gesellschaftlichen Zusammenhalts und Friedens willen. Eine Gesellschaft ist mehr als das Nebeneinander von Individuen. Wo die Bereitschaft zur Selbstbindung des Individuums fehlt, ist es kein großer Schritt von einem positiven Freiheitsbegriff, der die Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen betont, bis hin zu einer Beliebigkeit, ja Rücksichtslosigkeit, die die soziale Einbindung des Einzelnen an den Rand drängt.
Im Mittelpunkt der Debatte um die Zivilgesellschaft steht deshalb die Frage: "Was hält die Gesellschaft zusammen?" Dabei geht es weder darum, eine Gesellschaft über die Werte einer irgendwie gearteten "Leitkultur" abzuschotten, noch geht es darum, überkommene traditionelle Werte künstlich aufrecht zu halten und einer zunehmend differenzierten Gesellschaft als Korsett überzustülpen. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als die grundlegenden Spielregeln des menschlichen Zusammenlebens, die Regeln einer im schlichten Wortsinn "zivilisierten" Gesellschaft.
Ich halte es für unerträglich, dass in unserer Gesellschaft häufig nicht einmal mehr ein so elementares Gebot wie das Gewalttabu respektiert wird. Das sage ich mit Blick auf das zunehmende Maß an Aggression und Gewalt überhaupt, vor allem bei jungen Menschen.
Ein überaus gefährliches Phänomen ist die Ausbreitung rechtsextremer Gewalt - nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern. Was treibt junge Menschen dazu, Fremde und Obdachlose zu hetzen, zu prügeln, zu ermorden? Was bewegt sie zu einem Verhalten, das auf so erschreckende Weise "unzivilisiert" ist? Selbst in der Tierwelt funktioniert ein Mechanismus der Hemmung, aber bei einem Teil der jungen Leute funktioniert er offenbar nicht mehr. Wenn sich so grundlegende Werte wie Toleranz und Respekt vor dem Anderen offenbar nicht mehr von selbst in die nächsten Generationen vermitteln, dann ist das ein bitterer Anlass zu fragen, was wir falsch gemacht haben.
Hat die Demokratie als Erziehungsinstanz, als Richtschnur für das Handeln im Alltag, nicht die notwendige Kraft entfaltet? An verbindlichen und verbindenden Werten mangelt es unseren Gesellschaften ja keineswegs: Unsere Demokratie ist auch ein ethischer Konsens. Sie fußt auf den Grundwerten und Grundrechten, die nach den menschenverachtenden Verbrechen der Nationalsozialisten neu verankert wurden und die heute in allen westlich geprägten, europäischen Staaten die Gesellschaften tragen. Heute müssen wir den jungen Menschen wieder erklären, wie die demokratischen Institutionen Menschenwürde und Freiheit sichern und warum ohne Toleranz und gewaltfreie Konfliktlösung, ohne Solidarität und Verantwortungsbereitschaft demokratisches Zusammenleben nicht gelingen kann.
Doch wie sollen junge Menschen das lernen, wenn in der Gesellschaft moralische Gleichgültigkeit um sich greift? Wir haben uns daran gewöhnt, über die Medien alltäglich skandalöse Vorgänge zu konsumieren, ohne dass wir uns davon betroffen fühlten. Wo sollen junge Menschen Beispiele und Vorbilder finden, wenn allzu viele "Erwachsene" sich nicht mehr verantwortlich fühlen für das, was in der Gesellschaft passiert?
Auch mit Blick auf die kommenden Generationen, die die Demokratie einmal tragen und gestalten müssen, ist es wichtig, bürgerschaftliches Engagement zu fördern und die Zivilgesellschaft zu stärken. Ich bin froh und dankbar, dass es allein in Deutschland immerhin 22 Millionen Menschen gibt, die sich ehrenamtlich engagieren. Und Untersuchungen haben ergeben, dass auch heute viele junge Menschen bereit sind, sich gemeinwohlorientiert zu engagieren. Nur wollen die meisten von ihnen das nicht mehr in den althergebrachten Organisationen tun. Denn Kirchen, Gewerkschaften, Vereine und Verbände fordern eine lange, oft lebenslange Bindung, die junge Menschen nicht mehr einzugehen bereit sind. Und sie fordern ein kontinuierliches Engagement, das viele nicht mehr eingehen können, wenn Arbeitgeber zunehmend Mobilität und Flexibilität fordern. Deshalb nützt es wenig, den Wertewandel oder gar einen Werteverfall zu beklagen. Notwendig ist es, auf die veränderten Lebensbedingungen und Lebenseinstellungen junger Menschen einzugehen und ihnen auch neue Formen des Engagements zu eröffnen.
Der Deutsche Bundestag hat eine Enquete-Kommission zur "Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements" eingerichtet. Ihr Ziel ist es, die "zivile Infrastruktur" in Deutschland zu analysieren und auf solche Entwicklungsmöglichkeiten hin zu untersuchen. Doch nicht nur der Staat ist gefordert, sich stärker für zivilgesellschaftliches Engagement zu öffnen. Auch die Unternehmen können viel dazu beitragen, etwa indem sie Mitarbeiter für gemeinnützige Aufgaben freistellen. In dieser Hinsicht könnten wir viel von anderen Ländern lernen, von den Vereinigten Staaten, von Großbritannien oder den Niederlanden.
Die Stärkung der Zivilgesellschaft ist eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist die Stärkung der Partizipation. Wenn die Bürger mehr Verantwortung in der Gesellschaft übernehmen, müssen sie auch intensiver als bisher mitbestimmen können. Die zivile Bürgergesellschaft verlangt deshalb vom demokratischen Staat mehr Transparenz und mehr Teilhabe. Am Ende steht die Vision eines "neuen Gesellschaftsvertrages", eines neuen Verhältnisses von Staat und Bürgergesellschaft. In dieser Vision, so beschreibt sie die Enquete-Kommission, werden die demokratischen und sozialen Strukturen, die der Staat bereitstellt, durch aktiv handelnde, an den gemeinschaftlichen Aufgaben teilnehmende Bürgerinnen und Bürger mit Leben erfüllt, verändert und auf zukünftige gesellschaftliche Bedürfnisse zugeschnitten.
Die Idee eines "Gesellschaftsvertrags" ist kein neuer Gedanke, im Gegenteil. Sie geht zurück auf die Utopie einer Zivilgesellschaft, wie sie die großen Philosophen der Aufklärung - Locke, Montesqieu und Kant - entworfen haben. Schon dieser Entwurf des Zusammenlebens freier Bürger umfasste gemeinsame Werte wie Freiheit, Gleichheit und Solidarität, wie Toleranz und die Anerkennung von Vielfalt.
Die Vision der Zivilgesellschaft ist also ein zutiefst europäischer Gedanke - wie auch das Fundament der Werte, die sie tragen, ein gemeinsames, europäisches ist. Es gründet auf der griechischen Philosophie und Wissenschaft, auf dem römischen Recht, dem jüdisch-christlichen Denken und der Aufklärung - einer großen Tradition der Offenheit und Aufnahmebereitschaft. Damit Europa eine im besten Sinn "zivilisierte" Gesellschaft bleibt, haben wir die gemeinsame Aufgabe, dieses Wertefundament zu schützen und zu stärken: Freiheit und Menschenwürde, Gewaltverzicht und Toleranz, Gerechtigkeit und Solidarität, heute aber auch der Schutz der Umwelt und der Erhalt natürlicher Ressourcen - gerade hier im Ostseeraum ein Thema von drängender Aktualität.
Mit der Grundrechtecharta, die am 7. Dezember 2000 in Nizza feierlich verkündet wurde, haben wir ein grundlegendes Dokument der europäischen Wertegemeinschaft. Sie ist ein wichtiger Schritt, die Europäische Union als Werte- und Solidargemeinschaft zu festigen. Weitere Schritte müssen folgen: eine europäische Sozialcharta und schließlich auch eine europäische Verfassung. Eine Verfassung wäre auch der richtige Ort, die Beteiligungsrechte der Bürgerinnen und Bürger zu verankern und damit die Bedeutung bürgerschaftlichen Engagements für Demokratie und Solidarität in Europa zu unterstreichen.
Lebendige Zivilgesellschaften, die sich für die grundlegenden Ziele und Werte der europäischen Demokratie einsetzen, können auch dazu beitragen, eine europäische Öffentlichkeit zu schaffen. Schon heute sind es gerade die Akteure der Zivilgesellschaft - allen voran die Nicht-Regierungs-Organisationen -, die sich über den nationalstaatlichen Rahmen hinweg engagieren. Es gibt aber auch viele andere Beispiele für eine erfolgreiche Vernetzung bürgerschaftlichen Engagements. Erwähnt sei hier nur der "Europäische Freiwilligendienst für Jugendliche".
Lassen Sie mich zum Schluss dennoch vor überzogenen Erwartungen warnen. So wichtig die Zivilgesellschaft für die Demokratie überall in Europa ist: Sie wird nicht alle Probleme lösen können. Insbesondere wird eine Stärkung der Zivilgesellschaft nicht dazu beitragen, die demokratischen Verfahren zu beschleunigen, im Gegenteil. Je lebendiger die Prozesse der demokratischen Partizipation sind, je mehr gesellschaftliche Kräfte daran teilhaben, desto mühsamer wird der demokratische Prozess, über Austausch und Ausgleich zum Konsens zu finden. Und es wird auch in Zukunft dabei bleiben: Es liegt im Wesen des Kompromisses, dass alle Beteiligten aufeinander zugehen und Abstriche von eigenen Positionen in Kauf nehmen. Auch in Zukunft wird Demokratie also ein erhebliches Maß an Frustrationstoleranz, Leidensfähigkeit und Enttäuschungsbereitschaft erfordern.
Doch eine Stärkung der Zivilgesellschaft kann viel dazu beitragen, den Sinn und Wert dieser mühseligen Verfahren bewusst zu machen und die Akzeptanz der Demokratie zu vergrößern - gerade auch in den jungen Demokratien Osteuropas. Ich wünsche mir jedenfalls sehr, dass es gelingt, an die Kräfte der einstigen "Bürgerbewegung" anzuknüpfen und neue Begeisterung und neues Engagement für die Demokratie zu wecken.
Gerade in den jungen Demokratien, die erst vor rund zehn Jahren die Chance bekommen haben, souveräne Nationalstaaten zu bilden, mag es nicht leicht fallen, sogleich wieder Kompetenzen an supranationale Gebilde wie die Europäische Union abzugeben. Nebenbei gesagt: auch die "alten Nationalstaaten" haben bekanntlich noch ihre Probleme damit. Um so wichtiger ist es, dass die Parlamente, die ja das Herzstück der Demokratie sind, nicht übergangen werden. Ihr Einfluss in der Europäischen Union muss gestärkt werden, und sie müssen auch bei anderen Formen grenzüberschreitender Zusammenarbeit einbezogen werden - wie das hier im Ostseeraum über die Parlamentarierkonferenz geschieht.
Im übrigen sind die Parlamente wichtige Foren, um den öffentlichen politischen Diskurs auch über Grenzen hinweg zu intensivieren. Die europäische Demokratie, die europäische Zivilgesellschaft ist nicht denkbar ohne europäische Öffentlichkeit. Deshalb wünsche ich mir sehr, dass bald über Fragen des Gemeinwohls in Europa genauso leidenschaftlich diskutiert wird, wie das bisher nur in den nationalstaatlichen Öffentlichkeiten der Fall ist.
Es ist ein vielversprechender Schritt in diese Richtung, dass heute Parlamentarier aus allen Ostsee-Anrainerstaaten über die Werte und Ziele der grenzüberschreitenden "Civil Society" diskutieren. Wenn so etwas regelmäßig und an vielen anderen Orten geschieht, dann bin ich zuversichtlich, dass uns Europäern bald deutlicher wird, was mit einer Stärkung der "Zivilgesellschaft" gemeint sein kann und was sie über Grenzen hinweg so wichtig erscheinen lässt: die Stärkung des europäischen Wertefundaments und die Stärkung der Demokratie in Europa.
Das ist die gute Sache, für die auch ich in Zukunft gerne streiten will".
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hält sich heute bei der 10. Ostsee-Parlamentarierkonferenz in Greifswald auf, die sich mit Fragen der Zivilgesellschaft beschäftigt. An der Konferenz nehmen Parlamentarier der Ostsee-Anliegerstaaten sowie Bundestagsabgeordnete und Mitglieder der Landesparlamente Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern Hamburg und Bremen teil. Bundestagspräsident Thierse befasst sich in seiner Rede mit dem Thema "Die Werte einer Zivilgesellschaft: Wesen und Wandel" und führt dabei aus:
"Ich freue mich sehr darüber, dass wir so kurz nach meinem Besuch beim Europarat wieder gemeinsam für eine gute Sache streiten dürfen. Dass die Zivilgesellschaft, um die es heute geht, eine gute Sache ist, daran scheint niemand zu zweifeln. Allerdings habe ich den Eindruck, dass sich - zumindest bisher noch - jeder etwas anderes darunter vorstellt.
Allein bei uns in Deutschland gibt es die unterschiedlichsten Ansichten darüber, was eine Zivilgesellschaft - oder auch eine Bürgergesellschaft - eigentlich ausmacht oder ausmachen sollte. Und um wie viel größer sind die Diskrepanzen zwischen vielen verschiedenen Ländern: zwischen den Ländern rund um die Ostsee, zwischen den Ländern in ganz Europa! Ich erhebe daher keineswegs den Anspruch, vollständige oder gar konsensfähige Aussagen über den sperrigen, schwierigen, schillernden Begriff "Zivilgesellschaft" zu treffen.
Meine ersten persönlichen Erfahrungen mit "Zivilgesellschaft" sind Erfahrungen des zivilen Ungehorsams. In der damaligen DDR zeigte sich "Zivilgesellschaft", ohne dass dieser Begriff existiert hätte, hätte existieren dürfen, im Zusammenhalt vieler Bürgerinnen und Bürger gegenüber der diktatorischen Staatsmacht. Wie auch in Polen oder in Tschechien wuchs dieser Zusammenhalt nach und nach zu einer Protestbewegung, die als "Bürgerbewegung" schließlich Geschichte geschrieben hat. Wer erinnert sich nicht an die glücklichen Momente des Jahres 1989, als die Bürgerbewegung ihr Ziel erreicht hatte: Freiheit und Demokratie waren erstritten, ohne dass Blut geflossen wäre.
Doch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Sieg der Demokratie in Osteuropa zeigte sich, wie schwierig es ist, die ungeheure Kraft der Bürgerbewegung auch in eine demokratische Bürgergesellschaft hinüber zu retten. Engagement, Streitbarkeit, Widerborstigkeit, Zivilcourage - solche Tugenden schienen sich im mühsamen demokratischen Alltag schnell zu verzehren. Nicht lange nach der ersehnten "Wende" hatte das Ansehen der Demokratie bereits spürbar Schaden genommen. In vielen osteuropäischen Ländern erstarkten die kommunistischen Kräfte, in Ostdeutschland bekam der Rechtsextremismus erschreckenden Zulauf.
Die historischen Voraussetzungen für diese Entwicklung sind in den einzelnen Ländern so unterschiedlich, dass sich pauschale Analysen eigentlich verbieten. Ich will dennoch über die vielen Unterschiede hinweg gehen und eine - wie mir scheint - gemeinsame Ursache dafür benennen: Das Aufbrechen so vieler zementierter Grenzen hat die Globalisierung enorm beschleunigt. Hier im Ostseeraum braucht man nicht zu erklären, was das für die Länder des ehemaligen Ostblocks bedeutet hat: Sie alle waren noch vollauf damit beschäftigt, den Übergang in ein anderes Wirtschaftssystem zu meistern, da sahen sie sich einem schnell wachsenden Druck des internationalen Wettbewerbs ausgesetzt. Bis heute haben sie den Anschluss an die alten, etablierten Marktwirtschaften noch nicht gefunden - mit allen sozialen Problemen, die das mit sich bringt.
Für viele Menschen in den Osteuropäischen Staaten verband sich der Gewinn der politischen Freiheit mit dem Verlust sozialer Sicherheit. Der tiefe, ungefederte Fall in Armut oder Arbeitslosigkeit hat es vielen schwer gemacht, sich mit der neuen, noch im Aufbau begriffenen Staatsform zu identifizieren. Sicher: Die Enttäuschungen fielen um so größer aus, je überzogener die Erwartungen an Demokratie und Marktwirtschaft waren. Doch auch in den "etablierten" westeuropäischen Demokratien sind die Ansprüche der Bürgerinnen und Bürger an den Staat immer weiter gestiegen, während der Staat längst die Grenzen seiner finanziellen Leistungsfähigkeit erreicht hat. Ein strukturelles Problem kommt hinzu: Die Langsamkeit, die im Wesen demokratischer Verfahren liegt und die mit dem Tempo wirtschaftlicher Entscheidungen immer weniger mithalten kann. Hier wie dort ist demokratische Politik in den Verdacht geraten, dass sie das Notwendige nicht mehr zu leisten vermag. Seit Jahren ist immer wieder von Enttäuschungen die Rede, von "Politikverdrossenheit", gar von einer "Krise der Demokratie".
Für mich wäre es eine unerträgliche Ironie der Geschichte, wenn ausgerechnet jetzt, nach dem großartigen Sieg der Demokratie in Europa, immer mehr Menschen ihr Vertrauen in die Demokratie und ihre Bereitschaft zu politischer Mitgestaltung verlören. Der Versuch, das Verhältnis zwischen staatlichem Engagement und bürgerschaftlichem Engagement neu auszutarieren, muss sich deshalb an dem Ziel messen lassen, die Demokratie neu zu verankern und zu stärken.
Das Wort "Zivilgesellschaft" löst unterschiedliche Assoziationen aus, die diesem Ziel nicht immer dienlich erscheinen. So fordern die einen Zivilgesellschaft als Gegenspielerin einer vermeintlich aufgeblähten Bürokratie, die sich längst zu weit von den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger entfernt habe. Andere verstehen Zivilgesellschaft offenbar als einen bequemen Weg, sich der staatlichen Verantwortung für soziale Belange zu entledigen. Beide Extreme beruhen auf dem fatalen Missverständnis, das Verhältnis von staatlichem Engagement und von bürgerlichem Engagement sei ein "Nullsummenspiel" (Hans Jonas): Je mehr Zivilgesellschaft, desto weniger Staat - und umgekehrt. Abgesehen davon, dass diese Gleichung in der Realität nicht aufgeht: Jedes Aufrechnen staatlichen und privaten Engagements weckt den irrigen Eindruck, als seien Bürger und Staat Konkurrenten, die ihre Kräfte aneinander messen und untereinander aufteilen. Das aber entspricht zumindest nicht meinem Verständnis von Demokratie.
In einer Demokratie sind Staat und Bürger wechselseitig aufeinander angewiesen. Aus bitterer Erfahrung wissen wir, dass es gerade die undemokratischen Länder sind, in denen sich Zivilgesellschaft nur atomisiert, nur partikular organisieren kann oder organisieren darf. Demokratische Staaten aber haben ein vitales Interesse daran, bürgerschaftliches Engagement zu ermöglichen und zu ermuntern. Auf der anderen Seite darf der "aktivierende Staat", wie er zur Zeit häufig gefordert wird, aber auch kein Staat sein, der sich weitgehend oder vollkommen aus seiner sozialen Verantwortung zurückzieht. Die soziale Abfederung der freien Marktwirtschaft hat wesentlich zum Erfolg der europäischen Demokratien beigetragen, zur Zustimmung und zum Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger.
Der Sozialstaat, so reformbedürftig er sein mag, ist eine der großen europäischen Kulturleistungen. Unsere Demokratie ist nicht nur eine freiheitliche, sondern auch eine solidarische. Ich kann mir keine Stärkung der Zivilgesellschaft ohne soziale Verantwortung des Staates vorstellen, sorgt doch gerade das soziale Netz dafür, dass alle vergleichbare Chancen auf Teilhabe haben. Zu den Gesetzen des freien Marktes gehört es jedenfalls nicht, dass auch die Schwachen eine Chance bekommen. Damit nicht an die Stelle der hart erkämpften Balance zwischen Markt, Staat und Gesellschaft eine eindimensionale Marktgesellschaft tritt, halte ich es für eine der wichtigsten Aufgaben der Politik, die soziale Dimension der Demokratie zu verteidigen.
Doch eines ist klar: So wenig Demokratie funktionieren kann, wenn die Bürger sich selbst überlassen sind, so wenig kann sie funktionieren, wenn ihnen der Staat eine "Rundumversorgung" bietet, die jede Eigeninitiative erstickt. In der Tat ist eine Konsumhaltung gegenüber staatlichen Leistungen in unseren Wohlstandsgesellschaften inzwischen weit verbreitet. Die Bereitschaft des Einzelnen, sich für das Gemeinwohl zu engagieren, scheint im gleichen Maße zurückgegangen zu sein. Der Umbruch der wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Strukturen hat einen Prozess der gesellschaftlichen Differenzierung in Gang gesetzt, einen Prozess der Individualisierung und der Erosion des sozialen Zusammenhalts. Wenn man den einschlägigen Studien glauben darf, beziehen sich die Werte junger Menschen schon heute überwiegend auf die Entfaltung individueller Eigenschaften und die Entwicklung individueller Lebensziele. Dagegen treten Werte, die sich auf das Miteinander mit anderen beziehen, deutlich in den Hintergrund.
Arbeit ist in unserer Gesellschaft eine unverzichtbare Bedingung - nicht nur für materielle Sicherheit, sondern auch für ein geglücktes Leben. Ja, in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit ist der Arbeitsplatz an sich zu einem Wert geworden. Doch der Mensch ist mehr als ein homo oeconomicus. Wenn der ökonomische Erfolg zur wichtigsten Richtschnur in einer Gesellschaft wird, kann das nicht ohne Auswirkungen auf den gemeinsamen Wertekanon einer Gesellschaft bleiben. In einem Klima von Konkurrenz und Wettbewerb sinkt der Wert von Solidarität. Schon heute glauben immer weniger Menschen, dass es durch gemeinsame Anstrengungen am Ende allen besser gehen könne. Doch der Londoner Soziologie-Professor Richard Sennett hat zu Recht gewarnt: "Eine Gesellschaft, die den Menschen keinen Grund gibt, sich umeinander zu kümmern, kann ihre Legitimation nicht lange aufrecht erhalten."
Die normativen Bindungen werden schwächer, aber sie werden gebraucht um des gesellschaftlichen Zusammenhalts und Friedens willen. Eine Gesellschaft ist mehr als das Nebeneinander von Individuen. Wo die Bereitschaft zur Selbstbindung des Individuums fehlt, ist es kein großer Schritt von einem positiven Freiheitsbegriff, der die Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen betont, bis hin zu einer Beliebigkeit, ja Rücksichtslosigkeit, die die soziale Einbindung des Einzelnen an den Rand drängt.
Im Mittelpunkt der Debatte um die Zivilgesellschaft steht deshalb die Frage: "Was hält die Gesellschaft zusammen?" Dabei geht es weder darum, eine Gesellschaft über die Werte einer irgendwie gearteten "Leitkultur" abzuschotten, noch geht es darum, überkommene traditionelle Werte künstlich aufrecht zu halten und einer zunehmend differenzierten Gesellschaft als Korsett überzustülpen. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als die grundlegenden Spielregeln des menschlichen Zusammenlebens, die Regeln einer im schlichten Wortsinn "zivilisierten" Gesellschaft.
Ich halte es für unerträglich, dass in unserer Gesellschaft häufig nicht einmal mehr ein so elementares Gebot wie das Gewalttabu respektiert wird. Das sage ich mit Blick auf das zunehmende Maß an Aggression und Gewalt überhaupt, vor allem bei jungen Menschen.
Ein überaus gefährliches Phänomen ist die Ausbreitung rechtsextremer Gewalt - nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern. Was treibt junge Menschen dazu, Fremde und Obdachlose zu hetzen, zu prügeln, zu ermorden? Was bewegt sie zu einem Verhalten, das auf so erschreckende Weise "unzivilisiert" ist? Selbst in der Tierwelt funktioniert ein Mechanismus der Hemmung, aber bei einem Teil der jungen Leute funktioniert er offenbar nicht mehr. Wenn sich so grundlegende Werte wie Toleranz und Respekt vor dem Anderen offenbar nicht mehr von selbst in die nächsten Generationen vermitteln, dann ist das ein bitterer Anlass zu fragen, was wir falsch gemacht haben.
Hat die Demokratie als Erziehungsinstanz, als Richtschnur für das Handeln im Alltag, nicht die notwendige Kraft entfaltet? An verbindlichen und verbindenden Werten mangelt es unseren Gesellschaften ja keineswegs: Unsere Demokratie ist auch ein ethischer Konsens. Sie fußt auf den Grundwerten und Grundrechten, die nach den menschenverachtenden Verbrechen der Nationalsozialisten neu verankert wurden und die heute in allen westlich geprägten, europäischen Staaten die Gesellschaften tragen. Heute müssen wir den jungen Menschen wieder erklären, wie die demokratischen Institutionen Menschenwürde und Freiheit sichern und warum ohne Toleranz und gewaltfreie Konfliktlösung, ohne Solidarität und Verantwortungsbereitschaft demokratisches Zusammenleben nicht gelingen kann.
Doch wie sollen junge Menschen das lernen, wenn in der Gesellschaft moralische Gleichgültigkeit um sich greift? Wir haben uns daran gewöhnt, über die Medien alltäglich skandalöse Vorgänge zu konsumieren, ohne dass wir uns davon betroffen fühlten. Wo sollen junge Menschen Beispiele und Vorbilder finden, wenn allzu viele "Erwachsene" sich nicht mehr verantwortlich fühlen für das, was in der Gesellschaft passiert?
Auch mit Blick auf die kommenden Generationen, die die Demokratie einmal tragen und gestalten müssen, ist es wichtig, bürgerschaftliches Engagement zu fördern und die Zivilgesellschaft zu stärken. Ich bin froh und dankbar, dass es allein in Deutschland immerhin 22 Millionen Menschen gibt, die sich ehrenamtlich engagieren. Und Untersuchungen haben ergeben, dass auch heute viele junge Menschen bereit sind, sich gemeinwohlorientiert zu engagieren. Nur wollen die meisten von ihnen das nicht mehr in den althergebrachten Organisationen tun. Denn Kirchen, Gewerkschaften, Vereine und Verbände fordern eine lange, oft lebenslange Bindung, die junge Menschen nicht mehr einzugehen bereit sind. Und sie fordern ein kontinuierliches Engagement, das viele nicht mehr eingehen können, wenn Arbeitgeber zunehmend Mobilität und Flexibilität fordern. Deshalb nützt es wenig, den Wertewandel oder gar einen Werteverfall zu beklagen. Notwendig ist es, auf die veränderten Lebensbedingungen und Lebenseinstellungen junger Menschen einzugehen und ihnen auch neue Formen des Engagements zu eröffnen.
Der Deutsche Bundestag hat eine Enquete-Kommission zur "Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements" eingerichtet. Ihr Ziel ist es, die "zivile Infrastruktur" in Deutschland zu analysieren und auf solche Entwicklungsmöglichkeiten hin zu untersuchen. Doch nicht nur der Staat ist gefordert, sich stärker für zivilgesellschaftliches Engagement zu öffnen. Auch die Unternehmen können viel dazu beitragen, etwa indem sie Mitarbeiter für gemeinnützige Aufgaben freistellen. In dieser Hinsicht könnten wir viel von anderen Ländern lernen, von den Vereinigten Staaten, von Großbritannien oder den Niederlanden.
Die Stärkung der Zivilgesellschaft ist eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist die Stärkung der Partizipation. Wenn die Bürger mehr Verantwortung in der Gesellschaft übernehmen, müssen sie auch intensiver als bisher mitbestimmen können. Die zivile Bürgergesellschaft verlangt deshalb vom demokratischen Staat mehr Transparenz und mehr Teilhabe. Am Ende steht die Vision eines "neuen Gesellschaftsvertrages", eines neuen Verhältnisses von Staat und Bürgergesellschaft. In dieser Vision, so beschreibt sie die Enquete-Kommission, werden die demokratischen und sozialen Strukturen, die der Staat bereitstellt, durch aktiv handelnde, an den gemeinschaftlichen Aufgaben teilnehmende Bürgerinnen und Bürger mit Leben erfüllt, verändert und auf zukünftige gesellschaftliche Bedürfnisse zugeschnitten.
Die Idee eines "Gesellschaftsvertrags" ist kein neuer Gedanke, im Gegenteil. Sie geht zurück auf die Utopie einer Zivilgesellschaft, wie sie die großen Philosophen der Aufklärung - Locke, Montesqieu und Kant - entworfen haben. Schon dieser Entwurf des Zusammenlebens freier Bürger umfasste gemeinsame Werte wie Freiheit, Gleichheit und Solidarität, wie Toleranz und die Anerkennung von Vielfalt.
Die Vision der Zivilgesellschaft ist also ein zutiefst europäischer Gedanke - wie auch das Fundament der Werte, die sie tragen, ein gemeinsames, europäisches ist. Es gründet auf der griechischen Philosophie und Wissenschaft, auf dem römischen Recht, dem jüdisch-christlichen Denken und der Aufklärung - einer großen Tradition der Offenheit und Aufnahmebereitschaft. Damit Europa eine im besten Sinn "zivilisierte" Gesellschaft bleibt, haben wir die gemeinsame Aufgabe, dieses Wertefundament zu schützen und zu stärken: Freiheit und Menschenwürde, Gewaltverzicht und Toleranz, Gerechtigkeit und Solidarität, heute aber auch der Schutz der Umwelt und der Erhalt natürlicher Ressourcen - gerade hier im Ostseeraum ein Thema von drängender Aktualität.
Mit der Grundrechtecharta, die am 7. Dezember 2000 in Nizza feierlich verkündet wurde, haben wir ein grundlegendes Dokument der europäischen Wertegemeinschaft. Sie ist ein wichtiger Schritt, die Europäische Union als Werte- und Solidargemeinschaft zu festigen. Weitere Schritte müssen folgen: eine europäische Sozialcharta und schließlich auch eine europäische Verfassung. Eine Verfassung wäre auch der richtige Ort, die Beteiligungsrechte der Bürgerinnen und Bürger zu verankern und damit die Bedeutung bürgerschaftlichen Engagements für Demokratie und Solidarität in Europa zu unterstreichen.
Lebendige Zivilgesellschaften, die sich für die grundlegenden Ziele und Werte der europäischen Demokratie einsetzen, können auch dazu beitragen, eine europäische Öffentlichkeit zu schaffen. Schon heute sind es gerade die Akteure der Zivilgesellschaft - allen voran die Nicht-Regierungs-Organisationen -, die sich über den nationalstaatlichen Rahmen hinweg engagieren. Es gibt aber auch viele andere Beispiele für eine erfolgreiche Vernetzung bürgerschaftlichen Engagements. Erwähnt sei hier nur der "Europäische Freiwilligendienst für Jugendliche".
Lassen Sie mich zum Schluss dennoch vor überzogenen Erwartungen warnen. So wichtig die Zivilgesellschaft für die Demokratie überall in Europa ist: Sie wird nicht alle Probleme lösen können. Insbesondere wird eine Stärkung der Zivilgesellschaft nicht dazu beitragen, die demokratischen Verfahren zu beschleunigen, im Gegenteil. Je lebendiger die Prozesse der demokratischen Partizipation sind, je mehr gesellschaftliche Kräfte daran teilhaben, desto mühsamer wird der demokratische Prozess, über Austausch und Ausgleich zum Konsens zu finden. Und es wird auch in Zukunft dabei bleiben: Es liegt im Wesen des Kompromisses, dass alle Beteiligten aufeinander zugehen und Abstriche von eigenen Positionen in Kauf nehmen. Auch in Zukunft wird Demokratie also ein erhebliches Maß an Frustrationstoleranz, Leidensfähigkeit und Enttäuschungsbereitschaft erfordern.
Doch eine Stärkung der Zivilgesellschaft kann viel dazu beitragen, den Sinn und Wert dieser mühseligen Verfahren bewusst zu machen und die Akzeptanz der Demokratie zu vergrößern - gerade auch in den jungen Demokratien Osteuropas. Ich wünsche mir jedenfalls sehr, dass es gelingt, an die Kräfte der einstigen "Bürgerbewegung" anzuknüpfen und neue Begeisterung und neues Engagement für die Demokratie zu wecken.
Gerade in den jungen Demokratien, die erst vor rund zehn Jahren die Chance bekommen haben, souveräne Nationalstaaten zu bilden, mag es nicht leicht fallen, sogleich wieder Kompetenzen an supranationale Gebilde wie die Europäische Union abzugeben. Nebenbei gesagt: auch die "alten Nationalstaaten" haben bekanntlich noch ihre Probleme damit. Um so wichtiger ist es, dass die Parlamente, die ja das Herzstück der Demokratie sind, nicht übergangen werden. Ihr Einfluss in der Europäischen Union muss gestärkt werden, und sie müssen auch bei anderen Formen grenzüberschreitender Zusammenarbeit einbezogen werden - wie das hier im Ostseeraum über die Parlamentarierkonferenz geschieht.
Im übrigen sind die Parlamente wichtige Foren, um den öffentlichen politischen Diskurs auch über Grenzen hinweg zu intensivieren. Die europäische Demokratie, die europäische Zivilgesellschaft ist nicht denkbar ohne europäische Öffentlichkeit. Deshalb wünsche ich mir sehr, dass bald über Fragen des Gemeinwohls in Europa genauso leidenschaftlich diskutiert wird, wie das bisher nur in den nationalstaatlichen Öffentlichkeiten der Fall ist.
Es ist ein vielversprechender Schritt in diese Richtung, dass heute Parlamentarier aus allen Ostsee-Anrainerstaaten über die Werte und Ziele der grenzüberschreitenden "Civil Society" diskutieren. Wenn so etwas regelmäßig und an vielen anderen Orten geschieht, dann bin ich zuversichtlich, dass uns Europäern bald deutlicher wird, was mit einer Stärkung der "Zivilgesellschaft" gemeint sein kann und was sie über Grenzen hinweg so wichtig erscheinen lässt: die Stärkung des europäischen Wertefundaments und die Stärkung der Demokratie in Europa.
Das ist die gute Sache, für die auch ich in Zukunft gerne streiten will".
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Quelle:
http://www.bundestag.de/aktuell/presse/2001/pz_010903