157. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008
Beginn: 9.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich. Bevor wir in unsere heutige Tagesordnung eintreten, gibt es einige wenige amtliche Mitteilungen. Der Kollege Dr. Norman Paech feierte am 12. April seinen 70. Geburtstag und die Kollegin Ina Lenke am 18. April ihren 60. Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich beiden nachträglich herzlich und wünsche alles Gute.
Bevor wir in die Beratungen unserer Tagesordnung eintreten, müssen wir noch zwei Wahlen vornehmen. Der Kollege Dr. Hans-Ulrich Krüger hat sein Amt als Schriftführer niedergelegt. Als Nachfolgerin schlägt die SPD-Fraktion die Kollegin Doris Barnett vor. Sind Sie damit einverstanden? - Das scheint der Fall zu sein. Dann ist die Kollegin Doris Barnett damit zur Schriftführerin gewählt.
Außerdem hat die CDU/CSU-Fraktion mitgeteilt, dass der Kollege Michael Hennrich aus dem Beirat bei der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen ausscheidet. Als Nachfolger wird der Kollege Thomas Bareiß als ordentliches Mitglied vorgeschlagen. Können wir uns auch darauf einigen? - Das sieht so aus. Dann ist auch hier einvernehmlich der Kollege Thomas Bareiß in den Beirat der Bundesnetzagentur gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Überfällige Strategien der Bundesregierung zur Lösung der Welternährungskrise
(siehe 156. Sitzung)
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
(Ergänzung zu TOP 35)
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika Brunkhorst, Michael Kauch, Horst Meierhofer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Leitlinien für den internationalen Arten- und Lebensraumschutz im Rahmen des Übereinkommens über die biologische Vielfalt
- Drucksache 16/8878 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
(f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van Essen, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Mechthild Dyckmans, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Gleiche Rechte gleiche Pflichten - Benachteiligungen von Lebenspartnerschaften abbauen
- Drucksache 16/8875 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle Laurischk, Ina Lenke, Miriam Gruß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Forderung nach einem Bericht der Bundesregierung über die Lage der Frauen- und Kinderschutzhäuser
- Drucksache 16/8889 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Innenausschuss
ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Gesetz zur Regelung des Statusrechts der Beamtinnen und Beamten in den Ländern (Beamtenstatusgesetz - BeamtStG)
- Drucksachen 16/4027, 16/4038, 16/7508, 16/8189, 16/8910 -
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgitt Bender, Elisabeth Scharfenberg, Dr. Harald Terpe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gesundheitsfonds stoppen - Morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich einführen
- Drucksache 16/8882 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ekin Deligöz, Markus Kurth, Brigitte Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kinderzuschlag weiterentwickeln - Fürsorgebedürftigkeit und verdeckte Armut von Erwerbstätigen mit Kindern verhindern und bekämpfen
- Drucksache 16/8883 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ZP 6 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über die Auswirkungen des § 6 a des Bundeskindergeldgesetzes (Kinderzuschlag) sowie über die gegebenenfalls notwendige Weiterentwicklung dieser Vorschrift
- Drucksache 16/4670 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Wolfgang Wodarg, Dr. Sascha Raabe, Gregor Amann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Deutschlands globale Verantwortung für die Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten - Innovation fördern und Zugang zu Medikamenten für alle sichern
- Drucksache 16/8884 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
(f)
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
ZP 8 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (17. Ausschuss)
- zu dem Antrag der Abgeordneten Florian Toncar, Burkhardt Müller-Sönksen, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für eine zügige Zeichnung, Ratifizierung und Umsetzung des Zusatzprotokolls zur Anti-Folter-Konvention der Vereinten Nationen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Dr. Uschi Eid, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine unverzügliche Zeichnung und Ratifizierung des Zusatzprotokolls zur Anti-Folter-Konvention der Vereinten Nationen
- Drucksachen 16/455, 16/360, 16/8790 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Holger Haibach
Christoph Strässer
Florian Toncar
Michael Leutert
Volker Beck (Köln)
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 5 b und 5 c sollen ohne Debatte an die Ausschüsse überwiesen werden. Der Tagesordnungspunkt 13 - hier geht es um das Flächenerwerbsänderungsgesetz - wird abgesetzt. Die nachfolgenden Tagesordnungspunkte 15, 17, 19, 21 und 23 der Koalitionsfraktionen rücken jeweils einen Platz vor. - Hierzu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 f auf:
3. b) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 23, 45 und 93)
- Drucksache 16/8488 -
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuss)
- Drucksache 16/8912 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ingo Wellenreuther
Michael Roth (Heringen)
Gisela Piltz
Ulla Jelpke
Wolfgang Wieland
d) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Diether Dehm, Monika Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines ? Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
- Drucksache 16/7375 -
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuss)
- Drucksache 16/8913 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ingo Wellenreuther
Michael Roth (Heringen)
Gisela Piltz
Ulla Jelpke
Wolfgang Wieland
a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007
- Drucksache 16/8300 -
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union (21. Ausschuss)
- Drucksache 16/8917 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Stübgen
Michael Roth (Heringen)
Markus Löning
Dr. Diether Dehm
Rainder Steenblock
c) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union
- Drucksache 16/8489 -
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union (21. Ausschuss)
- Drucksache 16/8919 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Stübgen
Michael Roth (Heringen)
Michael Link (Heilbronn)
Dr. Diether Dehm
Rainder Steenblock
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union (21. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Diether Dehm, Alexander Ulrich, Dr. Hakki Keskin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Intransparenz beenden - Eine lesbare Fassung des Reformvertrags schaffen
- Drucksachen 16/7446, 16/8920 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Stübgen
Michael Roth (Heringen)
Markus Löning
Dr. Diether Dehm
Rainder Steenblock
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Diether Dehm, Monika Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Das Ratifizierungsverfahren zum Vertrag von Lissabon aussetzen - Ein Sozialprotokoll vereinbaren
- Drucksache 16/8879 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
(f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ich weise darauf hin, dass wir später über drei Gesetzentwürfe namentlich abstimmen werden. Außerdem mache ich auf mehrere Änderungs- und Entschließungsanträge aufmerksam.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für diese Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Auch darüber herrscht offenkundig Einvernehmen. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Bundeskanzlerin Frau Dr. Merkel das Wort.
Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich möchte an diesem Tage mit einem Wort des Dankes beginnen. Ich danke allen für die vertrauensvolle Zusammenarbeit an einem - wie ich glaube: großen - Projekt, einem Projekt, mit dem wir uns nicht mehr und nicht weniger als eine neue Grundlage für Europa schaffen. Ich bin mir sicher: Es ist eine Grundlage, die solide und von Bestand ist. Das ist eine Überzeugung, die ich nicht nur mit der gesamten Bundesregierung teile. Die bisherige Debatte über den Vertrag von Lissabon in diesem Haus hat nahezu über alle Fraktionsgrenzen hinweg eine grundlegende Einigkeit offengelegt. Der neue Vertrag ist gut für Europa.
Er ist nicht nur gut für Europa, sondern er ist auch gut für die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. Dies zählt für uns in diesem Hause natürlich in ganz besonderer Weise. Diese Einigkeit in den Grundfragen der Europapolitik in Deutschland ist ein hohes Gut. Einigkeit macht stark. Sie stärkt auch die Stimme der Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen Union. Das wird sich in vielen Fällen zeigen; deshalb dieses herzliche Dankeschön.
Meine Damen und Herren, zusammen mit vielen anderen ist es uns gelungen, unter unserem Ratsvorsitz und dann unter der portugiesischen Präsidentschaft Europa aus seinem Stillstand herauszuführen. Es ist uns gelungen, die 27 Mitgliedstaaten zu einem Bekenntnis zusammenzubringen: Europa bekennt sich heute mit größerem Nachdruck zu seinen unveräußerlichen Werten, die wir in der Berliner Erklärung vom 25. März 2007 zum Ausdruck gebracht haben. Der neue Vertrag macht die Grundrechtecharta verbindlich. Die Europäische Union ist jetzt nicht mehr nur eine Union von Frieden, Freiheit und Sicherheit, sondern sie macht mit der Grundrechtecharta auch deutlich, dass sie sich zu einem europäischen Wirtschafts- und Sozialmodell bekennt, in dem wirtschaftlicher Erfolg und soziale Verantwortung miteinander vereint werden. Für uns in Deutschland, die wir in diesem Jahr den 60. Jahrestag der sozialen Marktwirtschaft begehen, ist dies eine ganz wichtige Botschaft: Unsere Europäische Union ist den gleichen Werten verpflichtet, wie wir sie im deutschen Sozialmodell kennen. Das ist eine Stärkung unserer Stimme auch in einer globalen Zeit.
Die Bürgerinnen und Bürger müssen natürlich spüren, dass die Europäische Union ihnen persönlich in ihrem Lebensumfeld und in der Familie zugute kommt. Das macht den Zusammenhalt in Europa und natürlich auch in unserer Gesellschaft aus. Ich bin sehr froh, dass es uns gelungen ist, dieses fundamentale politische Bekenntnis Europas zu sich selber zu erreichen. Dies ist nach meiner Auffassung die tiefe Bedeutung dieses Vertragsabschlusses.
Wir haben in der Berliner Erklärung gesagt, wir Europäer seien zu unserem Glück vereint. Die Bundesregierung und dieses Parlament sehen heute in diesem neuen Vertrag einen weiteren Schritt auf dem Wege zur Ausgestaltung unserer gemeinsamen Zukunft. Wir sollten uns ganz bewusst machen, was mit diesem Vertrag passiert ist; denn anders als andere Verträge trägt dieser Vertrag von Lissabon kein Verfallsdatum. Er hat anders als seine unmittelbaren Vorgänger keine Revisionsklausel. Eine weitere grundlegende Änderung der Verträge ist heute nicht in Sicht. Wenn dieser Vertrag in Kraft tritt, dann wird die Europäische Union auf sicheren Beinen stehen. Dies ist meine Überzeugung und die vieler anderer.
Schauen wir uns die Dinge im Einzelnen an, bringt dieser Vertrag erhebliche Fortschritte:
Erstens. Er sichert die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit der 27 Mitgliedstaaten. Künftig werden wir im Rat überwiegend mit Mehrheit statt mit Einstimmigkeit beschließen. Ich weiß, dass dies natürlich für Deutschland auch bedeuten kann, dass es manchmal schwieriger wird, eigene Interessen zu 100 Prozent durchzusetzen. Umso wichtiger wird es sein, frühzeitig für unsere Anliegen bei der Kommission, dem Europäischen Parlament und bei anderen Mitgliedstaaten zu werben. Aber insgesamt ist es von Vorteil auch für uns; denn Stillstand und Blockaden können so sehr viel besser überwunden werden.
Zweitens bekommen wir eine gerechtere Gewichtung der Stimmen. Bei Mehrheitsabstimmungen im Rat wird die Bevölkerungsgröße der Mitgliedstaaten - dies ist für Deutschland natürlich wichtig - voll ins Gewicht fallen. Es ist in einer Gemeinschaft demokratischer Staaten nur recht und billig, dass jede einzelne Stimme zählt.
Drittens erhält die Europäische Union eine Kompetenzordnung, die die Kategorien der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten und der Union festlegt. Dies war eine langjährige Forderung der Bundesregierung und der deutschen Bundesländer. Außerdem wird zum ersten Mal das Prinzip der Rückübertragbarkeit von Kompetenzen festgeschrieben. Sie kommt dann infrage, wenn die Mitgliedstaaten glauben, dass etwas besser national erledigt werden kann.
Viertens. Der neue Vertrag erleichtert die Zusammenarbeit in einem ganz wichtigen Feld der Politik, nämlich in der Innen- und Justizpolitik. So können wir die Außengrenzen Europas besser sichern und illegale Einwanderung nach Europa und nach Deutschland weiter eindämmen. In Zukunft werden auch gemeinsame operative Ermittlungsgruppen in Europa möglich, und damit sind wir für den Kampf gegen grenzüberschreitende Kriminalität und gegen Terrorismus besser als bislang gerüstet.
Fünftens. Es werden die Grundlagen für einen gemeinsamen Klimaschutz und für eine solidarische Zusammenarbeit im Energiebereich geschaffen. Ich denke, die Bürgerinnen und Bürger erwarten zu Recht, dass wir bei diesen großen Zukunftsfragen in der Europäischen Union tätig werden können.
Der Vertrag von Lissabon erfüllt schließlich viele weitere, ganz speziell auch deutsche Forderungen, die aus Europa Schritt für Schritt stärker ein Europa der Menschen, ein Europa der Bürgerinnen und Bürger machen. Ich begrüße zum Beispiel ausdrücklich, dass die Achtung der regionalen und lokalen Selbstverwaltung nun der Europäischen Union vertraglich vorgeschrieben wird. Das sichert unser Verständnis von Europa als einer engen politischen Gemeinschaft, die aber kein Staat ist und auch kein Staat sein wird, sondern ein Gebilde sui generis, ein einzigartiges Gebilde.
Ich begrüße insbesondere, dass der Status der Kirchen in einem eigenen Artikel festgeschrieben werden konnte. Auch das ist für unser Werteverständnis von großer Bedeutung.
Schon diese wenigen Beispiele zeigen uns: Der Vertrag von Lissabon ist ein Gewinn für Deutschland. Er ist in seiner Bedeutung nicht hoch genug einzuschätzen. Ich sehe deshalb mit Freude, dass die Ratifizierungsverfahren auch in den anderen Mitgliedstaaten zügig voranschreiten. Ich bin heute hier zuversichtlich, dass der Vertrag am 1. Januar in Kraft treten kann. Ich sage aber auch: Es ist wirklich höchste Zeit für Europa. Wir haben uns jahrelang mit uns selbst beschäftigt. Die Phase der Ungewissheit und der Lähmung muss vorbei sein. Es ist wichtig, dass wir jetzt wieder den Blick nach vorne richten.
Da ist auf der einen Seite natürlich die spannende Frage, was denn nun dieser neue Vertrag für die Organe der Union, für den Rat, für die Kommission, für das Europäische Parlament, für die Zusammenarbeit und für das Verhältnis zu den nationalen Parlamenten und Regierungen bedeutet. Genau dafür werden wir im zweiten Halbjahr dieses Jahres, nämlich unter der französischen Präsidentschaft, die Weichen stellen; denn wir müssen jetzt noch im Detail ausgestalten, wie das alles funktioniert. Wir wissen, dass das Europäische Parlament durch diesen Vertrag gestärkt wird. Als gleichberechtigter Mitgesetzgeber wird es zum ersten und einzigen voll gültigen supranationalen Parlament der Welt für die Kompetenzen, die nach Europa übertragen werden. Die Arbeit der Kommission wird an Effizienz und Konzentration gewinnen. Die Kommission wird ab 2014 verkleinert. Ich glaube, das ist richtig; denn wir haben immer wieder erlebt: Je mehr Kommissare wir haben, desto mehr Zuständigkeiten werden gefunden. Deshalb ist diese Beschränkung nach meiner festen Überzeugung richtig.
Zu einer der wichtigsten Neuerungen zählt das Amt des Präsidenten des Europäischen Rates. Der Vertrag sagt, dass der Präsident der Arbeit des Europäischen Rates Kontinuität verleihen soll. Damit wird ihm in besonderer Weise, so ist es beschrieben, die Aufgabe der Konsensbildung unter den 27 Mitgliedstaaten zukommen, genauso wie die Vertretung in der gemeinsamen Außenpolitik auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs. Aber natürlich ist das in Bezug auf die bisher bekannte Präsidentschaft, die ein halbes Jahr dauert und die es auch weiter gibt, eine interessante Neuerung, die vielerlei Fragen aufwirft, die erst einmal geklärt werden müssen.
Außerdem wird natürlich das neugestaltete Amt des Hohen Vertreters für Außenpolitik von großer Wichtigkeit sein. Der Hohe Vertreter für Außenpolitik wird praktisch Vizepräsident der Kommission sein. Damit steht er zwischen diesen beiden Organen. Es wird viel Aufmerksamkeit erfordern, wenn wir den Aufbau des neuen Europäischen Auswärtigen Dienstes in Angriff nehmen. Der wird natürlich aus Menschen bestehen, die aus den Mitgliedstaaten kommen - Deutschland wird sich daran beteiligen -, aber gleichzeitig auch aus Vertretern, die heute in der Kommission in diesen Bereichen arbeiten. Auch das wird eine spannende Sache werden.
Die Beschreibungen dieser neuen Ämter werden nach der Konsultation der einzelnen Organe der Europäischen Union im zweiten Halbjahr vorliegen, damit wir zu Beginn des Jahres 2009 in die Arbeit einsteigen und effizient handeln können.
Die Fundamente der Europäischen Union sind neu gelegt. Sie müssen sich nun festigen, und das gibt Ruhe und Kraft für die eigentlichen politischen Aufgaben. Ich sehe unsere nächste große Herausforderung in Europa darin, unsere eigenen, die europäischen Interessen in der Welt deutlicher zu definieren und Strategien zu entwickeln, um diese Interessen in der Welt wirklich durchzusetzen.
Die Bürgerinnen und Bürger erwarten mit Recht Antworten auf die großen politischen Fragen, vor denen die Mitgliedstaaten und die Union insgesamt stehen. Ich will diese Aufgabe unter dem Begriff der politischen Gestaltung der Globalisierung zusammenfassen. Die Menschen erwarten von uns, dass wir den ökonomischen Ereignissen nicht hinterherlaufen, sondern dass wir für sie einen Ordnungsrahmen finden. Der Grundgedanke der sozialen Marktwirtschaft ist der Grundgedanke des geordneten Wettbewerbs. Diesen Gedanken müssen wir auf die Europäische Union übertragen, weil wir als Nationalstaaten unsere Interessen in vielen Fragen allein nicht mehr ausreichend durchsetzen können.
Was gehört dazu? Dazu gehört eine Wirtschaftsordnung mit menschlichem Gesicht. Dazu gehören geregelte und transparente Finanzmärkte. Dazu gehört eine gestärkte, wertegebundene gemeinsame Außenpolitik, die europäische Interessen und auch Standards durchsetzt. Dazu gehört die Sicherung der Energieversorgung. Dazu gehört ein moderner Klima- und Umweltschutz. Dazu gehören eine geregelte Migrations- und Integrationspolitik genauso wie der Schutz des geistigen Eigentums. Das ist notwendig, wenn wir ein Kontinent der Innovation bleiben wollen.
Unter diesen großen Aufgaben sind nicht wenige, bei denen die Europäische Union in Zukunft stärker tätig werden muss, als sie das heute tut. Sie hat den Auftrag, dies immer dort zu tun, wo wir eine geschlossene und entschlossene Gemeinschaft der 27 Mitgliedstaaten brauchen, um ein Anliegen in der Welt durchzusetzen. Wir sind gemeinsam 500 Millionen Einwohner in Europa. Wenn wir uns zu gemeinsamen Positionen zusammenfinden, kann man in der Welt daran nicht einfach vorbeigehen.
Der Vertrag bietet auch eine Handhabe für den Fall, dass wir uns einmal nicht einig sind, wenn wir gemeinsam handeln wollen. Deshalb gibt es das Instrument der verstärkten Zusammenarbeit. Allerdings müssen alle Mitgliedstaaten zustimmen, dass eine Gruppe dieses Instrument nutzt. Ich sage allerdings auch: Es darf nicht der normale Weg sein, dass wir in allen wichtigen Fragen nur die verstärkte Zusammenarbeit suchen. Vielmehr müssen wir uns schon bemühen, gemeinsame Positionen auszuarbeiten.
Meine Damen und Herren, in den vergangenen Jahren, man kann fast sagen: Jahrzehnten, war der Weg der Europäischen Union ein Weg, der zu immer mehr Integration, zu immer mehr gemeinsamem Handeln geführt hat. Dies war zu Beginn nötig, um das gemeinsame Werk überhaupt einmal auf die Füße zu stellen und zum Laufen zu bringen. Ich glaube, dass wir in Zukunft stärker vor der Aufgabe stehen, zu entscheiden, wie das richtige Gleichgewicht zwischen nationalen Aufgaben und europäischen Aufgaben auszugestalten ist. Das heißt, wir müssen überlegen, wo etwas am besten erledigt werden kann: in Brüssel, in Berlin, in Schwerin oder in Mainz?
- Ich hätte auch ?München? sagen können. Das leuchtet vielleicht mehr ein.
Nun kommt ein wichtiger Punkt: Der Vertrag macht klar: Die Mitgliedstaaten sind Herren der Verträge. Das heißt, wir, die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag, entscheiden, wann wir eine Aufgabe der europäischen Ebene geben und wann sie besser in der nationalen Verantwortung bleibt. Hierfür ist in Deutschland der Maßstab gesetzt, nämlich der Maßstab der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips, was nichts anderes heißt, als dass die untere Ebene den Vorrang vor der oberen hat, wann immer sie die Aufgabe richtig erledigen kann.
Es ist kein Geheimnis, dass dieser Grundsatz in der Europäischen Union noch nicht immer zu hundert Prozent befolgt wird. Deshalb ist es so wichtig, dass der Vertrag von Lissabon uns hier völlig neue Möglichkeiten gibt. Er räumt den nationalen Parlamenten zum ersten Mal die Möglichkeit ein, sich früher, nämlich bevor Rat und Europäisches Parlament mit den Verhandlungen beginnen, mit den Vorschlägen zu befassen, sie zu prüfen und zu fragen: Ist ein Tätigwerden der Union an dieser Stelle überhaupt nötig? - Mit der Antwort auf diese Frage können dann die nationalen Parlamente frühzeitig klare Signale an die Europäische Union senden.
Natürlich wird es vorkommen, dass die Organe der Europäischen Union einen Vorschlag weiterverfolgen, obwohl er nach Auffassung eines nationalen Parlaments gegen das Subsidiaritätsprinzip verstößt. Aber in diesem Fall eröffnet der neue Vertrag dem nationalen Parlament den Klageweg zum Europäischen Gerichtshof. Wenn wir dieses Instrument nutzen - der Erfolg hängt natürlich davon ab, ob wir es vernünftig nutzen -, dann wird hier sehr schnell deutlich werden, dass die Europäische Union stärker als bisher dazu aufgefordert ist, zu begründen, warum sie denn welche Zuständigkeit für sich beansprucht.
Ich glaube, dass wir gemeinsam - Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat - sehr gut daran gearbeitet haben, dass diese Parlamentsrechte von Anfang an wirkungsvoll angewandt werden können. Dass zum Beispiel die Klageerhebung vor dem Europäischen Gerichtshof bewusst als Minderheitenrecht ausgestaltet worden ist - das heißt: Bereits ein Viertel der Mitglieder dieses Hauses kann vom nächsten Jahr an eine Subsidiaritätsklage bewirken -, ist ein Teil dessen. Das zeigt, dass wir hier auch ein ganzes Stück näher an die Menschen herangerückt sind.
Wir sind gut beraten, von diesem neuen Recht auch Gebrauch zu machen, es anzuwenden und europäische Debatten damit künftig viel früher, als das in der Vergangenheit der Fall war, zu deutschen Debatten zu machen.
Ich kann also nur sagen: Packen wir den Stier bei den Hörnern! Lassen wir uns darauf ein, die Subsidiaritätskultur in Europa wirklich weiterzuentwickeln! Deutschland hat mit seinem föderalen System sehr gute Erfahrungen gemacht, und das sollten wir auch in Europa zeigen.
Meine Damen und Herren, nächstes Jahr - der Vertrag tritt dann hoffentlich in Kraft - wird es 20 Jahre her sein, dass Ungarn den Stacheldraht durchtrennte und in Berlin die Mauer fiel. Die Europäische Union hat sich in dieser Zeit zu einer Union erweitert, die fast Gesamteuropa umfasst - bestehend aus Staaten, die in Demokratie, Frieden und Freiheit leben können. Die Europäische Union ist gewachsen, äußerlich durch die Erweiterungen und innerlich jetzt durch die Reform des Vertrages. Das macht uns als Kontinent handlungsfähig. Deshalb sage ich: Europa wird nächstes Jahr stärker und selbstbewusster denn je sein. Wir Deutschen in seiner Mitte werden davon großen Nutzen haben. Das ist jedenfalls, kurz gesagt, mein Verständnis von erfolgreicher Europapolitik in Deutschland. Auf diesem Wege werden wir weitergehen. Ich danke noch einmal für Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Guido Westerwelle, FDP-Fraktion.
Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, das ist eine der Debatten in diesem Hohen Hause, bei der die Grenzen in Wahrheit nicht zwischen Regierung und Opposition verlaufen. Wir freuen uns darüber, und zwar gleich auf welcher Seite dieses Hauses wir sitzen, dass mit der heutigen Entscheidung eine Entwicklung einen guten Schlusspunkt finden wird. Das ist ein guter Tag für Deutschland; es ist ein guter Tag für Europa. Das Wichtigste dabei ist, dass die Bürgerinnen und Bürger davon etwas haben. Ausdrücklich erkennen wir als liberale Opposition auch den Beitrag an, den die Regierung Merkel/Steinmeier hier geleistet hat.
Meine Damen und Herren, wenn man in der Bevölkerung über Europa debattiert - der Vertrag ist ausführlich dargestellt worden; ich muss nicht noch einmal alle Detailpunkte wiedergeben -, mit jungen Menschen oder mit Bürgerinnen und Bürgern, die sich über Bürokratie ärgern, die nicht nachvollziehen können, warum uns in Deutschland bestimmte Dinge aus Brüssel erreichen, dann stellt man häufig fest, dass der eigentliche Grund, warum wir Europa machen, in den Hintergrund rückt. Für mich ist das besonders deutlich geworden in einer außerordentlich bewegenden Stunde, die wir vor wenigen Wochen hier erleben durften, nämlich bei der Gedenkstunde anlässlich des vor 75 Jahren erlassenen Ermächtigungsgesetzes. Es gab hier, wie ich ausdrücklich erwähnen möchte, zwei großartige Reden, nämlich vom Bundestagspräsidenten und von Hans-Jochen Vogel. Das, was Hans-Jochen Vogel uns als denen, die heute Verantwortung tragen, da gesagt hat, ist in meinen Augen auch erhellend dafür, warum wir Europa machen müssen.
Hans-Jochen Vogel sagte damals hier von diesem Platz aus: Für meine Generation war Krieg die Normalität. Für euch ist Frieden die Normalität. - Wir, die wir im Frieden leben, sollten nicht vergessen, dass das das größte Geschenk der europäischen Geschichte ist. Hätte Europa nicht mehr gebracht als Frieden, es hätte sich schon gelohnt, meine Damen und Herren!
Ich habe mir während der Rede der Bundeskanzlerin - ihre Ausführungen unterstützen wir - ein bisschen die Gesichter vor allen Dingen von den jungen Menschen angesehen, die oben auf den Tribünen sitzen, die zuschauen und sich die Frage stellen, was diese europäischen Institutionen und Techniken - Hoher Kommissar für Außenpolitik, doppeltes Mehrheitsprinzip, Subsidiaritätsklage - mit ihnen zu tun haben. Natürlich ist das auf den ersten Blick unglaublich kompliziert; natürlich ist das auch das, was uns im täglichen Geschäft beschäftigt. Aber in Wahrheit ist es ein unglaubliches Glück, dass wir zum ersten Mal in unserer Geschichte in einem Zustand leben, in dem um Deutschland herum nur befreundete Länder und Staaten sind, die unter demselben Dach der Europäischen Union organisiert sind. Für einen Kontinent, auf dem Krieg das Normale war, ist das eine mittlere Sensation. Es ist großartig, was wir jetzt hier und heute erleben, meine Damen und Herren!
Deswegen kann ich nur denen sagen, die heute mit Maximalpositionen kommen - von Rechtsaußen und von Linksaußen hört man ja Vieles, was man hätte besser machen sollen -: Das ist leicht gesagt. Jeder wird es so sehen, dass einiges, hätten wir den Vertrag alleine erstellt, ohne auf die anderen 26 Staaten Rücksicht zu nehmen, anders gekommen wäre. Aber wir hätten auch fetzige Diskussionen erlebt. Erst recht erlebt man solche, wenn sich 27 Staaten einigen müssen. Deswegen gilt, wie ich denke, die Erkenntnis von Konrad Adenauer: Wenn man das Beste in der Europapolitik nicht erreichen kann - das Beste wäre eine Verfassung gewesen, und zwar durch eine Volksabstimmung bestätigt -, ist man gut beraten, das Zweitbeste zu machen. Das, was heute vorliegt, ist das Zweitbeste. Es ist besser als alles andere, was wir an Alternativen haben.
Ich ahne, dass es Stunden und Tage geben wird, wo wir Deutsche die institutionellen Reformen, die die Bundeskanzlerin hier zu Recht als Erfolg darstellt und die wir heute loben - mehr Mehrheitsentscheidungen, kleinere EU-Kommissionen -, verfluchen werden. Wir werden nämlich erleben, dass es nicht für all unsere Auffassungen und Haltungen in Europa eine Mehrheit geben wird. Wir werden unglaublich kräftige Diskussionen mit mehr oder weniger lokalpatriotischer Ausprägung führen. Wir werden all das erleben. So stimmt das, was Sie, Frau Bundeskanzlerin, sagten: Man kann Brüssel besser machen, so wie man Mainz und München besser machen kann.
- Jetzt, wo Sie es sagen, Frau Künast. Auch die Grünen kann man besser machen.
Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, wir werden noch einige sehr empfindliche Diskussionen darüber führen. Das wird vor allem in Bereichen sein, die wir uns zurzeit nur zaghaft anzusprechen trauen. Ich meine die gesamte Entwicklung im Innen- und Rechtsbereich sowie das Selbstverständnis, auch das rechtsstaatliche Selbstverständnis. Das ist zum Glück in Deutschland außerordentlich sensibel ausgeprägt, wobei wir wissen, dass dies in anderen Ländern nicht unbedingt zwingend so der Fall ist.
Das, was wir heute beschließen, ist schlechter als eine Verfassung mit Volksabstimmung, aber besser als die Alternative, nämlich nichts zustande zu bringen. Vor allem ist es die Konsequenz aus der Erweiterung der Europäischen Union. Natürlich fragen sich viele, ob einige Länder unbedingt dazukommen mussten, ob diese Länder überhaupt schon die mitteleuropäischen Standards erfüllen. Aber die Erweiterung der Europäischen Union liegt vor allem aufgrund unserer geografischen Lage im deutschen Interesse, übrigens nicht nur im deutschen friedenspolitischen Interesse, sondern auch im deutschen ökonomischen Interesse. Viele reden über die Globalisierung. Dass wir einen Binnenmarkt mit etwa 500 Millionen Bürgerinnen und Bürgern, also Teilnehmern dieses Binnenmarktes, bekommen, ist in Wahrheit eine ausgezeichnete Antwort auf den wachsenden Wettbewerbsdruck in der Welt durch die Globalisierung.
Auch die ökonomischen Chancen steigen. Deutschland ist der Gewinner der Europäischen Union, auch wenn wir viel dafür zahlen. Wir sind der Gewinner der Europäischen Union, weil kein Land so abhängig ist vom Export und damit auch vom großen europäischen Binnenmarkt wie wir Deutsche. Etwas anderes haben wir nicht.
Europa wird mit diesem Vertrag besser funktionieren. Mehr überzeugte Europäer schafft er noch nicht. Das hätte aus unserer Sicht ein Verfassungsvertrag mit einer Volksabstimmung leisten können. Aber wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass dies nicht erreichbar war. Wir alle wissen, dass das in anderen Ländern per Volksabstimmung gescheitert ist. Jetzt gibt es diesen Vertrag. Wir als FDP-Fraktion werden aus innerster Überzeugung den Vorlagen einstimmig zustimmen.
Ich möchte nun noch zwei Bemerkungen machen, von denen ich überzeugt bin, dass wir sie hier berücksichtigen sollten. Aus Sicht einer liberalen Partei, einer liberalen Fraktion ist es nicht erfreulich, dass sich beispielsweise der Gedanke eines freien und funktionierenden Wettbewerbs, eines unverfälschten Wettbewerbs - das ist eigentlich ein klassischer Gedanke der Gründer der sozialen Marktwirtschaft - in einer Protokollnotiz verstecken muss. Das bedauern wir. Aus unserer Sicht hat dies einen zu sehr wohlfahrtsstaatlichen Anstrich. Aber so ist es nun einmal bei einem Kompromiss.
Dies hätten wir gerne anders gesehen. Aber das kommt jetzt so, und man muss es akzeptieren.
Natürlich ist aus unserer Sicht völlig klar - das wird unsere Aufgabe sein, auch aufgrund unserer deutschen Tradition der Währungsstabilität -, dass die Europäische Zentralbank nicht irgendeine, sondern die entscheidende Institution zur Wahrung der Stabilität des europäischen Finanzmarktes ist. Von daher müssen wir mit Argusaugen darauf achten, dass die Europäische Zentralbank nicht zum politischen Spielball von gelegentlichen Stimmungen wird. Wir wissen, andere Länder gehen an diese Sache anders heran. Umso wichtiger ist es, dass wir Deutsche unsere Währungskultur in Brüssel nachdrücklich vertreten.
Ich komme zum Schluss. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben völlig zu Recht auf die Chancen hingewiesen, die jetzt, jedenfalls theoretisch, durch eine besser koordinierte Außenpolitik entstehen. Das beschäftigt und bewegt natürlich schon seit langer Zeit auch den Außenminister. Wir hoffen, dass das mehr sein wird als eine Institution. Wir hoffen, dass das mehr sein wird als eine strukturelle Beruhigung. Das muss mit Leben und Seele gefüllt werden. Nur dieses Amt eines europäischen Quasi-Außenministers zu schaffen, ohne die Bereitschaft, in Europa zu einer gemeinsam koordinierten Außen- und Sicherheitspolitik zu kommen, wäre zu wenig. Dahinter muss auch der Wille stehen, gemeinsam zu handeln. Egal wer regiert, ob in Deutschland oder in anderen Ländern, es ist nicht gut, wenn wir in Europa, und zwar noch in diesen Tagen, zulassen, dass andere außerhalb von Europa es schaffen können, uns in Europa außenpolitisch und sicherheitspolitisch zu spalten.
Das ist übrigens etwas, was bei der Raketenstationierung aus unserer Sicht zu kurz gekommen ist. Es ist nicht nur für die NATO eine Frage, ob die USA in Polen und in Tschechien Raketen stationieren, sondern es ist auch eine europäische Frage; denn wenn wir es mit der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik ernst meinen, können wir Zonen unterschiedlicher Sicherheit in Europa nicht zulassen.
Wir haben ein Interesse an einer gemeinsamen Europa- und Außenpolitik, das heißt an einer Außenpolitik, die der Abrüstung verpflichtet ist und die nicht sehenden Auges eine neue Aufrüstungsspirale zulässt.
Das ist das, was ich dazu beitragen wollte. Wir werden zustimmen.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Kurt Beck.
Kurt Beck, Ministerpräsident (Rheinland-Pfalz):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer die Geschichte Europas kennt, wird feststellen: Die europäische Einigung ist eine Erfolgsgeschichte. Mit dem Lissabon-Vertrag, der heute vorliegt und der zum 1. Januar des kommenden Jahres in Kraft treten wird, haben wir einen vorläufigen Abschluss dieses Einigungsprozesses gefunden.
Freilich, es war ein langer Weg. Ich darf daran erinnern, dass Sozialdemokraten bereits im Jahr 1925 in ihrem Heidelberger Programm beschlossen haben: Unser Ziel ist, die vereinigten Staaten von Europa zu erreichen. Wenn einige dieser Gedanken Eingang in die Politik gefunden hätten, wäre uns vieles erspart geblieben.
Wir sind uns sicher einig, dass es ein zäher Prozess ist, mit 27 Staaten Regelungen zu finden und Entscheidungen herbeizuführen, die die Interessen der großen Staaten wie Italien, Frankreich, Großbritannien und Deutschland genauso berücksichtigen wie die der kleinen und kleinsten Staaten Europas. Aber wer die Kraft zum Interessensausgleich nicht findet, wird den Kerngedanken dieses Europas, das aus eigenständigen Staaten zusammengesetzt ist und damit auch deren Geschichte und besondere Bedürfnisse berücksichtigen muss, verfehlen.
Entscheidend ist deshalb Kompromissbereitschaft, die freilich auf dem Weg zu der jetzigen Entscheidung auch viele Rückschläge erlebt hat. Wir empfinden es als einen Rückschlag, dass die Arbeit des Konvents, eine europäische Verfassung nicht nur vorzulegen, sondern auch ratifiziert zu bekommen, letztendlich in dieser Form nicht erfolgreich war. Aber es ist anerkennenswert - ich will das, Frau Bundeskanzlerin, Herr Bundesaußenminister, auch Ihnen gegenüber ausdrücklich unterstreichen -, dass dieser Rückschlag eben nicht zu einer dauerhaften Lähmung Europas geführt hat, sondern dass es gerade unter deutscher Ratspräsidentschaft möglich war, einen neuen Anlauf zu einem Prozess zu nehmen, der dann unter portugiesischer Ratspräsidentschaft seinen Abschluss gefunden hat.
Dabei müssen wir uns immer wieder in Erinnerung rufen, dass dieser vorläufige Abschluss natürlich keine Öffnung enthält, die es ermöglicht, sofort wieder neue Verhandlungen über Verträge zu führen. Aber es wird damit eine Idee transportiert, mit der uns die Aufgabe gestellt wird, an dem Gedanken einer weiteren Festigung und einer weiteren Zusammenführung entlang der gemeinsamen Werte und Ziele dieses Europas zu arbeiten. Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten bleibt deshalb das Ziel, eine europäische Verfassung zu erreichen, eine große Vision, die wir auch weiter verfolgen werden.
Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass mit den Lissabonner Verträgen die groß gewordene Europäische Gemeinschaft handlungsfähig gemacht worden ist. Es ist wohl wahr, was der Kollege Westerwelle angesprochen hat: Diese Handlungsfähigkeit setzt teilweise sehr viel Insiderwissen voraus, wenn man die Mechanismen erkennen und durchschauen will. Dennoch gilt: Wir haben eine Straffung der Kommission und eine Stärkung der Parlamente erreicht - übrigens nicht nur des Europäischen Parlamentes, sondern auch des Deutschen Bundestages und der Landtage.
Frau Bundeskanzlerin, ich finde das Beispiel Mainz - der Kollege Beckstein wird es mir verzeihen - schon gut gewählt. Daran kann es überhaupt keinen Zweifel geben.
Im Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz ist auf dem Hambacher Schloss der Gedanke eines gemeinsamen Europas schon 1832 propagiert worden, zu einer Zeit, als in Bayern noch Truppen gegen alles, was demokratisch erschien, ausgesandt wurden.
Ich gebe zu, Herr Beckstein, das hat sich geändert.
Ich will auch unterstreichen, dass mit diesen Verträgen ausdrücklich betont worden ist, dass die Europäische Grundrechtecharta Teil dieser Wertegemeinschaft ist. Aber an dieser Stelle muss man etwas Wasser in den Wein gießen und feststellen: Das Opting-out von Großbritannien und Polen ist sicher keine sehr angenehme Begleiterscheinung.
Ich will auch den Ansatz hervorheben, dass europäische Bürgerinnen und Bürger, wenn ihre Zahl mindestens 1 Million beträgt, ihrerseits eine Initiative auf den Weg bringen können. Die Kommission wird sich dann mit ihrem Anliegen befassen. Ja, 1 Million ist sehr viel; die Hürden sind sehr hoch. Es ist aber ein neuer Gedanke, der die Idee der europäischen Bürgerschaft transportiert. Auch da wird das letzte Wort noch nicht gesprochen worden sein.
Unterstreichen will ich, dass wir uns alle wünschen, die Europäische Gemeinschaft möge in ihrem außenpolitischen Handeln und Wirken stärker werden. Sie kann nur stärker werden, wenn wir im Inneren einiger werden. Deshalb gilt es, gemeinsame Werte immer wieder zu betonen und gemeinsame Haltungen zu den Konfliktsituationen dieser Welt im Rahmen vieler bilateraler Kontakte herbeizuführen. Mit dem Hohen Vertreter für den außenpolitischen Bereich - ich hätte ihn lieber ?europäischer Außenminister? genannt - und seiner Verankerung an der Spitze der Kommission ist auch dort ein Faktum geschaffen worden. Ich bin davon überzeugt, dass sich die große Bedeutung dieses Amtes zeigen wird. Aber auch dort sind wir noch nicht am Ende eines Prozesses. Wir haben diesen Prozess zunächst neu angestoßen und neue Möglichkeiten eröffnet.
Dass dieser Vertrag für Europa und für die Menschen gut ist, wurde uns in der Tat deutlich vor Augen geführt, als wir uns an den Gedenktagen in den letzten Wochen die Vergangenheit in Erinnerung zurückgerufen haben.
Uns ist deutlich geworden, was es bedeutet, wenn man so eng miteinander lebt wie auf diesem Kontinent mit so vielen Nationen und statt Miteinander Gegeneinander aufkommen lässt. Deshalb war es eine wirklich entscheidende Idee, angesichts des Nationalismus, des übertriebenen Interesses der einzelnen Staaten, was immer wieder zu Kriegen und Auseinandersetzungen, ja zu angeblichen Erbfeindschaften zwischen Völkern geführt hat, diesem europäischen Einigungsprozess mit dem Ziel eines friedlichen Zusammenlebens, mit dem Ziel, souveräne Staaten auf Gemeinsamkeit zu verpflichten, und dem Recht und der Freiheit dabei unverbrüchliche Bedeutung zukommen zu lassen.
Es war eine großartige Entscheidung, dass nach 1945 nicht das wieder getan worden ist, was 1871 und 1918 geschehen ist, nämlich dass man den jeweils Unterlegenen gedemütigt hat und damit eine neue Grundlage für Auseinandersetzungen und jeweils am Ende, wie wir wissen, auch für Krieg gelegt worden ist. Die großen Ideen von Jean Monnet und Robert Schuman haben gegriffen. Wir Deutsche haben unsererseits verstanden, dass wir ein gemeinsames Deutschland nur in einem gemeinsamen freien Europa erreichen können. Diese Idee ist dann - es werden bald 20 Jahre her sein - Gott sei Dank auch Wirklichkeit geworden. Diese Dimension nicht immer wieder neu zu sehen und sie uns nicht in Erinnerung zu rufen, würde bedeuten, eine Kernvoraussetzung für die Gemeinsamkeit auf diesem Kontinent zu vergessen, und das wäre sträflich.
Frieden und Freiheit sind ein Markenzeichen dieser Gemeinschaft, ein Markenzeichen, von dem wir uns wünschen, dass es auch ausstrahlt, dass deutlich wird, dass dieses Beispiel Europas auch in anderen Teilen der Welt nicht nur wahrgenommen werden sollte, sondern dass es sich lohnt, auch bei scheinbar noch so unüberwindbaren Konflikten den Weg zum Miteinander zu suchen. Denn weiter auseinander, als wir in Europa waren oder scheinbar waren, sind andere auf dieser Welt, die gegeneinanderstehen, auch nicht. Es lohnt sich, diesen Weg zu gehen und dafür auch Geduld und Kraft aufzuwenden.
Ich will auch auf die konkreten Erfolge dieses Europas eingehen. Zu Recht ist die wirtschaftliche Bedeutung dieser Europäischen Gemeinschaft genannt worden - von den Römischen Verträgen im Europa der Sechs bis zur heutigen Situation. Nur wenige Zahlen unterstreichen in der Tat die besondere Interessenlage der Bundesrepublik Deutschland an diesem gemeinsamen Wirtschaftsraum. Der Anteil Europas am gesamten deutschen Außenhandel lag 2007 bei 75 Prozent. 65 Prozent davon entfielen auf die EU-Staaten. Auf die Länder der Eurozone entfielen davon über 40 Prozent. Der dynamische und sich auch weiter positiv entwickelnde Handel und die wirtschaftlichen Beziehungen mit den neuen Beitrittsstaaten haben die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika in ihrer Größenordnung schon übertroffen. Ökonomisch können wir gar keinen besseren Weg gehen, als diese offene Europäische Gemeinschaft für unsere exportorientierte Wirtschaft zu nutzen.
Vielleicht erinnern wir uns für einen kleinen Moment an die Bedenken bei der Einführung des Euro. Natürlich wissen wir um die Sorgen vieler Menschen, um Teuerungseffekte und Ähnliches mehr. Wir sollten uns aber auch in Erinnerung rufen, wie stabil diese Währung geworden ist und was diese Stabilität derzeit bedeutet. Das wird uns klar, wenn wir zum Beispiel an die Rohstoffkosten denken, die auf Dollarbasis abgerechnet werden. Die Einführung des Euro hat entscheidend dazu beigetragen, dass unsere Wirtschaft eben nicht aufgrund der Entwicklungen in jüngster Zeit in eine tiefe Rezessionsphase geriet.
Freilich fehlt für uns an diesem Europa immer noch ein ganz entscheidender Teil, nämlich das, was wir soziales Europa nennen.
Die Verträge von Lissabon bieten allerdings eine Chance, dieses zu erreichen.
Das ist ein Bewertungsunterschied zwischen uns und denjenigen, die Ablehnung empfehlen. Sie geben uns eine Chance, und wir müssen diese Chance nutzen. Ich stimme allen zu, die sagen, dass wir die wirkliche soziale Dimension, den Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland, nur durch gemeinschaftliche Anstrengung sicherstellen können. Ansonsten würden wir ständig in einer Konfliktsituation leben. Wer die Situation zwischen den USA und Mexiko betrachtet, weiß, dass noch so hohe Zäune und noch so viele Polizisten Migrationswanderungen und Ausgleichsbestrebungen gegenüber sozialen Verwerfungen nicht aufhalten können.
Für uns gilt es, diese Chance zu nutzen, wenn dieser Vertrag ratifiziert ist, und in den kommenden Jahren neben der ökonomischen die soziale Dimension dieses Europas in den Mittelpunkt unserer Weiterentwicklungsbemühungen zu stellen.
Wir wollen keinen einheitlich organisierten Sozialraum, aber einen Sozialraum, der von gleichen Ideen ausgeht: Die Arbeitsbedingungen müssen anständig sein, und die Menschen müssen die Chance haben, durch ihre eigene Arbeit und Anstrengung für sich und ihre Familien zu sorgen. Dann werden wir eine hohe Zustimmung zu diesem europäischen Prozess erlangen.
Wir sagen Ja zu einer sozialen Marktwirtschaft in Europa, Ja zur Stärkung der Arbeitnehmerrechte im europäischen Binnenmarkt und Ja zur Stärkung der Mitbestimmungsrechte. Bei der Bildung europäischer Unternehmensstrukturen muss sichergestellt sein, dass die Arbeit der Betriebsräte und die Mitbestimmungsabsicherung auf diese Ebene gehoben werden. Ansätze dafür haben wir gefunden; sie müssen weiterentwickelt werden.
Wer an Erfahrungen erinnert wird, die wir in jüngster Zeit zum Beispiel mit Nokia gemacht haben, sieht schnell ein, dass das nicht irgendwelche ideologischen Forderungen sind, sondern Forderungen, die mit der realen Situation von Millionen Menschen in dieser Gemeinschaft zu tun haben. Es darf nicht sein, dass heute die Deutschen gegen die Rumänen und morgen die Rumänen gegen wen auch immer ausgespielt werden.
Ich will gar nicht verschweigen, dass es mir in besonderer Weise Sorge macht, wie sich die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs entwickelt hat.
Ansätze, die man spürt, beispielsweise in dem Fall Rüffert, wo es um die Frage der Gültigkeit des Tariftreuegesetzes des Landes Niedersachsen ging, sehe ich mit Sorge. Hier wurden entgegen dem Plädoyer des Generalanwalts Entscheidungen über die Auslegung der Verträge getroffen, die die ökonomische Betrachtung absolut in den Vordergrund stellen, sodass der soziale Ausgleich dahinter deutlich zurücktritt. Solche Ansätze müssen wir durch eine Weiterentwicklung der Verträge verhindern. Lissabon bietet eine Chance dafür.
Als Vertreter des Landes Rheinland-Pfalz erlaube ich mir, morgen im Bundesrat eine Initiative dazu vorzulegen.
- Ich danke Ihnen für den Zuruf. Genau darauf wollte ich jetzt zu sprechen kommen.
Sie können davon ausgehen, dass ein Sozialdemokrat dieses Thema nie und nimmer vergessen wird.
Deshalb sage ich: Das, was in 22 Mitgliedstaaten Standard ist, muss auch in Deutschland Standard werden. Wir brauchen Regeln, um das Prinzip ?Guter Lohn für gute Arbeit? in ganz Europa durchzusetzen.
Das heißt unter diesem Gesichtspunkt: Wettbewerb ja. Aber es heißt auch, dass wir keinen Wettbewerb um die schnellere soziale Abwärtsspirale wollen, sondern einen Wettbewerb um die Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger von Malta bis Schweden erreichen wollen. Das ist unsere Vorstellung von einem sozial gerechten Europa.
Meine Damen und Herren, dieses Europa hat den Menschen Chancen gebracht, und es wird an uns sein, den Bürgerinnen und Bürgern zu vermitteln und deutlich zu machen, dass Europa auch ihrer Unterstützung bedarf: durch Teilhabe an der Europawahl, aber auch durch Annahme der Entwicklungen auf dieser Ebene.
Deshalb sagen wir Ja zu einem Europa, das sich Frieden und Freiheit und dem Gebot der Subsidiarität verpflichtet weiß. Wir sagen Ja zu einem Europa, das ökonomischen Erfolg mit ökologischer Gerechtigkeit und Vernunft, mit sozialem Ausgleich und mit sozialer Gerechtigkeit untrennbar verbindet.
Dieses Europa will in Frieden und Freiheit und in Fairness mit anderen Teilen dieser Welt zusammenleben und konkurrieren; ich glaube, das sollte unsere Zukunftsvision sein. Es sollte nicht der Versuchung erliegen, andere Kulturen und andere Kulturkreise zu kopieren. Vielmehr sollte dieses Europa eine eigene Identität entwickeln, die durch die Vielfalt der Kulturen immer wieder lebendig gehalten und angetrieben wird, und auf diese Art und Weise zeigen, dass eine menschliche, soziale, ökologisch vernünftig handelnde, friedliche Gesellschaft erfolgreich mit anderen Teilen dieses Erdballs konkurrieren kann.
Wenn es uns gelingt, daraus auch entlang konkreter Themen eine Vision zu entwickeln - das ist, wie ich glaube, unsere gemeinsame Hoffnung -, dann werden wir von Generation zu Generation die Zustimmung finden, die notwendig ist, um diese europäische Idee unumkehrbar zu machen.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Dr. Lothar Bisky ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke.
Dr. Lothar Bisky (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Linke engagiert sich für ein Europa des Friedens, der Freiheit, der Demokratie, der sozialen und ökologischen Sicherheit und der Solidarität.
Wir sind in diesem Hause die Einzigen, die dem Vertrag von Lissabon die Zustimmung verweigern. In der Gesellschaft und in Europa stehen wir mit unserer kritischen Haltung keineswegs allein da.
Auf der europäischen Ebene - auch in Deutschland - haben Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter ihre Bedenken gegen den neoliberalen Geist des Lissabon-Vertrages deutlich gemacht. Die Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen in der SPD, AfA, lehnt den Lissabon-Vertrag ab und fordert die SPD-Abgeordneten auf, diesem Vertrag im Bundestag nicht zuzustimmen. Die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges fordern, den EU-Vertrag nicht zu ratifizieren. Ob Pax Christi oder Attac, sie alle weisen darauf hin, dass der Lissabon-Vertrag nicht den Interessen der Mehrheit der Menschen entspricht.
Wer also meint, nur die Linke habe Bedenken, irrt gewaltig und sollte sich mit den Positionen von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern und anderen Initiativen und Verbänden auseinandersetzen.
Wenn Herr Kollege Beck der Ansicht ist - das hat er nicht hier, aber an anderer Stelle gesagt -, dass man mit einer Partei, die diesen EU-Vertrag ablehnt, nicht koalieren könne, dann sage ich als Antwort darauf ganz deutlich: Wenn sich Regierungsfähigkeit an der Akzeptanz von Beihilfe zum Sozialdumping bemisst, dann wollen wir nicht regierungsfähig sein.
Wieder liegt uns eine Vertragsänderung und keine Verfassung für die Bürgerinnen und Bürger der Union vor. Der Verfassungsentwurf wurde von der französischen und der niederländischen Bevölkerung abgelehnt.
Der französische Altpräsident Giscard d'Estaing sagt über den heute auf dem Tisch liegenden Vertrag, er unterscheide sich nur unwesentlich vom Verfassungsentwurf. Man merkt die Absicht und ist verstimmt.
Von einer Vereinfachung der EU-Verträge und von mehr Transparenz kann leider keine Rede sein. Wir hätten dringend rechtzeitig eine lesbare Fassung gebraucht.
Glasnost auch für Europa! Einen Antrag dazu hat die Linksfraktion vorgelegt; denn das gesamte Vertragswerk ist für normale Menschen schwer verständlich. Europapolitik wird so zunehmend eine Auslegungssache für Juristinnen und Juristen. Ich frage Sie: Wie sollen sich denn so die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union mit Europa identifizieren können?
Die EU-Kommission finanziert Werbekampagnen, um den Menschen, wie es heißt, Europa zu erklären. Ich sage Ihnen: Solange Sie eine Politik über die Köpfe der Bürgerinnen und Bürger hinweg machen und solange die Menschen nicht das Gefühl haben, am Bau des europäischen Hauses beteiligt zu sein, so lange ist das herausgeschmissenes Geld.
Die Art und Weise des Zustandekommens dieses Vertrages spricht Bände. Es ist ein Vertrag der Regierenden, nicht der Bürgerinnen und Bürger.
Wieder tagte eine Regierungskonferenz hinter verschlossenen Türen, wieder konnten sich die Bürgerinnen und Bürger nicht an der Gestaltung der vertraglichen Grundlagen der Zukunft der Union beteiligen. Über das Ergebnis dürfen sie nicht mitentscheiden. Das Einzige, was sie dürfen, ist, die Zeche zu bezahlen. Eine solche Politik lehnen wir ab.
Europapolitik darf nicht länger eine Politik von Eliten für Eliten sein. Die europäischen Bürgerinnen und Bürger wollen ihr Europa mitgestalten. Dafür müssen sie über die Grundausrichtung europäischer Politik mitentscheiden können.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Koalition, dass Sie die Bevölkerung von der Entscheidung ausschließen, zeigt, dass Sie dem Vertrag von Lissabon selber nicht über den Weg trauen;
sonst hätten Sie doch nichts zu befürchten. Wir Linken wollen eine Volksabstimmung. Hier sind wir nicht allein.
- In Berlin stimmen wir mit dem überein, was ich hier sage, Frau Künast. Das könnten Sie wissen.
Alle in der Europäischen Linkspartei zusammengeschlossenen 28 Parteien fordern Volksabstimmungen über das Fundament des europäischen Hauses. Wir verweisen da auf Irland; das ist ein vernünftiger Weg.
Nicht nur die Linksparteien, auch die Friedenskoordination Berlin, die Initiative ?Mehr Demokratie? und weitere Initiativen haben Unterschriften für ein Referendum in Deutschland zum Vertrag von Lissabon gesammelt. Diese Unterschriften werden heute dem Bundestag übergeben.
Wir Linken sind engagierte Internationalisten, und wir sind proeuropäisch.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Bisky, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle?
Dr. Lothar Bisky (DIE LINKE):
Ja.
Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Herr Kollege Bisky, Sie haben nachdrücklich für eine Volksabstimmung geworben, Sie haben nochmals zum Ausdruck gebracht, dass Sie eine Volksabstimmung für die Legitimation des europäischen Hauses für nötig halten.
Aktuell steht ein Volksentscheid in Berlin an. Meine Frage ist: Was ist davon zu halten, wenn Regierende ankündigen, dass sie sich um das Votum der Bürgerinnen und Bürger nicht scheren werden?
Auf den Punkt gefragt: Werden Sie für den Fall, dass sich die Berlinerinnen und Berliner für den Weiterbetrieb des Flughafens Tempelhof aussprechen,
zu dieser Entscheidung stehen und den Willen des Volkes da, wo Sie regieren, umsetzen?
Dr. Lothar Bisky (DIE LINKE):
Herr Westerwelle, das ist jetzt außerhalb dieser Thematik.
Ich werbe dafür, sich dagegen auszusprechen, dass der Flughafen Tempelhof weiter betrieben wird.
Aber eine Volksabstimmung ist eine Volksabstimmung, und man hat sich daran zu halten.
- Warten Sie Sonntagabend ab!
Ich möchte jetzt zum Thema Europa zurückkehren. Wir Linken sind Internationalisten, und wir sind proeuropäisch.
Wir leben und arbeiten wie Sie, Herr Trittin, in Europa und in Deutschland, und wir fühlen uns für die Entwicklung Europas mit verantwortlich.
Nach den wenig erfolgreichen und vor allem undemokratischen und intransparenten Regierungskonferenzen von Amsterdam und Nizza wurde ein Konvent einberufen. Das haben wir begrüßt. Wir haben aktiv an der Ausarbeitung des Verfassungsentwurfes mitgearbeitet, ebenso an der Grundrechtecharta der EU. Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Europa liegt auch uns am Herzen. Die Linke ist für Europa. Es gibt aber genügend Gründe, heute mit Nein zu stimmen.
Dass wir als Linke den Vertrag von Lissabon in der vorgelegten Fassung ablehnen, hat einzig inhaltliche Gründe. Wir übersehen nicht, dass dieser Vertrag gegenüber dem Vertrag von Nizza durchaus Verbesserungen bringt; das betrifft beispielsweise die Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlaments, die stark erweitert werden, und die Beteiligung der nationalen Parlamente, erste Schritte zu mehr direkter Demokratie. Wir verleugnen das Positive nicht.
Der Vertrag von Lissabon bringt aber leider vor allem gravierende Nachteile. Von diesem Reformvertrag geht kein Friedenssignal aus.
Die Bestimmungen der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik sind nun vor allem militärisch geprägt. Wir halten diese Ausrichtung für falsch und auch für gefährlich.
Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten auf schrittweise Verbesserung ihrer militärischen Fähigkeiten, Art. 42 Abs. 3, heißt doch im Klartext: ständige Aufrüstung.
Im Sinne einer friedlichen, demokratischen, sozialen und ökologischen Entwicklung brauchen wir aber mehr Abrüstung.
- Da stimme ich Herrn Westerwelle ausdrücklich zu.
Für ebenso kontraproduktiv wie überflüssig halten wir die Battle-Groups. Zur Terrorismusbekämpfung taugen sie nicht, und weltweite Militärinterventionen sind der falsche Weg, um Frieden zu erhalten oder herzustellen.
Wir bleiben dabei: Wir sagen Ja zur Selbstverteidigung, aber außerhalb des Hoheitsgebietes der EU sollen militärische Operationen der EU nicht stattfinden.
Aufrüstung ist ein falsches Signal. Es muss Schluss sein mit dem historischen Völkergemetzel der vergangenen Jahrhunderte. Um die Probleme der Europäischen Union und die globalen Probleme zu lösen, brauchen wir politische Mittel.
Wir wollen keine völkerrechtswidrigen Kriege, sondern friedliche Lösungen politischer und sozialer Konflikte. Das heißt, wir wollen ein vertraglich zu verankerndes Verbot von Angriffskriegen, eine strikte Bindung an die UN-Charta und die Einhaltung der international anerkannten Völkerrechtsnormen.
Frieden hat für uns Linke absolute Priorität.
Man hört, dass die Linke wegen ihrer friedlichen Außenpolitik angeblich nicht salonfähig ist. Wenn die Meinung der anderen Parteien darin besteht, dass weitere kriegerische Lösungen anzustreben sind, dann sind wir froh, nicht salonfähig zu sein.
Wenn die Salonfähigkeit durch Krieg definiert wird, dann heben wir uns gerne davon ab. Zu einem solchen Salon begehren wir keinen Einlass.
Mit der Einrichtung einer ständigen strukturierten Zusammenarbeit für militärisch besonders anspruchsvolle Staaten wird ein militärisches Kerneuropa auf den Weg gebracht. Im Vertrag von Nizza war eine verstärkte Zusammenarbeit von Mitgliedstaaten in sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen durch Art. 27 b noch explizit ausgeschlossen. Das hätte so bleiben müssen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, alle Regelungen, die Einfluss auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen haben, sind uns sehr wichtig, weil durch sie in das Leben von fast einer halben Milliarde Menschen eingegriffen wird. Ich habe wohl zur Kenntnis genommen, Herr Beck, dass die soziale Frage auch bei Ihnen eine wichtige Rolle spielt.
Ein neoliberaler europäischer Binnenmarkt und eine neoliberale Wirtschafts- und Währungspolitik, mit denen vornehmlich auf Wettbewerbsfähigkeit und Preisstabilität gesetzt wird, haben den meisten Menschen in Europa mehr geschadet als genutzt.
Unsichere Jobs und massenhaft niedrige Löhne sind das Ergebnis dieser Politik. Trotzdem ist der Vertrag von Lissabon nicht grundlegend verändert worden. Zwar wurde in Art. 3 EUV die soziale Marktwirtschaft als Ziel der EU definiert, gleichzeitig wurde sie aber an die Wettbewerbsfähigkeit gebunden. In den Art. 119 und 120 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union wird das Ziel der sozialen Marktwirtschaft jedoch wieder zurückgenommen, indem von offener Marktwirtschaft und freiem Wettbewerb die Rede ist. Dies ist nicht nur widersprüchlich. Nun kann sich jede und jeder beliebig aussuchen, was gebraucht wird. Letztlich entscheiden die Gerichte. Wohin das führt, haben die jüngsten drei Urteile des Europäischen Gerichtshofes zu Viking, Laval und Rüffert deutlich gezeigt: zu Lohndumping, zu Sozialdumping und zu einem eingeschränkten Streikrecht.
Wir haben uns gefragt, wie der Vertrag wirtschaftlich, sozial und politisch interpretiert wird. Unsere Befürchtungen sind durch die drei Urteile des Europäischen Gerichtshofes bestärkt worden. Meine Damen und Herren, sagen Sie den Beschäftigten, was diese Urteile für sie bedeuten. Die Befürchtungen der Linken waren und sind begründet. Sie werden durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes vollauf bestätigt; denn diese Urteile sind eindeutig gegen die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gerichtet. Diese Entwicklung ist verhängnisvoll.
Wir lehnen eine solche neoliberale Politik ab.
Wir können es nicht mit unserem Gewissen vereinbaren, einer Politik Vorschub zu leisten, die den Unternehmen Extraprofite sichert, den Beschäftigten aber nicht einmal Mindestlöhne gönnt.
Unsere Vorstellung von Europa ist nicht, dass Sozialabbau Gesetzescharakter erhält.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, ich bin sicher, dass auch manch eine oder manch einer in Ihren Reihen von den arbeitnehmerfeindlichen Urteilen des Europäischen Gerichtshofes kalt erwischt wurde. Der Europäische Gerichtshof hatte den Vertrag von Nizza auszulegen. Um solche Urteile in Zukunft zu vermeiden, muss der Vertrag von Lissabon geändert werden, zum Beispiel durch ein weiteres Protokoll zum Vertrag, das eine soziale Fortschrittsklausel beinhaltet.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Redezeit.
Dr. Lothar Bisky (DIE LINKE):
Dazu haben wir einen entsprechenden Antrag vorgelegt.
Wir Linken wollen eine Europäische Union, die sich in ihren Werten zur Sozialstaatlichkeit bekennt, und zwar nicht nur theoretisch, sondern auch im Detail.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Trittin, Bündnis 90/Die Grünen.
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Bisky, ich zitiere aus dem Vertrag. Der Vertrag bekennt sich zu ?Frieden, Sicherheit, globaler nachhaltiger Entwicklung, Solidarität? sowie - jetzt kommt eine Passage für Herrn Westerwelle - ?zu freiem und gerechtem Handel, zur Beseitigung der Armut und zum Schutz der Menschenrechte? und ?zur Wahrung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen?. Das ist für mich der Kern dieses Vertrages, und es ist der Grund, warum wir diesem Vertrag zustimmen werden.
Durch diesen Vertrag wird Europa demokratischer. Die Parlamente werden gestärkt. Die Bürger erhalten mehr Rechte, und sie erhalten eine Charta von Grundrechten.
Man wundert sich gelegentlich, dass Europa dennoch oft einen schlechten Ruf hat und so schlechte Reden wie Ihre, Herr Bisky, eine solche Wirkung entfalten. Ich habe darüber nachgedacht, wie es dazu kommen kann. Es gibt ein verblüffendes Zusammenspiel zwischen nationalistischen Populisten auf der einen Seite und Neoliberalen auf der anderen Seite.
Konservatives und neoliberales Schlechtreden von Europa befördert die Glaubwürdigkeit von solchen Polemiken wie Ihren. Das ist das Problem.
Man kann zum Beispiel nicht, verehrte Frau Bundeskanzlerin, zu Recht über die friedensstiftende Wirkung dieses gemeinsamen Europas und darüber sprechen, wie viel die Erweiterungsperspektive zur Friedensordnung dieses Kontinents beigetragen hat, es aber gleichzeitig in den eigenen Unionsparteien dulden, dass die Herren Beckstein und Huber den Beitritt und die Beitrittsperspektive der Türkei bei jeder Gelegenheit zum Anlass für innenpolitische Polemiken nehmen. Das diskreditiert Europa.
Sie haben sich für einen geordneten Wettbewerb ausgesprochen, verehrte Frau Bundeskanzlerin. Aber wenn es um das Monopol von Eon, EnBW, RWE und Vattenfall auf das Stromnetz geht, dann verteidigen Sie dieses Monopol auch dann noch, wenn Eon es schon selbst nicht mehr haben möchte.
Sie haben sich für mehr Klimaschutz eingesetzt.
Aber wenn in Europa der einfachen physikalischen Tatsache Rechnung getragen wird, dass bei einem großen, schweren Auto mehr Sprit eingespart werden kann als bei einem kleinen Auto, dann sprechen Sie von einer ?Kriegserklärung? an die deutsche Industrie.
Das fasse ich mit den Worten zusammen: Sie reden von Europa, blockieren aber national. Diese Doppelzüngigkeit hat Ihnen in Newsweek zu Recht die Überschrift ?Europe?s Worst Double Talkers? eingetragen.
Wenn wir die Europaskepsis überwinden wollen, müssen wir mit dieser Politik, europäisch zu reden und national zu blockieren, aufhören. Wir, die Bundesrepublik Deutschland, müssen unsere Hausaufgaben in Europa machen. Der Lissabonner Vertrag fordert den Kampf gegen ?soziale Ausgrenzung und Diskriminierung? und verlangt die Förderung ?sozialer Gerechtigkeit und sozialen Schutzes, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen?. Ich führe das an, um deutlich zu machen, dass Ihre ewigen Polemiken gegen Europa - das zeigt insbesondere Ihr Verhalten beim Antidiskriminierungsgesetz -, gegen den Geist und den Wortlaut genau dieses Vertrages gerichtet sind, meine liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU.
Wir müssen Deutschland endlich europakompatibel machen. Herr Kollege Beck, Sie haben das Rüffert-Urteil angesprochen. Nach meiner Auffassung haben Sie das falsch interpretiert. Das ist keine schlechte Rechtsprechung. Vielmehr ist diese Rechtsprechung Folge des Versagens der Großen Koalition. Weil Sie es nicht geschafft haben, bestimmte Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären, ist dieses Urteil ergangen. Klagen Sie also nicht über das Gericht, sondern sorgen Sie dafür, dass in Deutschland mit einer Politik Schluss gemacht wird, die dazu führt, dass Menschen, die Vollzeit arbeiten, unter Tarif bezahlt werden! Das ist Ihre Hausaufgabe. Sie sollten nicht über das Gericht klagen.
Weil es bisher nicht gelungen ist, den in Europa einmaligen Zustand zu beenden, dass es keinen gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland gibt, können die Gleichen, die hier gegen Europa wettern, in Berlin, wo die Linkspartei regiert, für die Bewachung landeseigener Gebäude weiterhin 5,30 Euro pro Stunde zahlen. Das ist die Situation, für die auch Sie von der Großen Koalition ein Stück weit verantwortlich sind.
Lieber Herr Beck, Sie sind über Mainz und Malta auf Europa zu sprechen gekommen. Ich möchte einen Punkt ansprechen, der mich sehr interessiert. Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass die europäische Idee gerade im Schoße der Sozialdemokratie entstanden ist und dort sehr stark verankert ist. Sie haben den Beschluss von 1925 zitiert. Ich glaube, hier hat die Sozialdemokratie eine große Tradition zu verteidigen. Wenn das aber so ist, werter Herr Beck: Wie wird sich denn das Land Berlin am 23. Mai dieses Jahres im Bundesrat verhalten? Ich habe gestern mit Erschütterung zur Kenntnis genommen, dass im Berliner Abgeordnetenhaus der Antrag meiner Fraktion, dass der Senat dem Vertrag von Lissabon, für den Sie hier in aller Deutlichkeit gesprochen haben, zustimmen soll, von SPD und Linkspartei gemeinschaftlich abgelehnt worden ist.
Da wir bei europäischen Inseln sind, kann ich dazu nur sagen: Hic Rhodus, hic salta. Sie können nicht hier im Bundestag ein glühendes und, wie ich finde, glaubwürdiges Bekenntnis zu Europa ablegen und sich dann von Oskar Lafontaine in Berlin am Nasenring durch die Manege führen lassen. Das geht nicht, Herr Kollege Beck. Sorgen Sie dafür, dass das nicht eintritt! Hier erwarte ich Führung.
Der Vertrag von Lissabon ist sicherlich nicht perfekt. Der Weg nach Europa wird noch lang sein. Aber in einem Punkt sind wir alle oder ist zumindest die große Mehrheit einer Auffassung: Wenn es eine Antwort auf die Frage gibt, wie man die Globalisierung gerechter, ökologischer und demokratischer gestalten kann, dann ist es dieses gemeinsame Europa. Es ist eine Antwort auf diese Herausforderung. Dieses Europa demokratischer und handlungsfähiger zu gestalten, ist der Kern des Vertrages von Lissabon. Deswegen stimmen wir Grünen diesem Vertrag zu, auch die von uns mit gestellten Landesregierungen, die rot-grüne ebenso wie die schwarz-grüne.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun die Kollegin Angelica Schwall-Düren, SPD-Fraktion.
Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Mit der Ratifizierung des Lissabonner Vertrages gewinnen die Bürgerinnen und Bürger Europas. Mein Kollege Jo Leinen hat das dieser Tage sehr nachdrücklich unterstrichen: Es gewinnen die Parlamente, die Zivilgesellschaft, die Nationalstaaten, die Regionen und Europa selbst. Deswegen bin ich froh, dass wir heute mit ganz großer Mehrheit diesen Vertrag ratifizieren werden, wie es schon einige unserer Nachbarn getan haben. Insbesondere freue ich mich, dass Frankreich bereits ratifiziert hat, aber auch Polen, wo nur noch die Unterschrift des Präsidenten aussteht.
Wir haben heute schon sehr viel über die Erfolge des Lissabonner Vertrages gehört. Man kann es nicht genug unterstreichen: Die Demokratie gewinnt. Wir haben als Vertreter der Bürger und Bürgerinnen sowohl im Europäischen Parlament als auch im Deutschen Bundestag und in den Regionen eine Stärkung über diesen Vertrag zu erwarten. Aber auch die Bürgerinnen und Bürger selber gewinnen durch die Möglichkeit, ein Bürgerbegehren einzubringen und so die Agenda in der Europäischen Union mitzubestimmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ganz besonders wichtig ist mir die Stärkung der sozialen Dimension. Sie ist in der Zielsetzung zu finden, die im Lissabonner Vertrag festgeschrieben ist, aber auch ganz konkret in der Grundrechtecharta, in der eine ganze Reihe sozialer Grundrechte enthalten sind. Deswegen ist die Kritik von links, wir hätten es hier mit der Festschreibung des Turbokapitalismus zu tun und hier erfolge, wie im Antrag der Linken zu lesen ist, die Festlegung auf die Grundsätze eines neoliberalen Finanzmarktkapitalismus und den Verzicht auf Sozialstaatlichkeit, in keiner Weise nachzuvollziehen. Was ist denn nun richtig? Auf der anderen Seite erklärt uns die FDP, dass in diesem Vertrag zu viel Soziales enthalten sei und eine zu starke wohlfahrtsstaatliche Ausrichtung erfolge.
Nach meiner Überzeugung kommt es hier vor allen Dingen darauf an, was wir mit den neuen Grundlagen des Vertrags tun. Der Vertrag von Lissabon schreibt erstmals fest, dass das Prinzip des unverfälschten Wettbewerbs nicht mehr Ziel, sondern Instrument der EU ist und den Zielen der Vollbeschäftigung, des sozialen Fortschritts und der Preisstabilität dienen soll. Die Regelungen dieses Vertrages bieten beispielsweise für eine europarechtliche Sicherung der öffentlichen Daseinsvorsorge - ein Anliegen, das vielen Bürgern und, wie Sie sich vorstellen können, auch der SPD am Herzen liegt - eine Grundlage. Die vier Freiheiten des europäischen Binnenmarktes dürfen nicht zulasten der Verbraucherinnen und Verbraucher sowie der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gehen.
Auch ich möchte gerne in diesem Zusammenhang auf das jüngste EuGH-Urteil, das sogenannte Rüffert-Urteil, zurückkommen. Wir sind nicht glücklich über dieses Urteil. Wir müssen uns in der Tat Gedanken darüber machen, ob nicht die Entsenderichtlinie nachgebessert werden muss. Was wir aber vor allen Dingen tun müssen, ist, die Hausaufgaben bei uns zu erledigen.
Der Vertrag von Lissabon bietet den notwendigen Spielraum, um aus der Wirtschaftsunion eine soziale Union zu machen, um die soziale Union der Wirtschaftsunion an die Seite zu stellen. Das liegt an uns. Die wichtigste Voraussetzung dafür in der ganz nahen Zukunft ist die Einführung von Mindestlöhnen in allen Bereichen. Ich bin sehr froh, dass Rheinland-Pfalz hierzu eine Gesetzesinitiative in den Bundesrat eingebracht hat.
Was sich an der Kritik der Linken am Lissabonner Vertrag zeigt, ist nicht, Herr Bisky, linker Internationalismus oder EU-Freundlichkeit, sondern es ist Linksnationalismus und Schüren von Angst, was die Bürgerinnen und Bürger davon abhält, die Chancen dieses Vertrages zu sehen und in Anspruch zu nehmen.
Das Gleiche ist über Ihre völlig abstruse Behauptung zu sagen, dass dieser Vertrag zu einer Militarisierung der EU beitragen würde. Das Ziel der Abrüstung und ein umfassender Sicherheitsbegriff mit den Komponenten der zivilen Konfliktprävention sind hier ausdrücklich genannt. Aber es macht in der Tat Sinn, die militärischen Fähigkeiten zu optimieren.
Was nützt es denn, wenn wir unglaublich viel Geld ausgeben, aber Doppelstrukturen vorhalten und nicht die entsprechenden Fähigkeiten haben, wenn wir im Rahmen unserer internationalen Verantwortung auch militärische Sicherung vornehmen müssen? Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, schauen Sie wirklich in den Vertrag! Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass die Berliner Kollegen der Linken sich doch dazu durchringen können, der Ratifizierung des Vertrages zuzustimmen; denn dieser Vertrag ist eine gute Grundlage für das Handeln der EU.
Europa gelingt gemeinsam, und auch Europa sozial gelingt gemeinsam. Lassen Sie es uns anpacken.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Michael Link ist der nächste Redner für die FDP-Fraktion.
Michael Link (Heilbronn) (FDP):
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und geehrte Kollegen! Der Bundestag ist heute zum zweiten Mal seit 2005 zusammengekommen, um einen Vertrag zu ratifizieren, der den misslungenen Vertrag von Nizza weiterentwickeln soll. Wir beschäftigen uns heute mit der Vertiefung dessen, was wir immer angestrebt haben, nämlich mit der Vertiefung der Zusammenarbeit in der Europäischen Union.
Wir haben gemeinsam viele Fortschritte in diesem Vertrag erreicht. Auch von meiner Seite ausdrücklich ein Kompliment an die in mancher Situation wirklich sehr schwierige, aber unter dem Strich doch gelungene Verhandlungsführung der Bundesregierung, bei der wir uns im Detail, in den Ergebnissen oft etwas anderes erwartet hätten, bei der aber doch Vieles gelungen ist.
Die Fortschritte im Einzelnen sind erwähnt worden; ich will darauf nicht mehr eingehen. Ich will aber auf jeden Fall - das muss angesprochen werden - etwas zu der Militarismuskeule sagen, die gerade von der PDS - Pardon, von der Linkspartei - wieder ins Spiel gebracht wurde: Die EU, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, erhält im neuen Vertrag die Aufgabe, die Grundsätze des Völkerrechts zu festigen und zu fördern. Sie erhält quasi die Verfassungsaufgabe, den Frieden zu erhalten. Mit Fug und Recht kann man insoweit sogar von einer friedenspolitischen Querschnittsklausel im Vertrag reden. Das sind nicht meine Worte, sondern das ist ein Zitat aus dem schönen Buch Die EU und ihre Verfassung. Linke Irrtümer und populäre Missverständnisse von Sylvia-Yvonne Kaufmann. Mit der Militarismuskeule muss Schluss sein. Das ist kein Punkt, mit dem man Wahlkampf machen sollte. Hier geht es um ein zu wichtiges Thema, als dass wir es im Vorgriff auf den Europawahlkampf im nächsten Jahr instrumentalisieren sollten.
Die EU, wir alle erfüllen mit der Ratifizierung dieses Vertrages quasi unsere Bringschuld, auch was die Stärkung der Rechte der nationalen Parlamente angeht. Die nationalen Parlamente bekommen durch diesen Vertrag die Rolle der Wächter der Subsidiarität zugewiesen.
Erfüllen wir aber auch unsere Holschuld, diese Rechte ernst zu nehmen? Dazu gehört natürlich, dass wir bei der Art und Weise, wie die Kompetenzen verteilt sind - uns als FDP gefällt dieser ganze Bereich inhaltlich nicht so gut -, gemeinsam sehr genau hinschauen. Die Kompetenzen werden durch diesen Vertrag in vielen Bereichen nämlich nicht klarer. Im Gegenteil: Das in Art. 5 des Vertrages von Lissabon verankerte Subsidiaritätsprinzip ist schwächer als die bisher gültige Regelung im Amsterdamer Subsidiaritätsprotokoll. Schon von vornherein sind neue Konflikte zwischen den verschiedenen Ebenen angelegt. Ich weise darauf hin: Auch das Subsidiaritätsprinzip selber wird völlig unterschiedlich ausgelegt. Die deutsche Auslegung, wonach in der Regel auf der ?niederen? Ebene entschieden wird und erst danach die ?höhere? Ebene ins Spiel kommt, wird von vielen Partnern in der EU so nicht geteilt.
Wir als FDP verbinden mit der heutigen Zustimmung zu diesem Vertrag die eindeutige Erwartung, dass eine Subsidiaritätsrechtsprechung durch den Europäischen Gerichtshof entwickelt wird, durch die Kompetenzen klarer abgegrenzt werden, als es durch den jetzigen Vertrag geschieht.
Heute erleben wir nur eine Zäsur. Kein Prozess geht zu Ende; vielmehr beginnt ein neuer Prozess. Mit der Ratifizierung dieses Vertrages beginnen wir mit einer neuen Praxis. Wir wollen, dass diese neue Union eher weniger als mehr reguliert.
Wir wollen, dass es zum Normalfall wird, dass dieses Parlament sich mit den entsprechenden Fragen befasst und politisch mandatiert, bevor die entscheidenden Ministerratssitzungen stattfinden und im deutschen Namen abgestimmt wird.
Kolleginnen und Kollegen, dieses Parlament darf nicht nur als Notar deutscher Ministerratsentscheidungen tätig werden.
Wir als FDP fordern, dass der Deutsche Bundestag eine Europafragestunde einführt, die diesem Teil der Gesetzgebung und damit unserer eigenen Gesetzgebung gerecht wird.
Wir wollen eine EU, die die neuen Möglichkeiten der Mehrheitsentscheidungen auch im Innen- und Rechtsbereich - im Prinzip begrüßen wir sie - nutzt. Wir wissen aber, dass Mehrheitsentscheidungen immer dann schnell an Grenzen stoßen müssen, wenn Grundrechte ins Spiel kommen.
Wir wollen eine EU, die mit dem Verweis auf den Kampf gegen den Terrorismus nicht in Datensammelwut verfällt. Wir wollen eine EU, die ihren Haushalt so umbaut, dass nicht weit über die Hälfte des Haushalts in Subventionen vergraben wird und die nur 1 Prozent für transeuropäische Verkehrsnetze ausgibt. Wenn es schon nicht gelungen ist, eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu bekommen, wollen wir zumindest eine EU mit einem Europäischen Auswärtigen Dienst, in dem unser nationaler auswärtiger Dienst auf Augenhöhe mitwirkt. Gerade mit Blick auf unsere französischen Freunde - Außenminister Kouchner nimmt an unserer heutigen Debatte teil - hoffe ich ganz besonders, dass wir gemeinsam mit der französischen Präsidentschaft im zweiten Halbjahr Konkretes erreichen können. Wir werden die Bundesregierung gern unterstützen, wenn es darum geht, einen funktionsfähigen Europäischen Auswärtigen Dienst zu schaffen.
Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluss. Lassen Sie mich wiederholen: Wir wollen insbesondere eine Europäische Union, die das, was bisher für Erfolg gesorgt hat, nicht riskiert. Ein wichtiges Erfolgsprinzip war der freie und unverfälschte Wettbewerb. Wir haben vonseiten der Bundesregierung und eben auch von Frau Schwall-Düren sehr deutlich gehört, dass man den freien und unverfälschten Wettbewerb, der jetzt nur noch eine Protokollnotiz ist, nur als Instrument, nicht aber als Ziel ansieht. Das ist ein gefährlicher Weg.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege.
Michael Link (Heilbronn) (FDP):
Noch im Zukunftsprogramm der CDU von 1998 hieß es: Wettbewerb ist das entscheidende Ordnungsprinzip für die Europäische Union. - Leider können wir bei der CDU hier keine klare Linie in Richtung soziale Marktwirtschaft mehr erkennen.
Für uns bleibt Wettbewerb das entscheidende Ordnungsprinzip, damit wir die Europäische Union auch in Zukunft auf einem Erfolgskurs halten können.
Vielen herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Ministerpräsident des Freistaates Bayern, Dr. Günther Beckstein.
Dr. Günther Beckstein, Ministerpräsident (Bayern):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Vertrag von Lissabon ist nach meiner Überzeugung ein Fortschritt für Europa. Europa wird ein Stück weit handlungsfähiger und auch ein Stück weit demokratischer. Die von vielen Seiten befürchtete Lähmung Europas - die Volksabstimmungen in einigen Ländern sind gescheitert, und gleichzeitig ist die Erweiterung der EU erfolgt - ist vermieden worden. Die deutsche Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 hat einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet, dass eine Einigung erreicht worden ist. Die Einigung auf ein konkretes und umfassendes Mandat für die Regierungskonferenz beim EU-Gipfel im Juni 2007 hat die Grundlage für einen raschen und erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen über den Reformvertrag ermöglicht.
Ich stehe nicht an, der Bundesregierung Anerkennung für diesen großen Erfolg auszusprechen. Ich stehe auch nicht an, Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, hier ein öffentliches Lob auszusprechen. Sie haben ganz persönlich einen großen Anteil daran gehabt, dass dieser Durchbruch in Europa erzielt worden ist.
Es ist zwar ungewöhnlich, dass öffentliches Lob aus Bayern kommt,
aber es war eine herausragende Leistung, und dann muss sie auch anerkannt werden.
Weil der Freistaat den Vertrag von Lissabon insgesamt positiv bewertet, werden wir am 23. Mai im Bundesrat diesem Vertragswerk auch zustimmen. Es geht darum, die grundlegende Ordnung in der Europäischen Union für Frieden, Freiheit und Sicherheit zu erweitern, was die Geltung der Grundrechte und Grundwerte angeht, aber natürlich auch die Wettbewerbsordnung, die durchaus soziale Werte aufweist.
Auch dass wir eine gemeinsame Währung haben, ist ein Erfolg. Theo Waigel hat dafür gesorgt, dass die entsprechenden Voraussetzungen geschaffen worden sind. Wir können in der aktuellen Situation froh darüber sein, dass wir in der EU einen so großen Anteil am Export in die Eurozone haben.
Das will ich hier hervorheben: Diese Dinge sind positiv.
Aber ich will auch ganz deutlich machen, dass Europa kein einheitlicher starker Staat werden darf. Die EU ist kein Bundesstaat; sie soll und darf kein solcher werden. Es darf nicht die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland, aber auch nicht die Staatsqualität der Länder beeinträchtigt werden.
Ich empfehle jedermann, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Maastricht-Vertrag nachzulesen, in dem das Bundesverfassungsgericht uns allen ins Stammbuch geschrieben hat, was der Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes unterliegt. In ähnlicher Form gilt das auch für die Länder.
Wir müssen ganz deutlich machen, dass nicht jedes Problem in Europa ein Problem für Europa ist, das der Regelungskompetenz der Europäischen Union unterliegt.
Es gibt aber ganz eindeutig Bereiche, in denen mehr Europa gut ist. Im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik ist es gut, wenn Europa stark ist und mit einer Stimme sprechen kann, sodass wir auch in der Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika unserem Partner gegenüber etwas selbstbewusster auftreten können. Wenn Europa einheitlich spricht, hat es mehr Einfluss auf die USA, und das kann der Politik für die ganze Welt nur guttun; die vergangenen Jahre haben das gezeigt.
Henry Kissinger hat immer gesagt, er vermisse die eine Telefonnummer, die er anrufen könne, wenn er die Haltung Europas wissen wolle. Dass es sie in der Zukunft geben wird, halten wir für einen Fortschritt; denn in diesen Bereichen brauchen wir mehr Europa.
Dieses ?Wir brauchen insoweit mehr Europa? kann ich auch für den Bereich der Menschenrechte nur bestätigen. Es wäre gut gewesen, wenn im Zusammenhang mit dem olympischen Fackellauf - Stichwort ?Tibet? - die Haltung in Paris nicht anders gewesen wäre als die in Deutschland. Wir hätten mehr Chancen auf die Durchsetzung einheitlicher Menschenrechtsstandards, wenn die EU hier mit einer Stimme sprechen würde.
Darum ist es gut, wenn wir hier Fortschritte haben.
Wir brauchen auch mehr Europa im Kampf gegen den Terror. Ich weiß, wovon ich rede. Ich war als Ländervertreter jahrelang Mitglied der europäischen Innen- und Justizministerrates. Ich kann nur sagen: Wenn die Grenzkontrollen wegfallen, muss es im Bereich der Polizei und der Sicherheit eine stärkere Zusammenarbeit geben. Wir brauchen dann ein gemeinsames Vorgehen im Kampf gegen Kriminalität und Terrorismus. Darum wird die Frage der Polizei- und Justizzusammenarbeit immer wichtiger. Dafür bietet der Vertrag den richtigen Rahmen.
Meine Damen und Herren, wir brauchen auch - ich stimme Ihnen, Herr Kollege Beck, da durchaus zu - mehr Europa bei der Gestaltung der Globalisierung. Wir Europäer haben ein Interesse daran, dass bei der Produktion von Waren und Dienstleistungen möglichst weltweit faire, das heißt auch vergleichbare Bedingungen herrschen, dass keine Ausbeutung von Kindern erfolgt, dass Mindeststandards für Arbeitnehmer nicht nur in Europa, sondern auch in anderen Ländern und Wirtschaftsräumen der Welt eingehalten werden, die mit uns konkurrieren. Solche Fragen können in den internationalen Gremien sehr viel besser und nachdrücklicher geregelt werden, wenn wir mit einer Stimme sprechen. Das ist zum Beispiel in der WTO ganz offensichtlich.
Das gilt aber auch für den Umgang mit geistigem Eigentum. Hier muss das Urheberrecht für Schutz und Respekt sorgen. Copy-Products stellen ein erhebliches Problem für die Wirtschaft und die Arbeitnehmer in Deutschland dar. Hier kann ein gemeinsames Vorgehen Europas nur nützlich und richtig sein.
Ich füge hinzu: Natürlich muss auch die Bändigung der globalen Finanzmärkte ein Ziel sein. Dass es hier Defizite gibt, hat ja selbst Herr Ackermann vor kurzer Zeit überraschenderweise eingeräumt. Es ist völlig offensichtlich, dass ein europäisches Land hierbei weniger Möglichkeiten hat als ein Europa, das mit einer Stimme spricht. All diese Fortschritte erkenne ich an.
Selbstverständlich erfordern auch globale Probleme wie die Erderwärmung, also der Klimawandel, einheitliches europäisches Handeln. Zugleich müssen wir aber aufpassen, dass dieses einheitliche Handeln nicht einseitige Belastungen für die deutsche Wirtschaft mit sich bringt. Wir wissen, dass unsere französischen Freunde ihre eigenen Interessen immer sehr massiv vertreten. Wir wollen, dass der Wahrnehmung unserer Interessen zumindest dieselbe Bedeutung zugemessen wird.
Es ist aber auch völlig eindeutig, dass nicht jedes Problem in Europa ein Problem für Europa sein darf. In diesem Zusammenhang habe ich einige kritische Anmerkungen zu machen. Es gibt viele Bereiche, für die es in der Tat bei uns - davon bin ich überzeugt - ortsnähere und bessere Lösungen gibt. Wir können gerne darüber streiten, ob die in Mainz, Schwerin oder in München gefundenen besser sind.
Sie, lieber Herr Kollege Beck, haben eben mit großem Stolz vom Hambacher Fest gesprochen. Sie waren allerdings außerordentlich fahrlässig im Umgang mit der historischen Wahrheit. Sie haben versucht, einen Gegensatz zwischen den Ereignissen in Hambach und in Bayern herzustellen. Zu jener Zeit war die Pfalz ein stolzer Teil des Freistaates Bayern!
Ich habe gerade noch einen Beitrag aus Wikipedia erhalten - das sind die Vorteile moderner Kommunikationsmittel -: Hier wird dargestellt, wie die Pfälzer ihre Sonderrechte, die sie im Freistaat Bayern hatten, aus Angst, sie in einem Land wie Rheinland-Pfalz zu verlieren, verteidigen wollten.
Ich habe den Eindruck, Herr Kollege Beck, dass noch heute mancher, der in der Pfalz lebt, der guten Zeit beim Freistaat Bayern nachtrauert.
Das gilt insbesondere, wenn man sich die Haushaltssituation in Rheinland-Pfalz und im Freistaat Bayern, die Bildungschancen oder die Erfolge im Exzellenzwettbewerb der Hochschulen vor Augen führt.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Ministerpräsident, möchten Sie diese wichtigen historischen Zusammenhänge durch die Antwort auf eine Zwischenfrage weiter vertiefen?
Dr. Günther Beckstein, Ministerpräsident (Bayern):
Ja.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Bitte schön, Herr Kollege.
Dr. Carl-Christian Dressel (SPD):
Danke, Herr Präsident. - Herr Ministerpräsident, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es zum Zeitpunkt des Hambacher Festes noch keinen Freistaat Bayern, sondern ein Königreich Bayern gab? Einen Freistaat Bayern gibt es erst seit 1918.
Dr. Günther Beckstein, Ministerpräsident (Bayern):
Geschätzter Herr Kollege, ich habe diese Zwischenfrage längst erwartet.
Sie ermöglicht mir die weitere Bemerkung, dass im Königreich Bayern die Pfalz nur als eine Provinz angesehen worden ist.
Aber, meine Damen und Herren, lassen Sie mich auf die Kompetenzen - das war der ernste Hintergrund - zurückkommen. Selbstverständlich müssen wir sehen, dass der Vertrag von Lissabon die Kompetenzen leider nur sehr schwammig regelt, woraus Gefahren entstehen können, nämlich dass die EU in manchen Bereichen äußerst umfangreiche Regelungen vornehmen kann, die wir besser auf nationaler Ebene oder auf der Ebene der Länder geregelt sehen. Für bestimmte Bereiche ist meiner Meinung nach zu Unrecht eine Kompetenz für die Europäische Union vorgesehen. Warum muss die EU eine Kompetenz im Bereich des Sports, des Tourismus oder der Daseinsvorsorge haben? Ich finde, dass eine kommunale Wasserversorgung nicht von Brüssel aus in Gefahr gebracht werden darf.
Das Gleiche gilt für den Bereich Asyl oder Zuwanderung, wofür es in den verschiedenen Nationen in Europa höchst unterschiedliche Interessen gibt. Aus meiner Sicht ist es falsch, wenn das alles einheitlich von Brüssel aus geregelt werden sollte. Von daher müssen wir auf diese Fragen mehr achten.
Meine Damen und Herren, der Vertrag von Lissabon hat auch in einem weiteren Bereich Fortschritte gebracht, was ich für unabdingbar notwendig halte, nämlich dass rechtzeitig die Bürgerinnen und Bürger über die nationalen Parlamente bei der Beantwortung der Frage, was von Europa aus geregelt wird, eingebunden werden. Wir alle haben doch in der Vergangenheit immer wieder beklagt, dass das, was im Deutschen Bundestag und im Bundesrat nicht durchsetzbar war, über die Seilschaften in Brüssel auf den Weg gebracht worden ist. Wenn wir es dann umsetzen mussten, war der Zorn der Bürger groß. Hier ist es notwendig, dass frühzeitig eine große Transparenz erfolgt. Diese Transparenz wird durch frühzeitige Information und Mitwirkungsmöglichkeiten der nationalen Parlamente, auch des Bundesrats, hergestellt. Dadurch sind wir an Gesetzgebungsvorhaben und europäischen Vorhaben frühzeitig beteiligt. Das ist ein Stück Fortschritt. Damit wird ein Stück mehr Transparenz - Transparenz ist die Voraussetzung für Bürgernähe - erreicht.
Es gibt auch einen weiteren Fortschritt im Bereich der Subsidiarität. Die Subsidiarität als Ordnungsprinzip ist eine der entscheidenden Fragen; dies entspricht auch der Mentalität Europas. Europa ist gekennzeichnet durch eine ganz besondere Betonung der Individualität des Menschen. Anders als zum Beispiel in der chinesischen Kultur ist die Persönlichkeit des Einzelnen der Mittelpunkt der staatlichen Ordnung. Dazu zählt auch, dass ortsnahe Regelungen besser sind als zentrale Regelungen. Dieses Prinzip der Subsidiarität wird in Europa jedenfalls vom Prinzip her anerkannt. Aus diesem Grunde gibt es Klagerechte für den Deutschen Bundestag, für den Ausschuss der Regionen und für den Bundesrat. Ich halte es für wichtig - das will ich hier öffentlich erklären -, dass man im Bundesrat übereingekommen ist, dass, wenn ein Land eine Klage einreichen will, diese Klage auch eingereicht wird. Ursprünglich wollten wir ja das Klagerecht für jedes Land als eigenes Recht. Das bedeutet: Im Normalfall wird, wenn ein Land eine Klage wegen Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip vor dem Europäischen Gerichtshof einreichen will, Klage erhoben.
Ich sage hierzu: Bayern wird der Wächter der Subsidiarität sein
und wird auch nicht zögern, beim Europäischen Gerichtshof Klagen einzureichen; denn wir wollen keinen überbordenden Zentralismus in Europa haben.
Meine Damen und Herren, wir sind für diese grundlegende Friedensordnung und auch für diese Wirtschafts- und Sozialordnung in Europa. Der Lissabonner Vertrag bietet hierfür einen geeigneten Rahmen. Es wird an uns allen liegen, dafür zu sorgen, dass dieser Rahmen in einer bestmöglichen Weise ausgefüllt wird, um Transparenz, Bürgernähe, mehr Demokratie und mehr Respekt vor der Unterschiedlichkeit der verschiedenen Nationen und Länder in Europa Realität werden zu lassen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass die Europäische Union bei den Bürgern ein Stück mehr ankommt.
Wir wollen Europa, aber nicht als eine überbordende Bürokratie. Wir erleiden zu viel Bürokratie in Europa. Wenn über ein fußballfeldgroßes FFH-Gebiet nicht in einem Landratsamt, in der Staatsregierung in München oder im Bundesumweltministerium in Berlin, sondern in Brüssel und Straßburg entschieden wird, von Leuten, die dieses Stück Landschaft niemals gesehen haben, dann ist das ein Fehler. Wir wollen die Friedensordnung in Europa; aber dafür müssen Subsidiarität und Eigenstaatlichkeit von Bund und Ländern die Grundlage sein.
Unter diesen Umständen und Voraussetzungen stimmen wir zu und werden in der Zukunft die Wächter der Subsidiarität sein.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Gästetribüne verfolgt der französische Außenminister Bernard Kouchner diese Debatte und die Entscheidung des Deutschen Bundestages zum Lissaboner Vertrag. Sehr geehrter Herr Minister, ich begrüße Sie und Ihre Delegation herzlich im Deutschen Bundestag.
Wir freuen uns, dass Sie gerade heute in Berlin sind, und sehen im Übrigen, insbesondere mit Blick auf die bevorstehende französische Präsidentschaft, der Fortführung der bewährt guten Zusammenarbeit zwischen unseren beiden Ländern mit Sympathie entgegen. Herzlich willkommen!
Nächster Redner ist der Kollege Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.
Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Minister Kouchner, Sie sind gerade Zeuge einer Debatte geworden, die den Unterhaltungswert des deutschen Föderalismus gezeigt hat. Das hat man in Frankreich in dieser Form sicher nicht.
Sie sind aber auch Zeuge eines historischen Momentes geworden. Denn dass ein bayerischer Ministerpräsident sich aus München zu solch einer Debatte aufmacht, um die deutsche Bundesregierung zu loben, ist ein historisches Ereignis, das den Integrationsgedanken in Deutschland in seiner positiven Entwicklung ausgesprochen deutlich macht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in dieser Debatte ist sehr deutlich geworden, warum der Vertrag von Lissabon ein großer Fortschritt für die Handlungsfähigkeit Europas ist, ein großer Fortschritt für die Demokratie in Europa, für dieses Friedensprojekt, das wir alle im Deutschen Bundestag unterstützen, auch wenn wir zum Vertrag unterschiedliche Positionen haben.
Jetzt geht es darum, die Aufgaben, die aus diesem Vertrag folgen, ernst zu nehmen. Der Vertrag ist ein - das haben wir immer gesagt - wichtiger Schritt zur Vertiefung der Handlungsfähigkeit. Aber mit diesem Vertrag kommt natürlich sehr viel Arbeit auf das Parlament, auf die Regierung und auch auf die Bürgerinnen und Bürger zu; denn es geht darum, wie wir das neu zu gestaltende Verhältnis zwischen den Nationalstaaten, den nationalen Parlamenten und der Europäischen Union konkret ausgestalten wollen.
Ich möchte gerne noch folgende Punkte ansprechen.
Erster Punkt. Für den Deutschen Bundestag - das haben viele Kollegen schon gesagt - ist mit den Subsidiaritätsklagerechten eine neue Möglichkeit eröffnet worden, europäische Politik mitzubestimmen. Wir halten es für richtig und gut, dass neben der Ausweitung der Kontrolle durch das Europäische Parlament auch die nationalen Parlamente Möglichkeiten haben, in stärkerem Maße europäische Politik mitzugestalten. Das schafft eine Verbreiterung der Legitimation und ist eine Möglichkeit, die Bürgerinnen und Bürger auf nationaler Ebene in diesem Prozess mitzunehmen.
Aber eines sage ich auch sehr deutlich: Wir müssen uns diese neuen Rechte erarbeiten. In den Strukturen, in denen wir bisher gearbeitet haben - ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, wie wir zum Teil europäische Rechtsetzungsverfahren im Parlament durchgewunken haben -, ist der Deutsche Bundestag noch nicht in der Lage, seine Subsidiaritätsrechte wahrzunehmen. Die heutige Abstimmung ist eine Verpflichtung für uns, diese Rechte im Deutschen Bundestag wahrzunehmen und dafür zu kämpfen, dass entsprechende Maßnahmen umgesetzt werden können.
Zweiter Punkt. Dieser Bereich ist heute ebenfalls schon angesprochen worden; aber ich möchte ihn noch einmal aufgreifen. Die Frage ist, wie wir im Hinblick auf das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland in das Projekt Europäische Union, das so erfolgreich war, einen Schritt vorankommen; denn an dieser Stelle besteht durchaus noch Nachholbedarf. Die Frage der sozialen Gerechtigkeit, die wir ernst nehmen müssen, ist auf diesem Wege ein zentraler Punkt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, es geht nicht an, dass man über diesen Punkt locker hinwegwischt. Auf all diese Vorurteile, die gegen das angeblich neoliberale Europa geschürt werden - ich will gar nicht behaupten, dass Sie diese Vorurteile mit Ihrer Politik immer bestärken -, muss man sehr sensibel und sehr politisch reagieren. Das Wegwischen dieser Befürchtung schürt nur Ängste und vergrößert das Misstrauen. Wir werden das Vertrauen der Menschen nur gewinnen, wenn sie Europa als Schutzmacht ihrer ganz persönlichen Interessen erleben.
Die sozialen Grundrechte - sie sind im Grundrechtekatalog enthalten - müssen der Rat, das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente in die Praxis umsetzen. Ansonsten werden wir eine Haltung der Bürgerinnen und Bürger zu Europa bekommen, wie sich in Frankreich in dem Ergebnis der Volksabstimmung gezeigt hat. Dort wurde der europäische Integrationsgedanke von der rechten und der linken Ecke instrumentalisiert und so Befürchtungen geweckt. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, es war in Frankreich eben nicht allein die versammelte Linke, die diesen Vertrag bekämpft hat, sondern es war zum großen Teil die organisierte Rechte und die Rechtsextremen, die diesen Vertrag bekämpft haben. Das muss man deutlich sagen.
Sie reden von Internationalismus. Aber wenn ich mir anschaue, wie zum Beispiel der Internationalismus in Irland gefeiert wird, und wenn ich sehe, dass unter der Führung des ?Sozialisten? Rupert Murdoch eine Volksunion von Le Pen bis Lafontaine Veranstaltungen machen könnte, um den europäischen Integrationsgedanken für rechten und linken Populismus zu instrumentalisieren, dann muss ich sagen: Das ist genau der Internationalismus, der Europa schadet.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege Steenblock, Ihre Redezeit.
Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Eine Abschlussbemerkung, liebe Frau Präsidentin.
Wir sollten die Gesetzgebung der Europäischen Union in Zukunft nicht mehr so darstellen - leider klang das bei dem Kollegen Beckstein auch so an -, als seien Lobbygruppen am Werke. Nein, der Rat, die nationalen Parlamente und das Europäische Parlament machen die Gesetzgebung. Wir sollten ehrlich und offen mit diesen Fragen umgehen und es nicht zulassen, dass die Europäische Union für einen regionalen Populismus missbraucht wird.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächster Redner ist der Kollege Michael Roth, SPD-Fraktion.
Michael Roth (Heringen) (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass in der heutigen Debatte deutlich wird: Wir stimmen in wesentlichen europapolitischen Fragen überein. Die Gemeinsamkeit zu suchen, ist zwar notwendig; aber dennoch sollten wir dem Streit nicht aus dem Weg gehen. Dann kann man auch immer wieder selbstkritisch überprüfen: Sind die eigenen Argumente überzeugend genug, auch wenn die Absurdität der Argumente der anderen manchmal kaum noch zu unterbieten ist? Gestern hat Kollege Wieland im Innenausschuss so schön gesagt: Solange in einem europäischen Vertrag nicht steht: ?Hartz IV muss weg?, wird die Linkspartei niemals zustimmen. - Das macht deutlich, wie verantwortungslos sie mit diesem Bereich umgeht.
Zwei kurze Anmerkungen zum Ministerpräsidenten des Freistaats Bayern. Wenn ich zum einen historisch richtig informiert bin, bedurfte es der Initiative der Sozialdemokraten, dass der Freistaat, auf den die Bayern zu Recht stolz sind, auf den Weg gebracht werden konnte.
Dies ist ein sozialdemokratischer Erfolg. Zum anderen hat mich die Rede von Ministerpräsident Beckstein ein wenig enttäuscht; denn er hat sehr lange erklärt, was die Bayern und die CSU nicht wollen. Es ist aber sehr wenig Zeit darauf verwandt worden, deutlich zu machen, was man eigentlich mit dem Vertrag von Lissabon, mit dieser neuen, stärker gewordenen Europäischen Union will.
Wir sollten nicht beim Feiern bleiben, sondern einen Blick in die Zukunft wagen. Wir brauchen neue Impulse, damit dieser Integrationsprozess, den Ministerpräsident Beck als offen dargestellt hat, auch erfolgreich weitergehen kann. Wir haben den Frieden im Inneren Europas erreicht. Das ist leider für allzu viele eine Selbstverständlichkeit. Dass es aber keine Selbstverständlichkeit ist, merken wir dann, wenn wir uns die Situation im Westbalkan vor Augen halten. Wenn wir dieses europäische Friedensprojekt nicht vor Jahrzehnten auf den Weg gebracht hätten, drohten vielleicht auch uns Verhältnisse wie im Westbalkan. Aber es geht heute nicht mehr allein darum, deutlich zu machen, was wir alles im Inneren erreicht haben. Die große Aufgabe muss vielmehr sein, zu erklären: Wie können wir denn im globalen Maßstab Frieden, Freiheit, Sicherheit und Solidarität erfolgreich auf den Weg bringen? Welchen Beitrag können wir als Europäerinnen und Europäer leisten?
Meines Erachtens muss Europa auch ein Gefühl von Heimat, von Beheimatung, von Vertrauen entwickeln. Wir brauchen also mehr europäisches Selbstbewusstsein. Wir sollten nicht nationale Abgrenzung pflegen und die alten nationalen Forderungen in den Mittelpunkt rücken. Es geht nicht mehr allein um nationales Interesse. Wir müssen unsere Werte offensiv vertreten und dürfen nicht in den globalen Mainstream von Ideen einstimmen, die von der Geschichte schon längst als überholt dargestellt worden sind. Ich darf an die neoliberale Idee erinnern. Darüber redet heute keiner mehr; denn es hat sich gezeigt: Dieses Projekt ist gescheitert, weil es die Menschen nicht zu mehr sozialer Gerechtigkeit, Gemeinsinn und Solidarität führen konnte.
Wir als Europäerinnen und Europäer müssen deutlich machen: Es geht uns um Freiheit, es geht uns um Solidarität, es geht uns um noch stärkere ökologische Nachhaltigkeit. Das ist der Dreiklang, für den wir stehen.
Das müssen wir im globalen Wettbewerb der Ideen selbstbewusster nach außen tragen.
Eine Anmerkung in Richtung der jungen Mitgliedstaaten. Mit diesem Reformvertrag überwinden wir endgültig die Teilung Europas, weil zum ersten Mal die Staaten Mittelosteuropas gleichberechtigt dabei waren. Sie haben mitberaten, sie haben mit abgestimmt, sie haben ihre Ideen eingebracht. Das macht deutlich: Wir sind ein gemeinsames Europa - nord-, süd-, ost- und westübergreifend. Dies ist ein großer Erfolg.
Lassen Sie mich zum Schluss deutlich machen, was das für unser nationales Parlament bedeutet; denn es ist viel darüber geredet worden, dass der Bundestag gestärkt wird. Das stimmt. Aber für viele ist das zu abstrakt. Deswegen ein kurzes Beispiel zum Schluss: Die Brückenklausel hat es schon vor Jahren gegeben. Wo war Bayern als Wächter, als wesentliche Bereiche der Innen- und Justizpolitik, die Migrations- und Asylpolitik, von der Einstimmigkeit in das Mehrheitsprinzip übertragen worden sind? Der Bundestag war damals nie damit befasst. Jetzt haben wir die Chance, dass der Bundestag mit der Bundesregierung sowohl dann in der Verantwortung steht, wenn wir von der Einstimmigkeit auf das Mehrheitsprinzip übergehen, als auch dann, wenn neue Kompetenzen von der nationalen Ebene auf die europäische Ebene übertragen werden. Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an den höchst sensiblen Bereich der justiziellen Zusammenarbeit bei Strafverfahren. Hier brauchen wir einen selbstbewussten Bundestag, der sich frühzeitig einbringt. Das haben wir in einem Beschluss des Europaausschusses einmütig zum Ausdruck gebracht. Ich bedanke mich ausdrücklich bei dem Kollegen Silberhorn, der dazu beigetragen hat, dass wir das klären konnten.
Bei all dem Lob zum Vertrag von Lissabon muss ich dennoch sagen: Dieser Vertrag wird nicht automatisch alles richten, was wir als notwendig erachten. Soziale Gerechtigkeit, Solidarität und tragfähige soziale Standards kommen nicht von selbst. Der Klimaschutz kommt nicht von selbst. Eine zukunftsfähige Landwirtschaft, die bäuerliche Strukturen enthält, die natürliche und gentechnikfreie Lebensmittel garantiert, kommt nicht von selbst, und auch eine gerechte Handelsordnung sowie faire Chancen für die Entwicklungsländer kommen nicht von selbst. Dafür brauchen wir politische Mehrheiten. Dafür müssen wir kämpfen. Dazu lädt uns der Vertrag von Lissabon ein.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich gebe das Wort dem Kollegen Henry Nitzsche, fraktionslos.
Henry Nitzsche (fraktionslos):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Weil wir in Deutschland unserem eigenen Volk nicht mehr trauen, sitzen die Abgeordneten des Deutschen Bundestages heute hier, um über seine Zukunft zu entscheiden. Es ist aber nicht nur so, dass wir unserem Volk nicht mehr zutrauen, selbst über seine Zukunft zu entscheiden, wir halten es anscheinend auch für dämlich und vergesslich. Das scheint mittlerweile Konsens in Europa zu sein. Da das Volk in Frankreich und in den Niederlanden die geplante EU-Verfassung abgelehnt hat, fragt man es im zweiten Durchgang einfach nicht mehr und winkt das Kind unter einem anderen Namen durch: Reformvertrag.
So eine Verhöhnung des Volkswillens brauchen wir uns zum Glück nicht vorwerfen zu lassen. Bei uns in Deutschland werden die Bürger prinzipiell nicht gefragt, schon gar nicht in Europaangelegenheiten - siehe Einführung des Euros oder Erweiterung des Schengen-Raums im vergangenen Dezember. Für beide Entscheidungen hätte es im Volk nie eine Mehrheit gegeben, und das wissen Sie alle.
Dieser Vertrag von Lissabon, der in beschönigender Weise Reformvertrag genannt wird, unterscheidet sich im Wesentlichen nicht vom gescheiterten Verfassungsvertrag, von jenem Vertrag, der dank des aufrechten Politikers Peter Gauweiler und seines Anwalts Professor Schachtschneider
auch von Deutschland nicht ratifiziert wurde. Das Bundesverfassungsgericht untersagte es dem Bundespräsidenten nicht ohne Grund, diesen Vertrag zu unterschreiben. Daher wird nun peinlichst genau das Wort Verfassung gemieden.
Mit diesem Reformvertrag wird eine verbindliche Verfassung für über 500 Millionen Menschen geschaffen. Allerdings ist das eine Verfassung, die nicht demokratisch legitimiert ist, die von einem europäischen Volk ausgeht, das es gar nicht gibt, und deren Inhalte zutiefst demokratiefeindlich sind. Der Europäische Rat wird durch das vereinfachte Änderungsverfahren ermächtigt - ermächtigt! -, fast das gesamte bestehende Unionsrecht zu ändern. Davon betroffen sind Wirtschafts-, Währungs-, Sozial-, Landwirtschafts-, Umwelt-, Arbeits-, Steuer-, Justiz-, Verkehrs- und Kulturpolitik. Eine Zustimmung des Europäischen Parlaments ist nicht mehr notwendig.
Wo bleibt die Mitsprache der nationalen Parlamente? Wo bleibt die Volkssouveränität? Ein angehängtes Protokoll gibt es bloß über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. Danach können der Bundestag usw. die Flut von Entwürfen von Europavorschriften dahin gehend prüfen, ob diese Grundsätze verletzt wurden. Wenn ja, können sie innerhalb von acht Wochen, aber nicht später, eine Stellungnahme abgeben. Dass in dieser Zeit auch die Landtage die Vorlagen geprüft haben und der Bundesrat darüber beschlossen hat, ist wohl eher illusorisch.
Wo wir das Europäische Parlament ansprechen: Deutschland hat derzeit ein Sitzkontingent von 99. Das wird reduziert auf 96. Angesichts der Tatsache, dass Deutschland 20 Prozent der Bevölkerung Europas stellt, stünden Deutschland mindestens 150 Abgeordnete zu. Dieses Parlament wird aber nicht durch das Prinzip gewählt, das Bismarck 1871 in Deutschland eingeführt hat: das gleiche Wahlrecht.
Künftig wird die für Deutschland entscheidende Politik von 27 Staats- und Regierungschefs bestimmt, von denen mindestens 26 nicht deutsch sind. Wie sich das mit dem Leitsatz aus Art. 20 Abs. 2 des Grundgesetzes - ?Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus? - verträgt, ist mir schleierhaft.
Was wird noch verschwiegen? Zum Beispiel, dass der Reformvertrag ermöglicht, europäische Steuern zu schaffen. Wenn ein Staat die Möglichkeit hat, Steuern zu erheben, dann tut er dies auch. Das Milliardengrab EU und die finanzielle Belastung für uns Deutsche werden damit eine noch gewaltigere Dimension annehmen. Das wird ein neues Versailles für Deutschland.
Genau diese Tatsache verschweigen Sie dem deutschen Volk.
Durch diesen EU-Reformvertrag legitimieren Sie Brüssel, allmächtig und ungehindert über deutsche Interessen zu entscheiden. Dieser Vertrag ist ein neuerliches Ermächtigungsgesetz.
Gerade wir in Deutschland sollten hier ganz vorsichtig sein.
Ich würde Ihnen empfehlen, einmal durch das Portal dieses Gebäudes zu gehen. Dort steht in Stein gemeißelt ?DEM DEUTSCHEN VOLKE?. Hören Sie auf diese Inschrift!
Entscheiden Sie sich für Deutschland! Sichern wir die Zukunft und die Souveränität Deutschlands! Nicht weniger erwarten die Bürger heute von uns.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, die Kollegin Hendricks würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Henry Nitzsche (fraktionslos):
Deutsche, Christen und Demokraten können diesem Vertrag nicht zustimmen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich gebe das Wort dem Kollegen Michael Stübgen, CDU/CSU-Fraktion.
Michael Stübgen (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte nur ganz kurz auf meinen Vorredner, Herrn Kollegen Nitzsche, eingehen.
- Doch.
Auffällig ist für mich Folgendes: Sie bezeichnen sich als rechtskonservativ oder was auch immer. Ihre Argumente gegen den Reformvertrag sind allerdings in den meisten Punkten nahezu identisch mit den Argumenten der Linken. Darüber sollten Sie und die Linken einmal nachdenken.
Für Deutschland und für Europa ist heute ein besonderer Tag.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege Stübgen, lassen Sie uns einen Augenblick warten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, dem Redner die Chance zu geben, durchzudringen.
Michael Stübgen (CDU/CSU):
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Nach langer Zeit und nachdem der Verfassungsprozess längst totgesagt war, haben wir es dank der Initiative der Bundeskanzlerin Angela Merkel und der Bundesregierung im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft geschafft, die Grundlagen dafür zu legen, dass wir diesen Reformvertrag heute ratifizieren werden; das muss an dieser Stelle einmal gesagt werden. Wir haben die sehr große Chance, dass dieser Reformvertrag auf europäischer Ebene zum 1. Januar 2009 in Kraft treten wird.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege Stübgen, die Kollegin Hendricks würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Michael Stübgen (CDU/CSU):
Ja.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Bitte.
Dr. Barbara Hendricks (SPD):
Herr Kollege Stübgen, ich bin ganz sicher, dass Sie mit mir einer Meinung sind, dass die Rede des Herrn Nitzsche eine ahistorische Beleidigung dieses demokratischen Parlaments war.
Michael Stübgen (CDU/CSU):
Frau Kollegin, da sind wir völlig einer Meinung.
Ich will allerdings wiederholen, was ich zu Beginn gesagt habe: In den meisten inhaltlichen Punkten sind die Argumente nahezu identisch. Ich habe die Äußerungen der Linken aber nicht mit denen des Herrn Kollegen Nitzsche gleichgesetzt.
Die Europäische Union gibt sich mit diesem Vertrag das Rüstzeug, um die Herausforderungen der Zukunft meistern zu können. Europa wird mit diesem Vertrag demokratischer, effizienter und transparenter.
Was bedeutet ?demokratischer?? Wir bekommen in der Europäischen Union - das ist für einen Völkerbund singulär - erstmalig ein Parlament mit vollwertigen parlamentarischen Rechten.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege Stübgen, ich muss Sie noch einmal fragen, ob Sie eine Zwischenfrage zulassen, diesmal des Kollegen Dehm?
Michael Stübgen (CDU/CSU):
Nein.
Aber die Chance, die sich mit diesem Vertrag ergibt, bedeutet in erster Linie eine Herausforderung und einen Anspruch für das künftige Europäische Parlament. Jeder von Ihnen kennt sicherlich mindestens eine Entschließung des Europäischen Parlamentes, die man doch als recht merkwürdig bezeichnen kann, nicht hinsichtlich der politischen Zielsetzung, sondern hinsichtlich der Tatsache, wie weltfremd und abgehoben dort manchmal etwas beschlossen wird. Wenn man sich aber anschaut, dass dieses Europäische Parlament bisher so gesetzt war, dass es zwischen Straßburg und Brüssel hin und her vagabundiert und ihm fundamentale parlamentarische Rechte vorenthalten wurden, dann muss man sich nicht wundern, wenn solch ein Parlament wundersame Beschlüsse fasst. Ich bin überzeugt, dass das Europäische Parlament in der Lage sein wird, diese Herausforderungen anzunehmen und seine Möglichkeiten als Machtzentrum der europäischen Politik voll auszufüllen.
Das europäische System wird mit diesem Vertrag effizienter. Die Zahl der Kommissare wird reduziert. Der Ratspräsident wird für mehrere Jahre gewählt, die Rechte des Kommissionspräsidenten werden gestärkt und vieles mehr. Das heißt, die Europäische Union, die europäische Administration und die europäischen Institutionen werden in Zukunft in der Lage sein, Politik aus einem Guss zu machen. Aber auch hier muss ich anmerken: Auch hier sind die neuen Chancen, die sich durch diesen Vertrag ergeben, für die europäischen Institutionen in erster Linie Herausforderung und Anspruch.
Uns nützt es zum Beispiel in Zukunft nicht viel, wenn wir auf der einen Seite einen Hohen Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik haben werden - der Volksmund wird ihn einfach den ?europäischen Außenminister? nennen, ob das nun im Vertrag steht oder nicht - und wenn auf der anderen Seite die Regierungen in den entscheidenden und wichtigen europapolitischen Fragen trotzdem öffentlich munter durcheinanderreden werden. Es wird wichtig sein, dass sich die Europäische Union und die Regierungen in der Europäischen Union dahin gehend entwickeln, dass sie weniger effektorientierte außenpolitische Aktionen starten, sondern mehr integrative, sachorientierte europäische Aktionen. Aber auch hier beginnt der Prozess erst, auch hier werden wir vorankommen.
Die europäische Politik wird mit diesem Vertrag transparenter. Wir haben nicht nur horizontal, sondern auch vertikal eine Demokratisierung der Europäischen Union erreicht; denn nach zaghaften Anfängen beim Maastrichter Vertrag vor 17 Jahren wird erstmalig die besondere Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union in diesem Vertrag festgeschrieben. Wir als nationale Parlamente haben volle Informationsrechte, also das Recht, zum frühestmöglichen Zeitpunkt informiert zu werden. Wir als nationale Parlamente haben in der europäischen Politik in Zukunft auch Mitwirkungsrechte.
Ich will nur auf einen Punkt kurz eingehen. Es gibt zum Beispiel die Möglichkeit, dass 50 Prozent der Parlamente innerhalb von acht Wochen eine Rüge für ein Rechtsetzungsvorhaben der Kommission äußern. Damit ist die Kommission verpflichtet, sich mit diesem Vorhaben noch einmal zu beschäftigen. Jedes nationale Parlament hat die Möglichkeit, gegen ein Rechtsetzungsvorhaben der Europäischen Union Klage zu führen.
Hier ist Folgendes wichtig: Ich glaube - das wird eine besondere Herausforderung für Deutschland und auch für den Deutschen Bundestag sein -, dass wir der Wirkung und der effektiven Kontrolle des Subsidiaritätsprinzips Vorschub leisten müssen. Das Subsidiaritätsprinzip steht seit 16 Jahren im Maastrichter Vertrag. Wenn wir aber einmal ernsthaft überprüfen, wie es denn gewirkt hat, ob und wieweit die Europäische Kommission, der Europäische Rat und auch der Europäische Gerichtshof dieses Prinzip verinnerlicht haben und danach leben, dann müssen wir feststellen, dass dieser Prozess noch nicht weit vorangekommen ist. Wenn nicht wir den Prozess der Implementierung des Subsidiaritätsprinzips voranbringen, dann wird es niemand tun. Das wird in Zukunft für uns als deutsches Parlament eine wichtige Aufgabe sein.
Meine Fraktion stimmt dem Vertrag zu. Heute ist ein guter Tag für Deutschland, für Europa und weit darüber hinaus.
Ich danke Ihnen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kollege Nitzsche hat in seiner Rede einen Vergleich gezogen zwischen dem Vertrag von Lissabon und dem Ermächtigungsgesetz aus der NS-Zeit. Ich halte das für undemokratisch, für falsch und bitte Sie, Herr Kollege Nitzsche, dies zu überdenken.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Diether Dehm.
Dr. Diether Dehm (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Herr Nitzsche darf den Vertrag von Lissabon durchaus mit dem Ermächtigungsgesetz vergleichen; aber er darf den Vertrag von Lissabon mit dem Ermächtigungsgesetz nicht gleichsetzen. Denn wenn man den Vertrag von Lissabon mit dem Ermächtigungsgesetz der Nazizeit vergleicht, stellt man fest, dass Welten dazwischen liegen.
Wir kritisieren den Lissabon-Vertrag, würden ihn aber niemals in die Nähe von Nazigesetzgebung rücken. Vergleichen und Gleichsetzen sind grundverschiedene Dinge. Er hat Lissabon-Vertrag und Ermächtigungsgesetz gleichgesetzt. Das ist das, wovon wir uns distanzieren.
Er hat die Rechte und die Linke gleichgesetzt. Ich möchte bei dieser Gelegenheit den Kollegen Stübgen - wir kennen uns aus dem Ausschuss und wissen voneinander eigentlich etwas mehr - ganz herzlich bitten, zur Kenntnis zu nehmen: Wenn wir den Lissabon-Vertrag ablehnen, dann deshalb, weil wir mehr Grundgesetz, mehr Sozialstaatlichkeit, mehr Verbot eines Angriffskrieges und mehr demokratischen Rechtsstaat wollen. Dies, Kollege Stübgen, hat nichts, aber auch gar nichts mit dem wirrköpfigen Chauvinismus des Kollegen Nitzsche zu tun, mit dem Sie uns bitte nicht gleichsetzen!
Vergleichen können Sie uns; aber dann werden Sie feststellen, dass es zwischen uns und Herrn Nitzsche, der aus Ihrer Fraktion ausgesondert worden ist, keinerlei Nähe gibt. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis, und verschonen Sie uns bitte mit diesem ?Rot gleich Braun? und ?Links gleich Rechts?! Solche Gleichsetzungen haben keinen Bestand.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächster Redner ist der Kollege Axel Schäfer, SPD-Fraktion.
Axel Schäfer (Bochum) (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist ein erfreulicher Tag für Europa. Das zeigt sich an dem europäischen Geist, in dem die Debatte über die Ratifizierung des Vertrages von Lissabon geführt wird.
Es ist allerdings eine beschämende Stunde, wenn durch die Rede von Herrn Nitzsche in diesem Haus der Geist von NPD-Gedankengut Einzug gehalten hat; das müssen wir gemeinsam feststellen.
Wer den Begriff ?deutsche Christen? verwendet und nicht weiß, dass die Deutschen Christen der Teil der evangelischen Kirche waren, der sich bei den Nazis angebiedert, sich ihnen unterworfen hat - im Gegensatz zur Bekennenden Kirche, die Widerstand leistete -, der zeigt nicht nur Geschichtslosigkeit, sondern ein gnadenloses Maß an Dummheit.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sagen: Heute ist ein guter Tag für Europa, weil wir die Demokratisierung durch die Parlamentarisierung durchsetzen. Es ist erfreulich, dass einer der Väter dieses Werkes, Professor Jürgen Meyer, der den Bundestag in zwei Konventen vertreten hat, heute bei uns ist; er sitzt auf der Tribüne. Jürgen Meyer, herzlichen Dank für die Arbeit, die du geleistet hast!
Was wir vollenden, wurde in der Regierungszeit von Gerhard Schröder auf den Weg gebracht, und das ist auch gut so.
Wir werden eine neue europäische Wahrhaftigkeit in Parteipolitik in diesem demokratisierten Europa erleben. Das heißt, dass wir weiterhin Kompromisse schließen und neue Konsense stiften müssen, über Partei- und Ländergrenzen hinweg. Ein Beispiel dafür ist, dass EVP und SPE für 2009 einen geschätzten polnischen Kollegen als gemeinsamen Kandidaten für das Amt des Präsidenten des Europäischen Parlaments auf den Schild heben. Das sollte auch der Deutsche Bundestag begrüßen. Es zeigt auf der anderen Seite, dass es in Europa auch neue Konflikte zwischen den Parteien gibt. Ich zitiere mit Genehmigung der Frau Präsidentin. Der inoffizielle Vorsitzende der Europäischen Volkspartei, Elmar Brok, erklärte: Die Wiederwahl Berlusconis ist eine gute Nachricht für die konservative Parteienfamilie in Europa.
Die Wiederwahl von Silvio Berlusconi ist eine schlechte Nachricht für alle europäischen, föderalistischen Demokraten.
Ich habe bisher nicht geglaubt, dass es für europäische Christdemokraten eine gute Nachricht sein kann, dass wirtschaftliche und politische Macht in einem Nachbarstaat in einer Hand vereint werden und dass eine Pressekonzentration im öffentlichen und privaten Bereich stattfindet, wie sie mit unserer Verfassung unvereinbar wäre.
Ich habe mir auch nicht vorstellen können, dass die Beschimpfung und Delegitimierung von unabhängigen Gerichten jetzt zu einer Partei gehört, die Mitglied der christdemokratischen Parteienfamilie in Europa ist. Das ist für die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in diesem Hause schlichtweg inakzeptabel.
Ich sage auch: Für uns ist heute - Kurt Beck hat zu Recht darauf hingewiesen -, da wir den Vertrag von Lissabon ratifizieren, ein stolzer Tag, weil ein Teil unserer geschichtlichen Identität - besser: unserer Visionen - zur Wirklichkeit wird. Fast auf den Tag genau vor 63 Jahren haben amerikanische Soldaten das KZ Buchenwald in der Nähe von Weimar befreit. In diesem KZ haben demokratische Sozialisten, einige Liberale und fortschrittliche Konservative - auch die gab es - ein Manifest verabschiedet, in dem sie gesagt haben: ?Wir wollen die Vereinigten Staaten von Europa. Für Deutschland ist es nach diesem Krieg das Wichtigste, dass wir eine Freundschaft mit unseren französischen und polnischen Nachbarn haben.? Das gelingt ein Stück besser mit der Wirklichkeit dieses Vertrages, den wir heute ratifizieren.
Es ist gut, dass in dieser Woche zuerst der polnische Sejmmarschall hier war und dass heute der französische Außenminister, Bernard Kouchner, anwesend ist. Mit ihm gemeinsam - ich freue mich, dass er hier ist - habe ich fünf Jahre lang im Europäischen Parlament diese Arbeit leisten können. Herzlich willkommen!
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stimmen diesem Vertrag heute aus voller Überzeugung zu, weil er die Staatsräson gemäß unserem Grundgesetz, die in der Präambel niedergelegt ist, auf der europäischen Ebene Wirklichkeit werden lässt, wonach wir Deutsche gleichberechtigt in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt dienen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung des Grundgesetzes, Art. 23, 45 und 93. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8912, den Gesetzentwurf auf Drucksache 16/8488 anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/8924 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist bei Zustimmung der Linken mit den restlichen Stimmen des Hauses abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Enthaltung der Fraktion der Linken mit den restlichen Stimmen des Hauses angenommen.
und Schlussabstimmung. Ich weise darauf hin, dass nach Art. 79 Abs. 2 des Grundgesetzes zur Annahme dieses Gesetzentwurfs die Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages erforderlich ist. Das sind mindestens 408 Stimmen. Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Ich eröffne die Abstimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnen später mitgeteilt.
Wir setzen die Beratungen fort. Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der Fraktion Die Linke eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8913, den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/7375 abzulehnen. Die Fraktion Die Linke verlangt namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Ich eröffne die Abstimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Bis zum Vorliegen der Ergebnisse der beiden bereits durchgeführten namentlichen Abstimmungen unterbreche ich die Sitzung.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung des Grundgesetzes bekannt, Drucksachen 16/8488 und 16/8912: Abgegebene Stimmen 577. Mit Ja haben gestimmt 520, mit Nein haben gestimmt 8, Enthaltungen 49. Gemäß § 48 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung stelle ich fest, dass die nach Art. 79 Abs. 2 des Grundgesetzes erforderliche Zweidrittelmehrheit, das heißt mindestens 408 Jastimmen, erreicht ist. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke zur Änderung des Grundgesetzes, Drucksachen 16/7375 und 16/8913, lautet: Abgegebene Stimmen 572. Mit Ja haben gestimmt 53, mit Nein haben gestimmt 515, Enthaltungen 4. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007. Ich weise darauf hin, dass uns einige Erklärungen nach § 31 der Geschäftsordnung vorliegen. Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8917, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/8300 anzunehmen. Ich weise darauf hin, dass nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 des Grundgesetzes zur Annahme dieses Gesetzentwurfs jetzt bei der zweiten Beratung und Schlussabstimmung die Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages erforderlich ist. Das sind mindestens 408 Stimmen.
Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Ich eröffne die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ihnen später bekannt gegeben.
Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union, Drucksache 16/8917, fort.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU bei Enthaltung der FDP und Gegenstimmen der Linken angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über drei Entschließungsanträge.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/8927? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist bei Zustimmung der FDP mit den restlichen Stimmen des Hauses abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/8926? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dieser Entschließungsantrag ist bei Zustimmung der Linken mit den restlichen Stimmen des Hauses abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8925? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU, FDP bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und Zustimmung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Abstimmung über den von den Fraktionen CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union. Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8919, den Gesetzentwurf auf Drucksache 16/8489 anzunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 16/8921? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist bei Zustimmung der Fraktion der Linken mit den restlichen Stimmen des Hauses abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU, FDP bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist ebenfalls mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU, FDP bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel ?Intransparenz beenden - Eine lesbare Fassung des Reformvertrags schaffen?. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8920, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/7446 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit den restlichen Stimmen des Hauses angenommen.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 16/8879 zur federführenden Beratung an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union und zur Mitberatung an den Rechtsausschuss sowie an den Ausschuss für Arbeit und Soziales zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich würde jetzt gerne noch das Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekannt geben.
Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zum Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007 bekannt: Abgegebene Stimmen 574. Mit Ja haben gestimmt 515, mit Nein haben gestimmt 58, Enthaltungen 1. Gemäß § 48 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung stelle ich fest, dass die nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 des Grundgesetzes erforderliche Zweidrittelmehrheit, das heißt mindestens 408 Jastimmen, erreicht ist. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Unterrichtung durch die Bundesregierung
Berufsbildungsbericht 2008
- Drucksache 16/8750 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Ministerin Dr. Annette Schavan.
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bildung und Forschung:
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Der Berufsbildungsbericht 2008 zieht Bilanz über 2007. Diese Bilanz zeigt: Dynamik in der Wirtschaft und Bewegung auf dem Arbeitsmarkt wirken sich positiv auf den Ausbildungsmarkt aus. Mit rund 625 900 neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen zum Stichtag 30. September 2007 wurde nicht nur erstmals seit 2001 die Marke von 600 000 wieder deutlich überschritten; es ist auch die zweithöchste Vertragszahl seit der Wiedervereinigung.
Das ist auch das Ergebnis konsequenter Politik für Wachstum und Beschäftigung.
Wer Wachstum und Beschäftigung fördert, fördert die Zukunftschancen der jungen Generation, kommt zu mehr Ausbildungsplätzen. Das ist die zentrale Botschaft des Berufsbildungsberichts 2008.
Die Zahl der neuen Verträge ist somit in den letzten zwei Jahren um 75 800 gestiegen, die Zahl der zum 30. September unversorgten Bewerberinnen und Bewerber gegenüber dem Vorjahr um 41 Prozent auf 29 100 gesunken.
Das sind die zentralen Zahlen. Ich füge hinzu: Hinter jeder Zahl steckt ein junger Mensch mit seinen Talenten, auch mit seiner Erwartung, am Ende der Schulzeit in die nächste Phase seiner Bildungsbiografie einsteigen zu können und von dieser Gesellschaft eine wirkliche Chance zu bekommen. Deshalb war es richtig, dass wir gemeinsam mit den Sozialpartnern, speziell der Wirtschaft, den Ausbildungspakt um weitere drei Jahre verlängert haben.
Einher mit dieser positiven Bilanz geht übrigens eine Stimmung in den Unternehmen, die dafür gesorgt hat, dass man sich in den Unternehmen nicht mehr allein mit der Frage beschäftigt, wie man mehr Ausbildungsplätze schaffen kann, sondern längst auch mit der Frage, wie der eigene Fachkräftebedarf in Zukunft gedeckt werden kann. Das betrifft vor allem hochinnovative Unternehmen, das betrifft aber auch das Handwerk in Deutschland. Alle spüren, wie wichtig es ist, jetzt wirklich jedem Jugendlichen eine Chance zu geben und Ausbildung für alle zu ermöglichen, weil der Fachkräftebedarf schon in wenigen Jahren deutlich ansteigen wird.
Die Gründe hierfür sind: Eine hohe Zahl von Arbeitnehmern wird in Rente gehen. Darüber hinaus ist bereits deutlich ein Rückgang der Zahl der Schulabsolventen erkennbar. Schon in diesem Jahr werden rund 33 000 weniger Schülerinnen und Schüler die Schule verlassen als im vergangenen Jahr.
Die Bevölkerungsentwicklung und die anhaltende Dynamik in der Wirtschaft führten zu erhöhtem Fachkräftebedarf. Das wird auch in diesem Jahr die Chancen der Schulabsolventen weiter erhöhen, einen Ausbildungsplatz zu bekommen.
Klar ist aber auch, liebe Kolleginnen und Kollegen: Es gibt nach wie vor Problembereiche, um die wir uns mit unserer modernen Berufsbildungspolitik kümmern.
Erster Problembereich sind die Altbewerber. Bis ins letzte Jahr hinein ist feststellbar: Die Hälfte, exakt 52 Prozent all derer, die sich um einen Ausbildungsplatz bewerben, haben dies bereits mehrfach getan. Deshalb ist es richtig gewesen, dass wir im Rahmen der Qualifizierungsinitiative der Bundesregierung hier mit der Einführung eines Ausbildungsbonus und der Erhöhung der sozialpädagogischen Ausbildungshilfen einen besonderen Akzent setzen. Wir tragen somit an dieser wichtigen Schnittstelle Sorge dafür, dass bis zum Jahre 2010 - das ist das Ziel der Bundesregierung - jeder dieser Jugendlichen eine Chance auf reguläre Ausbildung bekommt.
Bereits in diesem Sommer können erste Verträge abgeschlossen werden.
Der zweite Problembereich liegt an der Schnittstelle Schule/Ausbildung. Wir kennen die immer wieder geäußerten Hinweise auf mangelnde Ausbildungsreife. Es ist wichtig, an der Schnittstelle, am Übergang von der Schule in die Ausbildung, Jugendliche über unsere verschiedenen Institutionen und institutionellen Hilfen auch ein Stück zu begleiten. Ich nenne das Stichwort Ausbildungspaten. Diese tragen Sorge dafür, dass diejenigen, die noch nicht genügend vorbereitet sind oder die sich noch nicht darüber im Klaren sind, was auf sie zukommt, davon überzeugt werden, dass Aufstieg durch Bildung geschieht, vor dem Aufstieg der Einstieg steht und der Einstieg eigene Anstrengungen verlangt. So muss die Begleitung von Jugendlichen aussehen.
Der dritte Problembereich ist die Durchlässigkeit. Auch hier haben wir in der Qualifizierungsinitiative konkrete Initiativen ergriffen. Wir sagen aus Überzeugung: Berufliche Bildung und Allgemeinbildung sind gleichwertig. Wir sagen aus Überzeugung vor allem mit Blick auf andere europäische Länder: Berufliche Bildung, also duale Ausbildung, ist das Flaggschiff unseres Bildungssystems.
Wir haben in Deutschland eine im europäischen Vergleich sehr niedrige Jugendarbeitslosigkeit, weil wir berufliche Bildung und diese Art der Fachkräfteausbildung haben. Das ist beste Vorbeugung gegen Jugendarbeitslosigkeit.
Die Gleichwertigkeit muss sich auch im Zugang zu weiteren Phasen der Bildungsbiografie erweisen. Deshalb gibt es ein Aufstiegsstipendium und eine Regelung des Hochschulzugangs für diejenigen, die qualifiziert aus der beruflichen Bildung kommen, die Meister oder Techniker sind. Das ist der nächste wichtige Schritt, um die Gleichwertigkeit noch einmal deutlich zu konkretisieren.
Jeder weiß, wir haben strukturschwache Regionen, in denen Ausbildungskapazitäten nicht in dem erforderlichen Maße vorhanden sind. Dies mache ich an einer Zahl deutlich: Alleine in den neuen Bundesländern sind seit 1998 150 000 Ausbildungsplätze seitens des Bundes finanziert worden.
Bedingung für duale Ausbildung ist natürlich, dass die strukturellen Voraussetzungen gegeben sind. Davon können wir nicht überall ausgehen. Deshalb war es richtig, Jobstarter und anderes auf den Weg zu bringen, um klarzumachen: Zukunftschancen der jungen Generation müssen in allen Regionen Deutschlands vorhanden sein.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Frau Ministerin, der Kollege Seifert würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bildung und Forschung:
Bitte schön.
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE):
Frau Ministerin, Sie haben vier Problemfelder benannt und nicht erwähnt, dass Menschen mit Behinderungen und andere benachteiligte Gruppen sehr große Schwierigkeiten haben, einen Ausbildungsplatz zu finden. Und wenn sie einen Ausbildungsplatz finden, dann finden sie höchstens einen Sonderausbildungsplatz, was dazu führt, dass die Übernahmemöglichkeiten wesentlich geringer sind. Wieso sehen Sie es nicht als Schwerpunkt Ihrer zukünftigen Arbeit an, dass dort etwas geändert werden muss?
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bildung und Forschung:
Ich war ja noch nicht fertig.
Ich hatte vier Punkte genannt und war bei den strukturschwachen Regionen. Natürlich gibt es daneben eine Menge weiterer Einzelprobleme, zum Beispiel die Frage des Übergangs von sonderpädagogischen Einrichtungen in entsprechende Einrichtungen der beruflichen Bildung. Hier gibt es vor allem im Bereich der freien Träger eine Menge erfolgreiche Initiativen. Ich bin davon überzeugt, dass in Bezug auf den Fachkräftebedarf alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden müssen. Unsere Förderprogramme schließen das ein. Es handelt sich also nicht um einen Schwerpunkt, der neu gesetzt werden muss, sondern um einen, der, wenn Sie sich die Zuschusspolitik anschauen, schon immer gesetzt war. Dies wurde natürlich regional unterschiedlich genutzt. Es ist unbestritten, dass Menschen mit Behinderungen Probleme hinsichtlich ihrer beruflichen Perspektiven haben. In diesem Zusammenhang erinnere ich an die Abgaben und die Abgabenpolitik. Zahlt man eine Abgabe, wenn man eine bestimmte Quote nicht erreicht, oder ist es nicht wichtiger, zu sagen, die Abgabe ist der leichtere Weg gegenüber der tatsächlichen Bereitschaft, Menschen mit Behinderungen einzustellen? Dazu steht die Bundesregierung. Es gibt eine Menge Initiativen, das zu fördern und entsprechende Strukturen aufzubauen. Das ist unbestritten, und da besteht sicherlich auch Konsens in diesem Hause.
Meine Damen und Herren, in der Berufsbildungspolitik müssen wir neben dem, was wir national tun, was wir jetzt in der Qualifizierungsinitiative umgesetzt haben und was wir dabei sind, mit Blick auf ?Dual mit Wahl? umzusetzen, vor allem die europäische Arbeit - Berufsbildungs-PISA - in den Blick nehmen. Wir müssen in den nächsten Jahren erreichen - das ist für den gemeinsamen Bildungsraum Europa wichtig -, dass das, wovon wir hier überzeugt sind, in Europa entsprechend Anerkennung findet. Wir wollen, dass Auszubildende einen Teil ihrer Ausbildung in einem anderen Land absolvieren können. Wir wollen, dass das, was in Deutschland Flaggschiff des Bildungssystems ist, auch im europäischen Vergleich die Anerkennung findet, die es braucht. Deshalb halte ich es für richtig, dass wir uns in Deutschland auf das europäische Berufsbildungs-PISA einlassen und uns aktiv und offensiv an dem europäischen Qualifikationsrahmen und analog einem Qualifikationsrahmen in Deutschland beteiligen.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich gebe das Wort dem Kollegen Patrick Meinhardt, FDP-Fraktion.
Patrick Meinhardt (FDP):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Uns liegt wieder einmal ein Bericht vor, allerdings zum letzten Mal in dieser Form. In der Pressemitteilung des Ministeriums heißt es: künftig nur noch Daten, Trends, Bewertungen - Schluss. Wir sind sehr froh darüber. Denn wir haben schon vor zwei Jahren hier angemerkt, dass es enorm wichtig ist, einen kurzen, prägnanten und knackigen Berufsbildungsbericht zu bekommen, und dass das ein wirklich guter Beitrag wäre. Deswegen freuen wir uns, wenn das im Jahre 2009 - auch als eine Maßnahme des Bürokratieabbaus - endlich Realität wird.
Man darf ja am Beginn seiner Rede auch einmal etwas Positives sagen.
Der Berufsbildungsbericht nämlich ist ein deutliches Alarmsignal. Wenn Sie, Frau Ministerin, sagen, dass wir mit 626 000 Ausbildungsverhältnissen, einem Plus von 50 000, seit 2001 zum ersten Mal wieder die 600 000er-Grenze überschritten haben, dann ist das von den Zahlen her richtig. Aber man muss auch hinter die Zahlen schauen.
Wir müssen uns klarmachen, dass in diesem Jahr zuerst einmal ein Aufwuchs in Höhe von 29 000 bei den außerbetrieblichen Ausbildungsplätzen stattgefunden hat. Das heißt, kein Aufwuchs in unserer Hauptförderlinie, sondern ein Plus bei den außerbetrieblichen Ausbildungsplätzen. Der restliche Aufwuchs kommt in allererster Linie in den Ländern Nordrhein-Westfalen - plus 14 Prozent -, Baden-Württemberg - plus 16 Prozent - und Niedersachsen zustande; in der Summe sind das 28 000 Ausbildungsplätze. Der Aufwuchs ist also in den Ländern zu verzeichnen, in denen es bereits ein intelligentes Ausbildungsbonussystem gibt. Damit ist das auch ein Erfolg der jeweiligen Landesregierung. Dem geneigten Beobachter wird dabei wahrscheinlich nicht entgangen sein, dass in all diesen Ländern liberale Wirtschafts- oder Innovationsminister in der Verantwortung stehen.
Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen, in allererster Linie müssen wir der Wirtschaft und dem Handwerk dafür danken,
dass trotz des Abbaus von Arbeitsplätzen ein deutlicher Aufwuchs bei den Ausbildungsplätzen erreicht werden konnte. Dies ist ein dankenswerter Einsatz. Der Mittelstand steht zu seinem Wort.
Handlungsnotwendigkeiten gibt es einige. Im dritten Jahr unserer Initiative steuern wir auf mehr als 50 Prozent Altbewerber zu, 385 000 in absoluten Zahlen. Anders formuliert: Im dritten Jahr der Altbewerbermisere kommt jetzt der erste Akt der Bundesregierung mit dem sogenannten Ausbildungsbonus.
Ich sage ausdrücklich: Der Ausbildungsbonus ist grundsätzlich eine gute Idee. Er muss aber intelligent angepackt werden. Wir alle haben gestern wieder die Kritik des ZDH-Generalsekretärs vernehmen können, und zwar in Bezug auf die Justierung der Zielgruppe der Altbewerber. Er sagt ganz klar: höchstens Realschulabschluss, zwei Jahre ohne Ausbildungsplatz und lernbeeinträchtigt oder sozial benachteiligt. In Baden-Württemberg haben wir sogar gesagt: höchstens Hauptschulabschluss. Aber was macht die Bundesregierung daraus?
Ich glaube nicht, dass das die richtige Zielrichtung ist; vielmehr müssen wir näher justieren und besser bestimmen. Sie machen daraus: ein Jahr ohne Ausbildungsplatz und Realschulnote Vier; damit sei man ein schlechter Schüler, wenn man diese Note in Deutsch oder in Mathe hat. Das heißt, mit der Note Ausreichend ist man nach dieser Definition jemand, der zu den Altbewerbern zählen kann. Darüber hinaus stellt man die Entscheidung vor Ort der Flexibilität der Arbeitsagenturen frei. Ich glaube, dass das der falsche Weg ist.
- Nein, Herr Tauss, ich glaube, dass das wirklich der falsche Weg ist. Denn wir müssen genau beschreiben, wen wir mit einer solchen Maßnahme erreichen wollen.
Warum haben wir es denn in Baden-Württemberg - das ist ja immerhin unser beider Land - von 2005 auf 2006 geschafft, die Zahl der Altbewerber von 2 700 auf 700 zu reduzieren?
- Nein. Wir haben es geschafft, weil wir in Baden-Württemberg einen Ausbildungsbonus eingeführt haben, der genau dieser Justierung entspricht: ein Jahr Wartezeit und maximal Hauptschulabschluss, aber nicht mit Note Vier. Mit einer so festgelegten Zielgruppe kann man effektiv arbeiten. Wir brauchen eine genaue Zielgruppendefinition. Gibt es sie nicht, können die entsprechenden Maßnahmen die Betroffenen nicht erreichen.
Nebenbei bemerkt: Die Bundesregierung braucht für die Finanzierung dieses Ausbildungsbonus pro Bewerber zwischen 4 000 und 6 000 Euro. In Niedersachsen werden dafür zwischen 2 500 und 3 000 Euro benötigt. Baden-Württemberg hat die Zahl der Altbewerber um 75 Prozent reduziert und zahlt 3 200 Euro aus. Ich weiß wirklich nicht, warum die Bundesregierung fast den doppelten Betrag pro Auszubildenden braucht. Zwei Länder machen es vor, dass es mit ungefähr dem halben Betrag funktionieren kann.
Wir dürfen einen zweiten großen Block nicht aus dem Fokus verlieren, nämlich die vorbereitende Ausbildungsberatung, die unglaublich wichtig ist. Die Abbrecherquote bei der Ausbildung beträgt im Moment 25 Prozent; sie ist in diesem Bereich eine der höchsten Quoten. Deswegen ist es richtig und notwendig, dass wir zu einer vorbereitenden und richtig justierenden Ausbildungsberatung kommen. Denn jeder Cent, der hier richtig angelegt ist, wird am Schluss gespart. Mit einer guten Beratung kann man den Jugendlichen eine gute Perspektive geben.
Es ist wichtig, die Flexibilisierung voranzutreiben. Das bedeutet eine große Vielfalt von Ausbildungsberufen. Wir müssen es hinbekommen - das Modell ?Dual mit Wahl? ist schon angesprochen worden -, dass wir im Rahmen einer intelligenten Modularisierung - Grundmodule, Kernmodule, Spezialmodule - zu einer flexibleren Vorgehensweise kommen. Das heißt aber definitiv nicht, dass wir eine Atomisierung der Ausbildung wollen. Wir wollen aber auch keine Zentralisierung auf Teufel komm raus in Richtung auf immer weniger Ausbildungsberufe. Wir brauchen hier eine gewisse Bandbreite. In dem Berichtszeitraum haben wir gemerkt, dass die Dynamik bei Berufen mit einer zweijährigen Ausbildungsdauer letztendlich dazu führt, dass es für diejenigen, die einen Hauptschulabschluss haben, wieder eine größere Perspektive gibt.
Schauen wir uns einmal die Steigungsraten bei den Berufen mit einer zweijährigen Ausbildungsdauer an: Fachlagerist plus 33 Prozent, Maschinen- und Anlagenführer plus 33 Prozent, Teilezurichter plus 16 Prozent, Verkäufer plus 15 Prozent.
All diese Berufe mit einer zweijährigen Ausbildungsdauer bieten den Schülern mit einem Hauptschulabschluss eine Perspektive.
Das ist dringend notwendig.
Wir Liberale sind der Überzeugung - dieser Punkt ist für uns wichtig -: Die Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Ausbildung bedeutet, dass wir alle zu einem Imagewechsel unseren Beitrag leisten müssen. Eine Ausbildung zu machen, ist etwas Gutes. Diese Botschaft muss man an die jungen Menschen weitergeben. Ein größerer Stellenwert der beruflichen Ausbildung tut unserem Land deswegen gut, weil diejenigen, die über die Ausbildung in das Berufsleben eintreten, etwas mitbringen, was unser Land dringend braucht: eine Kultur der Selbstständigkeit.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Für die SPD-Fraktion gebe ich dem Kollegen Willi Brase das Wort.
Willi Brase (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über den Berufsbildungsbericht. Ich möchte aber zu Beginn eine Initiative von jungen Menschen, von Landesschülervertretungen und von jungen Gewerkschaftern erwähnen, die das Grundrecht auf Ausbildung einfordern. Für die SPD-Fraktion ist diese Initiative eine weitere Ermutigung, sich für die Schaffung von qualifizierten Ausbildungsplätzen in ausreichender Zahl einzusetzen. Für uns ist diese Initiative Handlungsauftrag; denn die jungen Leute drücken damit aus, dass sie auch zukünftig eine qualifizierte Ausbildung wollen. Deshalb werden wir uns weiterhin dafür einsetzen.
Die Ministerin, Frau Schavan, hat deutlich auf die Zahlen und die Entwicklung hingewiesen. Ich will sie an einer Stelle etwas ergänzen: Auch wir nehmen positiv zur Kenntnis, dass es neben den neuen eingetragenen Ausbildungsverhältnissen im Bereich BBiG und HwO noch 120 000 junge Leute gibt, die in einer Ausbildung nach Landesrecht - und nicht nur zwei Jahre, sondern vielfach auch drei Jahre - tätig sind. Wer sich den Berufsbildungsbericht genau anschaut, wird sehen, wie viele hochqualifizierte Ausbildungen dort durchgeführt werden. Das zählt mit dazu. Man könnte sagen: Wir bieten jährlich in der Bundesrepublik weit über 700 000 gute und vernünftige Möglichkeiten für die jungen Leute an. Das ist richtig so.
In der Debatte wird häufig auch die Frage der Ausbildungsreife angesprochen; das war hier immer Thema und wird es auch zukünftig bleiben. Die SPD-Fraktion sagt: Wir brauchen die Berufsorientierung und Berufsvorbereitung nicht nur für besonders betroffene Gruppen, wie das derzeit häufig noch der Fall ist, sondern wollen sie für alle. Wir wollen keine Stigmatisierung einzelner Gruppen mehr, die am Ausbildungsmarkt nicht zurande kommen, sondern für alle in diesem Land eine vernünftige Berufsorientierung.
Deshalb halten wir es auch für richtig, dass ein entsprechendes Programm für Schülerinnen und Schüler mit Mitteln in Höhe von 15 Millionen Euro in Zusammenhang mit den überbetrieblichen Ausbildungsstellen des Handwerks und der Industrie auf den Weg gebracht wird und dass die gesetzlich vorgesehene Finanzierung von 50 : 50 geregelt ist. Ich sage hier sehr deutlich: Wenn dieses Programm gut angenommen wird, wenn jungen Menschen, Schülerinnen und Schülern nicht nur von der Hauptschule, sondern möglicherweise auch von anderen Schultypen 14 Tage lang eine Orientierung, was Beruflichkeit, Branchenentwicklung in der Region und Perspektiven angeht, gegeben wird und dieses Programm gut umgesetzt wird, dann ist dies eine Aufforderung, das in Zukunft für alle auf den Weg zu bringen.
In der letzten Sitzungswoche haben wir über den Ausbildungsbonus diskutiert. In diesem Zusammenhang habe ich darauf hingewiesen, dass wir in der Benachteiligtenförderung, was die Berufsausbildungsvorbereitung angeht, immer noch eine Vielfalt von Maßnahmen haben. Wer sich den Berufsbildungsbericht genau ansieht, wird feststellen, dass es jede Menge Landesprogramme gibt. Wir haben manche ESF-geförderten Programme. Wir haben das BVJ und das BGJ bis hin zu den Programmen der Agentur für Arbeit.
Wir halten den Beschluss des Hauptausschusses des Bundesinstituts für Berufsbildung, eine nationale Bildungsinitiative im Sinne eines Schul- und Berufsabschlusses für alle zu starten, für absolut richtig; denn er enthält gute Vorschläge. Wir wollen den Lernort Betrieb stärker mit einbeziehen. Dazu gibt es gute konkrete Beispiele. Ich glaube, dass das der richtige Weg ist; denn mit einer vernünftigen Berufsorientierung und einer vernünftigen Berufsvorbereitung stärken wir das Selbstwertgefühl der jungen Menschen. Wir brauchen ausbildungsbegleitende Hilfen. Diese weiten wir aus. Wir werden Abbrüche vermeiden. Die Antrags- und Durchführungsbestimmungen müssen entrümpelt werden. Ich glaube, dieser Initiative gebührt der entsprechende Respekt.
Die duale Ausbildung in der Bundesrepublik Deutschland lebt davon, dass wir auf vielen Ebenen eine gute Zusammenarbeit zwischen den Beteiligten haben. Es ist richtig, wenn wir sagen: Diese Zusammenarbeit zu hegen und zu pflegen, ist nicht verkehrt. Gerade bei der Neuordnung von Ausbildungsverhältnissen bzw. Ausbildungsordnungen haben wir über Jahrzehnte von dieser guten Zusammenarbeit gelebt. Wenn die Fachverbände gemeinsam Ausbildungsordnungen entwickeln und sie dann im Konsens mit der Bundesregierung und dem Verordnungsgeber durchsetzen, dann war und ist das ein guter Weg. Es ist aber nicht so gut, wenn der Verordnungsgeber bei der einen oder anderen Ausbildungsordnung dieses Prinzip gegen den Willen der Fachverbände verlässt.
Deshalb ist unsere Bitte an das Wirtschaftsministerium, die Praxis an dieser Stelle etwas zu überprüfen. Die Konsensbildung in der beruflichen Bildung ist ein so hohes Gut, dass wir es nicht leichtfertig aufs Spiel setzen dürfen. Das wäre der falsche Weg.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir, CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, haben in der letzten Legislaturperiode zu diesem Thema einen Entschließungsantrag eingebracht, in dem wir gefordert haben, dass da, wo es im Verfahren klemmt, möglicherweise ein Schlichtersystem eingeführt wird. Ich will das heute ausdrücklich anmahnen, weil ich glaube, das ist der bessere Weg.
Ausbildungsmärkte sind regionale Märkte. Unser Ziel muss es sein, Partner und Strukturen vor Ort zu stärken sowie das Berufsprinzip beizubehalten. Wir müssen dafür sorgen, dass die jungen Leute das erhalten, was sie wollen, nämlich eine qualifizierte Ausbildung, die ihre Beschäftigungsfähigkeit fördert, die einen Einstieg in den Beruf und eine Zukunftsperspektive bietet.
In diesem Zusammenhang führen wir auch eine Debatte über die zweijährige Ausbildung. Wer sich den Berufsbildungsbericht genau anschaut, wird feststellen, dass einige dieser zweijährigen Ausbildungsgänge inzwischen nur noch gerade einmal 10, 15 oder 20 Ausbildungsverhältnisse vorweisen. Wenn wir in Richtung ?Berufsfamilie? gehen wollen, was wir bejahen und für richtig halten, dann sollten wir auch die zweijährigen Ausbildungsordnungen überprüfen. Ich glaube, sie sind fehl am Platz und bieten keine vernünftige Zukunftsperspektive für die jungen Leute.
Wir begrüßen ausdrücklich, dass der Berufsbildungsbericht - das ist eben schon angesprochen worden - ein Stück weit verändert wird. Wir gehen davon aus, dass die Vorschläge des Hauptausschusses mit diesen Änderungen in Einklang stehen. Der Ausschuss hat gefordert, dass der Berufsbildungsbericht einen politischen Teil erhält, der auch klare politische Aussagen enthalten soll. Das ist Aufgabe der Bundesregierung; daran sollte man nicht vorbeigehen. Inhaltlich sollte er gestrafft und thematisch so aufgebaut werden, dass die Schwerpunkte noch deutlicher und noch schneller zu erkennen sind. Außerdem sollte die Präsentation verbessert und damit die Nutzerfreundlichkeit gesteigert werden. In diesem Sinne sollten wir tätig werden. Die SPD-Fraktion wird diese Bemühungen unterstützen.
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen. Wir bitten darum, dass man sich die Initiativen, die in den einzelnen Regionen im Bereich der beruflichen Bildung auf den Weg gebracht wurden und als präventives Handeln verstanden werden können, genau anschaut und unterstützt. Einige Initiativen führen zu einer Verbesserung. Ich habe sie hier, im Plenum, schon mehrfach erwähnt.
In Nordrhein-Westfalen haben wir ein Projekt auf den Weg gebracht, um die Vielfalt der eben angesprochenen Maßnahmen im Übergangsbereich ein Stück weit in den Griff zu bekommen. Häufig ist es so, dass den jungen Leuten, die zur Berufsberatung in die Agentur für Arbeit kommen, ein Angebot gemacht wird, das sie nicht genau nachvollziehen können. Der eine wird in Richtung Schule - BVJ oder BGJ, das ausläuft - geschickt, der andere erhält eine Maßnahme der Agentur für Arbeit, und der Dritte kommt in eine vom ESF geförderte Maßnahme und erhält mehr Geld. Diese Zufälligkeit und diese Vielfalt der Maßnahmen haben wir in einem symbolischen Projekt aufgelöst. Wir haben sozusagen alles in einen Topf geschüttet. Vor Ort soll nun geschaut werden, was der einzelne braucht. Das ist Individualisierung im positiven Sinne, um den Wünschen der jungen Leute besser gerecht werden zu können.
Ich glaube, dass dieses Projekt richtig ist. Es wird in drei Regionen Nordrhein-Westfalens durchgeführt. Ich würde mich freuen, wenn wir dieses Projekt bundesweit übernehmen, wenn die Ergebnisse gut sind.
Die berufliche Bildung in Deutschland ist nicht nur dazu da, Versorgung auf den Weg zu bringen. Die Weiterentwicklung der beruflichen Bildung, vor allem die qualitative Weiterentwicklung, ist ein Aspekt von Innovation. Und weil das so ist, müssen wir die berufliche Bildung nach vorne bringen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Nele Hirsch, Fraktion Die Linke.
Cornelia Hirsch (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren von der Bundesregierung! Mit Ihrer Berufsbildungspolitik schaffen Sie keine Zukunft, wie Sie hier behauptet haben, Frau Ministerin, sondern zerstören sie.
In erster Linie merken das die betroffenen Jugendlichen. Herr Brase, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass sie sich das nicht länger gefallen lassen wollen und deshalb eine Petition gestartet haben, mit der sie fordern, dass das Recht auf Ausbildung im Grundgesetz verankert wird.
Am Dienstag wurde die Petition übergeben. Viele Kolleginnen und Kollegen aus diesem Parlament waren dabei. Mehr als 72 000 Unterschriften sind zusammengekommen. Quer durch alle Fraktionen - mit Ausnahme der FDP, die leider nicht vertreten war - wurde gesagt: Ja, das ist ein richtiges und wichtiges Anliegen.
Heute diskutieren wir über den Berufsbildungsbericht 2008. Dieser Bericht ist ein deutlicher Beleg dafür, wie die Bundesregierung dieses von den Jugendlichen geforderte Grundrecht mit ihrer Politik mit Füßen tritt. Wenn Sie, Herr Kollege Brase, Ihre schönen Worte vom Dienstag, die Sie hier wiederholt haben, ernst nehmen würden, dann dürften Sie nicht auf ein ?Weiter so!? setzen, sondern müssten für eine klare Abkehr von der bisherigen Berufsbildungspolitik eintreten.
Stattdessen hören wir die üblichen hohlen Phrasen: Die Lage auf dem Ausbildungsmarkt habe sich entspannt, der Ausbildungspakt sei ein Erfolg, und die Bundesregierung habe im letzten Jahr neue, innovative Impulse auf den Weg gebracht. Alle drei Behauptungen sind falsch. Alle drei Behauptungen sind auch eine Veralberung der jungen Menschen und der 72 000 Unterzeichnerinnen und Unterzeichner der Petition für ein Grundrecht auf Ausbildung.
Lassen Sie mich zunächst auf Ihre erste Behauptung eingehen: auf die angebliche Entspannung auf dem Ausbildungsmarkt. Ich kann nur wieder einmal an Sie appellieren, sich den Berufsbildungsbericht jenseits der Schönfärberei der Bundesregierung einmal genauer anzusehen und folgende Zahlen zur Kenntnis zu nehmen: 385 000 Jugendliche in diesem Land tragen den Stempel Altbewerberin bzw. Altbewerber. Allein im letzten Jahr konnten 100 000 Jugendliche ihren Ausbildungswunsch nicht realisieren. Nur noch 24 Prozent der Betriebe bilden aus. Nicht einmal jeder dritte Jugendliche mit Migrationshintergrund findet einen Ausbildungsplatz. Es kommt zu zusätzlichen Benachteiligungen von Frauen und - darauf hat mein Kollege Ilja Seifert hingewiesen - von jungen Menschen mit Behinderung. Das ist wahrlich keine Entspannung. Vor allem ist das alles andere als ein Grundrecht auf Ausbildung.
Herr Kollege Brase, wenn Sie die Forderung dieser Petition unterstützen, dann müssen Sie für das politische Ziel eintreten, das die Linke schon seit Jahren verfolgt:
Alle jungen Menschen müssen das Recht auf ein auswahlfähiges Angebot an Ausbildungsplätzen haben.
Ihre zweite Behauptung lautet: Der Ausbildungspakt ist ein Erfolg. Auch hierzu sagt die Linke deutlich Nein. Richtig ist: Der Ausbildungspakt ist einer der Gründe für die heutige Misere. Gerade durch diesen Pakt - Herr Tauss, Sie brauchen gar nicht den Kopf zu schütteln -
wurde den Betrieben die Legitimation verschafft, sich aus ihrer Verantwortung für die Bereitstellung von Ausbildungsplätzen zurückzuziehen. Das wird daran deutlich, dass die Quote der betrieblichen Ausbildung Jahr für Jahr gesunken ist.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Frau Kollegin, der Kollege Hinsken würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Cornelia Hirsch (DIE LINKE):
Nein, ich möchte sie nicht zulassen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nein, sie möchte sie nicht zulassen.
Cornelia Hirsch (DIE LINKE):
Ich möchte insbesondere an die Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen appellieren - da der Ausbildungspakt vor allem auf Sie zurückgeht -, endlich zuzugeben, dass der Ausbildungspakt für Sie in Wahrheit nur der Vorwand war, damit Sie sich von Ihrer Forderung nach einer gesetzlichen Ausbildungsplatzumlage verabschieden konnten.
Sie hatten nicht den Mut, sich den Unternehmen in den Weg zu stellen und ihre Verantwortung für die Bereitstellung von Ausbildungsplätzen einzufordern. Die Gewerkschaften beteiligen sich an diesem staatlich legitimierten Ausbildungsabbau nach wie vor nicht. Sie fordern wie die Linke: weg mit dem Ausbildungspakt und her mit einer gesetzlichen Ausbildungsplatzumlage!
Ihre dritte Behauptung, die Bundesregierung habe im letzten Jahr innovative Vorschläge zur Weiterentwicklung des Berufsbildungssystems vorgelegt, ist ebenfalls falsch. In Ihrer Qualifizierungsinitiative und in den Leitlinien des Innovationskreises sind erstens lediglich Ankündigungen ohne jedes Fundament enthalten. Da lesen wir von einem Berufsbildungs-PISA, von einer besseren Benachteiligtenförderung und von der Öffnung des Zugangs zu Hochschulen auch für die berufliche Bildung. All diese Ziele sind richtig. Wie Sie konkret vorgehen wollen, das sagen Sie aber nicht.
Auf der anderen Seite machen Sie Vorschläge, die eindeutig unsozial sind. Das beste Beispiel ist hier der Ausbildungsbonus, den Sie planen und über den wir in der letzten Sitzungswoche diskutiert haben. Das Problem ist nicht allein, dass die Unternehmen damit für ihren jahrelangen Rückzug aus der Bereitstellung von Ausbildungsplätzen auch noch belohnt werden.
Nein, es kommt noch ein weiterer Punkt hinzu: Mit der Einführung eines Ausbildungsbonus unterstützen Sie die Schmalspurausbildung. Wenn ein Unternehmer für eine dreijährige und für eine zweijährige Ausbildung die gleiche Prämie erhält, dann wird er sich natürlich für eine zweijährige Ausbildung entscheiden; das ist ganz klar. Das ist Schmalspurausbildung per Gesetz. Auch dazu sagt die Linke Nein.
Bei der Petitionsübergabe hat einer der Jugendlichen etwas sehr Wichtiges gesagt. Ich möchte ihn hier deshalb zitieren: Ein Recht auf Ausbildung ist für die Zukunft von uns Jugendlichen sehr wichtig, und die große Mehrheit der Bevölkerung unterstützt diese Forderung. Ich verstehe nicht, warum sich nicht auch im Bundestag dafür eine Mehrheit findet. - Die ehrliche Antwort auf diese Frage wäre, dass die Mehrheit im Bundestag die Interessen der Unternehmen vertritt und eben nicht die Interessen der Mehrheit der Gesellschaft und deshalb auch nicht die Interessen der ausbildungsplatzsuchenden Jugendlichen.
Sie haben nicht den Mut, das zuzugeben. Die Linke macht bei dieser Politik nicht mit. Wir sagen nicht ?Weiter so? und instrumentalisieren die Petition für ein Grundrecht auf Ausbildung als ein Ja zur bisherigen Berufsbildungspolitik, sondern wir sehen sie als das, was sie ist, als ein klares Nein zu dem, was bisher in der Berufsbildungspolitik passiert ist, und ein klares Nein zu Ihrer unsozialen Politik. Die Jugendlichen haben unsere Unterstützung.
Besten Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat die Kollegin Priska Hinz, Bündnis 90/Die Grünen.
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt tatsächlich eine leichte Verbesserung auf dem Ausbildungsmarkt,
die auch der Konjunktur geschuldet ist;
das ist sicherlich richtig. Trotzdem dürfen wir uns und die Jugendlichen nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir noch lange nicht über dem Berg sind und dass wir in der Berufsausbildung nach wie vor strukturelle Probleme haben. Es sind nicht nur konjunkturelle Probleme, die verhindern, dass Ausbildungsplätze geschaffen werden. Frau Hirsch, es geht bei der Entscheidung, ob Betriebe ausbilden oder nicht, nicht allein ums Geld. Vielmehr muss man sich die Strukturen anschauen. Aus diesem Grund ist Ihr ewig gleicher Vorschlag einer Ausbildungsplatzumlage nicht das Allheilmittel. Deswegen haben wir uns damals anders entschieden.
Natürlich kann man den Ausbildungspakt kritisieren. Auch wir tun das, aber aus anderen Gründen. Es stimmt nicht, dass mit dem Pakt nichts erreicht wurde. Damit wurde etwas erreicht, aber die Ziele sind uns nicht ambitioniert genug. Man muss nicht nur neue, sondern auch zusätzliche Ausbildungsplätze vereinbaren, weil bisher nicht diejenigen gegengerechnet werden, die wegfallen. Das ist unter anderem ein Problem.
Natürlich müssen in den Ausbildungspakt noch andere Unternehmen als die kleinen und mittleren Unternehmen aufgenommen werden, die auch in den letzten Jahren dankenswerterweise viele Ausbildungsplätze geschaffen haben. Man muss auch sagen: Wir stehen deswegen in diesem Jahr besser da, weil es viele außerbetriebliche Ausbildungsplätze gibt; Herr Meinhardt hat darauf hingewiesen. Das heißt, auch die öffentliche Hand ist eingestiegen. Das ist in diesem Fall nicht schlecht. Trotzdem müssen wir sehen, dass es nicht nur im dualen System neue Ausbildungsplätze gegeben hat, sondern auch außerbetriebliche Ausbildungsplätze. Wir stellen höhere Anforderungen an die Wirtschaft, die immer wieder den Fachkräftemangel beklagt. Ihr müssen wir klar und deutlich sagen, dass sie ausbilden und für ihren Nachwuchs sorgen muss.
Ich jedenfalls lasse mir als einer Abgeordneten, die schon seit 20 Jahren - zunächst in einem Landesparlament - Berufsbildungspolitik für die Jugendlichen macht und die als eine der wenigen und auch im Gegensatz zu Ihnen eine berufliche Ausbildung hat, nicht vorwerfen, dass mich dieses Thema nicht kümmert. Das brauche ich mir von Ihnen nicht sagen zu lassen, Frau Hirsch.
Wir müssen über die Zukunft reden. Das künftige Jahr wird als schwierig prognostiziert. Im Berufsbildungsbericht wird damit gerechnet, dass etwa 1 Million junger Menschen inklusive Altbewerber und Schulabbrecher einen Ausbildungsplatz suchen werden. Ihnen steht voraussichtlich ein Angebot von 620 000 Ausbildungsplätzen gegenüber. Diese Lücke schließt man nicht mit einem Ausbildungsbonus, der auch noch Mitnahmeeffekte produziert.
Wir müssen das Hauptproblem sehen: Wir haben zu wenig Ausbildungsplätze, und wir haben ein zu großes Übergangssystem. 43 Prozent der Jugendlichen landen in einem Schulberufssystem, das keinen Abschluss bietet, oder in berufsvorbereitenden Maßnahmen und in sonstigen Qualifizierungsmaßnahmen, die keinen Abschluss bieten. Was antwortet uns die Regierung auf unsere Anfrage, was sie gegen diesen Wildwuchs im Übergangssystem macht? Sie hat uns geantwortet, dass es sich im Übergangssystem um Jugendliche handelt, deren Entwicklungsstand eine erfolgreiche Ausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf noch nicht erwarten lässt.
Das ist entweder bare Unkenntnis oder Ignoranz oder Zynismus.
Man kann doch nicht sagen, dass 43 Prozent der Jugendlichen nicht ausbildungsreif sind. Da müssten Sie eigentlich nacharbeiten, Frau Schavan.
Wir brauchen strukturelle Veränderungen. Das Übergangssystem muss dahin gehend verändert werden, dass jeder Ausbildungsschritt zu einer anerkannten Qualifikation führt, die in einer Ausbildung angerechnet wird. Nur dann werden wir das Problem verringern, dass die jungen Menschen im Schnitt 20 Jahre alt sind, wenn sie mit einer Ausbildung beginnen. 20 Jahre - und dann reden wir über das G 8 und eine Verkürzung der Studienzeiten! Scheinbar interessiert es uns aber nicht, dass junge Leute erst mit 20 eine Berufsausbildung beginnen. Das ist eine Verschwendung von Lebenszeit, eine Dequalifizierung von jungen Leuten, die wir uns sozial und ökonomisch nicht leisten können.
Wir Grünen wollen integrierte Maßnahmen statt immer nur eins drauf: Ausbildungsbonus, EQJ, neue Berufsorientierungsprogramme in überbetrieblichen Ausbildungsstätten. Berufsvorbereitende Maßnahmen müssen auf jene konzentriert werden, die sie wirklich nötig haben, weil sie noch nicht ausbildungsreif sind. Dazu gehört, dass das Dickicht der Vorbereitungs- und Qualifizierungsmaßnahmen von Bund, Ländern, Kommunen und BA gelichtet wird. Das, Frau Schavan, wäre eine Aufgabe für die Nationale Qualifizierungsinitiative.
Zweitens. Die im Übergangssystem erworbenen Kompetenzen müssen zertifiziert und anerkannt werden. Keine Berufsfachschule darf ohne Abschluss enden. BVJ, BGJ und wie sie alle heißen führen ins Nirwana, sie machen die jungen Leute schulmüde und führen dazu, dass die jungen Leute keine Lust mehr auf Ausbildung haben.
Drittens. Alle ausbildungsreifen Jugendlichen müssen eine vollwertige Ausbildung absolvieren können. Wir schlagen vor, die duale Ausbildung um öffentlich bereitgestellte Ausbildungsplätze zu ergänzen, die in einer stärkeren Kooperation von Berufsschulen, überbetrieblichen Zentren und Betrieben entstehen sollen. Das ist keine klassische duale Ausbildung; aber es ist nach dem Prinzip der dualen Ausbildung - auf das es uns ankommt - aufgebaut: starke Praxisverschränkung mit theoretischer Ausbildung.
Viertens. Wir brauchen mehr Produktionsschulen. Hamburg ist ein super Beispiel: In Hamburg sollen mehr Produktionsschulen eingerichtet werden, bei denen das BVJ und das BGJ integriert werden, also die Berufsvorbereitung in einen Abschluss mündet. Diese Schulen haben viel höhere Erfolgsquoten.
Fünftens. Wir brauchen eine Berufsorientierung, die nicht nur zwei Wochen in drei verschiedenen Berufsfeldern bedeutet, wir brauchen eine Berufsorientierung an den allgemeinbildenden Schulen, von Anfang an und - am heutigen Girls? Day kann ich das deutlich sagen - genderorientiert; denn die Frauen haben immer noch das eingeengte Berufswahlspektrum ihrer Mütter und Großmütter im Kopf.
Das sind strukturelle Vorschläge, mit denen wir, wie wir glauben, Verbesserungen erreichen können. Spätestens wenn der nationale Bildungsbericht vorgelegt wird, -
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Frau Kollegin!
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
- werden wir dieses Thema wieder auf der Tagesordnung haben.
Danke schön.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächster Redner ist der Kollege Uwe Schummer, CDU/CSU-Fraktion.
Uwe Schummer (CDU/CSU):
Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren! Grundrecht auf Ausbildung ist ein interessantes Thema. In unserer Verfassung ist die freie Berufswahl festgelegt. Die freie Berufswahl ist ein wirksames und wichtiges Instrument. Ich denke, dass auch die jungen Menschen, die heute Teilnehmer an dieser Debatte sind, wissen: Es geht hier nicht um Worte, sondern um Taten. Wir müssen zwischen der Politik, den Akteuren in der Ausbildung, den Sozialpartnern, der Wirtschaft und den Gewerkschaften eine Allianz für Bildung schmieden, damit Fakten gesetzt und nicht nur Worte gesprochen werden.
Der Berufsbildungsbericht enthält drei Botschaften, die mir heute wichtig sind:
Erste Botschaft. Die Ausbildung folgt, wenn auch zeitversetzt, dem Arbeitsmarkt. Wenn man sich die Jahre 2005 und 2008 anschaut, dann stellt man Folgendes fest: Im März 2005 hatten wir 5,2 Millionen Arbeitslose. Wir haben darüber diskutiert, ob die 6 Millionen erreicht werden. Wie reagiert ein Land, Deutschland, das, wie in der Weimarer Zeit, unweigerlich auf 6 Millionen Arbeitslosen zumarschiert? Kann man überhaupt noch Vollbeschäftigung erreichen? Im März 2008 hatten wir 3,5 Millionen Arbeitslose. Das heißt, die Zahl der Arbeitslosen ist von 2005 bis 2008 um 1,7 Millionen gesunken.
Zum Vergleich: 2005 wurden jeden Tag 2 000 Arbeitsplätze vernichtet, heute werden unter dem Strich jeden Tag 1 400 Arbeitsplätze neu geschaffen. Die Zahl der Erwerbstätigen beträgt 40 Millionen. Das heißt, im Vergleich zu 2005 ist die Zahl der Erwerbstätigen um etwa 1 Million angestiegen. Wir können wieder realistisch - wenn auch in die Zukunft gerichtet - über die Vollbeschäftigung diskutieren. Das heißt, die Lage hat sich insgesamt verbessert.
Auch die Zahl der Ausbildungsplätze entwickelt sich so wie die Zahlen auf dem Arbeitsmarkt. Das erkennt man an der Zahl der Arbeitslosen bis zu 25 Jahren. Auch diese Zahl sank, nämlich von 665 000 auf 364 000. Das ist ein Rückgang um 45 Prozent. Wenn man auch die Ausbildungsplätze mitzählt, die nicht besetzt werden können, haben wir ein Ausbildungsplatzangebot von 644 000. Auch das ist ein Spitzenstand seit der deutschen Einheit. Zwei von drei Jugendlichen absolvieren eine duale Ausbildung. 1,5 Millionen Auszubildende befinden sich in 500 000 Ausbildungsbetrieben, die sich verantwortlich im Sinne der Verfassung unserer Gesellschaft für junge Menschen engagieren. 85 Prozent dieser Ausbildungsplätze stellt der Mittelstand; sie befinden sich also bei den kleinen und mittleren Unternehmen.
Kluge Unternehmer, die weiter denken als bis zum nächsten Golfplatz, wissen, dass sie nicht nur in Maschinen, sondern auch in Menschen investieren müssen.
Zweite Botschaft des Berufsbildungsberichtes. Wir schaffen Brücken statt Warteschleifen. Bis 2002 wurden im von uns kritisierten JUMP-Programm Ersatzmaßnahmen finanziert - mit insgesamt 5,2 Milliarden Euro. Durch Einstiegsqualifizierungen, wie das Sonderprogramm EQJ, haben wir jetzt erreicht, dass die Weitervermittlung bei 75 Prozent liegt, während sie beim JUMP-Programm bei 30 Prozent lag. Das heißt, wir haben eine erfolgreiche Brücke in den Arbeitsmarkt gebaut. Das spart Geld, aber auch Lebenszeit der jungen Menschen.
Ähnlich wie das Sonderprogramm EQJ und andere Einstiegsqualifizierungen wird auch der Ausbildungsbonus seine Wirkung als Brücke in den ersten Arbeitsmarkt mit Sicherheit erfüllen. Es gibt 385 000 Altbewerber. Natürlich müssen mit dem Ausbildungsbonus klare Kriterien verbunden sein - darüber werden wir miteinander sprechen, bevor er letztendlich verabschiedet wird -: Man muss länger als zwölf Monate aus der Schule entlassen sein und mehrere erfolglose Bewerbungen geschrieben haben, es muss ein zusätzlicher Ausbildungsplatz sein, und ein Vermittlungshemmnis gehört auch dazu. - Ich denke, dass auch eine Verrechnung von Einstiegsqualifizierung und Ausbildungsbonus - also kein Entweder-oder - möglich sein muss.
Dies werden wir im parlamentarischen Verfahren entsprechend den Kriterien der Arbeitergeber, der Kammern und des DGB gemeinsam verhandeln, um dann mit dem Ausbildungsbonus ein gutes Konzept aufbauend auf dem EQJ zu verabschieden.
Dritte Botschaft. Wir sind noch nicht am Ziel. 1,57 Millionen Schulabgänger bis 29 Jahre sind ohne eine berufliche Qualifizierung. Das ist allerdings eine Zahl von 2005, die jetzt in den Berufsbildungsbericht aufgenommen worden ist. Jeder Dritte davon hat einen ausländischen Hintergrund.
Wir müssen auch einmal mit der mystischen Überhöhung der Hartz-Arbeitsmarktreformen aufhören. Meine Erfahrung ist, dass die Berufsberatung kurz- und kleingeschossen wurde. Es ist gut, dass wir gemeinsam in der Großen Koalition mit der Berufsberatung wieder einen wichtigen Punkt gesetzt haben.
Das hat die Konsequenz, dass dem aktuellen Berufsbildungsbericht zufolge die Abbrecherquote - anders, als es Kollege Meinhardt dem älteren Bericht entnommen hat - in den letzten Jahren von 25 Prozent auf 19,8 Prozent gesunken ist. Das bedeutet in absoluten Zahlen 45 000 weniger junge Menschen, die eine Ausbildung abbrechen, als noch vor wenigen Jahren.
Wir brauchen gerade auch für junge Menschen ausländischer Herkunft ein Gutscheinsystem für ausbildungsbegleitende Hilfen, damit sie bereits bei der Bewerbung Gutscheine für die Sprachförderung und andere Möglichkeiten vorlegen können. Dies wird auch die Förderpraxis verbessern.
Der Berufsbildungsbericht zeigt, dass Arbeitsmarkt und Ausbildung in Bewegung sind. Die Große Koalition baut Brücken. Wir nähern uns dem Ziel: Arbeit und Ausbildung für alle.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dieter Grasedieck, SPD-Fraktion.
Dieter Grasedieck (SPD):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Linke bemüht sich konsequent und krampfhaft darum, die Fakten und die Realität zu verdrängen und möglichst schnell zu verwischen. Fakt sind 640 000 neue Ausbildungsplätze,
von denen 76 000 in den letzten zwei Jahren entstanden sind. Das muss man berücksichtigen, und dafür muss man sich auch einmal bedanken. Daran waren die Handwerksbetriebe ebenso beteiligt wie die Industriebetriebe. Für Einstiegsqualifizierungen wurden 43 000 Plätze zur Verfügung gestellt. Damit werden von der Bundesregierung benachteiligte Jugendliche gefördert. Das ist ein optimales Programm.
Die Ausbildung für Behinderte wurde bereits angesprochen. Es gibt Schulen für blinde Menschen, in denen in hervorragender Weise duale Ausbildungen vermittelt werden.
Die eigentliche Botschaft des Berufsbildungsberichts 2008 lautet: Wir brauchen einen jeden Jugendlichen für die Entwicklung unserer Industrie und unseres Handwerks.
Genau deshalb beschäftigt sich der Berufsbildungsbericht auch mit Problemen. So ist unter anderem festgestellt worden: Je schlechter das Zeugnis ausfällt und je älter die Jugendlichen sind, desto schlechter sind die Möglichkeiten des Einstiegs in einen Ausbildungsplatz oder am Ausbildungsmarkt. Wir wollen aber jedem ausbildungswilligen Jugendlichen eine Chance bieten. Die Große Koalition ermöglicht das durch 100 000 zusätzliche Ausbildungsplätze. Auch das muss berücksichtigt werden.
Wir brauchen Qualifizierung, weil wir auch in den nächsten Jahren Exportweltmeister bleiben wollen. Schon heute ist in vielen Bereichen ein Facharbeitermangel zu verzeichnen. Herr Schleyer vom Zentralverband des Deutschen Handwerks hat in der vergangenen Woche darauf hingewiesen, dass in den Boombranchen Fachkräfte gesucht werden. Wie wir wissen, sinken die Geburtenraten in Europa. Darauf müssen wir reagieren. Notwendig ist eine langfristige Planung, wie sie der Berufsbildungsbericht bietet. In dem einen oder anderen Betrieb vermisse ich allerdings eine langfristige Planung.
In der Industrie sind verstärkt langfristige Planungen notwendig. Es geht nicht an, dass im Januar Ingenieure, Techniker oder Facharbeiter entlassen werden und man im Mai wieder nach ihnen schreit.
Einige Betriebe haben darauf reagiert und planen langfristig. Ein Jahr bevor ein älterer Kollege ausscheidet, wird ein neuer Facharbeiter oder Ingenieur eingestellt. Das kommt nicht nur dem Betrieb zugute, sondern auch demjenigen, der qualifiziert wird. Die Qualifizierung ist unbedingt notwendig, weil sich auch der Wissensstand verändert. Täglich werden neue Patente angemeldet. Unsere Facharbeiter beherrschen die komplizierte Regelungstechnik zum Beispiel unserer Heizungsanlage im Reichstag oder in Ihrem Auto. Im Zerspanungsbereich ist es ähnlich. Qualifizierte Zerspanungsmechaniker arbeiten an computergesteuerten Maschinen. Die Arbeit unserer Facharbeiter ist theoretischer, komplexer und komplizierter geworden. Deshalb brauchen unsere Jugendlichen zusätzliche Hilfen. Genau das wird im Berufsbildungsbericht 2008 aufgezeigt. 200 neue Berater wurden eingestellt. Das ist ein Wert! Die Ministerin sprach davon, dass in Zukunft hauptamtliche Ausbildungspaten eingestellt werden sollen. Ich führe in meinem Wahlkreis seit etwa anderthalb Jahren an drei unterschiedlichen Schulen mit circa 15 vorwiegend ehrenamtlichen Paten wöchentliche Beratungen für Schüler und Schülerinnen durch. Es handelt sich um Pensionäre und Rentner, die Erfahrung haben. Diese Experten aus unterschiedlichsten Gewerken helfen bei Bewerbungsgesprächen und fahren im Rahmen der wöchentlichen Betreuung mit den Schülern zu den Betrieben, um Hilfestellung zu geben; das ist wichtig. Im Berufsbildungsbericht wird ein Ausbau dieses Systems empfohlen.
Zusammenfassend halte ich fest: Erstens. Zukünftig müssen unsere Betriebe langfristiger planen; das ist ein wichtiger Punkt. Zweitens. Der demografische Wandel wird den Qualifikationsdruck natürlich noch weiter erhöhen. Drittens. Die jungen Männer und Frauen brauchen deshalb in den kommenden Jahren eine Ausbildungschance. Nur so können wir unseren Wissensvorsprung erhalten. Mit unserem Bericht sind wir auf dem richtigen Weg.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Alexander Dobrindt von der CDU/CSU-Fraktion.
Alexander Dobrindt (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Als wir vor einigen Monaten über die Ausbildungssituation diskutiert haben, mussten wir eine dramatische Entwicklung auf dem Ausbildungsmarkt feststellen. Viele junge Menschen litten unter Perspektivlosigkeit. Es handelt sich hier nicht um eine theoretische Veranstaltung, bei der man Zahlen vergleicht. Wenn man damals junge Menschen im Bundestag empfangen und gefragt hat: ?Wie schaut es bei euch aus? Wer hat denn schon einen Ausbildungsvertrag in der Tasche??, dann musste man nicht selten feststellen, dass von 25 Jugendlichen vielleicht nur zwei, drei oder vier einen Ausbildungsvertrag vorweisen konnten. Alle anderen hatten kaum etwas vorzuweisen. Man konnte bei solchen Gelegenheiten hautnah miterleben, wie deprimierend es für junge Menschen, die nach der Schule einen Platz in der Arbeitswelt suchen, ist, wenn sie feststellen müssen, dass ein solcher Platz in dieser Gesellschaft nicht vorhanden ist. Das ist eine schreckliche Erfahrung und für junge Menschen nur schwer zu verstehen.
Wir können heute sagen - das ist die wichtigste Botschaft -, dass sich die Situation auf dem Ausbildungsmarkt deutlich entspannt hat. Die Gesichter der jungen Menschen, die wir heute empfangen, sind glücklicher, weil viele Erfolg hatten und in diesem Jahr eine Ausbildung beginnen konnten oder können, die ihnen einen Platz in der Arbeitswelt sichert. Liebe Kollegin Hirsch, deswegen habe ich umso weniger Verständnis für Ihre Anmerkungen. Sie haben mit keinem Wort erwähnt, was der Mittelstand und das Handwerk für die jungen Menschen leisten, genauso wenig wie das Engagement der Wirtschaft, auf das die Tatsache zurückgeht, dass wir uns heute über positive Zahlen - seit 2001 wurden erstmals wieder über 600 000 Ausbildungsverträge geschlossen, das beste Ergebnis seit der Wiedervereinigung - freuen können. Jedes Jahr geben die deutschen Wirtschaft und der Mittelstand 30 Milliarden Euro für die Ausbildung junger Menschen aus, so viel wie nie zuvor.
Wir sagen dazu: Gott sei Dank. Aber Sie haben das alles nicht erwähnt. Ich danke an dieser Stelle all denjenigen, die sich hier engagieren.
Die Hälfte der Ausbildungsplätze wird von Unternehmen zur Verfügung gestellt, die weniger als 50 Mitarbeiter haben. Das heißt, der klassische Mittelstand leistet hier den höchsten Beitrag und übernimmt Verantwortung; das ist notwendig.
Leider Gottes sind das genau diejenigen, die Sie eigentlich gar nicht haben wollen. Diese Leistungsträger in der Gesellschaft, die dafür sorgen, dass junge Menschen eine Ausbildung bekommen, sind diejenigen, die Ihnen mit Ihrer Ideologie nicht in den Kram passen.
Meine Damen und Herren, selbstverständlich brauchen wir weitere Anstrengungen. Um die Ausbildungssituation zu verbessern, brauchten wir bessere Rahmenbedingungen. Dazu gehörte als Erstes ein modernes Berufsbildungsgesetz und als Zweites eine gemeinsame Offensive, die Signale für den Aufschwung setzt. Die erste Rahmenbedingung, ein Berufsbildungsgesetz, haben wir gemeinsam im Jahre 2005 geschaffen. In dieses Gesetz haben wir wirkungsvolle Instrumente eingebaut, etwa die Verbundausbildung, die es Unternehmen, die aufgrund einer hohen Spezialisierung allein nicht in der Lage sind, einen jungen Menschen umfassend auszubilden, erlaubt, diese Ausbildung zusammen mit anderen Unternehmen zu leisten. Außerdem haben wir die Stufenausbildung geschaffen, die für theorieschwache Leute eine Ausbildung in zwei Schritten ermöglicht, sodass auch sie eine Chance auf eine vollwertige Ausbildung und damit auf einen vollwertigen Arbeitsplatz bekommen.
An dieser Stelle kann man etwas leicht kritisch anmerken: Wir hatten gesagt, alle Ausbildungsberufe müssten daraufhin überprüft werden, ob es eine zweistufige Ausbildung geben kann und ob man nach zwei Jahren schon einen Teilerfolg erreichen kann, der auch zu einem vollwertigen Arbeitsplatz führt. Wir haben leider bis heute nicht alle Berufe überprüfen können. Leider Gottes gibt es noch nicht für alle Berufe diese Stufenausbildung. Daher rege ich an, dass wir gemeinsam dafür sorgen, dass es hier schneller vorwärts geht und dass die Wirtschaft schneller an die Überprüfung herangeht, sodass damit auch schneller mehr Ausbildungsplätze in Deutschland geschaffen werden.
Bevor ich auf die gemeinsame Offensive zu sprechen komme, mache ich hier noch einen Einschub: Frau Hirsch, Sie haben den Ausbildungspakt einen großen Flop genannt. Nein, er ist ein großer Erfolg. 2004 ist er gestartet, und 2007 wurde er von der Bundesregierung Gott sei Dank verlängert.
Inzwischen ist die Zahl der zugesagten neuen Ausbildungsplätze von 30 000 auf 60 000 verdoppelt worden; 2006 waren es sogar fast 70 000. Beim EQJ wurde die Zahl der Plätze von 25 000 auf 40 000 fast verdoppelt. Der einzige Fehler beim Ausbildungspakt ist, dass sich die Gewerkschaften bis heute verweigert haben, mitzumachen, wenn es darum geht, Ausbildungsplätze für die jungen Menschen in Deutschland zu generieren,
nachdem Politik und Wirtschaft gemeinsam dazu beigetragen haben.
Abschließend zu der gemeinsamen Qualitätsoffensive im Hinblick auf die überbetrieblichen Bildungsstätten: Jetzt ist wichtig, dass wir die Förderung der frühzeitigen Berufsorientierung im Übergang von der Schule ins Berufsleben etwas stärker ins Visier nehmen. Wir wissen, dass es in jedem Ausbildungsjahr 20 Prozent Abbrecher gibt, weil sich junge Leute leider Gottes mangels Wissens für einen falschen Ausbildungsplatz entschieden haben.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Alexander Dobrindt (CDU/CSU):
Ich komme sofort zum Ende, Herr Präsident. - In der Zahl der Altbewerber sind 40 000 Ausbildungsabbrecher enthalten. Könnten wir diese Zahl deutlich verringern, indem wir mit dieser Qualitätsoffensive den Übergang von der Schule ins Berufsleben besser gestalten, hätten wir etwas Gutes für die jungen Menschen und für die Ausbildungssituation in diesem Land geleistet.
Danke schön.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat nun der Kollege Jörg Tauss von der SPD-Fraktion das Wort.
Jörg Tauss (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch ich hätte mir ein bisschen mehr Flexibilität bei den Gewerkschaften gewünscht, was den Pakt angeht. Aber wir sollten es auch nicht geringschätzen. Bei einer ganzen Reihe von Tarifverträgen etwa in Nordrhein-Westfalen und in Baden-Württemberg wurde mit maßgeblicher Unterstützung beider Seiten der Sozialpartner auch für Jugendliche mit schwierigem Hintergrund etwas getan. Ich denke hier nicht zuletzt an die chemische Industrie. Insofern würde ich die Kritik nicht so pauschal erheben.
Ich komme nun auf das zu sprechen, was die Ministerin als Flaggschiff der beruflichen Bildung bezeichnet hat.
Die Titanic war ein Passagierdampfer und kein Flaggschiff. Über diesen Unterschied können wir uns nachher noch einmal kurz unterhalten.
Ein Flaggschiff muss in der Tat gewartet werden; es kann sonst Rost ansetzen, und auch ein Flaggschiff kann sinken. Das ist völlig klar. Aus diesem Grunde gibt es selbstverständlich eine ganze Reihe von Herausforderungen für dieses Flaggschiff namens berufliche Bildung.
Ich möchte zunächst einmal eines hervorheben: die Konjunkturanfälligkeit dieses Berufsbildungssystems. Das ist einer der Hintergründe für die Zahl von 300 000, liebe Kollegin Hirsch. In konjunkturell schwierigen Zeiten nimmt leider die Bereitschaft der Wirtschaft ab, für die Jugendlichen etwas zu tun, in konjunkturell günstigen Zeiten nimmt sie wieder zu. - Da dürfen Sie, Kollege Meinhardt, nicht mit den Achseln zucken. Wir müssen uns überlegen, wie wir das System zukunftsfest machen. Wir müssen antizyklisch agieren und Fachkräfte zukunftsgerichtet ausbilden, aber wir dürfen nicht kurzfristig nur im Rahmen eines Quartals denken und einmal einen Ausbildungsplatz zur Verfügung stellen und ein anderes Mal nicht.
Der zweite Punkt betrifft die Europafestigkeit. Heute Morgen haben wir über den Vertrag von Lissabon und Europa geredet. Ich bin überzeugt, dass dieses deutsche Berufsbildungssystem, das viele loben, aber leider weltweit nur wenige übernommen haben - auch das muss man konstatieren -, europafest gemacht werden muss. Ich glaube, dass wir dabei auf dem besten Wege sind. Ich denke an das Leistungspunktesystem. Es muss in Europa stärker anerkannt werden, was wir in der deutschen Berufsausbildung leisten. Diese Anerkennung beruht auf Gegenseitigkeit. Das halte ich für wichtig. Aus diesem Grunde warne ich davor, den Empfehlungen der FDP zu folgen, die Ansprüche an das Berufsbildungssystem immer weiter herunterzuschrauben. Nein, wir müssen dieses System einer hohen Qualifikation aufrechterhalten, gerade in Europa,
und anschließend können wir uns über weniger qualifizierte Berufsbilder und darüber unterhalten, wie wir in dem einen oder anderen Fall mit Jugendlichen, die die Berufsausbildung nicht bestehen, umgehen. So wird ein Schuh daraus, aber nicht dadurch, dass wir die Qualifikation verringern.
Der dritte Punkt, den ich ansprechen will, ist die Durchlässigkeit der beruflichen Bildung in den akademischen Bereich. Ich glaube, wir alle sollten uns hier einig sein, dass wir gerade angesichts des demografischen Wandels und der Konkurrenz - Ziel: 40 Prozent Abiturienten und ähnliches - die Akzeptanz bei Jugendlichen und Eltern für dieses Berufsbildungssystem nur dann steigern, wenn es uns gelingt, mehr Jugendliche mit einer höheren Qualifikation für diesen Bereich zu interessieren. Dazu muss die Leistung, die sie in der beruflichen Ausbildung erbracht haben - angefangen von der Gesellenausbildung bis hin zum Meisterbrief -, anerkannt werden, bei Bedarf auch im Hinblick auf eine anschließende akademische Karriere. Das ist ein entscheidender Punkt für die Zukunft des Berufsbildungssystems.
Ich glaube, das ist einer der Bereiche, bei dem wir einiges tun können. - Oh, Herr Präsident, ich habe nur noch eine Minute und 37 Sekunden Redezeit; eigentlich hätte ich Stoff für zehn Minuten. Also muss ich noch etwas schneller reden.
Die Diskriminierung ist angesprochen worden, ebenso die Hochschulen. Lassen wir das einmal weg. Kollege Meinhardt,
wir haben jetzt die Frage des Bonus rauf- und runterdiskutiert. Ich gebe Ihnen ein Privatissimum und erkläre es Ihnen noch einmal. Ich weiß gar nicht, was Sie jetzt plötzlich gegen Flexibilisierung haben. Wir wollen vor Ort Instrumente haben, um Jugendlichen, die in den letzten Jahren keinen Ausbildungsplatz gefunden haben, die Möglichkeit zu geben, einen zu finden. Da ist es mir im Prinzip völlig wurscht, welches Zeugnis derjenige oder diejenige hat, es ist mir völlig wurscht, welchen Schulabschluss derjenige oder diejenige hat, und es ist mir völlig wurscht, welcher Hintergrund ansonsten besteht. Wir müssen flexibel sein und für diese Jugendlichen, die ein, zwei Jahre und länger vergeblich gesucht haben, etwas tun. Das ist die Herausforderung.
Kollegin Hirsch, da hilft mir Ihr Wolkenkuckucksheim der konservativ-reaktionären Linken überhaupt nicht weiter. Sie lassen doch die Jugendlichen im Stich.
Sie warten, bis irgendwann das Paradies ausgebrochen ist und wir alle für eine Umlage begeistert haben. Wunderbar, aber dann sind die Jugendlichen möglicherweise schon in Rente.
- Sie haben überhaupt noch nicht im Deutschen Bundestag gesessen, als wir die Umlage beschlossen haben. - Nur, sie ist zu meinem großen Bedauern damals an der rechten Seite des Hauses gescheitert. So war es halt. Sie hielten nichts davon. Ich halte das für falsch. So hätte man Millionen in das System bekommen. Es ist aber so, wie es ist. Jetzt kann ich das beweinen bis in das Jahr 2050 und bis ich selber mit knapp 100 Jahren in Rente bin, oder wir werden konkret und machen jetzt etwas für die Jugendlichen. Letzteres ist für mich das Wichtigere.
Es ist wichtiger, etwas für Hunderttausende zu tun, als zu labern, zu schwätzen und zu versuchen, Stimmung zu erzeugen.
Herr Friedrich ist nicht mehr da. Dem habe ich Schläge angedroht. Es war gar nicht so gemeint. Jetzt ist er gegangen.
- Ja, ja, ich habe so ?watsch, watsch? gemacht, schon war er weg. - Lieber Kollege Friedrich, ich bedauere das zutiefst. Er hat so auf der BA herumgehackt. Er hat so getan, als ob zunächst einmal die Berufsberatung eine Qualifikation brauche. Ich will an dieser Stelle sagen: Auch ich kritisiere die BA, wir sollten aber die Berufsberatung und die Bemühungen der Bundesagentur für Arbeit vor Ort nicht in dieser Form diskreditieren. Da gibt es viele engagierte Menschen - auch das sollte man an der Stelle einmal sagen -, im Übrigen gilt das auch für die Ausbildungsberater der Kommunen.
Dieser Berufsbildungsbericht zeigt: Wir haben noch viel zu tun. Wir müssen das System zukunftsfest machen. Ansonsten sind wir auf einem guten Weg. Ich freue mich, dass fast alle Fraktionen diese Auffassung teilen. Die Mosernden lassen wir im Abseits. Wir tun etwas für die Jugendlichen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/8750 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 157. Sitzung - wird morgen,
Freitag, den 25. April 2008,
an dieser Stelle veröffentlicht.]