166. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
Beginn: 9.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle herzlich und möchte vor Eintritt in unsere Tagesordnung den Kollegen Rolf Hempelmann und Wolfgang Ne¨kovic zu ihren 60. Geburtstagen gratulieren und im Namen des Hauses noch einmal alle guten Wünsche übermitteln.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Vereinbarte Debatte
Bespitzelungsaffäre bei der Deutschen Telekom und Konsequenzen
(siehe 165. Sitzung)
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
(Ergänzung zu Tagesordnungspunkt 36)
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christian Ahrendt, Carl-Ludwig Thiele, Hans-Michael Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Optimaler Darlehensnehmerschutz bei Kreditverkäufen an Finanzinvestoren
- Drucksache 16/8548 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Löning, Michael Link (Heilbronn), Florian Toncar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Europäisches Parlament stärken - Sitzfrage durch Europaparlamentarier entscheiden lassen
- Drucksache 16/9427 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
(f)
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vertrag über die Beteiligung von Kapitalanlegern an den Verkehrs-, Logistik- und zugehörigen Dienstleistungsgesellschaften der Deutsche Bahn AG durch externen Sachverstand prüfen lassen
- Drucksache 16/9474 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Burkhardt Müller-Sönksen, Harald Leibrecht, Florian Toncar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Präsident Medwedew beim Wort nehmen
- Drucksache 16/9423 -
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Marina Schuster, Dr. Werner Hoyer, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die Beziehungen zu Lateinamerika und den Staaten der Karibik stärken und den EU-Lateinamerika/Karibik-Gipfel zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme nutzen
- Drucksachen 16/9056, 16/9475 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
Niels Annen
Marina Schuster
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller (Köln)
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Handeln statt Reden - Klimaschutz jetzt
- Drucksache 16/9426 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
(f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Michael Kauch, Angelika Brunkhorst, Horst Meierhofer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Perspektiven für eine sektorale Ausweitung des Emissionshandels sowie für die Nutzung erneuerbarer Energien im Wärmesektor
- Drucksachen 16/5610, 16/7387 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth
Dirk Becker
Michael Kauch
Eva Bulling-Schröter
Bärbel Höhn
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Kauch, Gudrun Kopp, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Differenzierte Mengensteuerung zur Förderung erneuerbarer Energien im Stromsektor
- Drucksache 16/8408 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
(f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll - soweit erforderlich - abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 35 a, 36 b und 37 c werden abgesetzt.
Sind Sie mit diesen Änderungsvorschlägen einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Sportausschusses (5. Ausschuss) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
11. Sportbericht der Bundesregierung
- Drucksachen 16/3750, 16/7584 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Riegert
Dagmar Freitag
Detlef Parr
Katrin Kunert
Winfried Hermann
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Sportausschusses (5. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Schutz und Förderung des Sports ernst nehmen - Sportförderungsgesetz des Bundes schaffen
- Drucksachen 16/7744, 16/9455 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Riegert
Dagmar Freitag
Detlef Parr
Katrin Kunert
Winfried Hermann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache insgesamt eineinhalb Stunden vorgesehen. - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst der Bundessportminister Wolfgang Schäuble.
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister des Innern:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Beratung des Sportberichts gibt Anlass, zunächst einmal zu sagen, dass wir in diesem Haus ein Stück weit Gemeinsamkeit hinsichtlich der Unterstützung des Sports und der Förderung des Leistungssports haben und dass wir über die Legislaturperioden hinweg kontinuierlich Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass unsere Sportler auch in der internationalen Spitze mithalten können.
In dem Sportbericht geht es ja im Wesentlichen um die Sportförderung in der vergangenen Legislaturperiode. Wir haben die in den zurückliegenden Legislaturperioden auf hohem Niveau geleistete Förderung in dieser Legislaturperiode fortgeführt. Wir haben in den Haushaltsberatungen durch die Bemühungen des Bundestages deutlich erhöhte Ansätze für das Jahr 2008 erreicht. Ich hoffe, dass wir das im Jahre 2009 fortschreiben können, wir befinden uns ja im Augenblick in den Haushaltsberatungen. Ich bedanke mich im Voraus für die Unterstützung.
Vielleicht ist es interessant, die Zahlen zu hören: In den Jahren 2002 bis 2005 hat die Sportförderung des Bundes insgesamt 920 Millionen Euro für den Sport zur Verfügung gestellt, davon entfielen allein 700 Millionen Euro auf die Förderung des Spitzensports im Haushalt des Bundesministeriums des Innern. Wie gesagt: Wir werden das fortsetzen.
Auch das will ich an dieser Stelle sagen: Wir haben kontinuierlich und zunehmend auch die Förderung des Behindertensports in die Sportförderung einbezogen. Das ist richtig und notwendig, was man auch an dem Stellenwert erkennt, den die Paralympischen Spiele und auch die Weltspiele für Behinderte national und international gewonnen haben.
Bei der Gelegenheit möchte ich auch darauf hinweisen, dass sich die Bundesregierung - auch ich persönlich - sehr dafür einsetzt, dass die Rahmenbedingungen - auch hinsichtlich der beruflichen Möglichkeiten - für Behindertensportler verbessert werden. Deswegen bemühen wir uns, in der Bundesverwaltung, auch in den Ministerien der Bundesregierung, für behinderte Sportler Beschäftigungs- und Ausbildungschancen zu schaffen. Auch das ist richtig.
In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dass es neben der Sportförderung generell wichtig ist, mit der Stiftung Deutsche Sporthilfe, aber auch sonst die Bemühungen um das, was man als duale Karriere bezeichnet, fortzusetzen und zu intensivieren und für junge Menschen, die sich einen wesentlichen Teil ihrer Jugend- und jüngeren Erwachsenenzeit darauf konzentrieren, Spitzensport zu treiben, zugleich Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten für das Leben nach der Konzentration auf Leistungssport zu schaffen. Dies kann der Staat allein nicht leisten. In einer freiheitlichen Gesellschaft soll er dies auch nicht. Umso wichtiger ist es, dass wir die Gesellschaft und die Wirtschaft immer wieder daran erinnern. Im Übrigen bin ich ganz sicher, dass es für vielerlei Arten von Tätigkeiten kaum qualifiziertere Menschen gibt als die Männer und Frauen, die sich Jahre ihres Lebens darauf konzentriert haben, neben Ausbildung und Beruf Spitzenleistungen im Sport zustande zu bringen. Dies erfordert ein Maß an Konzentrationsfähigkeit und an Disziplin, das man in jedem Lebensbereich dringend gebrauchen kann.
In diesem Zusammenhang: Die finanzielle Ausstattung der Stiftung Deutsche Sporthilfe wird uns in den kommenden Jahren zunehmend beschäftigen. Ich werbe dafür, dass wir bei dem Grundgedanken bleiben, dass die Stiftung Deutsche Sporthilfe ein Sozialwerk unserer freiheitlich verfassten Gesellschaft und nicht etwas ist, das der Steuerzahler zu finanzieren hat. Aber es ist wichtig, was die Stiftung Deutsche Sporthilfe für die soziale Absicherung und die Herstellung gleicher Wettbewerbschancen von Leistungssportlern auf internationalem Niveau leistet; das ist unersetzbar und muss auch unter veränderten Rahmenbedingungen fortgesetzt werden. Dieses Thema wird uns in den kommenden Jahren zunehmend beschäftigen.
Zu dem Großartigen unseres Sports und seiner gesellschaftlichen Bedeutung - das ist bereits oft gesagt worden, und ich will dies noch mal unterstreichen - gehört die Freiheit: Die Freiheit für Sportler, die Freiheit unserer Sportorganisationen und das ehrenamtliche Engagement sind entscheidende Rahmenbedingungen dafür, dass unser Spitzensport mit seiner Vorbildwirkung für den Breitensport und der Sport insgesamt in allen gesellschaftlichen Bereichen so Großartiges leisten können. Deswegen müssen wir diese freiheitliche Sportorganisation auch unter dem Aspekt der Subsidiarität immer wieder verteidigen. Selbst wenn wir es als Politiker gut meinen, sollten wir die vorrangige Entscheidungszuständigkeit des Sports und ihrer gewählten Repräsentanten respektieren und akzeptieren. Das ist die Voraussetzung für eine freiheitliche Sportorganisation.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, dies bedeutet, dass wir uns - übrigens zunehmend auch auf europäischer Ebene - darum bemühen müssen, dem freiheitlichen Sport in den Rahmenbedingungen den notwendigen Freiraum zu verschaffen. Sobald der Lissabon-Vertrag in Kraft getreten sein wird, wird der Art. 165 des EU-Vertrags, der die gesellschaftspolitische Bedeutung des Sports anerkennt, auf europäischer Ebene eine Grundlage dafür schaffen, dass man die Autonomie und die besondere gesellschaftliche Eigenart des Sports stärker berücksichtigt und in Europa nicht mehr alles nur unter den Regeln der wirtschaftlichen Grundfreiheiten des Binnenmarkts betrachtet. Deswegen setze ich mich dafür ein, dass wir das im Weißbuch der EU für den Sport auf europäischer Ebene stärker berücksichtigen und dass wir bei Fragen, die die Selbstorganisation des Sports betreffen, uns auf europäischer Ebene einsetzen und bei allen europäischen Institutionen um Verständnis werben, dass wir das Großartige im Sport erhalten, wozu auch seine Selbstorganisation gehört.
Ähnliches gilt im Hinblick auf das nationale und europäische Wettbewerbsrecht für die Rahmenbedingungen des professionell organisierten Sports und seiner Vermarktung. Sie kennen die aktuelle Debatte, die nicht einfach ist. Aber wem die Freiheit und die gesellschaftspolitische Bedeutung einer freien Sportorganisation am Herzen liegen, der muss wissen, dass nicht alles über einen Leisten geschlagen werden darf. In diesem Falle gefährdeten wir zu viel von dem Großartigen des Sports und seiner Selbstorganisation. Deswegen nutze ich die Gelegenheit, dafür zu werben.
Wir haben im Übrigen auch in der Steuerpolitik der Bundesregierung in dieser Legislaturperiode die Rahmenbedingungen für ehrenamtliches Engagement im Sport weiter verbessert. Das heißt, wir reden nicht nur bei Sportdebatten über die Grundsätze, sondern wir handeln auch in den konkreten Schritten nach diesen Prinzipien. Das ist entscheidend wichtig.
Ich habe von den Rahmenbedingungen für den Leistungssport auf internationaler Ebene gesprochen. In diesem Zusammenhang möchte ich festhalten: Wenn wir jungen Menschen die Chance bieten, im internationalen Wettbewerb mitzuhalten, und wenn wir uns auch für die soziale Absicherung und für die duale Karriere einsetzen, dann ist dies das Beste, was wir tun können, um den Missbrauch von Doping zu bekämpfen. Denn wer gute Trainingsbedingungen hat und über eine hinreichende soziale, berufliche Absicherung verfügt, ist weniger anfällig für die Versuchung, durch den Missbrauch leistungssteigernder Mittel die Fairness im Sport zu untergraben. Die schlimmste Gefahr für den Sport ist, dass die Regeln nicht mehr beachtet werden. Wir müssen für Fair Play eintreten, sonst würde der Sport das verlieren, was ihn so großartig macht.
Wir haben in diesem Bundestag das Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung des Dopings im Sport verabschiedet. Wir haben die rechtlichen Grundlagen geschaffen. Wir haben die finanziellen Mittel der Dopingbekämpfungsagentur erhöht. Auch dieser Weg muss fortgesetzt werden. Aber allein mit gesetzlichen Maßnahmen und Kontrollen ist das nicht zu schaffen.
Gestatten Sie mir eine Bemerkung zu den Olympischen Spielen, die dieses Jahr in Peking stattfinden werden. Wir haben in den vergangenen Wochen viele und auch nicht gerade einfache Debatten zu diesem Thema geführt. Ich habe bei meinem Besuch in Peking mit meinem chinesischen Kollegen sehr ausführlich und intensiv über dieses Thema gesprochen. Wir haben Vereinbarungen über die Zusammenarbeit in der Sportwissenschaft - übrigens insbesondere im Bereich der Dopingbekämpfung - geschlossen. China hat in den letzten Jahren in der Dopingbekämpfung beachtliche Anstrengungen unternommen. Ich glaube, wir haben nicht nur national, sondern auch international eine Chance, im Kampf für faire Bedingungen und für das Verbot von Doping erfolgreicher zu sein, als wir es in den vergangenen Jahren waren. Ich bin alles andere als naiv; es wird weiter Verstöße geben. Wir müssen den Kampf gegen Doping weiterhin ernst nehmen, aber ich glaube, dann besteht eine gute Chance, dass wir Spiele miterleben dürfen, bei denen wir Freude an den Leistungen der Athleten haben können.
Ich hoffe, dass die chinesische Führung besser versteht, dass die Olympischen Spiele vor allem Spiele der Freude sein sollen, ein Fest und eine Begegnung der Völker - etwas, was China von den Olympischen Spielen genauso erwartet, wie wir es uns in Deutschland von der Fußballweltmeisterschaft erwartet und auch erreicht haben. Das gibt einem Land die Chance, sich stärker zu öffnen. Das muss man nicht fürchten; dem muss man sich vielmehr anvertrauen.
Die Vorbereitungen, die China getroffen hat, sind respekterheischend. Dass es Probleme gibt, ist wahr. Darüber haben wir bereits gesprochen. Man darf dem nicht ausweichen. Das liegt auch im Interesse Chinas selbst. Ich glaube, dass wir insgesamt bei allen schwierigen Diskussionen auf einem zuversichtlich stimmenden Weg sind.
Die Fußballeuropameisterschaft liegt unmittelbar vor uns. Manche sind sicherlich in Gedanken schon bei dem Spiel in Klagenfurt am Sonntagabend. Wir müssen aber in einer Debatte über die Bedeutung des Sports immer daran erinnern, dass wir alles tun müssen, um Gewalt im Sport - insbesondere in Fußballstadien - mit aller Entschiedenheit zu bekämpfen, um den Sport nicht den Gewalttätern, den Radikalen und den Krawallmachern zu überlassen.
Ich habe großen Respekt und Dankbarkeit gegenüber dem Engagement und der Verantwortung der zuständigen Verbände, insbesondere des Deutschen Fußball-Bundes. Die Polizeien in Bund und Ländern unterstützen sie nach Kräften.
Wie Sie wissen, haben wir bei der Fußballweltmeisterschaft die Unterstützung von Polizisten aus allen europäischen Ländern bekommen. Bei der Fußballeuropameisterschaft in der Schweiz und in Österreich werden insgesamt 1 700 Polizisten Deutschlands aus Bund und Ländern im Einsatz sein. Eine vergleichbare Größenordnung hat es zuvor nie gegeben.
Das zeigt erstens, dass wir in der internationalen polizeilichen Zusammenarbeit wirklich vorankommen, und zweitens, dass alle Länder - auch unsere Nachbarstaaten - sehr froh sind, dass wir in Deutschland in Bund und Ländern eine so gute Polizei haben. Es zeigt drittens, dass die Polizei, wie alle Sicherheitsorgane - das sage ich auch im Hinblick auf andere Debatten, die wir diese Woche geführt haben -, Freiheit und Friedlichkeit schützt und dafür notwendig ist.
Die Anstrengungen, die wir in der Politik - Gesetzgeber, Parlament, Regierung und Verwaltung - unternehmen, ist etwas, was sich nicht nur auf die Fußballeuropameisterschaft, sondern auch auf viele andere nationale und internationale Wettbewerbe in der Vergangenheit oder in der Zukunft wie die Hockeyweltmeisterschaft und die Handballweltmeisterschaft in den vergangenen Jahren oder die Leichtathletikweltmeisterschaft im nächsten Jahr, auf die wir uns freuen, bezieht. Es dient dem Ansehen unseres Landes und der Steigerung der Lebensfreude in unserem Land.
Sport ist etwas von dem Schönsten, was wir haben. Die Qualität, die Leistungen und die Attraktivität der Wettbewerbe auf höchstem internationalen Niveau motivieren zugleich viele Menschen, selber Sport zu treiben und damit ein Stück weit glücklicher zu werden und bessere Chancen auf ein erfülltes Leben zu haben. Deswegen bin ich sicher, dass die Bemühungen, die wir gemeinsam - auch in der Verantwortung für Steuergelder - in der Sportpolitik unternehmen, mit das Beste sind, was wir für die Nachhaltigkeit unserer freiheitlichen Ordnung tun können.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Detlef Parr, FDP-Fraktion.
Detlef Parr (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister, herzlichen Dank für Ihr leidenschaftliches Plädoyer für die Freiheit und die Schönheit des Sports. Damit sprechen Sie uns Liberalen aus dem Herzen. Hier haben wir viele Gemeinsamkeiten.
Der Auslöser für die heutige Grundsatzdebatte war allerdings ein anderer. Monatelang bestimmten Schlagzeilen über Medikamentenmissbrauch, Gewalt und Rassismus, Betrug, Leistungsmanipulationen, Verdächtigungen, Boykottdrohungen und Maulkörbe für Athleten das öffentliche Bild des Sports, zum Teil sogar aus diesem Hohen Hause befördert. Durch diese Dominanz der Katastrophenmeldungen entstand der Eindruck, der Sport bewege sich am Abgrund, ein Zerrbild, das aber ein Gutes hat: Wir denken über die gesellschaftliche Bedeutung des Sports neu nach und stellen seine Strukturen auf den Prüfstand. Wir erkennen, dass der Sport Teil eines gesamtgesellschaftlichen Netzes, gleichsam ein Spiegel des Zustands unserer Gesellschaft ist.
Missstände sind vor dem Hintergrund von 27 Millionen Menschen in 90 000 Vereinen plus unzähliger nicht organisierter Sporttreibender nicht die Regel, wie manche Berichterstattung glauben machen will. Sie sind vielmehr das unbeabsichtigte Ergebnis des Zusammenwirkens unterschiedlicher Interessen aus Leistungssport, Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Massenmedien und Publikum. Daraus ergibt sich folgende, etwas plakativ dargestellte Handlungskette: Das Publikum will Rekorde, Spannung, Unterhaltung, Brot und Spiele. Die Medien greifen dieses Bedürfnis auf und berichten vorzugsweise über die Erfolgreichen. Diese wecken das Interesse der Wirtschaft, die über Sponsoring den Sport als attraktives Werbemedium unterstützt. Die Wissenschaft entwickelt - teilweise am Rande des Erlaubten - innovative Methoden, um die Athleten zu Höchstleistungen zu animieren. Die Politik subventioniert den Spitzensport - wenn wir ehrlich sind - auch, um Begleitaufmerksamkeit herzustellen und Profil zu gewinnen. Wir müssen zugeben: All diese Akteure - auch wir - haben ihren Anteil an der Entstehung der Probleme, an denen ein Teil des Sports heute leidet. Deshalb müssen wir den Sport neu denken, müssen wir auch Verantwortung neu und anders einfordern und uns von den strukturellen Zwängen so weit wie möglich lösen. Wir dürfen nicht bei jedem Kritikpunkt gleich ?Skandal? rufen. Ein bisschen mehr Gelassenheit und Sachlichkeit tun auch dem Sport gut.
Willi Weyer, der unvergessene Präsident des ehemaligen Deutschen Sportbundes, hat vor vielen Jahren in seiner burschikosen Art gesagt: ?Sport ohne Leistung ist Kappes!? Recht hat er. Aber darf Leistung angesichts der Entwicklung der Ergebnisse etwa in der Leichtathletik oder beim Schwimmen immer nur absolut gesehen werden, mit dem manischen Blick auf die Anzeigentafel und der Gier nach neuen, absoluten Höchstleistungen? So können und dürfen wir nicht länger das olympische Motto ?schneller, höher, stärker? auslegen. Wir müssen vielmehr Zuschauern, Medien, der Wirtschaft, der Wissenschaft und auch uns selbst als verantwortlichen Sportpolitikern klarmachen: Die wachsende Nachfrage nach immer hochkarätigeren Leistungen hat in vielen Disziplinen längst ihre Grenzen an den körperlichen und psychischen Möglichkeiten des Einzelnen erreicht. Wir alle dürfen keine Beiträge mehr leisten, die dazu führen, dass Körper und Psyche unserer Athletinnen und Athleten überfordert werden und zu hohe Erwartungen entstehen. Die Bedeutung des Wettkampfes muss über dem Rekordgedanken stehen. Anreize wie Rekordprämien oder der Einsatz von sogenannten Hasen als Tempomacher müssen der Vergangenheit angehören. Das gilt auch für die Einblendungen von Rekordzeiten im Fernsehen oder ihrer Veröffentlichung in Programmheften. Wir müssen einen neuen Anfang wagen. Wir müssen uns auf Werte des Sports zurückbesinnen, die verschüttet wurden.
Nun zur Sportförderung. Wir als Bundestag sind der größte Geldgeber des Spitzensports. Im engen Schulterschluss mit dem DOSB und den Fachverbänden werden die Mittel leistungsorientiert eingesetzt. Bundeswehr, Bundespolizei und Zoll geben unseren Hochleistungssportlern den erforderlichen Rückhalt. Darüber dürfen wir aber die zweite wesentliche Säule nicht vergessen, die Herr Minister Schäuble auch angesprochen hat, nämlich die Sponsoren aus der Wirtschaft. Die herausragende Bedeutung der Stiftung Deutsche Sporthilfe ist uns erneut am vergangenen Wochenende bei der Verleihung der Goldenen Sportpyramide vor Augen geführt worden. Das Sponsoring muss weiter wachsen. Nicht nur für den Spitzensport, sondern auch für die kleinen Vereine ist in Zeiten knapper Kassen die Beteiligung der privaten Wirtschaft unabdingbar geworden. Die FDP beobachtet allerdings mit Sorge, dass die Bundesregierung mit ihrem fatalen Hang zum Aufbau einer Verbotsrepublik
Deutschland die Rahmenbedingungen für eine gute Sportförderung durch die Wirtschaft deutlich verschlechtern will. Staatliche Überreglementierung, neue Werbeverbote in den Medien oder im Internet, Verkaufsverbote und Konsumverbote prägen die aktuelle Situation, zum Beispiel die Diskussion über Tabak- und Alkoholprävention oder Ernährungsfragen. Bei allem Verständnis für einen fürsorgenden Staat: Er darf die Menschen in ihrem privaten Bereich nicht übermäßig bevormunden. Aufklärung und Information im Zusammenwirken mit der Industrie, auch Selbstverpflichtungen im Bereich des Kinder- und Jugendschutzes führen zu besseren Ergebnissen und sichern zugleich die Möglichkeiten des Sponsorings auch als soziale Leistung. Auch darauf hat der Sportminister hingewiesen.
An die Substanz der Sportförderung geht der neue Glücksspielstaatsvertrag. Viele Millionen Euro aus den Erlösen flossen bisher über die Länder in die Vereine und Verbände. Die Antworten auf erste Anfragen meiner Landtagskollegen nach Inkrafttreten des Vertrages sind alarmierend. In Schleswig-Holstein gingen die Einnahmen aus der Oddset-Sportwette in den ersten vier Monaten bei der Kombiwette um 40 Prozent und bei der Topwette um 50 Prozent zurück, in Sachsen um 52 Prozent. Zusammengerechnet sind das 4,5 Millionen Euro. Im Lottobereich verzeichnen wir in beiden Ländern insgesamt 12,5 Millionen Euro Mindereinnahmen, unter anderem wegen der Restriktionen für gewerbliche Spielvermittler. Das geschieht in einem Glücksspielbereich, in dem das Suchtverhalten am unproblematischsten ist, wie die Drogenbeauftragte der Bundesregierung gestern noch im Gesundheitsausschuss bestätigt hat.
Wir sind auf dem falschen Weg. Bereits im Februar 2006 hatte eine Kommission ?Sportwetten der Bundesländer? erstaunliche Erkenntnisse, die die FDP in zwei Anträgen hier in das Haus eingebracht hat. Sie weist bei einer möglichen Neuordnung des Rechts der Sportwetten auf die Erschließung von bislang dem Sport nicht zugänglicher Wertschöpfung hin. Sie zieht eine Konzessionierung gewerblicher Anbieter in Erwägung und fordert - ich zitiere - ?bei der Zulassung gleiche Bedingungen für alle Bewerber, auch für die bisherigen staatlichen Sportwettanbieter, die sich gegebenenfalls zusammenschließen könnten, um ein konkurrenzfähiges Angebot abgeben zu können.? Ich fordere die Regierungen in Bund und Ländern auf: Schluss mit dieser Vogel-Strauß-Politik! Nehmen Sie die Realitäten wahr! Ordnen Sie europarechtskonform die Sportwetten neu, wie es Großbritannien, Österreich und Spanien vorgemacht haben und Frankreich es künftig tun wird.
Dann könnten wir auch anderen wichtigen Bereichen des Sports, die bisher eher stiefmütterlich behandelt wurden, wie dem Deutschen Behindertensportverband oder Special Olympics, der Vereinigung, die für die geistig Behinderten und ihre Sportmöglichkeiten eintritt, neue Quellen eröffnen und für eine gesichertere Zukunft sorgen.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun die Kollegin Dagmar Freitag, SPD-Fraktion.
Dagmar Freitag (SPD):
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte über den Sportbericht ist mit einer Debatte über einen Antrag der Linksfraktion verbunden. Frau Kollegin Kunert, zu Beginn eine positive Bemerkung hierzu: Wir freuen uns, dass Sie sich der Forderung meiner Fraktion nach Aufnahme des Sports ins Grundgesetz angeschlossen haben.
Damit endet aber auch bereits die Übereinstimmung. Ihrem propagierten Anliegen, den Sport in Bund, Ländern und Gemeinden auf eine solidere Basis zu stellen, erweisen Sie mit dem vorliegenden Antrag jedenfalls keinen guten Dienst. Jeder Verfassungsrechtler hätte Ihnen erklären können, dass der Bund keine hinreichende Gesetzgebungskompetenz hinsichtlich Ihrer Forderungen hat.
Andere Bestandteile hat die Regierungskoalition längst abgearbeitet - ich nenne nur die Stärkung des Ehrenamtes -, und das im Übrigen weit über den Sport hinaus. Auch da unterscheiden wir uns von Ihnen. Sie hätten unserem Gesetzentwurf einfach nur zustimmen müssen.
Wie auch immer, der vorliegende Antrag ist jedenfalls nicht dazu angetan, die Sportförderung in Deutschland zu verbessern. Die verfassungsrechtlichen Probleme tun ein Übriges. Deshalb werden wir diesen Antrag ablehnen.
Die rot-grüne Koalition war diejenige, die die Dopingbekämpfung auf die Tagesordnung gehoben hat - nach langen Jahren beschwichtigender Untätigkeit der Vorgängerregierung. Wir haben eine teilweise heftig geführte öffentliche Debatte angestoßen. Massive Widerstände, insbesondere vonseiten des organisierten Sports, haben damals verhindert, dass es schon in der rot-grünen Zeit zu einer schärferen gesetzlichen Regelung kam. Das hat die Große Koalition mittlerweile nachholen können. Ich bleibe bei meiner damaligen Einschätzung: Die Verweigerungshaltung war nicht zum Nutzen, sondern zum Schaden des deutschen Sports.
Eine konsequente Dopingbekämpfung war und bleibt von existenzieller Bedeutung für die Zukunft des Spitzensports. Das haben aber noch immer nicht alle verstanden. So hat der Deutsche Eishockey-Bund noch im März dieses Jahres geglaubt, man könne Dopingvergehen getrost abseits geltender Regularien sanktionieren. Er hat gegen einen Dopingprobenverweigerer statt einer obligatorischen Sperre eine Ministrafe verhängt. Das war ein Schlag ins Gesicht der Verbände, die ihren Athleten in vergleichbaren Fällen eine solch zweifelhafte Unterstützung nicht gewähren.
In diesem Zusammenhang möchte ich ausdrücklich die konsequente Haltung von NADA und Bundesinnenministerium hervorheben. Gemeinsam haben wir erreichen können, dass der Deutsche Eishockey-Bund eingelenkt hat und die Angelegenheit vor einem unabhängigen Schiedsgericht nachverhandeln lässt, leider - auch das sollte gesagt werden - erst nach langem Zögern und Taktieren.
Machen wir uns nichts vor: Ohne unsere konsequente Haltung wäre es hierzu nicht gekommen. Deshalb erneuere ich an dieser Stelle die ausdrückliche Forderung meiner Fraktion an die deutschen Spitzenverbände: Unterwerfen Sie sich dem nationalen unabhängigen Schiedsgericht! Einige Verbände - allerdings viel zu wenige - haben das bislang getan.
Dieses Signal sollte nun wirklich endgültig verstanden worden sein. Für Verbände, die die Dopingbekämpfung nicht ernst nehmen, kann es keine staatliche Förderung geben.
Sportpolitik ist vor allem, doch nicht nur eine Sache des Sportministeriums. Ein Beispiel: Für meine Fraktion hat der Sport in der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik einen ausgesprochen hohen Stellenwert. Allein an der Trainerschule in Mainz sind bislang rund 330 Leichtathletiktrainer aus 80 Ländern ausgebildet worden. Eine Besonderheit dabei ist: Diese Kurse werden auf Deutsch gehalten. Deutschland, unsere Menschen, unsere Kultur, wird den angehenden Trainern dadurch vertraut.
Interessant ist: Viele der Absolventen sind heute in Führungspositionen in Sport und Politik in ihren Heimatländern. Wann und wo auch immer man diese Menschen trifft: Die Zeit in Deutschland wird von ihnen als Highlight in der persönlichen und beruflichen Entwicklung geschildert. Daher wird es niemanden verwundern, dass Außenminister Steinmeier unsere ausdrückliche Unterstützung für diese und andere Maßnahmen hat,
seien es die Kurz- und Langzeitprojekte in Afrika oder Maßnahmen zum Wiederaufbau der Sportstrukturen in Afghanistan.
Das Auswärtige Amt leistet an dieser Stelle einen unverzichtbaren Beitrag zum Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen in vielen Ländern.
Sportförderung durch Bund, Länder und Kommunen erreicht einen großen Teil der Menschen in unserem Land. Der in den Vereinen und Verbänden organisierte Sport und seine Mitglieder erfahren ein hohes Maß an Förderung, auch im finanziellen Bereich. Aber wichtig ist an dieser Stelle der Hinweis: Der Sport gibt der Gesellschaft ein Vielfaches davon zurück. Das belegt im Übrigen auch der vorliegende Bericht.
Spannende Monate liegen, sportlich gesehen, vor uns. Fußballeuropameisterschaft und Olympische Spiele warten auf ihre Sieger.
Da Rückblick und Ausblick immer zusammengehören, stellt sich natürlich auch die Frage, welchen Weg der Sport und die Sportförderung zukünftig gehen werden. Die Antwort kann nicht allein im Zählen von Medaillen und Meistertiteln liegen. Möglichst viele Medaillen und saubere Sportler - diese Gleichung wird in Zeiten des Hightechdopings nicht aufgehen können. Daher muss eines der wichtigsten Ziele deutscher Sportpolitik sein, eine strikte Anti-Doping-Politik auch auf internationaler Ebene einzufordern.
Ich erinnere hier an das unter großem Beifall der Athleten gegebene Versprechen der Bundeskanzlerin vor der deutschen Leichtathletik-Nationalmannschaft in Osaka, sich auf internationaler Ebene entschieden dafür einzusetzen.
Erwartungen auf ein realistisches Maß zurückzuschrauben, ist keine Abkehr vom Leistungsprinzip. Eine Stärkung der Sportwissenschaft ist ein Baustein für eine leistungsorientierte Sportförderung. Daher befürworten wir ausdrücklich eine stärkere Einbeziehung der Sportwissenschaft, allerdings unter der selbstverständlichen Voraussetzung ethischer Grundprinzipien.
Ich sage ganz deutlich: Freiburg darf sich nicht wiederholen!
Die Sportförderung in unserem Land ist von einer exzellenten Qualität. Dennoch haben wir sie weiterzuentwickeln. Damit entwickeln wir auch unsere Gesellschaft weiter. Das ist nicht voneinander zu trennen. Die SPD-Bundestagsfraktion stand und steht an der Seite des Sports.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Für die Fraktion Die Linke hat Katrin Kunert das Wort.
Katrin Kunert (DIE LINKE):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 64 Tage vor Beginn der Olympischen Spiele - später folgen noch die Paralympics - in Peking wünscht die Linke allen Sportlerinnen und Sportlern eine optimale Vorbereitung, verletzungsfrei, das Erreichen der hochgesteckten Normen, viel Erfolg und schöne Spiele.
Fest steht: Deutschland wird mit einer starken Mannschaft nach Peking fahren. Die Erwartungen sind sehr hoch. Fest steht auch, dass die weitere Förderung durch den Bund maßgeblich vom Abschneiden der Mannschaft abhängen wird. Aber die Förderung des Spitzensports ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite der Medaille ist die Förderung des Breitensports. Von daher ist es gut, dass wir vor Olympia den 11. Sportbericht der Bundesregierung und den Antrag der Fraktion Die Linke für ein Sportförderungsgesetz des Bundes beraten. Für die Linke ist klar: Ohne eine bessere Unterstützung des Breitensports wird der Spitzensport in Zukunft auf der Strecke bleiben.
Daher muss die Sportförderung im weiten Sinn im frühkindlichen Alter beginnen und bis ins hohe Alter erfolgen. In einer modernen Gesellschaft muss der Sport mehr sein als nur Wettlauf um höhere Leistungen. Durch Sport werden Werte vermittelt und wird die Gesundheit gefördert. Bei großen internationalen Wettkämpfen wie in Peking trägt der Sport zur Völkerverständigung und zum friedlichen Zusammenleben der verschiedensten Nationen bei.
Aber nun zum Bericht. Darin heißt es - ich zitiere -:
Auch der Spitzensport leistet einen wichtigen Beitrag für die Gesellschaft insgesamt. Erfolgreiche Sportler haben insbesondere für Kinder und Jugendliche oftmals Vorbildfunktion und stehen für Leistungswillen, Ausdauer, Fairness und Teamgeist. Die Förderung des Leistungssports ist deshalb zugleich ein Beitrag zur gesellschaftlichen Wertedebatte.
Dem stimmen wir zu. Nur: Über welche Werte reden wir? Welche Werte erfahren die Menschen im Leben?
Die zunehmende Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich ermöglicht vielen Menschen die Teilnahme an Sportkursen oder Veranstaltungen erst gar nicht, weil ihnen schlicht und einfach das Geld fehlt, und sie haben auch andere Sorgen. Der Sport hätte das Potenzial, die Gesellschaft zusammenzuhalten, aber das Potenzial wird nicht ausgeschöpft.
Deshalb sagt die Linke:
Erstens. Alle Kinder und Jugendlichen sowie Erwachsenen bis hin zu den Seniorinnen und Senioren, egal ob mit oder ohne Behinderung, müssen freien Zugang zum Sport haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will Ihnen von Bianca erzählen. Sie besucht seit zwei Jahren die Landessportschule in Halle. Sie ist mit Leib und Seele Basketballerin. Ihr großes Vorbild ist Dirk Nowitzki. Sie wurde 2007 deutsche Meisterin, 2008 Landesmeisterin in Sachsen-Anhalt, mitteldeutsche Meisterin, ostdeutsche Meisterin, norddeutsche Meisterin, und vor zwei Wochen wurde sie mit ihrer Mannschaft, den Halle Lions, deutsche Vizemeisterin. Wenn sie so weitermacht, wird sie eines Tages in der Nationalmannschaft für Deutschland spielen. Man könnte meinen, das sei eine steile Karriere. Aber ihr Besuch der Sportschule konnte nur durch private Förderer gesichert werden, da beide Elternteile Arbeitslosengeld II beziehen.
In dem Regelsatz von 347 Euro sind nun einmal keine Internatskosten enthalten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, stellen Sie sich einmal vor: Bürgerinnen und Bürger in diesem Land geben ihr privates Geld, damit ein Kind eine weiterführende Schule besuchen kann, und zum Dank streicht der Staat der Bedarfsgemeinschaft die Leistung für das Kind. Der Staat spart auf Kosten der Bürgerinnen und Bürger. Das ist ein Skandal. Das sage ich Ihnen ganz deutlich.
Dass der Staat diese Schulen nicht kostenlos zur Verfügung stellt, ist schon ein Armutszeugnis. Aber dass man es den Familien auch noch schwerer macht, wenn sie sich selbst darum kümmern, dass die Kinder solche Schulen besuchen können, ist ein Punkt, über den Sie, wie ich denke, nachdenken sollten. Das ist auch ein Beispiel dafür, dass die Bundesgesetzgebung in die Tiefen des Breitensportes und bis hin zur Basis wirkt.
Über diesen Punkt sollten wir wirklich reden.
An Talenten mangelt es in Deutschland nicht. Aber es ist nur einem Teil der Kinder und Jugendlichen möglich, sich sportlich weiterzuentwickeln. Genau wie in der schulischen Bildung hängen die Chancen der Kinder in erster Linie vom Geldbeutel der Eltern ab. Schon die Mitgliedschaft in manchen Sportvereinen stellt für viele Kinder eine finanzielle Hürde dar.
Zweitens. Im Schulsport liegt vieles im Argen, und das seit Jahren: Sportstunden werden gestrichen; es gibt nicht genügend Sportlehrerinnen und Sportlehrer; die Aus- und Weiterbildung ist absolut unzureichend, und der Schwimmunterricht wird privatisiert.
Dabei ist gerade der Schulsport ein wichtiges Bindeglied zwischen gesunder Lebensweise, Bewegung und Lernfähigkeit. Wir können punktgenau sagen, wie hoch die Gesundheitskosten später sein werden, weil Kinder zu dick sind, sich falsch ernähren oder sich nicht ausreichend bewegen und damit krankheitsanfälliger sind. Eine gute Sportpolitik ersetzt jede Gesundheitsreform.
In den Kindertagesstätten und Schulen müssen gesunde Ernährung und Bewegung als Ganzes vermittelt werden. Wir fordern bundeseinheitliche Qualitätsstandards zur Weiterentwicklung des Schulsports. Die dritte Sportstunde muss überall, also in jedem Bundesland und in jeder Schule, zur Pflicht werden.
Nur so kommen wir aus dem Dilemma der Streiterei um die Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern heraus. Gleiche Bildungsstandards, liebe Kolleginnen und Kollegen, tragen ja auch zur Angleichung der Lebensverhältnisse in Deutschland bei - ein Ziel, das wir uns einmal gestellt haben.
Drittens. Der Zustand vieler Sportstätten ist mangelhaft. Im Sportbericht wird die stolze Zahl von 63 Millionen Euro genannt, die im Rahmen des Bundesprogramms ?Goldener Plan Ost? von 1999 bis 2005 zur Sanierung und zum Neubau von Sportstätten ausgegeben worden sind.
Aber im eigentlichen Berichtszeitraum, also von 2002 bis 2005, waren es nur noch 26 Millionen Euro, und im Haushalt für 2008 stehen ganze 2 Millionen Euro. Das bezeichne ich als einen Witz. In der letzten Debatte über den Haushalt haben Sie unseren Antrag, diesen Betrag wenigstens auf 10 Millionen Euro anzuheben, abgelehnt.
Die Grünen haben leider sogar signalisiert, dass sie diese Förderung am liebsten ganz abschaffen wollen. Kluge Sportpolitik sieht aber anders aus, meine Damen und Herren.
Fest steht: 70 Prozent der Sportanlagen im Osten und 40 Prozent der Sportanlagen im Westen sind sanierungsbedürftig. Für die Sanierung werden nach Auskunft von Fachleuten 40 Milliarden Euro benötigt, davon entfallen 20 Milliarden Euro auf die öffentlichen Träger, also in erster Linie auf die Kommunen. Auch wenn wir heute über Sport reden, stelle ich fest: Die Finanzausstattung der Kommunen steht unter keinem guten Stern. Es gibt bei den Kommunen große Unterschiede zwischen Arm und Reich. Das sieht man auch am Zustand der Sportstätten.
Die Linke fordert, auch die Sportstätten am Aufschwung in Deutschland teilhaben zu lassen.
Das heißt im Klartext: Mindestens 20 Millionen Euro in das Programm ?Goldener Plan? einstellen und dieses auf die alten Bundesländer ausdehnen.
Im gleichen Kontext sage ich auch: Die Finanzausstattung der Kommunen muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden, damit die Sportinfrastruktur auch nachhaltig verbessert werden kann. Vielleicht, liebe Kolleginnen und Kollegen, gelingt es Ihnen auch noch, in der Föderalismusreform II die Entschuldung der Kommunen unterzubringen. Das ist nämlich genauso wichtig.
Viertens. Der Sport braucht insgesamt noch mehr Anerkennung und Verbindlichkeit. Die Linke unterstützt deshalb den Vorschlag des DOSB, Sport als Staatsziel in das Grundgesetz aufzunehmen. Mit einem Sportfördergesetz des Bundes muss die derzeitige Förderung des Spitzensportes mit der des Breitensportes zusammengeführt werden.
Sport als aktives Gesundheitsprogramm und als Instrument zur Integration und Chancengleichheit für Frauen und Menschen mit Behinderungen muss in einem Sportfördergesetz festgeschrieben werden. Ihre föderalen Hinderungsgründe und Ihr Hinweis, dafür seien wir nicht zuständig, greifen eben nicht immer. In den Haushalten des Innenministeriums, des Verteidigungsministeriums, des Gesundheitsministeriums, des Familienministeriums oder des Auswärtigen Amtes sind entsprechende Gelder eingestellt und werden zum Teil als Bundesprogramme bis in die Kommunen und Einrichtungen ausgereicht. Ein Sportfördergesetz bietet die Chance, alle Maßnahmen, die den Sport betreffen, zu bündeln und aufeinander abzustimmen.
Fünftens. Das bürgerschaftliche Engagement muss weiter gestärkt werden. Die Anhebung der Übungsleiterpauschale und steuerrechtliche Vergünstigungen können nur ein erster Schritt sein. Viele Studentinnen und Studenten, Rentnerinnen und Rentner, Arbeitslose und Menschen mit einem geringen Einkommen leisten wertvolle ehrenamtliche Arbeit. Diese haben aber nichts von Steuervergünstigungen.
Die Linke fordert daher nach wie vor, dass diese Ehrenamtlichen finanzielle Anerkennung bekommen müssen. Tatsächliche Kosten müssen erstattet werden.
In diesem Zusammenhang will ich noch auf ein Problem hinweisen. Vor kurzem ist das Einkommensteuerrecht geändert worden. Für die Beschaffung von geringwertigen Wirtschaftsgütern ist die Grenze von 400 Euro auf 150 Euro gesenkt worden. Das stellt sich in den Sportvereinen jetzt als Problem dar.
Wir sollten überlegen, ob wir hier nicht nachjustieren sollten, damit diese Beeinträchtigung der Sportvereine nicht fortbesteht.
Sechstens. Öffentlich geförderte Beschäftigung bringt den Sport und den Arbeitsmarkt in Schwung. Frau Freitag, eine öffentlich geförderte Beschäftigung lehnen Sie mit dem Hinweis ab, es würde gegen die Autonomie der Sportorganisationen verstoßen.
- Gestern haben Sie zu diesem Thema gesprochen. - Ich muss Sie fragen, ob Sie überhaupt die Realität in den Sportvereinen kennen. Derzeit haben viele Menschen dank ABM in Sportvereinen Arbeitsgelegenheiten. Im Landkreis Stendal sind es allein 80 Menschen.
Wir fordern, diese Beschäftigung in versicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse mit Mindestlöhnen umzuwandeln. Den gemeinnützigen Sport zum öffentlich geförderten Beschäftigungssektor auszubauen, ist eine lohnenswerte und notwendige Aufgabe für den Sport und für die Betroffenen.
Sie heben immer darauf ab, dass es fraktionsübergreifend einen großen Konsens gibt, was die Sportförderung angeht. Das ist punktuell richtig. Wir aber sagen: Mit einem generell festgeschriebenen Sportfördergesetz kann man viele Ungerechtigkeiten und Ungereimtheiten ausräumen. Man kann bestimmte Aktivitäten vom Bund aus bündeln.
Es gibt nach wie vor große Unterschiede in der Förderung des Frauen- und Männersports. Ich nenne als Beispiel den Fußball. Es gibt auch nach wie vor große Unterschiede bei der Förderung des Spitzensports von Menschen mit und ohne Behinderung; dazwischen liegen Welten. Diese Punkte müssen auf den Prüfstand und müssen in einem Sportfördergesetz neu geregelt werden.
Ausgehend von der gestrigen Sitzung des Ausschusses sage ich: Wir wollen nicht Freibier für alle.
Wir wollen sehr viele Menschen in diesem Land glücklich machen. Das ist richtig. Aber in erster Linie wollen wir dieses Land gerechter gestalten, und das beginnt mit dem Sport.
Schönen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Um jedem möglichen Missverständnis vorzubeugen: ?Freibier für alle? müsste außerhalb des Plenarsaals angeboten werden; hier drinnen ist es sicherlich nicht zulässig.
Nun hat der Kollege Winfried Hermann das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Sportausschuss, so pflegen wir zu sagen, gibt es viele Gemeinsamkeiten. Die Sportpolitikerinnen und Sportpolitiker haben Spaß und Freude am Sport. Deswegen gibt es auch viele gemeinsame Vorstöße. Obwohl es viele Gemeinsamkeiten gibt, gibt es auch Differenzen und Unterschiede. Das ist auch gut so. Auch der Sport braucht eine politische Debatte.
Im Sportbericht, der Anlass unserer Debatte ist, findet man ganz am Anfang beschrieben, welche unglaublich vielfältige Dimension der Sport hat. Er hat eine soziale, eine integrative und eine leistungsfördernde Funktion. Er spielt inzwischen auch in großen Bereichen der Wirtschaft eine wichtige Rolle. Ich nenne beispielsweise den Tourismus. Der gesamte Bericht spiegelt wider, wie großartig und wie vielfältig Sport ist, wie er in dieser Gesellschaft wahrgenommen wird und was er für sie bedeutet. Darin sind wir uns einig.
Die Frage ist jetzt nur, ob die Politik selber diese Vielfalt, die der Sport bietet, auch in ihren Akzenten, in dem, was sie tut, widerspiegelt. In diesem Zusammenhang möchte ich ein paar kritische Dinge ansprechen. Herr Minister, Sie sagen, das Prä der Sportpolitik liege natürlich beim Sport. Da besteht kein Dissens. Aber wenn man sich nur an dem orientiert, was die Sportorganisationen machen, dann läuft die Politik Gefahr, dass sie nur darauf antwortet und keine selbstständigen Initiativen in Gang setzt. Wir Grüne meinen, Sportpolitik muss auch eigenständige Akzente setzen und dafür sorgen, dass alles in den richtigen Bahnen läuft.
Ein Beispiel. Es muss skeptisch stimmen, wenn zum Beispiel beim Landessporttag in Baden-Württemberg der Tenor der Debatte ist: ?Der DOSB nimmt den Breitensport nicht wahr, nicht ernst? oder wenn, wie im Sportausschuss, die nichtolympischen Sportverbände sagen: Wir bekommen kaum Fördermittel; alles konzentriert sich auf den olympischen Sport. - Dazu sage ich: Hoppla, es könnte sein, dass falsche Zeichen gesetzt werden, dass wir bei der Konzentration auf den Spitzensport, dessen Bedeutung durchaus nicht bestritten wird, vergessen, dass es auch Breitensport und Sport auf Landesebene und in den Kommunen gibt. Auch dies müssen wir in unsere sportpolitischen Überlegungen mit einbeziehen. Unsere Forderung ist, sich mehr in diese Bereiche hineinzudenken.
Herr Minister, meine Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Sie haben die Mittel für den Spitzensport zu Recht erhöht;
denn sie waren über Jahre gedeckelt. Aber die Mittel für Breitensportaktivitäten, für Modelle, die dort möglich sind, sind nicht in gleicher Weise erhöht worden.
Wir sagen eindeutig: Wir wollen auch in diesem Bereich mehr tun.
Der Breitensport braucht eine Lobby - so der Landessportverband Baden-Württemberg; auch andere könnte man zitieren. Nun sagen Sie: Da haben wir doch keine verfassungsgemäße Zuständigkeit.
Die ist in der Tat beschränkt. Aber Sie sollten in Ihrer Argumentation konsequent sein: Die meisten von Ihnen vertreten die Auffassung, dass Sport als Staatsziel in das Grundgesetz aufgenommen werden soll.
Warum? Weil Sie sagen: Breitensport, Gesundheitssport, soziale Funktionen des Sports, all das ist wichtig. Wir wollen das im Grundgesetz verankert sehen. - Wenn man das für richtig hält, dann muss man diese breitensportliche Dimension aber auch in seine politischen Überlegungen, in seine Konzeption mit einbeziehen.
Das zum Ersten.
Zum Zweiten hat der Bund natürlich in den Bereichen Gesundheit, Prävention und Altersvorsorge jede Menge Kompetenzen, sodass er zumindest modellhaft Dinge anstoßen kann, damit sich sportliche Organisationen und die Sportförderung weiterentwickeln können. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, überlegen Sie sich einmal, welche Initiativen, Gedanken, Ideen und Modelle Sie zum Bereich des Breitensports in den letzten zwei Jahren eingebracht haben. Dazu fällt Ihnen nichts ein.
Ich bin die Sache extra noch einmal durchgegangen. Es ist nichts geschehen. Ich meine, moderne Sportpolitik müsste da mehr zu bieten haben.
Ich war vor zwei Wochen mit einer kleinen Gruppe des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung in Norwegen. Wir haben uns um Nachhaltigkeit bemüht. Da ist mir etwas Interessantes begegnet: Bei jedem Besuch eines Ministeriums fand man an der Eingangstür ein Plakat vor: Benutze deine Beine zur Arbeit!
Durch diese Kampagne in Norwegen werden die Leute aufgefordert, sich zu bewegen und schon morgens zur Arbeit zu laufen oder mit dem Rad zu fahren.
- Das ist eine gute Idee. - Aber wo ist die Initiative der Bundesregierung, auch einmal so ein Konzept vorzulegen, dass die Politik, die Verwaltung vorbildlich zeigen: ?Wir wollen uns bewegen; wir fahren Fahrrad. Fahren Sie mit!??
- Ich merke, einige sind erregt.
Kollege Gienger, der nur eine Radlrutsch hat, tut sich schwer mit dem Radfahren; ich weiß.
Es gibt übrigens ein Ministerium, das so eine Kampagne fördert: Das ist das Verkehrsministerium, das dafür wirbt, mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren. Wenn man für Bewegung in der Gesellschaft mehr tun will, dann müsste so eine Kampagne breiter gefasst werden, dann müssten alle mitmachen. Dann müsste das Innenministerium ganz vorne dabei sein.
Jetzt komme ich zum Thema ?Vorbereitung auf die Olympischen Spiele in Peking?. Wir haben darüber schon viel gesprochen. Ich will nicht in aller Breite darüber sprechen, aber auf zwei Punkte eingehen: erstens auf die Bekämpfung von Doping und die Voraussetzungen dafür in China. Der Herr Minister hat gestern im Ausschuss und auch heute gesagt, dass sich in China in letzter Zeit einiges getan hat. Das will ich nicht bestreiten, das ist wahr. Aber gemessen an der Zahl der Menschen in China, die Leistungssport treiben, sind 8 000 Proben pro Jahr - das sind etwa doppelt so viele wie in Deutschland - eine sehr bescheidene Maßnahme und viel zu wenig. Wir wissen, dass es in China viele Labors und jede Menge Eliteschulen und Fördereinrichtungen gibt, die in dieses Kontrollsystem noch nicht eingebunden sind. Es ist unsere Aufgabe, über die internationalen Sportorganisationen darauf hinzuwirken, dass auch in China mehr gegen Doping getan wird.
Zweitens: das Thema Menschenrechte. Herr Minister, ich habe Sie gestern bewusst gefragt: Was halten Sie von diesem blau-grünen Bändchen mit der Aufschrift ?Sports for Human Rights?, das ich am Arm trage?
- Der Kollege Parr nennt das Symbolpolitik. Für mich ist die Frage, ob es möglich ist, sich bei den Olympischen Spielen zu den Menschenrechten zu bekennen, und zwar nicht propagandistisch, sondern aus persönlicher Überzeugung heraus.
Kann man so etwas tragen, um sich zu den Menschenrechten zu bekennen, oder ist das Propaganda, die verboten ist? Das IOC tut so, als sei so etwas verboten. Der DOSB übernimmt diese Haltung. Der Minister erklärt, das sei so im Sport und das müsse man so akzeptieren. - Wir meinen, das ist inakzeptabel. Ein Bekenntnis zu Menschenrechten muss erlaubt sein. Das ist keine Propaganda, sondern eine pure Selbstverständlichkeit.
Lassen Sie mich noch etwas zur Aufarbeitung des Dopingproblems im deutschen Sport sagen. Über die Anti-Doping-Kommission des Ministeriums, die sich mit der Aufarbeitung beschäftigt, über den Einsatz der Mittel wacht und prüft, ob die Verbände die Auflagen umsetzen, haben wir Einblick in das bekommen, was wir in Deutschland noch tun müssen. Tatsächlich hat diese Kommission dazu beigetragen, dass in den Verbänden aufgeräumt wurde
und dass man sich an bestimmte Regeln hält. Das ist gut so. Aber jetzt müssen wir dranbleiben und konsequent sein: Dort, wo Verbände diese Auflagen verletzen, darf es keine staatliche Förderung für den Sport geben.
Das passiert schon beim Deutschen Eishockey-Bund; das ist gut so. Aber jeder andere Sportverband muss wissen: Diese Auflagen müssen erfüllt werden. Angesichts der Kriterien, die deutlich machen, was alles zu machen ist, wird klar, dass viele Verbände noch etwas tun müssen. Denen muss man signalisieren: Tut es, und zwar schnell und sorgfältig!
Ich komme zum Fall der Universität Freiburg. Inzwischen arbeitet die Untersuchungskommission in Baden-Württemberg die Verstrickungen und Finanzierungen von Doping an der Universität in Freiburg auf. Aber diese Aufarbeitung betrifft auch den Bund, weil auch Bundestrainer im Einsatz waren und Bundesmittel geflossen sind. Deswegen sind wir vonseiten des Bundes in der Pflicht, nachzuschauen, was schiefgelaufen ist und welche Konsequenz zu ziehen ist. Dabei werden wir Sie unterstützen.
Ich komme zum Schluss. Was der Sport braucht, ist nicht nur Unterstützung durch die Politik; vielmehr braucht er auch Anregungen und Denkanstöße. Das gilt insbesondere dann, wenn man den Eindruck hat, dass der Sport selbst zu sehr auf den Spitzen- und Hochleistungssport konzentriert ist. Das ist die Aufgabe der Politik. Wir stehen für eine breite Sportpolitik, nicht nur für eine Breitensportpolitik. Wir wollen eine Politik, die Bewegung und Sport in der Gesellschaft und in den Sportverbänden fördert: an der Spitze wie in der Breite.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Eberhard Gienger, CDU/CSU-Fraktion.
Eberhard Gienger (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst einmal auf Frau Kunert eingehen, die ein Sportförderungsgesetz gefordert hat. Ich darf Ihnen sagen, Frau Kunert: Das, was Sie zu Papier gebracht haben, erinnert mich sehr an den Staatssport der DDR. Ich darf hinzufügen: Die Gerechtigkeit, die Sie gefordert haben, wurde in der DDR in ganz geringem Maße umgesetzt.
Dabei ging es darum, Leistung zu erbringen, und um nichts anderes.
Ein Wort zu dir, Wini Hermann. Der Bund unterstützt den Sport mit relativ geringen Mitteln. Im Jahr 2003 betrugen die Ausgaben für den Sport 3,9 Milliarden Euro. Davon haben die Kommunen 80 Prozent getragen, also ungefähr 3,1 oder 3,2 Milliarden Euro, die Länder etwa 650 Millionen Euro. Der Bund hat sich mit bescheidenen 108 Millionen Euro beteiligt. Das war ein ganz geringer Anteil für den Spitzensport. Ich glaube, dass diese Gewichtung richtig ist.
Sport spielt in der Bundesrepublik Deutschland eine herausragende Rolle. Das gilt insbesondere für die Bereiche Gesundheit, Kinder, Integration, Umwelt und Naturschutz, aber auch für die Behindertenarbeit. Hochleistungssport ist wichtig, weil er, wenn Sie so wollen, ein Lehrmeister für Athletinnen und Athleten ist. Was kann man im Spitzensport alles lernen? Man kann lernen, erfolgreich sein zu wollen. Man lernt Disziplin und Flexibilität. Man lernt, seine Leistung morgens um acht oder, wenn es sein muss, auch einmal um Mitternacht zu erbringen. Man lernt, mit Sieg und Niederlage umzugehen. Man lernt, aus Talsohlen herauszufinden und nach Siegen nicht abzuheben. Man lernt, dem Trainer, dem Weiseren, zuzuhören und seine Vorgaben umzusetzen. Man lernt Teamfähigkeit. All das sind Erfahrungen, die man auf das private und berufliche Leben - das gilt zum Beispiel für die Ausbildung -, aber auch auf das politische Leben übertragen kann.
Aus diesem Grund und wegen der Repräsentations- und Vorbildwirkung des Sports hat sich der Bund entschlossen, die Sportler stärker zu unterstützen. Die internationale Konkurrenz wird immer größer. Die Bundesrepublik Deutschland steht in Konkurrenz zu vielen anderen Nationen, die bei Olympischen Spielen ebenfalls erfolgreich sein wollen, die sich dafür vorbereitet haben. In Korea, Großbritannien - die Olympischen Spiele finden 2012 in London statt -, Frankreich, Japan und vor allem in Australien wird erfolgreich Geld in den Spitzensport investiert. Dieses Parlament hat im vergangenen Jahr dankenswerterweise die bis dahin gedeckelten Beträge um immerhin etwas mehr als 17,1 Millionen Euro aufgestockt, was dem Sport guttut. Seit 1992 hat sich die Anzahl der Disziplinen bei Olympischen Spielen um 30 Prozent erhöht. Auch die Zahl der teilnehmenden Nationen ist angewachsen. Im kommenden Jahr rechnet man in Athen mit 205 teilnehmenden Nationen, also mit mehr Nationen, als die UN Mitglieder hat.
Es sind also gute Rahmenbedingungen geschaffen worden. Allerdings ist auch klar, dass der Spitzensport wegen des Dopings - dieses Thema ist schon angesprochen worden - in einer seiner größten, vielleicht sogar der größten Krise überhaupt steckt. Durch Gesetzesänderungen ist es gelungen, Veränderungen herbeizuführen. Das Wirken der NADA - Präventions- und Aufklärungsmaßnahmen sowie unangemeldete Trainings- und Wettkampfkontrollen - hat zumindest bei den Betroffenen ein gewisses Maß an Sensibilität bewirkt.
Ich möchte an dieser Stelle eines sagen: Die Athletinnen und Athleten müssen berücksichtigen, dass sich die Zeiten geändert haben, dass sie in einer neuen Zeit leben. Genauso wie sich die Flugreisenden heutzutage auf allen Flughäfen kontrollieren lassen müssen, weil ein paar wenige Terroristen das Gemeinwohl bedrohen, müssen auch die Athletinnen und Athleten davon ausgehen, dass zu ihrem Sport - beim Training und Wettkampf - eine Dopingkontrolle gehört.
Das mag zwar lästig sein, gehört in Zukunft aber zum Training und zum Wettkampf. Frau Kollegin Freitag, Ihre Bemühungen um eine ordentliche Gesetzgebung im Rahmen des DIS - Deutsches Institut für Sportgerichtsbarkeit - hierzu kann ich nur begrüßen. Ich werde das natürlich forcieren.
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen: Sport ins Grundgesetz. Der Deutsche Olympische Sportbund hat im Oktober 2006 für die Aufnahme des Sports ins Grundgesetz plädiert und ein entsprechendes Papier vorgelegt. Wie Sie wissen, hat sich die CDU/CSU mit diesem Thema beschäftigt, sich aber nicht für eine Aufnahme des Sports als Staatsziel ins Grundgesetz ausgesprochen. Als ehemaliger Leistungssportler und Mitglied des Präsidiums des Deutschen Olympischen Sportbundes einerseits und Abgeordneter der CDU/CSU-Fraktion andererseits schlagen zwei Herzen, ach, in meiner Brust: Auf der einen Seite würde mit der Verankerung des Sports als Staatsziel im Grundgesetz die besondere Bedeutung des Sports für unsere Gesellschaft gewürdigt.
Auf der anderen Seite muss man allerdings anerkennen, dass es gute Argumente für eine andere Einstellung zu diesem Thema gibt. Es gibt nämlich sehr wohl Interessenten, die auch andere Staatsziele, wie Kinderrecht oder Nachhaltigkeit verankert wissen möchten.
Wir müssen uns die Frage stellen: Brächte das Staatsziel Sport dem Sport das, was er sich erhofft, brächte es den Sport weiter? Diese Frage sollte Auslöser dafür sein, neue Gespräche darüber zu führen. Was meine Person anbetrifft, so würde ich gerne den Sport im Grundgesetz sehen. Ich habe aber auch Verständnis für die Argumentation der anderen.
Ich möchte noch einige Anmerkungen zur Sinnhaftigkeit der Fusion von Deutschem Sportbund und NOK zum Deutschen Olympischen Sportbund machen. Ich gebe zu, dass auch ich damals kein großer Freund der Fusion war. Ich habe aber zugestimmt, nachdem das Argument vorgebracht wurde, dass der Sport dann mit einer Stimme sprechen könnte. Dadurch sind wir jetzt in einer anderen Situation. 1980, als es um einen Boykott der Olympischen Spiele in Moskau ging, hat sich der Sport gegenseitig zerfleischt: NOK gegen DSB, dazwischen die Deutsche Sporthilfe. Jetzt hat man erreicht, dass der deutsche Sport mit einer Stimme spricht. Aus diesem Grunde wundere ich mich, weshalb dem Deutschen Olympischen Sportbund so viel Kritik entgegenschlägt, er habe als Interessenvertreter seiner Athleten seine Meinung, an den Olympischen Spielen in Peking teilzunehmen, sehr früh bekannt gegeben.
Dies hat er in erster Linie getan, weil sich der Dalai-Lama selbst gegen einen Boykott ausgesprochen hat.
Winfried Hermann, vielleicht noch eines zu den Bändchen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das muss jetzt aber ganz knapp erfolgen.
Eberhard Gienger (CDU/CSU):
Ich komme zum Schluss, nur noch einen Satz. - Das IOC hat in Regel 51 Abs. 3 der Olympischen Charta ganz klar festgelegt, dass es nicht erlaubt ist, politische oder religiöse Demonstrationen durchzuführen, dass die Athletinnen und Athleten aber das Recht haben, sich bei Pressekonferenzen, in öffentlichen Gesprächen und in der Mixed Zone zu äußern. Ich denke, dies ist eine gute Lösung. Somit können auch die Athletinnen und Athleten ihr Scherflein zu den Menschenrechten in China beitragen.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Joachim Günther für die FDP-Fraktion.
Joachim Günther (Plauen) (FDP):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Sportbericht der Bundesregierung und Sie, Herr Minister, haben einen Überblick über die Vielfältigkeit dieses Bereichs in unserem Lande gegeben. Deshalb kann jeder von uns nur ein Segment herausgreifen, zu dem er hier seine Gedanken darstellt. Ich möchte auf die Themen Doping und Sportstätten eingehen.
Das Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung des Dopings im Sport hat einen langen Weg hinter sich.
Frau Kollegin Freitag, ich kann mich sehr gut daran erinnern, dass vieles, das auch von Ihnen angekündigt wurde, sich am Ende leider nicht im Gesetz wiedergefunden hat.
Deshalb ist es interessant, zu sehen, wie wir mit diesem Gesetz umgehen, vor allem, wie wir mit Personen umgehen, die bereit sind, über die Dopingpraxis öffentlich auszusagen.
Der Bayerische Rundfunk hat in seiner Sendung Report München am 2. Juni dieses Jahres Jörg Jaksche interviewt. Ich weiß nicht, wer von Ihnen die Sendung gesehen hat. Die Überschrift sagt eigentlich schon alles:
Alle lieben den Verrat, keiner liebt den Verräter.
Jaksche, ein Radprofi, hat reinen Tisch gemacht. Er hat das flächendeckende Doping angesprochen und die Namen der Hintermänner genannt. Er hat damit einen Tabubruch begangen: Er hat die Mauer des Schweigens durchbrochen. Aber was ist jetzt? Er steht ohne Vertrag da. Niemand will ihn in seinem Rennstall haben.
Lassen Sie mich ein Zitat von Jörg Jaksche vortragen, das meines Erachtens alles sagt:
Es ist eine Zweitwelt, in der man lebt im Radsport, die komplett abgeschottet ist vom normalen Leben. Also, das heißt, man erzählt, man lügt den Journalisten, der Familie und so weiter eigentlich offenen Auges ins Gesicht und sagt: ?Nein, das ist alles im Radsport nicht so.? Natürlich ist das im Radsport so.
Meine lieben Freunde, es ist schon bedrückend, wenn man so etwas hört. Der Bayerische Rundfunk hatte Rückfragen an sportliche Leiter anderer Mannschaften gestellt. Diese hatten überhaupt kein Interesse daran, auf dieses Thema einzugehen. Da muss man sich doch fragen: Wie weit sind wir bei der Austrocknung des Dopingsumpfes? Wir sollten deshalb mit Blick auf die Olympiade vorsichtig sein, wenn wir mit dem Dopingfinger auf gewisse aufsteigende Nationen - ich möchte das einmal vorsichtig umschreiben - zeigen.
Wir alle im Haus sind uns darin einig, dass wir die internationale Zusammenarbeit auf diesem Gebiet deutlich erweitern und verbessern müssen.
Herr Minister, Sie haben recht. Wir müssen die finanzielle Grundlage, die bei uns durch die NADA schon verbessert wurde, aus meiner Sicht auf ganz andere Füße stellen. Man muss den Mut haben, über neue Dinge nachzudenken. Ich gebe nur einen Anstoß: Vielleicht könnte man einen gewissen Teil aller Spenden und aller Sponsorings im Sport für den Dopingbereich verwenden; ich denke hier an 0,3 bis 0,5 Prozent.
Die NADA leistet gute Arbeit. Wir müssen sie so stärken, dass sie auch international gut ankommt.
Einige kurze Bemerkungen zum Thema ?Sportstätten in Deutschland?. Der DOSB hat vor zwei oder drei Jahren einen Sanierungsbedarf in Höhe von rund 40 Milliarden Euro angegeben; diese Zahl wurde heute schon genannt. Das ist eine gigantische Summe, die niemand auf einmal schultern kann. Das erwartet auch niemand. Wir sollten die Sanierungsfälle jedoch zum Anlass nehmen, die Chance zu nutzen, zukunftsorientierte Konzepte zu erarbeiten. Dabei ist die Berücksichtigung der demografischen Entwicklung in diesem Land unerlässlich. In den letzten Jahren haben wir mit dem Goldenen Plan zusätzlich 2 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Damit wurden vorrangig im Osten Sportstätten gefördert. Ich glaube, es ist auch im Westen dringend notwendig, dass auf diesem Gebiet etwas geschieht.
Wir sollten uns Gedanken darüber machen, wie wir in diesem Sinne einen gesamtdeutschen Plan auf den Weg bringen. Ich glaube, wir alle aus dem Sportbereich sind dazu bereit. Gehen wir diese Aufgabe konsequent an, vielleicht auch über Parteischranken hinweg. Dann haben wir die Chance, dass die Sportstätten und der Sport, das Hauptargument für eine gesunde Entwicklung in unserem Land, erhalten bleiben.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Volker Beck das Wort.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Kollege Gienger, dies ist eine zentrale Debatte im Rahmen der Debatten über die in Peking stattfindenden Olympischen Spiele. Es geht um die Frage, was Sportler dort tun dürfen, um deutlich zu machen, dass sie einerseits am sportlichen Wettkampf der Olympischen Spiele teilnehmen wollen, sich andererseits aber trotzdem zu den Menschenrechten bekennen und auch ein deutliches Signal an die chinesische Regierung senden wollen. Wir als Deutscher Bundestag sollten klarmachen, dass ein Bekenntnis zu den Menschenrechten kein Widerspruch zur Olympischen Charta sein kann.
Wenn Sportler das Bändchen mit der Aufschrift ?Sports for Human Rights? tragen oder wenn sie in den Sportstätten ein T-Shirt tragen, wie ich es in der Debatte zu Tibet gezeigt habe, auf dem ?Human Rights? auf Chinesisch und auf Englisch steht, dann kann das keine Verletzung der Olympischen Charta sein. Das darf keine Verletzung der Olympischen Charta sein.
Wir müssen die Zivilcourage der Sportlerinnen und Sportler, der Olympioniken, unterstützen. Wir müssen ihnen den Rücken stärken, statt zu sagen: So etwas muss außen vor bleiben. Niemand käme auf die Idee, sich daran zu stören, wenn Sportlerinnen und Sportler zu ihrer nationalen Mannschaftstracht noch ein Kreuz am Hals trügen. Nach der Olympischen Charta würde man ein Bekenntnis zur eigenen Religion nicht ahnden. Genauso wenig kann ein Bekenntnis zu den Menschenrechten geahndet werden. Das ist etwas anderes als der Ausspruch ?Freiheit für Tibet? oder ein Bekenntnis gegen Atomkraft.
Die Menschenrechte und die Völkerverständigung sind Grundlagen der olympischen Idee. Ich finde, wir als Deutscher Bundestag sollten deutlich machen, dass wir an der Seite derjenigen stehen, die das auch in Peking zum Ausdruck bringen werden.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Zur Erwiderung erhält der Kollege Gienger das Wort.
Eberhard Gienger (CDU/CSU):
Kollege Beck, die Aussagen, die Sie getroffen haben, sind nicht neu. Es gibt im Sport Regeln. Regel 51 Abs. 3 der Olympischen Charta besagt eindeutig, dass politische
und religiöse Demonstrationen nicht erlaubt sind. Das bedeutet, ein solches Bändchen ist ähnlich zu werten wie der Handschuh, den die Sprinter bei der Siegerehrung der Olympischen Spiele im Jahre 1968 in die Höhe gehalten haben. Es ist so zu werten, als ob ein Teilnehmer mit dem Foto seines Staatspräsidenten einmarschiert.
Sie haben als Beispiel das Tragen eines Kreuzes erwähnt. Im Fußball ist es nicht erlaubt, solche Schmuckstücke zu tragen. Es gibt Regeln, die in Leichtathletikstadien gelten, es gibt Regeln, die in Fußballstadien gelten, und es gibt Regeln, die im Deutschen Bundestag gelten. Den Zuschauern und Gästen ist es beispielsweise nicht erlaubt, auf der Tribüne zu demonstrieren. Diese Regel ist eine sehr gute Regel.
Allerdings muss man auch die Sportler schützen, die ihre politische Meinung nicht in Form einer Demonstration zum Ausdruck bringen wollen. Ich habe gerade gesagt: Auf Pressekonferenzen, in Interviews und in Gesprächen ist es erlaubt, seine persönliche Meinung zu artikulieren. In diesem Rahmen hat jeder Sportler, jeder Funktionär und jeder Teilnehmer einer Olympiamannschaft die Möglichkeit und das Recht, sich zu artikulieren und seine politische Meinung kundzutun. Ob das letztlich zu einer Veränderung der Menschenrechtslage in China beiträgt oder nicht, sei dahingestellt; aber es gibt diese Möglichkeit. Ich glaube, das ist eine gute Lösung.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Martin Gerster für die SPD-Fraktion.
Martin Gerster (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Minister Schäuble! Wenn man die 124 Seiten des 11. Sportberichts der Bundesregierung - ein gutes Pfund Papier - liest und feststellt, was sich hinter den Ergebnissen und Tabellen, die Tag für Tag in Sportzeitungen abgedruckt sind, verbirgt, dann stellt man sehr schnell fest, dass der Sport wesentlich mehr ist als körperliche Ertüchtigung. Der Sport leistet einen Beitrag dazu, dass verschiedene Generationen zusammenkommen und dass zwischen Menschen, die sich ohne den Sport vielleicht nie kennengelernt hätten, ein Zusammenhalt entsteht, unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer sozialen Zugehörigkeit und ihrer Hautfarbe. Sport ist sozialer Kitt in unserer Gesellschaft. Ich denke, das ist die eigentliche Botschaft, die vom Sport und auch vom 11. Sportbericht der Bundesregierung, den wir heute diskutieren, ausgeht.
Umso schlimmer ist es, dass einige Gruppen den Sport missbrauchen wollen, um Gewalt zu provozieren und Rechtsextremismus in unsere Gesellschaft zu tragen. Es ist wichtig, dass von uns, der Politik, das klare Signal ausgeht: Wir wollen nicht, dass der Sport für Ziele, die nichts mit Sport zu tun haben, missbraucht wird.
Deshalb ist es notwendig, dass die Bundespolitik die Fanprojekte im Sport, insbesondere im Fußball, unterstützt.
Ich finde es gut, dass die Bundesregierung und wir, das Parlament, die Koordinierungsstelle für Fanprojekte in Frankfurt mit Mitteln in Höhe von 165 000 Euro unterstützen. Allerdings ist dieser Betrag das untere Limit dessen, was wir hierfür bereitstellen könnten. Eigentlich müssten wir diese Mittel aufstocken.
Außerdem müssen wir endlich eine gemeinsame Initiative auf den Weg bringen, um dafür zu sorgen, dass auch das einzige Bundesland, das sich bisher nicht beteiligt, nämlich Baden-Württemberg,
einen Beitrag dazu leistet, dass beim VfB Stuttgart ein Fanprojekt zur Bekämpfung von Gewalt und Extremismus im Fußball unterstützt wird.
Ob eine Gesellschaft solidarisch ist oder nicht, lässt sich daran messen, wie sie mit Menschen, die ein Handicap haben, die also benachteiligt oder behindert sind, umgeht.
Wir müssen deutlich machen, dass der Bund den Deutschen Behindertensportverband und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Paralympics unterstützt.
65 Prozent der Ausgaben im Bereich des Behindertensports, des Leistungssports, des Breitensports und der Rehabilitation, werden vom Bund getragen. Wir müssen zum Ausdruck bringen, dass wir in diesem Bereich eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe erfüllen, die sonst womöglich niemand wahrnehmen würde. Das ist auch ein Kennzeichen dafür, dass wir in Deutschland eine solidarische Gesellschaft aufgebaut haben, dass uns diese Menschen wichtig sind. Ich glaube, die behinderten Sportlerinnen und Sportler sind wahre Vorbilder für unsere Gesellschaft.
An dieser Stelle möchte ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verteidigungsministeriums meinen Dank aussprechen, die unkompliziert gehandelt haben, als Verena Bentele, eines unserer Aushängeschilder, einen Begleitläufer suchte - sie ist von Geburt an blind - und zu klären war, wo dieser Begleitläufer arbeiten kann, wenn er gleichzeitig mit Verena Bentele trainieren soll. Es ist gelungen, den Begleitläufer in einer Fördergruppe der Bundeswehr unterzubringen. Herzlichen Dank noch einmal, auch im Namen von Verena Bentele, an das Verteidigungsministerium! Dass das geklappt hat, ist ein Zeichen dafür, dass wir den Behindertensport unterstützen.
Ich war dabei, als Minister Schäuble letzte Woche im Hilton zahlreichen Sportlerinnen und Sportlern das Silberne Lorbeerblatt verliehen hat. Es wurde deutlich, welche Vielfalt es im deutschen Sport gibt: Er besteht nicht nur aus Fußball, Handball, Basketball, nein, 4 Millionen Menschen, organisiert in 27 Spitzenverbänden, engagieren sich in den sogenannten nichtolympischen Sportarten. Auch von diesen Menschen wurden letzte Woche viele für ihre Leistung ausgezeichnet.
Wir müssen darüber nachdenken, ob es richtig ist, dass bei Treffen des DOSB die nichtolympischen Verbände - sie erhalten gerade einmal 2,5 bis 4 Prozent Förderung - als ?die Skontoverbände? abgetan werden; diese Förderung geht nicht zulasten der olympischen Verbände. Wir müssen darüber diskutieren, wie eine entsprechende Würdigung dieser Sportarten erfolgen kann, auch im Hinblick darauf, dass Deutschland, Düsseldorf 2013 Gastgeber der World Games sein wird. Herr Minister Schäuble, ich hoffe, dass es in Zusammenarbeit mit Ihrem Hause gelingt, die Finanzierungsgrundlagen hierfür zu schaffen. Es heißt, dass die olympischen Sportarten vorrangig zu bedienen sind. Daran gibt es keinen Zweifel. Das heißt aber nicht, dass die anderen nachrangig sind und nur noch das bekommen, was als Rest übrig bleibt.
Ich will den Bogen zum Ehrenamt schlagen. Es wird ja oft kritisiert, der Spitzensport werde gefördert, der Breitensport aber vernachlässigt. Eine Säule aller Aktivitäten im Sport ist das Ehrenamt. Vom Spitzensport gehen hier wichtige Signale aus. In meiner Heimatstadt Biberach fand letztes Jahr zum ersten Mal ein großes Leichtathletikmeeting statt, und in wenigen Wochen wird das zweite stattfinden. Der Sportkreis Biberach und die zahlreichen Sportvereine mit ihren Ehrenamtlichen machen jetzt einen Fackellauf durch die ganze Region, an dem sich Tausende von Freizeitsportlern beteiligen. Das ist das, was wir wollen: dass der Spitzensport Anreize gibt, Motivation gibt, sich sportlich zu betätigen, um weitere Aktivitäten und Aktionen entfalten zu können. Deswegen ist es gut, dass wir auf Initiative der Bundesregierung das Gesetz zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements auf den Weg gebracht haben. Wir würdigen durch die Erhöhung des Steuerfreibetrags die Leistung der vielen Ehrenamtlichen und wertschätzen die Vereine.
Lieber Detlef Parr, du hast vorhin auf die Thematik der Sportwetten hingewiesen. Ich war am Samstag bei einer Veranstaltung des Württembergischen Landessportbundes. Auf dieser Veranstaltung hat auch FDP-Minister Goll ausdrücklich gelobt, dass wir uns auf den Staatsvertrag geeinigt haben.
Bei all dem, was ich höre, kann ich nur die Frage stellen: Warum macht die FDP in den Ländern das Gegenteil von dem, was die FDP-Bundestagsfraktion fordert?
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Stephan Mayer, CDU/CSU.
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Ich möchte mich mit einem Ereignis beschäftigen, das angesichts der Jahreszeit und angesichts des Zeitpunktes, zu dem es stattfinden wird, noch nicht im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung steht, das aber insbesondere aufgrund des gedrängten Zeitplans voller Konzentration bedarf. Wir haben die herausragende Chance, im Jahr 2018 erstmals seit 1972 auf deutschem Boden wieder die Olympischen Spiele auszurichten, und zwar in München.
Die Bewerbung Münchens birgt enorme Chancen in sich. Es wäre ein Novum in der olympischen Geschichte, wenn in einer Stadt sowohl Olympische Sommerspiele als auch Olympische Winterspiele stattfänden. Die Bewerbung Münchens ist aber nicht nur eine Bewerbung Bayerns, sondern eine deutsche Bewerbung. Gerade deshalb bin ich dem Deutschen Olympischen Sportbund sehr dankbar dafür, dass er sich auf seiner Mitgliederversammlung am 8. Dezember letzten Jahres einstimmig - wohlgemerkt einstimmig - hinter die Bewerbung Münchens gestellt hat. Ich weiß, es war nicht einfach. Letztendlich aber haben sich alle bereit erklärt, die Bewerbung zu unterstützen.
Bayern ist Wintersportland. Es hat schon vielfach gezeigt, dass es ein hervorragender Austragungsort für sportliche Großwettkämpfe ist. Letztmals war dies im Jahr 2005 der Fall, als dort die Nordische Ski-WM in Oberstdorf stattgefunden hat. Im Jahr 2011 wird die Alpine Ski-WM in Garmisch-Partenkirchen stattfinden. Ich denke, dass wir auch gut daran täten, die Bewerbungen von Inzell für die Eisschnelllauf-WM 2011 und von Ruhpolding für die Biathlon-WM 2012 zu unterstützen.
Die Olympiabewerbung Münchens für das Jahr 2018 birgt hervorragende Vorteile in sich. Ein ganz entscheidendes Kriterium - meines Erachtens sogar das wesentliche Kriterium - ist: Die Bevölkerung in München und im übrigen Bayern steht hinter dieser Bewerbung. Über 80 Prozent der Bevölkerung unterstützen die Bewerbung Münchens für die Olympischen Winterspiele. Über 90 Prozent der gesamten Bevölkerung Bayerns wissen bereits von der Bewerbung Münchens.
Dies ist ein enormer Vorteil. Erinnern Sie sich nur einmal an die Bewerbung Salzburgs für die Winterolympiade 2014. Nach den Bekundungen des IOC war die Bewerbung Salzburgs zum Scheitern verurteilt, weil die österreichische Bevölkerung - insbesondere die Salzburger - leider Gottes nicht hinter der Bewerbung stand. Ich glaube, ganz Deutschland wäre gut beraten, hinter der Bewerbung Münchens bzw. Bayerns für die Winterolympiade 2018 zu stehen.
Ein weiteres wesentliches positives Kriterium ist, dass Bayern, das Alpenvorland, über professionelle und weltweit anerkannte Wettkampfstätten verfügt.
Wir werden ein ökologisches, ein nachhaltiges Nutzungskonzept aufstellen. Der größtmögliche Anteil der Wettkampfstätten wird nach den Olympischen Winterspielen weiter genutzt werden können. Sehr verehrter Kollege Hermann, mit einer Austragung der Olympischen Winterspiele würden wir ganz neue Maßstäbe hinsichtlich des Themas ?Sport und Klimaschutz? setzen. Gerade deshalb glaube ich, dass es sehr schön wäre, wenn die Bewerbung Münchens erfolgreich wäre.
Ein weiterer wesentlicher Vorteil ist, dass die Bewerbungskosten von ungefähr 30 Millionen Euro, die zunächst anfallen, größtenteils von der Privatwirtschaft getragen werden. Die öffentliche Hand - sowohl der Freistaat Bayern als auch der Bund - wird also zunächst nicht zur Kasse gebeten. Weiterhin verfügt das Alpenvorland über eine hervorragende Verkehrsinfrastruktur, die hier und da natürlich noch ausgebaut und verbessert werden muss. Die erforderliche Verkehrsinfrastruktur, sowohl im Bereich Straße als auch im Bereich Schiene, ist aber bereits vorhanden.
Die Bewerbung Münchens birgt auch enorme Chancen für Bayern - und natürlich auch für Deutschland - als Tourismusland, weil die Besucherinnen und Besucher, die Gäste der Olympischen Winterspiele nicht nur in München bleiben, sich nicht nur in Bayern bewegen, sondern natürlich ganz Deutschland erkunden und besichtigen werden.
Die nächsten Schritte stehen an. Zunächst einmal gilt es, dass München Candidate City wird, also in den engeren Bewerberkreis kommt. Dies wird im Juli 2010 der Fall sein. Der entscheidende Punkt ist, dann bei der Vergabe im Juli 2011 zum Zuge zu kommen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, im Jahr 2006 hatten wir mit der Fußballweltmeisterschaft ein Sommermärchen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege!
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU):
Wir haben nun die hervorragende Möglichkeit, ein Wintermärchen im Jahr 2018 anzuschließen.
In der olympischen Hymne heißt es:
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege, die können Sie jetzt aber nicht mehr komplett vortragen.
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU):
Ebenen, Berge und Meere leuchten von dir
Wie ein weißer und purpurfarbener großartiger Tempel...
Sehr geehrter Herr Präsident, Sie werden mir mit Sicherheit recht geben: Mit diesem Zitat kann nur Bayern gemeint sein. Lassen Sie uns die Bewerbung Münchens deshalb mit viel Leidenschaft, aber auch mit viel Kraft und Elan unterstützen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Mayer, ich gebe Ihnen ausdrücklich recht, dass sich dieses Zitat vorzüglich als Einstieg in die Rede geeignet hätte. Aber es ist immer hochgradig riskant, es für einen Zeitpunkt zurückzustellen, der schon jenseits der gewährten Redezeit liegt.
Nun erhält die Kollegin Petra Heß das Wort.
Petra Heß (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Mayer, wir haben jetzt fast Glück gehabt, dass Sie die olympische Hymne nicht noch gesungen haben.
Im Übrigen ist auch Thüringen ein hervorragendes Wintersportland.
Deutschland ist eine sportbegeisterte Nation. Die steigende Zahl der Übergewichtigen in unserem Land zeigt aber auch, dass diese Begeisterung oftmals passiv gelebt wird. Man schaut halt gern zu, wenn sich andere schinden. Dabei stellt der deutsche Schriftsteller Martin Kessel fest:
Der Sport ist eine Tätigkeitsform des Glücks.
Ich freue mich, dass ich dem 11. Sportbericht der Bundesregierung viel Positives entnehmen konnte, so bei Spitzensport und Bundeswehr. Beides ist untrennbar miteinander verbunden. Es ist mir daher ein besonders Anliegen, auf den Bereich Sportförderung innerhalb der Bundeswehr und der Bundespolizei einzugehen.
Der 11. Sportbericht stellt fest, dass Sport und Sportausbildung einen hohen Stellenwert bei Bundeswehr und Bundespolizei genießen. Das stimmt. Für die Einsatzfähigkeit der Streitkräfte und der Bundespolizei ist die körperliche Leistungsfähigkeit der Soldaten und Bundespolizisten unerlässlich. Eigens ausgebildete Sportausbilder bzw. Sportleiter stehen den Soldaten und Bundespolizisten hierbei zur Seite. Bundeswehr und Bundespolizei verfügen über gute materielle Voraussetzungen, wobei ich aber an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen möchte, dass gerade bei der Bundeswehr in den alten Bundesländern Nachholbedarf besteht. Im Rahmen des Sonderprogramms ?Sanierung Kasernen West? werden in den nächsten Jahren 645 Millionen Euro aufgewendet, die natürlich auch zu einer Verbesserung der Sportinfrastruktur beitragen werden.
Dies allein wird aber nicht genügen und ist sicher auch nicht der alleinige Grund dafür, dass es um die Fitness unserer Soldaten nicht ganz so gut bestellt ist. Ursächlich sind nach Meinung des Wehrbeauftragten zu wenig Zeit für den Sport im Dienst sowie zu wenige Sportlehrer und Übungsleiter. Hier muss die Bundeswehr als Dienstherr gegensteuern und dafür sorgen, dass die eigens geschaffene Zentrale Dienstvorschrift ?Sport in der Bundeswehr? an allen Standorten gelebt wird.
Hier sind insbesondere die Vorgesetzten gefordert.
So getrübt das Bild bei der allgemeinen Fitness unserer Soldaten ist, umso besser stellt sich die Bundeswehr bei der Spitzensportförderung dar. Als Partner des Deutschen Olympischen Sportbundes nimmt die Bundeswehr eine herausragende Stellung ein. Über 700 Sportsoldaten leisten in derzeit 18 Sportfördergruppen ihren Dienst, die grundsätzlich in der Nähe von Olympiastützpunkten bzw. deren Außenstellen und Bundesleistungszentren eingerichtet sind. Durch diese räumliche Nähe findet ein ständiger Austausch zwischen den verschiedenen Leistungsträgern statt.
Die Sportsoldaten tragen mit beachtlichen Ergebnissen bei Olympischen Spielen sowie Welt- und Europameisterschaften zu einem hohen Ansehen Deutschlands bei. Bei der Winterolympiade 2006 in Turin stellte die Bundeswehr 45 Prozent der Sportler, die wiederum 66 Prozent der Medaillen erkämpften. Ein ähnlich gutes Bild gab es bei der Sommerolympiade 2004 in Athen. In wenigen Wochen werden in Peking die Olympischen Sommerspiele 2008 beginnen. Die Bundeswehr wird auch diesmal wieder stark vertreten sein und circa ein Drittel der Athleten stellen.
Doch zurück zum aktuellen Sportbericht: Hier wird noch von einer Reduzierung der Plätze für Spitzensportler bei der Bundeswehr von 744 im Jahr 2006 auf 664 im Jahr 2010 ausgegangen. Diese Absenkung der Stellen wird nicht erfolgen, und das ist gut so.
Im Gegenteil: Die Plätze für Spitzensportler werden auf 784 angehoben. Hierfür gebührt dem Verteidigungsminister mein ausdrücklicher Dank. Lieber Kollege Kossendey, geben Sie es bitte weiter.
Durch die Förderung von Spitzensportlern der Bundeswehr ist es auch möglich, mit leistungsstarken Mannschaften an Sportwettkämpfen mit Streitkräften anderer Nationen teilzunehmen. Auch hier werden beachtliche Erfolge erzielt.
Aber nicht nur die Bundeswehr, sondern auch die Bundespolizei betreibt eine erfolgreiche Spitzensportförderung. So werden bei der Bundespolizeisportschule in Bad Endorf 81 Beamtinnen und Beamte in elf olympischen Wintersportarten und im Bundespolizeileistungssportprojekt Cottbus beim Olympiastützpunkt Cottbus/Frankfurt an der Oder 53 Beamtinnen und Beamte in drei Sommersportarten trainiert.
Auch diese Ergebnisse können sich sehen lassen. Es konnten zum Beispiel im Zeitraum 2002 bis 2005 bei Olympischen Spielen 17 und bei Weltmeisterschaften 41 Medaillen erkämpft werden. Da ist ebenfalls eine eindrucksvolle Bilanz.
Gestatten Sie mir noch einige Worte zur beruflichen Ausbildung unserer Sportlerinnen und Sportler. Hier gibt es derzeit noch sehr unterschiedliche Modelle. Während die Polizei im Regelfall auf Wunsch nach dem aktiven sportlichen Dienst die Übernahme in den Polizeidienst anbietet und parallel zur sportlichen auch die bundespolizeiliche Ausbildung gewährleistet, findet dies in dieser Form in der Bundeswehr nicht statt. Nun hinkt zwar der Vergleich, Herr Minister Schäuble, da bei der Bundeswehr der Anteil der Sportler ungleich höher ist;
trotzdem muss die Bundeswehr nach praktikableren oder flexibleren Verfahrensweisen suchen, die einen besseren, einen gleitenderen Einstieg in das künftige Berufsleben möglich machen.
Hierbei sollten die verschiedenen staatlichen Institutionen ähnliche Verfahrensweisen anbieten. Dazu wird es noch Gespräche geben müssen. Auch die Dienstzeitverlängerung für die Sportsoldaten der Bundeswehr um jeweils immer nur ein Jahr sollte noch einmal auf den Prüfstand.
Gestatten Sie mir, dass ich zum Abschluss noch eine Forderung an die Verbände loswerde. Sie wissen, die Bundesrepublik ist der größte Sponsor des Spitzensports. Allein die Bundeswehr gibt Jahr für Jahr circa 25 Millionen Euro für den Spitzensport aus.
Was die Verhandlungen zwischen Verbänden und Sponsoren angeht, bitte ich Sie, geeignete Möglichkeiten zu finden, um die Sportlerinnen und Sportler in die Lage zu versetzen, zum Ausdruck zu bringen, wer ihr Dienstherr ist, der ihnen diese sportlichen Voraussetzungen erst ermöglicht. Die geförderten Sportler sind nun einmal unsere Multiplikatoren, die Sympathieträger der Polizei, des Zolls und der Bundeswehr. So sollte es auch möglich sein, dass sie das mit einem gewissen Stolz in die Welt tragen.
Ein kleines Logo bei Wettkämpfen - Herr Kollege Gienger, das könnten Sie auch an den DOSB weiterleiten - tut nicht weh. Diese Leistungssportler demonstrieren nämlich, wie schön Sport und vor allen Dingen sauberer Sport sein kann.
Ich wünsche unseren Teilnehmern bei den Olympischen Spielen in Peking faire Wettkämpfe und vor allen Dingen tolle Ergebnisse für unser schönes Land.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Klaus Riegert ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
Klaus Riegert (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einer außerordentlichen Hauptversammlung im Jahre 1912 wurde im Protokoll verzeichnet: Georg Rau verkündet Freibier für alle. - Warum, weiß ich nicht, aber es wurde einstimmig beschlossen.
Auf den Antrag der Linken möchte ich nicht näher eingehen, sondern nur feststellen: Eine Verstaatlichung des Sports ist mit uns nicht zu machen. Die in Ihrem Antrag erhobenen Forderungen nach ?Schaffung von öffentlich finanzierter Beschäftigung im Bereich des gemeinnützigen Sports? und einer ?Einführung einer zweckgebundenen Abgabe auf Umsätze aus Sportwerbung für die Sportförderung? sowie die übrigen zehn Punkte lesen sich wie ein Verstaatlichungsprogramm für Sport. Das ist mit unserem Gesellschaftsverständnis und der Autonomie des Sports unvereinbar.
Lassen Sie mich einige Sätze zum Sportbericht sagen. Wir haben gemeinsam beschlossen, dass der nächste Bericht auch einen Ausblick auf die zukünftige Sportpolitik gewähren soll. Der Kollege Mayer hat uns den weitesten Ausblick bereits gegeben. Auch Stuttgart und Baden-Württemberg freuen sich auf München 2018.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Riegert, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Bunge?
Klaus Riegert (CDU/CSU):
Gerne.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Bitte schön.
Dr. Martina Bunge (DIE LINKE):
Kollege Riegert, Sie setzen das Sportfördergesetz mit der Verstaatlichung des Sportes gleich. Ist Ihnen bekannt, dass es in Mecklenburg-Vorpommern - also auf Landesebene - seit acht Jahren ein Sportfördergesetz gibt, das viele Regelungen enthält, die zur Verstetigung des Sports beitragen? Meinen Sie, dass dort jetzt der Kommunismus ausgebrochen ist?
Klaus Riegert (CDU/CSU):
Liebe Frau Kollegin, mir ist sehr wohl bekannt, dass es in einigen Bundesländern - nicht nur in den neuen, sondern auch in den alten - Sportfördergesetze gibt.
Aber Sie sollten die zwölf Punkt in Ihrem Antrag genau lesen. Ihr Antrag trieft regelrecht vor Verstaatlichung des Sports. Es geht nicht um Autonomie und Selbstbestimmung. Sie wollen offensichtlich starken staatlichen Einfluss haben. Das lehnen wir deutlich ab.
Herr Kollege Hermann, ich komme nun auf Sie zu sprechen. Wenn ich Reden und Taten vergleiche, stelle ich fest: Viele schöne Reden wurden gehalten. Aber es gibt offensichtlich nur wenig zu kritisieren. Ich erinnere Sie aber daran, dass Sie in sieben Jahren Regierungszeit nicht einen Gesetzentwurf in diesem Bereich vorgelegt haben. Sie haben zwar sieben Jahre ein Antidopinggesetz gefordert, aber nicht eine Zeile zu Papier gebracht. Da war völlige Fehlanzeige!
Ähnlich sieht es in der auswärtigen Kulturpolitik aus. Ihr Außenminister Joschka Fischer hat Jahr für Jahr die Ansätze nach unten gefahren. Wir haben das jetzt korrigiert und sie erhöht. Sie sollten Reden und Taten stärker vergleichen. Wir, Bund und Länder gemeinsam, haben immerhin 490 Millionen Euro in die Hand genommen. Ich nenne als Stichworte nur ?Hilfen für Helfer?, das Gemeinnützigkeitsrecht und das Stiftungsrecht. Wir haben sehr viel für den Breitensport getan.
Sport eint, im Gegensatz zur Sportpolitik. Sport integriert. Sport hält gesund. Sport bildet. Sport aktiviert. Menschen, die Sport treiben, tun das oft in Vereinen. So unterstützt der Sport etwas, was für unsere Gesellschaft in den vor uns liegenden Jahrzehnten von grundlegender, entscheidender Bedeutung sein wird: den Zusammenschluss und das Zusammenwirken von Menschen. Die Gesellschaft muss noch stärker als bisher auf den Individuen, den Bürgern, und den von ihnen gebildeten Vereinigungen, Verbänden und Stiftungen ruhen. Die Autonomie des Sports darf nicht angetastet werden.
- Danke schön, Herr Gienger.
Breitensport und Spitzensport sind kein Gegensatz, keine Konkurrenz. Sie stehen in einem komplementären Verhältnis zueinander. Beide brauchen einander. Ich nenne fünf Punkte, die zeigen, dass wir auch in Berlin Politik für den Breitensport machen.
Erster Bereich: Vereine und Ehrenamt. Der deutsche Sport mit seinen über 87 000 Vereinen und den sie tragenden Organisationen ist Spiegelbild unserer Gesellschaft. Die über 2,5 Millionen ehrenamtlich Tätigen übernehmen gesellschaftliche Aufgaben, die der Staat in dieser Komplexität und Qualität nicht leisten könnte und nach unserem Verständnis auch nicht leisten sollte. Ehrenamtliche Tätigkeit ist Teil des Lebens, gibt Lebenssinn und steigert die Lebensqualität. Der Sport und seine Vereine sind gesellschaftliche Selbstorganisationen, in denen sich bürgerschaftliches Engagement als Teil einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft entwickelt. Mit diesen gewachsenen Strukturen leisten Sportvereine einen bedeutenden Beitrag auf dem Weg in eine Bürgergesellschaft. Für dieses Engagement gebührt den ehrenamtlich Tätigen besonderer Dank, Anerkennung und Unterstützung.
Zweiter Bereich: Bewegungserziehung und Schulsport. Der vorschulischen Bewegungserziehung und dem Schulsport kommen eine hohe Bedeutung zu. Wir sagen Ja zu täglichen Bewegungszeiten in der vorschulischen Erziehung und in der Grundschule. Wir wollen Qualität und ein Mindestmaß an Bewegung. Lieber Detlef Parr, der Sportausschuss wird auch in Zukunft - obwohl er hierfür nicht zuständig ist - immer wieder den Finger in die Wunde legen.
Dritter Bereich: Gesundheit und Prävention. Ich begrüße das Engagement des Sports, seiner Organisationen und Vereine bei Gesundheitserziehung, Gesunderhaltung und Prävention. Sie leisten damit einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung der Gesundheit.
Vierter Bereich: Senioren. Die steigende Zahl älterer Menschen in Sportvereinen ist erfreulich. Immer mehr älter werdende Menschen beugen Alterungsprozessen, chronischen Erkrankungen und Behinderungen durch Sport und Bewegung vor. Vereine, Verbände und Einrichtungen der Seniorenarbeit und Altenpflege sind aufgefordert, entsprechende Angebote zu entwickeln.
Fünfter Bereich: Sportstättenbau/Sportinfrastruktur. Es bleibt eine vorrangige Aufgabe der Länder und Kommunen, den Sportstättenbau und die Sportinfrastruktur zu verbessern und in ganz Deutschland den Sanierungsstau abzubauen, aber bitte mit eigenem Geld, das wir durch eine gute Haushalts- und Finanzpolitik und durch die Schaffung guter Rahmenbedingungen den Ländern und Kommunen zur Verfügung stellen.
Meine Damen und Herren, es ist schon mehrfach angesprochen worden: Es steht uns ein großer Sportsommer bevor: die Fußballeuropameisterschaft in Österreich und der Schweiz und die Olympischen Spiele in Peking. Wir wünschen allen Teams und allen Athletinnen und Athleten viel Erfolg!
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Peter Danckert, SPD-Fraktion.
Dr. Peter Danckert (SPD):
Vielen Dank, Herr Präsident! Ich versuche, nach § 33 Satz 1 der Geschäftsordnung zu verfahren.
Wir diskutieren heute den 11. Sportbericht und einen Antrag der Fraktion Die Linke. Zunächst zu dem Antrag und der Sprecherin der Linken, Katrin Kunert. Gegen den Feststellungsteil im Antrag ist wenig zu sagen. Darüber findet sich hier sicherlich breiter Konsens. Was die Forderungen an die Bundesregierung angeht, so fehlt es schlicht an der verfassungsrechtlichen Grundlage. Man kann vieles fordern, aber solange wir die nicht haben, geht der Antrag leider ins Leere. Deshalb müssen wir ihn ablehnen.
Jetzt zu dem Sportbericht, der eigentlich im Zentrum steht. Ich möchte zunächst einmal den Geschäftsführern unserer Fraktionen danken, dass sie uns in der Kernzeit die Gelegenheit geben, das Thema Sport breit zu diskutieren, und das ist gelungen; sonst sind wir immer erst am späten Nachmittag an der Reihe.
Der zweite Dank gilt dem Sportminister und seinem Hause. Das will ich ausdrücklich sagen; denn Sie, Herr Minister, haben mit dem Sportbericht die Grundlage für unsere Diskussion heute gelegt, obwohl - ich komme darauf noch zurück - davon wenig Gebrauch gemacht worden ist. Nur vereinzelt ist er angesprochen worden, obwohl er eigentlich heute im Zentrum stehen sollte. Die Mitarbeiter Ihres Hauses haben wirklich sehr viel Interessantes und Lesenswertes zusammengetragen. Ich möchte diese Gelegenheit benutzen, mich bei einem Mann zu bedanken, der über viele Jahre für den Sport in Ihrem Hause zuständig war, Klaus Pöhle.
Klaus Pöhle hat sich um den Sport verdient gemacht und uns die Zusammenarbeit erleichtert. Er ist jetzt nach vielen Jahren, die er in diesem Amt war, ausgeschieden. Richten Sie ihm den Gruß bitte noch aus.
Es ist wirklich sehr erfreulich, wenn man auf der Arbeitsebene - da sind häufig die Ansprechpartner - mit Menschen zu tun hat, bei denen man spürt, dass sie nicht nur eine Funktion wahrnehmen, sondern dass es ihnen wichtig ist, etwas für den Sport zu tun. Soweit der Dank an die Berichtsverfasser.
Ich glaube, wir haben heute hin und wieder etwas zu diesem Thema gehört. Ich finde es interessant, wie man den 11. Sportbericht diskutieren kann. Am besten hat mir die Rede von Stephan Mayer zur Bewerbung Münchens 2018 gefallen.
Es war wirklich genial, wie du die Kurve gekriegt hast. In Bayern werden sie dich ewig dafür loben, dass du eine solche Parlamentsdebatte nur dafür genutzt hast, dich für die Bewerbung einzusetzen.
Ich empfehle, dass dieser Beitrag an alle IOC-Mitglieder versandt wird. Das wird sich sicherlich lohnen. Wir haben hier nicht zu entscheiden, aber wir unterstützen die Bewerbung. Die IOC-Mitglieder sind die eigentlichen Personen, die das wissen müssen.
- Ja, die Stimmung in Bayern ist so, dass 90 Prozent - du hast es uns gesagt - dafür sind. Ich bin davon überzeugt, nach der Rede sind es 99 Prozent. Das wird sich vermutlich auch auf das Ergebnis deiner Partei bei den Landtagswahlen positiv auswirken. Da bin ich ganz sicher.
Ich muss allerdings ein kritisches Wort zu dem sagen, was mein Freund Eberhard Gienger gesagt hat. Das kann ich mir nicht ersparen. Ich meine das Thema Menschenrechte. Ich hatte gehofft, dass wir es heute nicht berühren müssen. Das Thema Menschenrechte steht über allem, was wir tun - hier im Parlament, im Land und in der Welt. Ich finde es sehr merkwürdig, dass das IOC und einzelne Repräsentanten des IOC versuchen, dieses Thema so tief wie möglich zu hängen. Wir können doch nicht übersehen, was in Tibet geschehen ist. Wenn die Weltgemeinschaft davor die Augen verschließt, dann hat sie ihre Aufgabe nicht erfüllt.
Um es klar zu sagen: Ich erwarte vom Sport nicht, dass durch ihn diejenigen Probleme gelöst werden, die die Politik und die Wirtschaft nicht lösen können. An dieser Stelle zu schweigen, ist aber völlig verkehrt.
Nun komme ich zu etwas ganz besonders Kritischem. Der Fraktionskollege Winfried Hermann von den Grünen hat ein bestimmtes Band um den Arm. Um die Aufschrift darauf lesen zu können, muss man dicht herangehen, oder man kennt sie. Liebe Freunde, dieses Band ist keine Demonstration politischer Art, sondern ein Bekenntnis zu Menschenrechten.
Wenn der DOSB oder das IOC das Tragen eines solchen Bandes mit Sanktionen versehen sollte, dann sitzen wir an dieser Stelle nicht mehr in einem Boot. Dafür habe ich überhaupt kein Verständnis.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Riegert beantworten?
Dr. Peter Danckert (SPD):
Sehr gerne.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Bitte sehr.
Klaus Riegert (CDU/CSU):
Herr Kollege Danckert, stimmen Sie mir zu, dass für die IOC-Regeln das IOC und nicht der Deutsche Bundestag zuständig ist?
Stimmen Sie mir zum Zweiten zu, dass es schwierig ist, Regeln moralisch auszulegen? Denn man ist sehr schnell in dieser Gefahr, wenn man zu dieser Regel und dem Bändchen sagt: ?Da steht etwas völlig Harmloses drauf; das ist doch gut; das ist moralisch okay?, damit aber die Regeln aushöhlt weil ein anderer auf seinem Bändchen draufstehen haben könnte: ?Ich liebe Jesus? oder ?Ich liebe meinen Präsidenten Soundso? - -
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Anregung ist angekommen. Ich bedanke mich.
Klaus Riegert (CDU/CSU):
Die Kernfrage: Glauben Sie als Jurist nicht auch, dass es sehr schwierig ist, Regeln moralisch auszulegen?
Dr. Peter Danckert (SPD):
Zu dem ersten Teil dieser interessanten Zwischenfrage sage ich: Natürlich sind wir als Deutscher Bundestag und damit als Gesetzgeber nicht für die Regeln des IOC zuständig. Das ist doch gar keine Frage; das hat auch niemand behauptet.
Ich lasse mir an dieser Stelle als Parlamentarier allerdings nicht das Recht nehmen, mich dazu zu äußern, welche Bedeutung die Menschenrechte haben und auch für das IOC haben müssten.
Ich verstehe das an dieser Stelle nicht. Es geht doch gar nicht um die Frage einer moralischen Interpretation.
Das ist überhaupt nicht das Thema. Das hat mit juristischen Spitzfindigkeiten überhaupt nichts zu tun.
Von dem IOC gibt es ein Bekenntnis zu den Menschenrechten; das ist eigentlich lobenswert. Ich will, dass das an jeder Stelle deutlich wird. Jemand, der ein solches Bändchen um den Arm trägt und sich damit zu Menschenrechten bekennt,
macht etwas ganz Selbstverständliches, was eigentlich über allem schwebt. Wenn das kritisiert wird und wenn das zu Sanktionen wie Ausschlüssen führen würde, dann hätte ich dafür überhaupt kein Verständnis. Das IOC würde sich damit diskreditieren und seinen Anspruch, etwas Gutes zu tun, verwirken.
An dieser Stelle kann es also eigentlich gar keine Meinungsverschiedenheiten geben.
Ich verstehe nicht, dass das sowohl der Freund Detlef Parr als auch der Freund Eberhard Gienger als auch viele andere infrage stellen.
Die Diskussion darüber ist sehr interessant. Es muss deutlich sein, dass das Bekenntnis - nicht die Demonstration - zu Menschenrechten jederzeit und jedem erlaubt sein muss, auch den Sportlern.
Ich erwarte von keinem Sportler, dass er sich ausdrücklich dazu bekennt. Diejenigen, die es nicht tun wollen, sind mir genauso lieb. Ich stelle mich nur vor diejenigen, die bereit sind, ihre Meinung an dieser Stelle zu äußern. Das muss erlaubt sein. Das darf nicht verboten sein.
Jetzt noch zu der Frage, ob der Sport als Staatsziel ins Grundgesetz aufgenommen werden soll. Das ist schon mehrfach angesprochen worden, und das hängt auch ein bisschen mit dem Sportförderungsgesetz zusammen. Ich finde, das ist eine ganz wichtige Aufgabe. Wir alle anerkennen die große Bedeutung des Sports in unserer Gesellschaft im Hinblick auf Gesundheit, Integration und Ernährung; niemand zieht diese Funktion des Sports in Zweifel. Dann aber wird gesagt: Den Sport als Staatsziel ins Grundgesetz aufzunehmen, das stimmt mit unserer prinzipiellen Auffassung zur Reinheit des Grundgesetzes nicht überein. Was sollen wir denn noch alles ins Grundgesetz aufnehmen? - Diese Worte kenne ich.
Wir haben uns für den Tierschutz ausgesprochen;
daran habe ich sogar mitgewirkt. Wenn man das im Verhältnis zur Bedeutung des Sports in unserer Gesellschaft sieht, dann ist es überfällig, dieser Forderung nachzukommen; dann muss das geschehen. Ich bitte Sie, liebe Freunde von der Union - sonst besteht ja ein parteiübergreifender Konsens -: Bedenken Sie doch noch einmal, ob das nicht doch notwendig, machbar und überfällig ist!
Die Väter unseres Grundgesetzes hatten 1948/49 ganz andere Probleme, und deshalb haben sie nicht daran gedacht. Wenn sie damals geahnt oder gewusst hätten, welche Bedeutung dem Sport in unserer Gesellschaft eines Tages zukommen würde, dann hätten sie ihn mit Sicherheit als Grundrecht oder als Staatsziel in die Verfassung aufgenommen.
Wenn man sich das genau ansieht, dann stellt man fest: Die Verfassung gibt nur über den Art. 2 und möglicherweise über den Art. 9 des Grundgesetzes eine Grundlage für die Sportförderung - darin besteht ein Teil unserer Probleme -; die gesamtstaatliche Bedeutung des Sports rechtfertigt unsere Sportförderung. Ich finde, das ist keine ausreichende verfassungsrechtliche Grundlage. Wir sollten uns dazu durchringen, dieses Generalthema, das heute das Haus beschäftigt hat, mit weitgehender Einigkeit über die Parteigrenzen hinweg, aufzunehmen und das Ganze auf eine neue verfassungsrechtliche Grundlage zu stellen, um so dem Sport insgesamt Hilfe zu geben.
Es ist unverkennbar, dass wegen der unterschiedlichen Zuständigkeiten der Kommunen, der Länder und des Bundes ein ziemliches Durcheinander besteht. Das sollten wir ordnen. Ich wünsche mir, dass es eines Tages nicht nur einen Innenminister gibt, der für den Sport zuständig ist, sondern einen Sportminister. Damit würde endgültig deutlich, welche Bedeutung der Sport in unserer Gesellschaft hat.
Vielen Dank Ihnen, Herr Schäuble, und Ihnen, meine Kolleginnen und Kollegen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nun hat die Kollegin Kunert um das Wort zu einer Kurzintervention gebeten. Bitte schön.
Katrin Kunert (DIE LINKE): Ich denke, Sie sollten es sich trotzdem anhören, Herr Kollege.
Herr Kollege Danckert, Sie haben gesagt, aufgrund der föderalen Strukturen in der Bundesrepublik sei es gar nicht möglich, dem Antrag der Linken zuzustimmen und ein Sportförderungsgesetz zu verabschieden. Dazu muss ich festhalten: Der Bund hat in der Vergangenheit immer mehr Kompetenzen an die Länder abgegeben. Deshalb darf er sich heute nicht darüber beschweren, dass wir über Themen wie den Schulsport zwar debattieren, aber nicht mehr entscheiden können.
Ich will ein paar Beispiele dafür nennen, dass man trotz der föderalen Strukturen bestimmte Regelungen beschlossen und dann auch einfach praktiziert hat. Ich denke an das Programm zum Ausbau der Kindertagesstätten gerade im Westen, um einen Versorgungsstand zu schaffen, wie wir ihn im Osten seit Jahren haben. Man hat festgestellt, dass die Arbeitsstrukturen im Bereich SGB II/SGB XII, die der Bundestag beschlossen hat, eigentlich gegen das Grundgesetz verstoßen.
Vonseiten der SPD wurde gegen unseren Antrag vorgebracht, die öffentlich geförderte Beschäftigung gebe es bereits, nämlich die 1-Euro-Jobs und die ABM. Wir sagen aber: Es soll eine öffentlich geförderte Beschäftigung sein, bei der Mindestlöhne gezahlt werden, sodass die Menschen von dieser Arbeit leben können.
Dann habe ich noch eine Bitte, lieber Kollege Danckert: Wenn Sie mit unseren Ansätzen ein inhaltliches Problem haben, dann sagen Sie es, aber verstecken Sie sich nicht hinter den föderalen Strukturen.
Dr. Peter Danckert (SPD):
Ich habe ja in der Rede deutlich gemacht, dass aus meiner persönlichen Sicht der Feststellungsteil in Ihrem Antrag weitgehend okay ist. Ich habe allerdings auch deutlich gemacht, dass man, bevor man ein Sportförderungsgesetz wie Sie in Ihrem Antrag fordern kann, zunächst einmal die verfassungsrechtlichen Grundlagen schaffen muss. All das, was Sie fordern, ist in einem Sportförderungsgesetz nicht unterzubringen. Dafür haben wir leider keine verfassungsrechtliche Kompetenz. Das ergibt sich aus Art. 30 unseres Grundgesetzes.
Insofern müssen wir erst dafür sorgen - für diesen Schritt setze ich mich ja gemeinsam mit vielen anderen ein -, dass Sport als Staatsziel ins Grundgesetz aufgenommen wird. Dann müssen wir die Kompetenz des Bundes für bestimmte Sportmaßnahmen festschreiben. Dann ist auch ein Sportförderungsgesetz möglich. Das ist die richtige Reihenfolge.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Sportausschusses zur Unterrichtung durch die Bundesregierung über ihren 11. Sportbericht. Es handelt sich um die Drucksachen 16/3750 und 16/7584. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer möchte sich der Stimme enthalten? - Dann ist, einem möglichen gegenteiligen Eindruck der Debatte zum Trotz, diese Beschlussempfehlung vom Deutschen Bundestag einstimmig angenommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 3 b: Hier geht es um die Beschlussempfehlung des Sportausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel: ?Schutz und Förderung des Sports ernst nehmen - Sportförderungsgesetz des Bundes schaffen?. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9455, diesen Antrag der Fraktion Die Linke abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit Mehrheit angenommen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Miriam Gruß, Sibylle Laurischk, Ina Lenke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Existenz von Kindern sichern - Familien stärken
- Drucksache 16/9433 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ekin Deligöz, Markus Kurth, Brigitte Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kein Kind zurücklassen - Programm gegen Kinderarmut auf den Weg bringen
- Drucksache 16/9028 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
c) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jörn Wunderlich, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes
- Drucksache 16/7889 -
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (13. Ausschuss)
- Drucksache 16/9440 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Eva Möllring
Helga Lopez
Ina Lenke
Jörn Wunderlich
Ekin Deligöz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch für diese Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst die Kollegin Miriam Gruß für die FDP-Fraktion.
Miriam Gruß (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es gibt eine gute Nachricht und eine schlechte Nachricht. Die gute Nachricht vorneweg: Wir unterhalten uns heute, an diesem Donnerstag, hier im Deutschen Bundestag zur Kernzeit über das Thema Kinderarmut. Das ist die gute Nachricht. Es gibt aber auch eine schlechte Nachricht: Die Tatsache, dass wir uns in Deutschland überhaupt über das Thema Kinderarmut unterhalten müssen, ist die schlechte Nachricht. Reiches Deutschland - arme Kinder!
Kommen wir zu den Fakten. Der Kinderschutzbund hat uns die Zahlen genannt: 2,4 Millionen Kinder in Deutschland leben in Armut. Danach lebt inzwischen jedes sechste Kind in Deutschland in Armut. Es gibt aber auch noch andere Zahlen. Damit komme ich zum ersten wunderlichen Aspekt dieser Debatte. Es gibt nämlich anderslautende Zahlen des Bundesarbeitsministers Scholz, und es gibt anderslautende Zahlen der Bundesfamilienministerin von der Leyen. Wer weiß schon, welche Zahlen die richtigen sind? Die Frage ist auch, ob mit den Aussagen gewisser Studien nicht politische Schlussfolgerungen herbeigerufen werden sollen. Wie auch immer, in diese Debatte will ich jetzt nicht einsteigen. Ich gehöre zur Opposition und kann die Zahlen nicht nachprüfen. Ich weiß allerdings: Jedes arme Kind in Deutschland ist ein Kind zu viel.
Neben der materiellen Armut gehen mit Armut nämlich auch schlechtere Gesundheit, größerer emotionaler Stress, der sich sogar auf die Bildungschancen von Kindern auswirkt, und schlechtere Teilhabechancen von Kindern in Deutschland einher. Schauen wir uns die Antworten der Bundesregierung an. Damit kommen wir, meine Damen und Herren, zu einem zweiten wunderlichen Aspekt: Meines Erachtens findet hier nämlich ein ganz wunderliches ?Rechte Tasche, linke Tasche-Spiel statt. Auf der einen Seite wird uns im Ausschuss gesagt, der Kinderzuschlag wurde erhöht. Das hat man aber nicht gescheit gemacht; denn ansonsten wäre auch der bürokratische Aufwand vermindert worden. Nun profitieren die, die tatsächlich den Kinderzuschlag erhalten, nur so marginal und minimal, dass es der Rede gar nicht wert ist.
Außerdem wird auf die uns vorgelegten Konzepte zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie verwiesen. Wir wissen allerdings heute noch nicht, ob nicht durch Einführung des Betreuungsgeldes all die guten Dinge, die hierdurch auf den Weg gebracht werden, entsprechend konterkariert werden. Damit würde den Kindern wiederum die Möglichkeit geraubt, von Anfang an Bildungschancen wahrzunehmen.
Auf der anderen Seite - das zu ?Rechte Tasche, linke Tasche? - zieht die Bundesregierung den Eltern durch die größte Steuererhöhung der Bundesrepublik Deutschland das Geld aus der Tasche.
Von den 19 Steuererhöhungen sind vor allem die Eltern betroffen, die das Geld am dringendsten brauchen. Familien sind diejenigen, die am schnellsten in die Bedürftigkeit abrutschen. Die Antwort der Bundesregierung sind immer weitere Steuererhöhungen, von denen die Familien am meisten betroffen sind. Ich nenne beispielsweise die Erhöhung der Mehrwertsteuer, die Reduzierung bei der Pendlerpauschale und Abschaffung der Eigenheimzulage.
Unsere Antworten sehen anders aus. Wir wollen keine Verteilungspolitik, sondern Hilfe für die wirklich Bedürftigen, die zielgenau und bedarfsgerecht sein muss. Wir schauen nicht nur auf die Erwachsenen, sondern auch auf die Kinder. Wir müssen nämlich beide Gruppen im Blick haben.
Was tun wir für die Kinder? Wenn wir im Bundestag über Kinder reden, dann müssen wir beachten, dass natürlich auch die Länder beteiligt sind. An dieser Stelle würde ich mich freuen, wenn die Länder sich mehr an den Investitionen in die frühkindliche Bildung beteiligen würden.
Chance auf Teilhabe heißt Chancengleichheit von Beginn an. Es ist ein Faktum, welches nicht wegzureden ist, dass das am Besten über die frühkindliche Bildung geht.
Wir kümmern uns um die Teilhabe, um die Beteiligung von Kindern in Deutschland. An dieser Stelle möchte ich den Jugendverbänden ein großes Lob und Dankeschön aussprechen, die tagtäglich viel ehrenamtliche Arbeit leisten und sich dafür einsetzen, dass alle Kinder in Deutschland Beteiligung erfahren dürfen.
Mit Blick auf die Erwachsenen sind meines Erachtens drei Dinge ganz wichtig. Der wichtigste Punkt ist ein Arbeitsplatz. Denn ein Arbeitsplatz schützt vor Armut. Deswegen müssen wir alle Anstrengungen unternehmen, die Arbeitslosigkeit weiter zu reduzieren.
Des Weiteren ist es wichtig, die Aufnahme einer Arbeit durch eine verbesserte Vereinbarkeit von Beruf und Familie überhaupt zu ermöglichen.
Es ist zwar richtig, in Richtung des Ausbaus der Betreuungsplätze für unter Dreijährige zu gehen, aber die Anstrengungen dürfen an dieser Stelle nicht aufhören. Auch hier müssen die Länder mit ins Boot geholt werden. Kinderbetreuung wird nicht überflüssig, wenn die Kinder älter als drei Jahre sind. Wir müssen für alle Altersgruppen Betreuung gewährleisten, und zwar eine qualitativ hochwertige Betreuung. Bis jetzt habe ich in diesem Hause viel über den quantitativen Ausbau gehört, aber leider noch viel zu wenig über den qualitativen Ausbau der Betreuung von Kindern aller Altersstufen.
Natürlich müssen wir - das ist der dritte Punkt - die Steuern und Abgaben für die Familien senken. Die FDP-Bundestagsfraktion hat das familienfreundlichste Steuerkonzept von allen Fraktionen im Deutschen Bundestag:
Steuersätze von 10, 25 und 35 Prozent, ein höheres Kindergeld von 200 Euro, eine verbesserte steuerliche Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten in Höhe von 12 000 Euro und ein Bürgergeld, das den wirklich Bedürftigen zugute kommt. Wir haben die Antworten auf die Kinderarmut in Deutschland.
Fakt ist: Der Nutzen von Kindern wird in Deutschland gerne generalisiert; die Kosten werden nach wie vor individualisiert. Das darf nicht sein. Ich bin gespannt auf Ihre Antworten.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Johannes Singhammer von der CDU/CSU-Fraktion.
Johannes Singhammer (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Gruß, es gibt eine gute Nachricht: 1 600 000 neue Arbeitsplätze für Mütter und Väter seit 2005 sind effektiver für die Bekämpfung der Kinderarmut als jeder Antrag, egal ob er einen Umfang von 12, 13 oder 16 Seiten hat.
Es ist richtig: Wer Kinderarmut bekämpfen will, muss den Eltern mehr Netto in die Hand geben. Wer die Existenz von Kindern nachhaltig sichern will, muss die Eltern stark machen. Kinder wollen und brauchen liebevolle und starke Eltern. Eltern sind vor allem dann stark, wenn die ökonomische Existenz ihrer Familie gesichert ist.
Wir haben in der Großen Koalition das Elterngeld aus der Taufe gehoben, damit junge Eltern nach der Geburt eines Kindes nicht deutlich ärmer sind als vor der Geburt. Wir haben die Verdreifachung der Kindertagesbetreuung angepackt; denn viele Familien können nur als Doppelverdiener überleben.
Deshalb werden wir den Kinderzuschlag zum 1. Oktober dieses Jahres erhöhen, um weitere 150 000 Kinder aus dem statistischen Armutsbereich zu befreien.
Deshalb haben wir den Rechtsanspruch auf eine Kindertagesbetreuung und das Betreuungsgeld beschlossen.
Wir haben in der Familienförderung einen Turbo angeworfen. Wir wissen genau: Ein täglicher finanzieller Kleinkrieg in den Familien ist mit das Schlimmste und Belastendste, was Familien treffen kann. Deshalb warne ich vor jedem Stillstand - mit uns wird es den auch nicht geben - in der Familienförderung.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Singhammer, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Deligöz?
Johannes Singhammer (CDU/CSU):
Gerne.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte schön.
Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Singhammer, eigentlich hatte ich einen Zuruf gemacht; aber der war wahrscheinlich zu leise. Deshalb stelle ich jetzt eine Zwischenfrage. Ich bin schon etwas überrascht darüber, dass ausgerechnet Sie von Doppelverdienern reden. Denn soweit ich weiß, ist das Betreuungsgeld aus Ihrer Feder, weil Sie nicht wollen, dass Mütter und Väter gleichzeitig arbeiten. Ihr präferiertes Modell ist doch, dass Mütter zu Hause bleiben.
Johannes Singhammer (CDU/CSU):
Liebe Frau Kollegin Deligöz, Ihre Frage zeigt, dass Sie sich im Irrtum über das befinden, was wir wollen und welche Pläne wir haben.
Ich darf es Ihnen nochmals erklären:
Wir sind für Wahlfreiheit. Wahlfreiheit bedeutet, dass diejenigen Eltern, diejenigen Mütter und Väter, die verdienen müssen, die arbeiten und entsprechend ihrer Ausbildung tätig sein wollen, dies können und dass diejenigen Eltern, die sich anders entscheiden, weil ein Elternteil für eine bestimmte Zeit oder dauerhaft zu Hause bleiben will, im Rahmen des Betreuungsgeldes genauso eine Förderung erhalten. Das ist Wahlfreiheit.
In den nächsten Wochen wird der Existenzminimumsbericht des Bundesfinanzministers erscheinen. Weil in den vergangenen sieben Jahren eine Vielzahl von Dingen - von den Lebensmitteln bis hin zur Energie - teurer geworden ist, würde es jeden wundern, wenn dabei keine Steigerung herauskäme. Eine Erhöhung des Existenzminimums bedingt aber - das stelle ich hier fest - eine Erhöhung des Kindergelds. Alles andere wäre höchst ungerecht. Deshalb sage ich an dieser Stelle: Wir wollen eine Erhöhung des Kindergelds im kommenden Jahr.
Das ist auch eine Förderung der Mittelschicht, derjenigen, die arbeiten, die etwas leisten und für die es immer enger wird.
Es wäre ungerecht, es nicht zu tun. Warum? Weil diejenigen, die über das Existenzminimum eine Steuerrückzahlung bekommen, im Regelfall einen Gegenwert von 203 Euro im Monat erhalten. Diejenigen, die Hartz IV erhalten, bekommen über das Sozialgeld im Regelfall einen Gegenwert, der ebenfalls über 200 Euro liegt. Diejenigen, die Kindergeld bekommen, erhalten bis zum dritten Kind jetzt 154 Euro und ab dem vierten 179 Euro. Um hier Symmetrie zu schaffen, ist eine Kindergelderhöhung notwendig.
Welche Familien brauchen besonders nötig eine solche Kindergelderhöhung? Es sind die Alleinerziehenden, und es sind die Familien mit mehr Kindern. Es gibt nämlich noch Mehrkinderfamilien.
Angesichts der Diskussion über Energiepreis- und Spritpreiserhöhungen erinnere ich mich an ein Gespräch, das ich vor kurzem mit einer Mutter geführt habe, die neun Kinder hat.
- Auch mit dem Vater, Frau Künast, keine Angst. - Als die Frage aufkam: ?Können Sie denn die Spritpreise noch zahlen??, hat die Mutter - in diesem Fall nicht der Vater, sondern die Mutter, Frau Künast - geantwortet: Für uns sind weniger die Spritpreise von Bedeutung - wir haben gar kein Auto -, aber umso mehr die Milchpreise. Denn ich brauche nicht 95 Liter Sprit im Monat, sondern 95 Liter Milch für die Großfamilie. - Deshalb beschweren mich, so hat sie erklärt, besonders die Milchpreise.
In der Familienpolitik brauchen wir nicht nur einen finanziellen Ausgleich, sondern auch die Anerkennung einer solchen Leistung. Deshalb - das sage ich auch an dieser Stelle - habe ich kein Verständnis dafür, wenn Familien mit Misstrauen begegnet wird, so als seien sie nicht in der Lage, eine Transferleistung des Staates richtig und dem Wohl ihrer Kinder entsprechend einzusetzen. Nein, die Familien wissen am besten, was ihre Kinder brauchen.
Die meisten Mütter und Väter legen sich krumm, um etwas für ihre Kinder zu tun. Diese Familien wollen wir unterstützen.
Natürlich wollen wir auch - das ist ganz wichtig -, dass Misshandlung und Verwahrlosung von Kindern mit allen Möglichkeiten nicht nur geahndet, sondern vor allem von vornherein vermieden werden.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Singhammer, erlauben Sie auch eine Zwischenfrage der Kollegin Gruß?
Johannes Singhammer (CDU/CSU):
Ja, gerne.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte schön, Frau Gruß.
Miriam Gruß (FDP):
Es tut mir leid, dass ich Sie an dieser Stelle der Rede unterbrechen muss, ich hatte mich schon vorher gemeldet. Ich möchte Sie etwas fragen. Gerade haben Sie davon gesprochen, wie wichtig es Ihnen ist, dass Familienarbeit anerkannt wird. Glauben Sie ernsthaft, Herr Singhammer, dass Sie mit 150 Euro Betreuungsgeld im Monat die Familienarbeit anerkennen, also den Job einer Mutter oder eines Vaters, die oder der sieben Tage die Woche arbeitet und für die Kinder 365 Tage im Jahr da ist? Noch einmal: Glauben Sie, dass Sie mit 150 Euro im Monat diese Familienarbeit anerkennen?
Johannes Singhammer (CDU/CSU):
Frau Kollegin Gruß, zunächst sage ich ganz klar: Sie haben recht. Die Leistung, die Mütter und Väter für ihre Kinder erbringen, kann gar nicht genug anerkannt werden. Sie liegt außerhalb einer ökonomisch bewertbaren Anerkennung. Aber die allermeisten Eltern empfinden es sehr wohl als ein Zeichen der Anerkennung und des Respekts ihrer Leistung, wenn sie zumindest 150 Euro Betreuungsgeld im Monat bekommen;
denn sie brauchen dieses Geld. Deshalb sind wir parallel zum Rechtsanspruch auf Kindertagesbetreuung klipp und klar für die Einführung eines Betreuungsgelds. Ich weiß aus vielen Gesprächen, dass die allermeisten Familien darauf warten.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Gruß?
Johannes Singhammer (CDU/CSU):
Ich möchte jetzt gern den Gedanken, den ich begonnen habe, fortführen, Frau Kollegin Gruß. - Weil wir dem Bereich Elternbildung neben allen finanziellen und ökonomischen Absicherungen der Familien einen so hohen Stellenwert zumessen, ist es wichtig, dass wir uns um die wenigen Familien kümmern, die offensichtlich selber nicht mehr in der Lage sind, Werte und Bildung weiterzugeben,
weil sie ihnen vielleicht von ihren Eltern nicht mehr in ausreichendem Umfang vermittelt wurden. Deshalb wird es unser Hauptanliegen sein, diesen Teufelskreis bei den wenigen Eltern ohne Orientierung - ich warne davor, das Regel-Ausnahme-Verhältnis auf den Kopf zu stellen - zu durchbrechen.
Lassen Sie mich zu einer Fraktion hier im Deutschen Bundestag kommen, die in Bezug auf Versprechungen nicht zu überbieten ist, die so genannte Linkspartei. Das Kindergeld soll auf einen Schlag um die Gesamtsumme von 19 Milliarden Euro im Jahr erhöht werden. Der von der Linkspartei geforderte Zuschuss für die Förderung von Studenten würde 17 Milliarden Euro im Jahr kosten. Die familienpolitische Sprecherin der Linken, mit der Sie sich offensichtlich nicht ganz einig sind, Christa Müller, fordert ein Betreuungsgeld von immerhin 116 Milliarden Euro im Jahr. Man gönnt sich ja sonst nichts.
Wenn ich allein diese drei Leistungen zusammenzähle, komme ich auf 152 Milliarden Euro im Jahr. Über die Finanzierung schweigt man sich aus. Selbstverständlich sollen die Reichen diese Summe aufbringen. Ich sage Ihnen, was bei Ihren utopischen Forderungen herauskommen wird: Die Reichen, die in Monaco ihren Steuersitz haben, werden Sie nicht erwischen. Aber einer derjenigen, der unter der dann entstehenden Steuererhöhungsorgie leiden wird, wird der Facharbeiter mit zwei Kindern sein, der sich ein kleines Häuschen geleistet hat. Ihm werden Sie das Geld aus der Tasche ziehen müssen, sonst werden Sie diese Riesensumme nicht hereinbekommen. Damit wird aber nicht die Kinderarmut bekämpft; vielmehr wird die Kinderarmut bei diesen Familien noch größer.
Ich wäre Ihnen sehr dankbar für eine Antwort auf die folgende Frage: Was ist der Grund dafür, dass die Kinderarmut in der Stadt, in der Sie mitregieren, wo sicherlich schwierige Verhältnisse herrschen, in Berlin, in den letzten Jahren um 32 Prozent gestiegen ist?
Wie hängt das zusammen? Was ist der Grund dafür? Sie sind in Berlin an der Regierung beteiligt. Sagen Sie doch einmal etwas dazu.
Ich sage an dieser Stelle: Wir brauchen keine Familienpolitik der ungedeckten Schecks, sondern
eine Familienpolitik des klaren Kurses.
Wir müssen die Politik, die unsere Familienministerin, Frau von der Leyen, begonnen hat, fortsetzen. Wir werden sie unterstützen, damit sie weitere Schritte unternehmen kann.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Elke Reinke von der Fraktion Die Linke.
Elke Reinke (DIE LINKE):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste! Immer mehr Kinder haben immer weniger. Mit der Agenda 2010 und Hartz IV wurden Armut und Ausgrenzung per Gesetz beschlossen. Die Zahl der armen Kinder hat sich seit Einführung von Hartz IV auf über 2,5 Millionen verdoppelt. Dass die Kinderarmut in den letzten Jahren dramatisch gestiegen ist, belegen zahlreiche Studien und Berichte: der Kinderreport 2007, der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, der UNICEF-Bericht ?Lage von Kindern in Deutschland?, die Prognos-Studie ?Armutsrisiken von Kindern und Jugendlichen in Deutschland? und viele weitere wissenschaftliche Erhebungen. Besonders stark von Armut betroffen sind Kinder von Alleinerziehenden, Kinder in Hartz-IV-Familien und Kinder mit Migrationshintergrund.
Trotz der vorliegenden, alarmierenden Zahlen dreht die Bundesregierung Däumchen und wartet auf den nächsten Bericht. Der Existenzminimumbericht soll im Herbst 2008 erscheinen. Erst danach soll darüber beraten werden, ob die Kinderregelsätze erhöht werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Betroffenheit, die viele von Ihnen hier an den Tag legen, die ich den meisten sogar abnehme, reicht nicht.
Ebenso wenig hilfreich sind Ihre in Hochglanzbroschüren bejubelten Maßnahmen. Das Warten muss endlich aufhören. Es müssen sofort Taten folgen.
Sorgen Sie dafür, dass der Kinderzuschlag mehr Betroffenen hilft. Erhöhen Sie ihn für unter 14-Jährige auf 200 Euro und für über 14-Jährige auf 270 Euro.
Die Höhe des Kinderzuschlags muss vom Alter der Kinder abhängen. Über 14-Jährige dürfen nicht in Armut rutschen, nur weil sie eigene, altersbedingte Bedarfe haben.
In der Anhörung zum Kinderzuschlag am vergangenen Montag waren sich fast alle Expertinnen und Experten einig: Kinder von Alleinerziehenden werden weiterhin deutlich benachteiligt und ausgegrenzt. Nehmen Sie die Meinungen der Expertinnen und Experten bitte endlich ernst.
Wir brauchen einen eigenständigen Kinderregelsatz, der die Bedarfe realitätsnah abbildet. Deshalb fordert meine Fraktion eine Anhebung des Kinderregelsatzes im ersten Schritt auf mindestens 300 Euro. Ebenso notwendig ist es, das Kindergeld auf mindestens 200 Euro zu erhöhen. Zur Erinnerung: Das Kindergeld wurde das letzte Mal 2002 erhöht.
Besser wäre natürlich gleich eine bedarfsgerechte, eigenständige Kindergrundsicherung; auch das kam in der Anhörung zur Sprache. Unsere Vorstellung kennen Sie: 420 Euro für jedes Kind.
Eines sollte klar sein: Um Kinderarmut ernsthaft bekämpfen zu können, muss man zusätzliches Geld ausgeben. Das Geld ist da; das sage ich Ihnen nicht zum ersten Mal. Mit einem gerechten Steuer- und Sozialsystem kann all dies finanziert werden. Diese Meinung vertreten auch viele Sozialverbände und Gewerkschaften.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, in Ihrem Antrag findet man erfreulicherweise viele unserer Forderungen.
Man sieht: Die Linke wirkt auch hier. Auf den neun Seiten des Feststellungsteils ist aber leider nicht zu lesen, dass auch während der sieben Jahre grüner Regierungsverantwortung die Kinderarmut enorm angestiegen ist.
Vieles, was Sie kritisieren - niedriger Kinderregelsatz, fehlende Schulbedarfe oder spezielle Bedarfe für Jugendliche -, haben Sie selbst mitbeschlossen. Sie sind sehr vergesslich, wie ich feststellen muss.
Auf den Antrag der FDP möchte ich gar nicht näher eingehen.
Nur so viel: Neben vielen anderen Bereichen wollen Sie auch die Kinderbetreuung stärker privatisieren. In das gleiche Horn bläst die Bundesregierung mit ihrem Kinderförderungsgesetz. Das ist mit der Linken nicht zu machen.
Meine Damen und Herren der Koalition, Sie stehen sich immer mehr selbst im Weg. Die SPD fordert einen Mindestlohn, will aber keine Erhöhung des Hartz-IV-Satzes für Kinder und kein höheres Kindergeld. Die Union ruft nach mehr Kindergeld, will aber keinen gesetzlichen Mindestlohn. Doch gerade das zusammen brauchen wir.
Das geht übrigens auch ganz deutlich aus dem aktuellen Positionspapier des DGB hervor. Das kann man nachlesen. Es ist ebenfalls notwendig, die Einkommensarmut der Eltern zu bekämpfen. Ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn darf nicht nur gefordert, sondern muss auch beschlossen und umgehend eingeführt werden.
Noch einmal in Richtung Regierungsbank. Sie schmücken sich mit Armutsberichten, ohne zu bemerken, dass genau diese Studien Ihnen ein Armutszeugnis ausstellen. Da alle Medien brav mitspielen, sagt keiner, dass der Kaiser bzw. in diesem Fall die Kaiserin eigentlich nackt ist.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Frau Kollegin Reinke, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Fischbach?
Elke Reinke (DIE LINKE):
Ich bin bei meinem letzten Satz. Ich würde gern in meiner Rede fortfahren.
Auf den Punkt gebracht heißt das: Unsere Kinder haben das Recht - dafür muss ein Sozialstaat sorgen -, gesund aufzuwachsen, freien Zugang zu guter Bildung zu haben und gleichberechtigt am täglichen Leben teilzuhaben.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Spanier von der SPD-Fraktion.
Wolfgang Spanier (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine erste Rede als Bundestagsabgeordneter vor etwa 13 Jahren war zum Thema Armut. Damals hat die SPD-Bundestagsfraktion in der Opposition einen Armuts- und Reichtumsbericht gefordert. Das wurde von der damaligen Koalitionsmehrheit im Deutschen Bundestag mit folgender Begründung abgelehnt: Wir haben die Sozialhilfe, das sei bekämpfte Armut. Darüber hinaus gebe es keine Armut. Also sei so ein Bericht überflüssig.
Ich kann erfreut feststellen, dass sich - auch in den Köpfen - vieles geändert hat. Wir in diesem Haus sind uns mittlerweile einig, dass es Armut gibt. Wir nehmen die Wirklichkeit wahr; wir sind angekommen. Wir nehmen ebenfalls wahr, dass es nicht nur um materielle Armut geht, sondern auch um Ausgrenzung, um Lebenslagen, Gesundheit, Wohnen und Bildung. Auch da sind wir uns einig. Wir sind uns ebenso einig, dass Kinderarmut im Grunde genommen Elternarmut ist. Das hört sich banal an, ist aber, wenn man die Konsequenzen betrachtet, durchaus wichtig festzuhalten.
Es ist, glaube ich, richtig, dass wir uns hier nicht in Debatten über Zahlen und Statistiken verlieren; da gebe ich Frau Gruß recht. Manchmal sollte man auf die eine oder andere Pressekonferenz verzichten, um nicht - vielleicht ungewollt - zusätzliche Verwirrung zu stiften.
Wir sind uns auch einig - vielleicht sollte ich vorsichtig sagen: weitgehend einig - hinsichtlich der Ursachen von Armut und speziell Kinderarmut. Diese sind nun einmal die Arbeitslosigkeit, die besondere Situation der Alleinerziehenden sowie die besondere Situation der Migrantinnen und Migranten. Ursache ist auch - da sind wir uns vor allen Dingen bezüglich der Konsequenzen noch nicht einig - der stetig und immer schneller wachsende Niedriglohnsektor. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen.
Es hat ein bisschen lange bedauert, bis die eine oder andere Fraktion in diesem Hause erkannt hat, dass wir ein Zuwanderungsland sind und dass die Integration eine der großen gesellschaftlichen Aufgaben in Deutschland ist.
In beiden vorliegenden Anträgen - es gibt entsprechende Programme und Entwürfe aller Fraktionen in diesem Haus - geht es um ein Gesamtkonzept. Sie wissen, dass ich da immer ein bisschen misstrauisch bin. Aber in diesem Fall ist es in der Tat richtig, dass wir nicht nur versuchen, mit punktuellen Maßnahmen gegen Kinderarmut vorzugehen, sondern dass wir dies auch in einen größeren Zusammenhang stellen.
Es geht um die Bekämpfung materieller Armut und vor allen Dingen um die Teilhabe an Bildung. Dies ist nicht nur Aufgabe des Staates. Staat und Gesellschaft müssen sich dieser zentralen gesellschaftspolitischen Aufgabe widmen. Diese Aufgabe muss auf allen staatlichen Ebenen - Bund, Länder und Kommunen - angepackt werden. Das macht die Sache nicht einfacher. Hier geht es nicht darum, sich Zuständigkeiten zuzuschieben, sondern darum, dass man abgestimmt mit einem gemeinsamen Maßnahmenpaket vorgeht.
Es gibt Beispiele. Ich greife einmal das Land Schleswig-Holstein heraus. Dort hat man gerade ein Handlungskonzept zur Bekämpfung der Kinderarmut vorgelegt. Ein erster konkreter Schritt ist die Aktion ?Kein Kind ohne Mahlzeit?.
Ich denke, das ist ein richtiger Ansatz. Entscheidend ist aber das Zusammenwirken aller staatlichen Ebenen.
Ein weiterer Punkt: Das ist eine Querschnittsaufgabe. Das ist nicht die Aufgabe eines Ressorts; das ist nicht nur eine familienpolitische Aufgabe. Hier muss vielmehr vieles zusammenkommen. Frau Ministerin, wir müssen zum Beispiel aufpassen, dass wir das Thema des Niedriglohnsektors und der Mindestlöhne nicht ausklammern. Dieses Thema hat mindestens den gleichen Stellenwert wie familienpolitische Aufgaben. Da gebe ich dem DGB mit seiner Kritik durchaus recht.
Im Antrag der Grünen heißt es, wir hätten untätig zugeschaut. Nein, das ist nicht richtig. Wir sind vorangekommen. Ob ich das als Turbo bezeichnen würde, weiß ich nicht. Bei einem Turbo gibt es auch immer ein Turboloch. Das ist aber nicht so wichtig. Wir sind entscheidend vorangekommen, zumindest ein großes Stück. Die Arbeitsmarktpolitik wurde genannt. Gleiches gilt für die Förderung von sozial Benachteiligten.
Gleich, im Anschluss an diese Debatte, werden wir in diesem Haus ein solches Förderprogramm beschließen. Dabei geht es um die Ausbildung der jungen Leute, die sich schon seit zwei, drei Jahren in Warteschleifen befinden, die keinen Hauptschulabschluss haben usw. Das ist vernünftig.
- Frau Reinke, das ist nun einmal so.
Wir diskutieren heftig über die Einführung der Mindestlöhne. Ich hoffe und erwarte, dass wir das, was wir vereinbart haben, auch möglichst bald umsetzen. Wir wissen, dass der Schlüssel zur Prävention von Armut in erster Linie Bildung ist. Ich glaube, wir sind uns einig, dass wir mit dem Rechtsanspruch auf die Betreuung der unter Dreijährigen ein ehrgeiziges Programm beschlossen haben. Es ist in der Tat wichtig, dass wir das auch umsetzen. Entscheidend ist: Wir als Sozialdemokraten bekennen uns zur öffentlichen Verantwortung für Bildung und frühkindliche Förderung.
Hier gibt es immer noch konservative Positionen - ich drücke mich vorsichtig aus -, die das ein Stück weit anders sehen.
Im Herbst dieses Jahres werden wir den Existenzminimumbericht erhalten. Für die materiellen Leistungen ist in erster Linie der Bund zuständig. Ich räume gern ein, dass wir den Mix aus Steuerfreibeträgen, Elterngeld und Leistungen nach SGB II noch einmal im Zusammenhang betrachten müssen. Es ist richtig: Hier gibt es Verwerfungen. Wir sind fest davon überzeugt, dass wir uns noch einmal mit den Regelsätzen auseinandersetzen müssen. Das Ganze ist so, wie es jetzt ist, nicht befriedigend; das räume ich hier gern ein. Wir haben aber auch Verwerfungen bei der Vielzahl der familienpolitischen Leistungen. Frau Ministerin, bei aller Anerkennung der guten Zusammenarbeit und dem, was wir gemeinsam in dieser Großen Koalition geleistet haben, möchte ich doch anmerken, dass wir darüber enttäuscht sind, dass das, was Sie angekündigt haben, nämlich eine Bestandsaufnahme aller familienpolitischen Leistungen sowie eine Bewertung und Gewichtung, bisher nicht vorliegt. Das brauchen wir dringend.
Wir brauchen dies dringend, wenn wir zielgerichtet an die materiellen und finanziellen Leistungen herangehen wollen. Hier muss ich der FDP schlicht und einfach zustimmen.
Meine Damen und Herren, beide Anträge - sowohl der von den Grünen als auch der von der FDP - bringen sicherlich eine ganze Menge an Anregungen für die wichtige Diskussion im Herbst; ich habe heute meinen versöhnlichen Tag.
Eine kritische Anmerkung muss ich aber in die Richtung der Fraktion Die Linke machen: Das ist ein Mix aus Betroffenheitsrhetorik, moralisierenden Anklagen und völlig nebulösen und fantastischen finanziellen Versprechungen, der langsam die Grenze des für mich persönlich Erträglichen überschreitet.
Ich unterstelle Ihnen nicht, keine ehrenwerten Absichten zu haben; das sage ich ausdrücklich. So aber, wie Sie die Themen angehen, ist das, glaube ich, verantwortungslos.
Wenn Sie in der Verantwortung wären, dann würden Sie so etwas nicht zu Papier bringen.
Das muss ich Ihnen sagen, obwohl ich wiederhole, dass ich das Anliegen, das Sie vertreten, durchaus ernst nehme und im Grundsatz in dieser Frage mit Ihnen übereinstimme. So geht es nicht.
Wir Sozialdemokraten werden dieses Problem ganz nüchtern lösen. Wir werden in den nächsten Wochen einen Kindergipfel starten, um deutlich zu machen, dass die sozialdemokratisch regierten Bundesländer und Kommunen -
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege.
Wolfgang Spanier (SPD):
- und die SPD-Bundestagsfraktion an einem Strang ziehen.
Herzlichen Dank und Entschuldigung für die Überziehung der Redezeit.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Ursula von der Leyen.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Debatte zeigt zunächst einmal: Kinderarmut treibt uns um. Diese Debatte zeigt - Herr Spanier, Sie haben das gerade sehr schön dargelegt -: Kinderarmut hat sehr viele Gesichter. Diese Debatte zeigt natürlich auch, dass die Kinderarmut nicht in einer einzigen Statistik zu erfassen ist. Dennoch müssen wir uns mit Statistiken beschäftigen.
Ich möchte meinen Blick zunächst einmal auf den internationalen Vergleich richten. Denn es ist wichtig, immer auch zu überprüfen, wo wir im Vergleich zu anderen Ländern, insbesondere im Vergleich zu anderen europäischen Ländern, stehen. Im internationalen Vergleich zeigt sich, dass es Deutschland ganz gut gelingt, die Kinderarmut zu bekämpfen. Wir liegen im oberen Drittel. Bedürftige Kinder werden in Deutschland finanziell besonders stark gefördert. Sie erhalten um ein Drittel höhere Leistungen als Kinder, die oberhalb der Armutsgrenze aufwachsen. Damit verfügt Deutschland von allen Mitgliedsländern der EU-15, also der alten Mitgliedstaaten, über die am stärksten an armen Kindern ausgerichteten Förderungen.
Dennoch gibt es in Schweden, Dänemark und Finnland deutlich weniger Kinderarmut als in Deutschland. Unser Ziel ist, die Kinderarmut nachhaltig zu senken.
Warum sind andere Länder noch erfolgreicher als wir?
Es gibt nicht nur ein einziges Erfolgsrezept, sondern es kommt auf einen klugen Mix von Maßnahmen an. Zusätzlich zur notwendigen finanziellen Unterstützung, die absolut unbestritten ist, investieren die erfolgreicheren Länder auch in Maßnahmen, die dazu beitragen, dass beide Elternteile erwerbstätig sein können. Wir dürfen beim Kampf gegen Kinderarmut also nicht nur die Kinder im Blick haben - das wurde in der heutigen Debatte sehr deutlich -, sondern wir müssen auch die Situation der Eltern berücksichtigen.
Aus diesem Grunde möchte ich meinen Blick jetzt nach innen, auf die Situation in unserem Land, richten. Wenn wir die Frage stellen, wie sich Kinderarmut zusammensetzt und welche Grundmuster sie hat, stellen wir fest, dass alle statistischen Erhebungen dieselben Grundmuster aufweisen. Erstens leben Kinder dann in Armut, wenn ihre Eltern keine Arbeit haben. Es ist also nicht etwa so, dass Kinder arm machen. Vielmehr leben Kinder dann in Armut, wenn ihre Eltern keine Arbeit haben.
Zweitens - das ist ein sehr wichtiger und meiner Meinung nach besonders bedrückender Punkt - leben Kinder dann in Armut, wenn sie in kinderreichen Familien aufwachsen, in denen die Eltern Mühe haben, für die vielen Köpfe genug Einkommen zu verdienen; in diesen Fällen sind staatliche Leistungen von existenzieller Bedeutung.
Hinzu kommt: Kinder bleiben in Armut, nämlich in Teilhabearmut, wenn sie keine Chance auf Bildung und Entfaltung ihrer eigenen Fähigkeiten bekommen.
Das wird auch an den vorliegenden Zahlen deutlich. Es gibt drei Hauptgruppen, die wir im Hinblick auf Kinderarmut zu berücksichtigen haben: erstens die Kinder von Alleinerziehenden, 800 000 Kinder, zweitens die Kinder aus kinderreichen Familien, 400 000 Kinder, und drittens die Kinder mit Migrationshintergrund, rund 520 000 Kinder. Auf diese drei Gruppen müssen wir unseren Fokus vor allen Dingen richten. Hier setzt das Konzept der Bundesregierung an.
Eltern brauchen Arbeit. Das heißt, sie brauchen Arbeitsplätze. Eine gute Konjunktur schafft Arbeitsplätze. Wie wir sehen, ist die Zahl der unter 15-jährigen Kinder in den Bedarfsgemeinschaften der Grundsicherung für Arbeitssuchende seit Anfang 2007 rückläufig. Das ist zwar nur ein erster Teilerfolg, aber ein wichtiger Erfolg. Inzwischen sind 1,6 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen worden. Das wirkt sich unmittelbar auf die Situation in den Familien aus.
Wir dürfen uns aber nicht nur auf die Konjunktur verlassen, sondern wir brauchen auch eine gezielte Familienpolitik. Wie Sie wissen, haben wir gemeinsam ein stimmiges Grundkonzept entwickelt. Dazu gehört erstens das Elterngeld. Es ist vor allem für Alleinerziehende ein wichtiger Baustein, der sicherstellt, dass sie mit der Geburt eines Kindes nicht in die Armut rutschen. Der zweite wichtige Aspekt ist der verbesserte Kinderzuschlag. Wir haben an der kritischen Grenze zur Armut, an der Empfänger von Transferleistungen leben, angesetzt. Diese staatliche Leistung, der Kinderzuschlag, ist genau das richtige Instrument, um Familien, in denen die Eltern ihr eigenes Einkommen verdienen, in denen das Geld aber nicht für alle Kinder ausreicht, zu unterstützen. Wegen der Kinder sollen diese Familien nicht in Hartz IV sein. Durch den Kinderzuschlag sollen sie in die Lage versetzt werden, auf eigenen Beinen zu stehen. Mit dem neuen Kinderzuschlag, den wir entwickelt haben, erreichen wir im Zusammenspiel mit der Wohngeldreform 250 000 Kinder; vorher waren es nur 100 000 Kinder. Insofern sind wir auch hier einen Schritt vorangekommen.
Berechtigterweise wird immer wieder eine Wirkungsanalyse gefordert. Wir sind mitten dabei, die Wirkung der verschiedenen Leistungen zu analysieren. Das geht aber nicht über Nacht. Wenn die Wirkungsanalysen vorliegen, werden wir - davon müssen wir ausgehen - neue Erkenntnisse haben.
Die entscheidende Frage ist: Wie gehen wir um mit Familien, die in der Mitte der Gesellschaft sind, die kleine Einkommen haben, die keine Steuern zahlen und damit von einer Erhöhung der Freibeträge nicht profitieren, die keine staatlichen Transferleistungen beziehen? Wie helfen wir diesen Familien, wenn ein weiteres Kind geboren wird? Für diese Familien ist das Kindergeld entscheidend.
Wir haben das Kindergeld lange vernachlässigt,
wir haben die Bedeutung dieser Leistung unterschätzt. Das Kindergeld hat - das zeigt sich insbesondere im internationalen Vergleich - einen hohen armutspräventiven Charakter.
Wir dürfen das Kindergeld nicht kleinreden.
Wenn es im Herbst zu einem höheren Existenzminimum für Kinder kommt und die Freibeträge erhöht werden, werden wir auch über eine Erhöhung des Kindergeldes sprechen müssen. Ich werbe dafür, den Blick dann darauf zu richten, wer diese Erhöhung vor allem braucht.
Das sind die kinderreichen Familien, und das sind die Alleinerziehenden mit mehreren Kindern, insbesondere wenn das dritte Kind kommt. Seit 1995 ist das Kindergeld für das dritte Kind nicht mehr erhöht worden. Wir haben das dritte Kind in der öffentlichen Debatte fast vergessen.
Deshalb werbe ich nachdrücklich dafür, das Kindergeld zu staffeln, auch im Lichte der Erkenntnisse der Wissenschaftler, die uns gesagt haben, dass wir hier nicht lockerlassen dürfen.
Wir wollen mit der Kaskade Elterngeld, Kinderzuschlag, Kindergeld die Familien in der Mitte der Gesellschaft halten, wollen verhindern, dass Familien in Armut abrutschen. Natürlich sind auch Bildung und Förderung entscheidende Bausteine.
Den vierten Baustein haben wir letzte Woche mit dem Kinderfördergesetz beraten. Ich bin stolz darauf und danke von Herzen, dass es gelungen ist, in außergewöhnlich kurzer Zeit - Februar 2007 Beginn der Diskussion über den Ausbau der Betreuung von unter Dreijährigen, April 2008 Gesetzentwurf im Kabinett, Mai 2008 Gesetzentwurf im Parlament - einen Konsens von Bund, Ländern, Kommunen und Parteien herzustellen. Wir diskutieren jetzt nicht mehr darüber, ob wir einen Ausbau der Betreuung brauchen, wir diskutieren nur noch darüber, wie wir es am besten machen. Es ist Konsens, konsequent nachzuholen, besser zu werden, die Infrastruktur auszubauen.
Entscheidend ist für Eltern, dass sie arbeiten können, dass sie ein Einkommen haben. Für Kinder, gerade für Kinder aus benachteiligten Familien, ist der Zugang zu Förderung, zu Bildung von Anfang an die beste Prävention gegen Armut. Danke an das Parlament, danke an alle, die daran mitgearbeitet haben!
Kinderarmut hat viele Gesichter. Es gibt nicht das Rezept, die Leistung, um Kinderarmut zu bekämpfen. Noch einmal: Wir sind im internationalen Vergleich nicht schlecht; uns darf aber nicht ruhen lassen, dass wir innerhalb des Landes im Vergleich dazu, wie wir anderen Gruppen helfen, bei der Bekämpfung der Kinderarmut besser werden können. In den letzten dreißig, vierzig Jahren ist viel versäumt worden; die Kinderarmut ist schließlich nicht über Nacht entstanden. Ich nenne als Stichworte nur die mangelnde Vereinbarkeit von Beruf und Familie und das Vergessen der kinderreichen Familie, also des dritten Kindes. Lange wurde nicht wahrgenommen, dass frühe Bildung für Kinder mit Migrationshintergrund, für Kinder aus Familien, in denen Bildung wenig zählt, die Chance ist, aus der Armut herauszukommen. Wir haben Jahre gebraucht, um hier auf den internationalen Standard zu kommen. Jetzt haben wir gemeinsam die Chance, zu handeln. Die Fakten in den Berichten rütteln uns wach; in den Berichten werden uns aber auch Möglichkeiten aufgezeigt, zu handeln.
Deshalb noch einmal meine Bitte: Bleiben wir bei diesem Thema bei der guten Tradition, die sich in unserem Ausschuss, aber auch hier im Parlament entwickelt hat, nämlich gemeinsam konsequent für dieses Thema zu streiten.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Renate Künast von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, Sie mögen sich einiges zugutehalten - ich will das der Fairness halber ja gar nicht ganz abstreiten -,
aber zu sagen, dass Kinder- und Bildungspolitik und der Kampf gegen die Kinderarmut vorher vernachlässigt und unter Ihrer Ägide quasi zu einer Lichtgestalt wurden, muss ich nun wirklich zurückweisen.
Wir haben kein Kurzzeitgedächtnis, sondern wissen, dass das Kindergeld vor Ihrer Regierungszeit durch eine rot-grüne Koalition und gegen den Widerstand der CDU/CSU zweimal um insgesamt 37 Prozent erhöht wurde. Das ist die Wahrheit.
Wir wissen auch, dass wir uns viel Mühe gegeben haben - gegen den erbitterten Widerstand zumindest der CDU/CSU-Ministerpräsidenten -, als es darum ging, den Ländern Geld für den Ausbau der Tagesbetreuung und von Ganztagsschulen zu geben. Auch dadurch wird Armut bekämpft. Die nächtlichen Auftritte von Herrn Koch vergesse ich nicht.
Die Frage ist doch, wonach wir unser Handeln ausrichten. Auf dieser Basis will ich einmal Ihren Redebeitrag und Ihre Politik betrachten. Wir sagen: Jedes Kind - ich könnte jetzt einfach ein Ausrufezeichen machen und damit aufhören - in diesem Land hat unabhängig von irgendwelchen internationalen Vergleichen, die mich in dieser Sache gar nicht interessieren, das Recht auf Entwicklung, die Entfaltung seiner Persönlichkeit, kindgerechte Lebensbedingungen, Schutz und die Sorge der Gemeinschaft, also des ganzen Bundestages und aller Mitglieder dieser Gesellschaft, ob sie Kinder haben oder nicht. Das muss der Faden unserer Politik für Kinder sein.
Wir wissen: Die armen Kinder befinden sich in einer Verstrickung von materieller Armut, kultureller Armut und sozialer Armut, aus der sie nicht herauskommen. Wir haben ein Betreuungs- und Bildungssystem, bei dem es den Mittelschichtlern und den reicheren Eltern immer noch möglich ist, Defizite auszugleichen. Andere können das aber nicht.
Frau Ministerin, Sie haben Zahlen vorgelegt. Ich prophezeie Ihnen, dass die Lage noch schlimmer und schwieriger wird. In Berlin haben 50 Prozent der Null- bis Zweijährigen einen Migrationshintergrund. Dabei sind die Kinder aus den bildungsfernen Schichten noch nicht mitgerechnet. Hinsichtlich der Zukunft des Landes und der Kinder wird die Luft in jeder Hinsicht brennen, wenn wir nicht jedem Kind eine Chance geben. Darum muss es gehen.
Deshalb reicht es einfach nicht, nur hier und da ein bisschen zu reagieren. Frau von der Leyen, Sie sagten, Sie wollten die familienpolitischen Leistungen ein Jahr lang von einer Kommission überprüfen lassen. Auch das reicht nicht. Jetzt ist Mut gefragt, das irgendwann auch einmal das auf den Tisch zu legen und zu sagen: Wir stellen fest, dass sich das, was hier passiert, zwar familienpolitisch nennt, aber bei der Erziehung von Kindern und zur Verbesserung der Erziehungssituation in Wahrheit nicht weiterhilft.
Wir sagen ganz klar: Das gestaffelte Kindergeld ist keine vernünftige Antwort. Frau von der Leyen, Ihre eigenen Zahlen - sie stammen aus Ihrem Hause - besagen ja, dass die ärmsten Familien die Ein-Kind-Familien von Alleinerziehenden sind. Wenn Sie ein gestaffeltes Kindergeld einführen, dann bedeutet das, dass ungefähr 94 Prozent der Kinder von Alleinerziehenden null Euro davon haben.
Das sind nach Ihrer eigenen Darstellung aber die ärmsten Kinder.
Warum wollen Sie ein gestaffeltes Kindergeld einführen? Wollen Sie einer Ideologie folgen - insbesondere der der CSU - oder wollen Sie wirklich Armut bekämpfen? Dann müssten Sie eine andere Entscheidung treffen.
- Wenn wir systematisch vorgehen wollen, dann sollten wir doch da anfangen, wo die meisten Probleme bestehen.
Wir als Grüne wollen Kinderregelsätze für die armen Kinder und mehr als das gesetzlich zwingend Notwendige tun. Wir wollen, dass Kinder Geld haben, um ein Leben in Würde zu führen. Das schließt das Mittagessen, die Mitgliedschaft im Sportverein, um kulturell im Dorf bzw. in der Stadt verankert zu sein, und den Unterricht an der Musikschule ein. Dafür brauchen wir etwas; da reichen 60 Prozent vom Regelsatz nicht. Wir bräuchten also eher eine Kommission, die das soziokulturelle Existenzminimum von Kindern berechnet.
- Diese FDP-Zurufe liebe ich. Sie waren auch einmal in der Regierung. Ich weiß nicht, welchem Mutterbild Sie damals gefrönt haben.
Wir wollen endlich die Sachleistung. Herr Müntefering von der SPD hat im November 2007 gesagt, es solle schnell darüber entschieden werden. Ich hatte eigentlich gehofft, er habe gemeint, es werde im November 2007 schnell entschieden.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Frau Kollegin Künast, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Thiele?
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Nein, danke.
- Ich möchte jetzt die letzte Minute dazu nutzen, meine Rede zum Abschluss zu bringen.
Meine Damen und Herren, wir wollen einen Betreuungsausbau und eine frühkindliche Bildung. Sollte dies erst 2013 kommen, wären viele derjenigen, die heute klein sind, wieder einmal mit Defiziten in die Schule gekommen. An dieser Stelle folgen wir Ihnen, Frau von der Leyen, bei dem Satz, das Betreuungsgeld sei eine bildungspolitische Katastrophe. Damit haben Sie mir aus dem Herzen gesprochen.
Wir sehen nicht nur, dass 150 Euro zu wenig sind. In Thüringen erleben wir, dass die falschen Eltern sagen, sie bekämen Betreuungsgeld und sparten die Kitagebühren und hätten dadurch 200 Euro mehr. Wir sind aber darauf angewiesen, dass die Kinder nicht auf das falsche Gleis kommen, sondern sozialisiert werden.
Wir brauchen endlich ein Qualitätssiegel für die Kinderbetreuung. Heute gibt es noch Kindergartengruppen mit 25 Kindern und einer Erzieherin und einer Hilfskraft. Das sind die Kinderverwahranstalten, vor denen Sie uns mit Ihrem alten Familienbild immer warnen wollten. Wir brauchen den guten und gesunden Kindergarten, und dazu brauchen wir ein Qualitätssiegel.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Frau Kollegin Künast, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Fischbach?
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Jetzt habe ich zu Herrn Thiele Nein gesagt.
- Nein, das hat nichts mit Feigheit zu tun. Ich möchte versuchen, meine Rede jetzt geschlossen zu Ende zu bringen. Ansonsten lasse ich gern Zwischenfragen zu.
Meine Damen und Herren, als letzten Gedanken bringe ich noch Folgendes in diese Debatte ein: So, wie wir den Aufbau Ost gemeinsam finanziert und umgesetzt haben, müssen wir jetzt das Thema Bildung als gesamtstaatliche und gesamtgesellschaftliche Aufgabe begreifen. Wir brauchen Geld für Kreativität, Personalausstattung und eine gute Personaleingruppierung. Ab 2010 werden die Zahlungen aus dem Solidaritätszuschlag an die neuen Länder abgeschmolzen. Jetzt sollten wir die Entscheidung treffen, das, was wir beim Aufbau Ost konnten, für Kinder zu tun. Dieses Land muss den Solizuschlag nehmen und aus ihm für jedes Kind in diesem Land einen Bildungssoli machen. Das wäre sinnvoll.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Carl-Ludwig Thiele das Wort.
Carl-Ludwig Thiele (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Künast, Sie haben die Frage in den Raum gestellt, was denn seinerzeit von der FDP gekommen sei. Ich weise darauf hin, dass auf Initiative der FDP im Jahr 1996 Kindergeld als negative Einkommensteuer eingeführt wurde.
Wir hatten bis dahin für das erste Kind ein Kindergeld von 70 DM, danach ein Kindergeld von 200 DM. So stellen wir uns das Bürgergeld auch vor. Das Kindergeld ist keine Gnadenleistung des Staates an die Bürger, sondern die Bürger haben das Recht darauf, den Lebensunterhalt ihrer Kinder aus unversteuertem Einkommen bestreiten zu können.
Dieser Systemwechsel war nicht einfach zu erreichen. Ich bin der SPD, die damals in der Opposition war, nach wie vor dankbar, dass sie diesem Systemwechsel im Deutschen Bundestag zustimmte; denn dieser Systemwechsel war die Voraussetzung dafür, dass das Kindergeld auf 220, 250 und 300 DM weiterentwickelt und dann auch in dieser Höhe in Euro umgerechnet werden konnte. Die zentrale Frage ist hier: Gibt der Staat eine Gnadenleistung an die Familien, oder haben die Familien nicht ein Recht darauf, den Unterhalt ihrer eigenen Kinder aus unversteuertem Einkommen zu bestreiten? Sofern das Kindergeld darüber hinausgeht - so haben wir es gesetzlich festgelegt; so ist es im Einkommensteuergesetz geregelt -, dient es der zusätzlichen Förderung der Familie. Wir stehen zu diesem Weg und wollen ihn weiter ausbauen. Ich glaube, dies war die Schnittstelle dafür, dass für die Familien in unserem Lande viel mehr geschehen ist, als es vorher der Fall war.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Zu einer weiteren Kurzintervention erteile ich der Kollegin Fischbach das Wort. Frau Künast, Sie können dann bitte auf beide Kurzinterventionen zusammen eingehen.
Ingrid Fischbach (CDU/CSU):
Frau Künast, ich habe eine kurze Zwischenfrage, die Sie schnell beantworten können. Da Sie mir während Ihrer Rede nicht die Möglichkeit gegeben haben, diese Frage zu stellen, mache ich es auf diesem Weg.
Ihre Feststellung, dass die falschen Eltern das Betreuungsgeld - zu dem man stehen kann, wie man will - bekommen, war sehr interessant. Das drückt indirekt aus, dass die richtigen Eltern es durchaus bekommen sollten.
Unsere Fraktion und auch die Eltern vor den Fernsehgeräten haben ein Anrecht darauf, von Ihnen zu erfahren, wen Sie für die falschen Eltern halten. Dann wüssten wir auch, wer die richtigen sind.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Frau Künast zur Erwiderung.
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich fange mit der zweiten Frage an. Es gibt in diesem Zusammenhang keine falschen oder richtigen Eltern;
vielmehr sind es die Falschen, die das Betreuungsgeld nutzen. Wie ist das zu begründen? Wir gehen davon aus, dass durch Bildung die Armut bekämpft werden kann und dass Bildung jedem Kind Chancen bietet, sich in seinem Leben weiterzuentwickeln und seine Potenziale zu entfalten.
Ich bin davon überzeugt, dass die Falschen das Betreuungsgeld nutzen - das zeigt auch das Beispiel Thüringen -, weil gerade Eltern aus bildungsfernen und finanziell schwachen Schichten ihr Kind nicht im ersten, zweiten oder dritten Lebensjahr in den Kindergarten bringen, sondern das Betreuungsgeld lieber sparen wollen.
- Das glaube ich nicht nur, sondern das belegen auch die Zahlen aus Thüringen. Ich kann sie Ihnen gerne heraussuchen.
Es geht mir beim Betreuungsgeld nicht um die Frage, was wir den Eltern zukommen lassen. Für mich geht es vielmehr darum, dass die Kinder in diesem Land einen Anspruch haben, sich entwickeln zu können. Diese Entwicklung soll nicht daran scheitern, dass die Eltern an der Stelle Geld sparen wollen. Jedes Kind soll sich entwickeln können.
Die Hälfte der Kinder kommen aus Migrantenfamilien; in manchen Stadtteilen Berlins zum Beispiel ist der Anteil noch höher. Viele von ihnen können zum Zeitpunkt ihrer Einschulung weder richtig Türkisch noch Deutsch. Es wäre eine bildungspolitische Katastrophe, wenn wir gerade diesen Eltern Geld dafür geben, dass sie ihren Kindern faktisch keine Chance bieten. Dafür sollten keine Steuergelder eingesetzt werden.
Jetzt komme ich zu Ihrer Kurzintervention, Herr Thiele. Ihre Variante der negativen Einkommensteuer würde nur Eltern betreffen, die auch Steuerzahler sind.
Den ärmeren Eltern würden Sie damit keine Hilfestellung geben. Ich muss leider auch daran erinnern, dass die FDP in der Vergangenheit die Erhöhung des Kindergeldes und der Regelsätze für die ärmsten Kinder abgelehnt hat.
In Ihrem Redebeitrag gab es durchaus gute Ansätze. Es gibt auch hier und da Gemeinsamkeiten. Ich wünschte mir aber, dass Sie auch den Mut haben, festzustellen, dass das Ehegattensplitting abgeschmolzen werden muss. Denn es ist falsch, zum Beispiel die kinderlose Ehe weiter steuerlich zu privilegieren, statt das Geld gezielt zugunsten jedes einzelnen Kindes einzusetzen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sybille Laurischk von der FDP-Fraktion.
Sibylle Laurischk (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist bemerkenswert, dass die Bundesfamilienministerin in einer solchen Debatte bereits den Saal verlassen hat, gerade weil sie offensichtlich sehr kontrovers verläuft.
Damit komme ich zu Ihnen, Frau Künast. Wenn Sie meinen, dass Migrantenkinder zu geringe Bildungschancen haben, dann frage ich mich, welche Maßnahmen während der rot-grünen Regierungszeit wirkungsvoll waren.
Ich glaube, dass die Defizite auch in dieser Zeit zu finden sind. Zum Beispiel sind auch der Spracherwerb und die Kenntnis der deutschen Sprache nicht ausreichend behandelt worden. Wir haben dieses Thema auf die Agenda gesetzt
und verlangen von Ihnen entsprechende Anstrengungen im Rahmen des Integrationsprozesses.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Frau Kollegin Laurischk, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Singhammer?
Sibylle Laurischk (FDP):
Ich möchte in meiner Rede fortfahren. Herr Singhammer hatte schon Gelegenheit, seine Vorstellungen darzulegen.
Die FDP hat auf ihrem Bundesparteitag am vergangenen Wochenende klare familienpolitische Beschlüsse getroffen. Wir wollen einen Freibetrag in Höhe von 8 000 Euro für jedes Familienmitglied und ein Kindergeld in Höhe von 200 Euro für jedes Kind.
Wir haben uns darüber hinaus mit familienpolitischen Fragen befasst, über die in der Bundesregierung noch immer kontrovers diskutiert wird. Die FDP lehnt ein Betreuungsgeld ab.
Wenn man sich die Überschriften der Anträge anschaut, dann stellt man fest, dass es noch um einen anderen Aspekt des Familienrechts und der Familienpolitik geht, nämlich um den Unterhaltsvorschuss. Wir schreiben das Jahr eins nach der Unterhaltsrechtsreform. Diese Reform hat die FDP gefordert, um Kindern den Vorrang bei der Unterhaltsberechtigung zu geben, und zwar vor dem Unterhalt des betreuenden Elternteils, meistens der Mütter. Damit haben wir alle im Deutschen Bundestag ein sehr klares Signal gesetzt, dass Kinder in der Fürsorge ihrer Eltern - auch in der finanziellen - unbedingten Vorrang haben.
Wer im Familienrecht tätig ist, weiß, dass die unsägliche Berechnung sogenannter Mangelfälle damit endlich ein Ende haben soll; denn sie dokumentieren nur, was den Kindern letztlich nichts nutzt, nämlich die Verteilung des Mangels. Immer dort, wo die Einkommenssituation der Eltern nicht ausreicht, soll zumindest die Sicherung der Existenz der Kinder Vorrang haben. Wir haben uns zudem dafür ausgesprochen, dass die Unterhaltsberechtigung der Erwachsenen, also der Eltern, hier zurückstehen muss. Damit wollen wir die Bereitschaft der Unterhaltsverpflichteten, meistens der Väter, fördern, den Kindesunterhalt tatsächlich zu zahlen.
Dies ist nach wie vor ein großes Problem. In vielen Fällen ist der Unterhalt zwar durch ein Urteil festgestellt, wird aber nicht gezahlt.
Neben der Zwangsvollstreckung gibt es verschiedene Lösungsmöglichkeiten. Eine ist der breiten Öffentlichkeit so gut wie nicht bekannt, obwohl sie recht gravierend ist. Das Nichtzahlen des Kindesunterhalts und das Belassen der Kinder in Armut durch die Eltern sind ein Straftatbestand nach § 170 StGB. Im Rahmen einer Kleinen Anfrage hat sich die FDP-Bundestagsfraktion mit der Auswirkung dieser Vorschrift auseinandergesetzt. Wir mussten feststellen, dass im Jahr circa 20 000 Fälle angezeigt und ermittelt werden, dass allerdings nur in 5 000 Fällen ein Urteil ergeht. Meistens wird dann gezahlt. Die Strafanzeige kann also ein wirkungsvolles Instrument sein.
Das ist aber familienpolitisch sicherlich unbefriedigend. Deswegen gibt es noch eine andere Problemlösungsmöglichkeit, nämlich das Unterhaltsvorschussrecht. Jährlich haben rund 500 000 Kinder in der ganzen Bundesrepublik Anspruch auf Unterhaltsvorschussleistungen. Diese Möglichkeit der staatlichen Hilfe im Fall des Nichtzahlens des Kindesunterhalts wird also breit in Anspruch genommen. Es handelt sich um eine Überbrückung, um gerade bei durch Trennung der Eltern eintretender Unterhaltsbedürftigkeit einen Puffer zu haben. So war das Gesetz mit einer Anspruchsberechtigung von maximal 36 Monaten ursprünglich konzipiert. Mittlerweile ist die Anspruchsdauer auf 72 Monate angehoben worden.
Völlig unverständlich ist aber die Tatsache, dass dieser Anspruch nur für Kinder bis zwölf Jahren und nicht bis zum 18. Lebensjahr gilt. Das Familienkompetenzzentrum attestiert - wir sind auf die Lösungen gespannt - älteren Kindern und Jugendlichen alleinerziehender Eltern ein höheres Armutsrisiko als jüngeren Kindern. Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 15 und 18 Jahren stellen fast 30 Prozent der von Armut betroffenen Kinder. Das Familienkompetenzzentrum liefert die Begründung gleich mit: Es liege unter anderem daran, dass der Unterhaltsvorschuss nur bis zur Vollendung des zwölften Lebensjahrs geleistet wird, ohne dass im Anschluss eine vergleichbare Leistung verfügbar sei. Hier ist dringend Abhilfe zu schaffen.
Wir verlangen, dass die Leistungsberechtigung auch auf Kinder bis zum 18. Lebensjahr ausgedehnt wird. Wer Bedenken wegen der Finanzierung hat, kann unseren Vorschlag aufgreifen, die ursprüngliche Berechtigungsdauer von 36 Monaten wieder einzuführen, sodass ein haushaltstechnisches Problem gelöst wäre. Die Hilfestellung würde dann alle unterhaltsbedürftigen Kinder erreichen, zumindest für die Übergangszeit, also bis ihr Unterhaltsanspruch geklärt ist.
Insgesamt brauchen wir ein Umdenken in dieser Gesellschaft dahin gehend, dass das Leisten von Kindesunterhalt so selbstverständlich ist wie das Versorgen von Kindern.
Es geht nicht an, dass es von Fall zu Fall geradezu mit einem Achselzucken kommentiert wird, wenn Väter - diese sind es in der Mehrzahl der Fälle - ihr Nichtzahlen von Unterhalt damit kommentieren, dass die Mutter gar keinen Pfennig mehr bekommen soll. Es geht uns um die Kinder. Erst wenn wir dies in den anstehenden Reformen umsetzen, können wir eine Stimmung in Deutschland wecken, die es möglich macht, Kinder als den eigentlichen Reichtum unserer Gesellschaft zu begreifen, die vor Armut geschützt werden müssen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Zu einer Kurzintervention erteile ich zunächst dem Kollegen Johannes Singhammer und anschließend dem Kollegen Beck das Wort.
Johannes Singhammer (CDU/CSU):
Frau Kollegin Laurischk, Sie haben den Eindruck zu erwecken versucht, als sei die Ministerin aus Interesselosigkeit nicht mehr hier im Plenum des Deutschen Bundestags anwesend. Ich möchte diese völlig falsche Unterstellung zurückweisen. Die Ministerin ist derzeit bei der Festveranstaltung ?Generationsübergreifende Freiwilligendienste?. Das war bekannt, und das wussten alle anderen.
Deshalb empfinde ich es nicht nur als unsachlich, sondern auch als falsch, wenn Sie mit dieser Art von Unterstellung arbeiten. Im Übrigen ist die Bundesregierung durch den Staatssekretär bestens vertreten.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Jetzt hat zu einer Kurzintervention der Kollege Volker Beck das Wort.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sie wussten nicht, was wir unter Rot-Grün für Migrantenkinder gemacht haben. Dazu kann ich Ihnen sagen: Wir haben im Zuwanderungsgesetz unter Rot-Grün erstmals die Integration überhaupt bundesrechtlich geregelt. Hätten Sie das in den 16 Jahren vorher während der Kohl-Genscher-Ära gemacht, hätten wir viele Probleme heute nicht zu lösen, die wir dadurch, dass die Integrationspolitik während Ihrer Regierungsära verschlafen wurde, auf dem Tisch haben.
Aber das war nicht das Einzige, was wir gemacht haben: Wir haben das Ganztagsschulprogramm aufgelegt. Das hilft gerade Kindern aus Migrantenfamilien, um soziale Benachteiligungen auszugleichen. Wir haben das U-3-Programm gemacht, und wir haben ein Programm - das kennen Sie vielleicht nicht, weil Sie damals im Rechtsausschuss gewesen sind - Entwicklung und Chancen aufgelegt, das besonders Jugendhilfeprojekte für Migranten fördert. Das zeigt, dass wir eine ganze Menge gemacht haben. Das alles reicht nicht aus, und darauf kann man sich nicht ausruhen, aber dass Sie diesen ganzen Politikbereich offensichtlich vier Jahre im Parlament verschlafen haben, zeigt, wie wichtig Ihnen die Integrationspolitik für Migrantenkinder ist. Das sieht man Ihren steuerpolitischen Vorschlägen ja auch an.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Zur Erwiderung Frau Laurischk.
Sibylle Laurischk (FDP):
Herr Beck, für mich war im Zuge der integrationspolitischen Debatte besonders eindrucksvoll, dass ich zu dem Thema ?Deutsch auf den Schulhöfen Berlins? von grünen Abgeordneten die Mitteilung bekam, das sei eine Zumutung. Mittlerweile hat sich glücklicherweise die Einsicht breit gemacht, dass Deutsch als Verständigungsmöglichkeit in Schulen selbstverständlich ist.
Ich glaube, dass die Grünen damals zu Beginn dieser Debatte noch gar nicht begriffen haben, welche bildungspolitische Bedeutung der Erwerb der deutschen Sprache hat.
Im Übrigen möchte ich Herrn Singhammer antworten: Ich habe die Mitteilung bekommen, dass sich die Ministerin nicht die ganze Debatte hier aufhalten wird, aber noch zu Beginn meiner Rede da sein wird. Sie war es nicht. Ich stelle fest, dass jetzt auch schon Frau Künast gegangen ist. So viel zur Aufmerksamkeit hinsichtlich der Debatte zur Familienpolitik, die wir angeregt haben.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Dieter Steinecke von der SPD-Fraktion.
Dieter Steinecke (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Gäste! Kinder sollen mutig, neugierig und fröhlich ins Leben gehen. Arme Kinder können das nicht. Kinderarmut bedeutet gesellschaftliche Ausgrenzung. Es ist eine Grundaufgabe der Gesellschaft, allen unseren Kindern ein anständiges Leben zu ermöglichen und ihnen Perspektiven für ihre Zukunft zu eröffnen. Wir Politiker müssen dafür sorgen, dass die Rahmenbedingungen stimmen. Wir Sozialdemokraten sind überzeugt, dass dies in einer insgesamt wohlhabenden Gesellschaft weiß Gott nicht zu viel verlangt ist.
Eines muss uns allen klar sein: Wer glaubt, dass sich Armut von Kindern allein durch direkte Transferleistungen wirksam bekämpfen lässt, der springt zu kurz.
Sicherlich muss den Kindern und Jugendlichen, die von Armut jetzt unmittelbar betroffen sind, geholfen werden - das ist überhaupt keine Frage -;
doch struktureller Armut kann man nur mit strukturellen Maßnahmen begegnen.
Es ist schon vielfach gesagt worden: Es gibt verschiedene Gründe für Armut und Ausgrenzung. Deshalb muss an verschiedenen Stellen angesetzt werden, um die Ursachen zu bekämpfen. Drei dieser Stellen ragen heraus - in dieser Reihenfolge -: Erstens: Bildung. Zweitens: Ausbildung. Drittens: Sozialtransfers.
Arbeit zu haben, ist - das klingt banal - die beste Hilfe zur Selbsthilfe. Darum geht es im Wesentlichen bei der Bekämpfung der Armut. Am Arbeitsmarkt geht es momentan bergauf. Es gilt eben, diese Erfolge zu verstetigen und strukturell zu sichern.
Doch Arbeit schützt nicht immer vor Armut. In unserem Land gibt es etliche Menschen, die arbeiten gehen, und zwar Vollzeit, und davon doch nicht anständig leben können. Das wird von manchen Parteien sehenden Auges hingenommen. Umso energischer müssen wir unsere Forderung vertreten: gutes Geld für gute Arbeit; gesetzlicher Mindestlohn in allen Branchen.
Auch auf einem sich bessernden Arbeitsmarkt haben nur Menschen Chancen, die über eine anständige Bildung und Ausbildung verfügen. Durch einen ungerechten Zugang zur Bildung verfestigt sich Armut, und das darf nicht sein.
Was die Bildung anbelangt, stehen vor allem auch die Länder in der Pflicht. Man mag es begrüßen oder auch bedauern: Bildung ist Ländersache. Doch obwohl wir es nicht müssten, eigentlich nicht einmal dürften, haben wir beträchtliche Bundesmittel in die Hand genommen, um Bildung und Ausbildung in diesem Land auszubauen.
Weil Bildung nicht erst am Tag der Einschulung beginnt, haben wir eine Offensive für frühkindliche Betreuungs- und Lernangebote gestartet. Erst vor kurzem wurde ein umfangreiches Sondervermögen zum Ausbau der Tagesbetreuung für unter Dreijährige errichtet. Ohne dies wären die Bundesländer sicherlich nicht in dem Maße tätig geworden, ohne dies blieben die Ausbauziele vielfach reine Utopie.
Dem essenziell wichtigen Bereich der frühkindlichen Bildung droht meiner Meinung nach übrigens eine Katastrophe: Einige Landesregierungen und einige Köpfe in diesem Hause plädieren für ein sogenanntes Betreuungsgeld; darüber ist schon vielfach gesprochen worden. Dies hätte eine verheerende Konsequenz. Gerade jene Kinder, die wir erreichen wollen und müssen, würden aus einer entscheidenden Entwicklungs- und Lernerfahrung gewissermaßen herausgekauft.
Ein Blick nach Thüringen sollte reichen, um solche Pläne schnell und nachhaltig zu verwerfen.
Auch das schulische Angebot kann verbessert werden. Wie Frau Ministerin von der Leyen bin ich ein großer Anhänger der echten Ganztagsschule, flächendeckend, sofort. Ich bin froh, dass ich die Ministerin an meiner Seite habe. Auch hier hat der Bund den Ländern mit einem milliardenschweren Programm auf die Sprünge geholfen - oder dies zumindest versucht.
- Darüber können wir nachher gern diskutieren. Ich will keine Ganztagsschule light, sondern eine echte, Herr Goldmann.
Von einem pädagogisch sinnvollen Ganztagsschulkonzept sind die meisten Länder weit entfernt. Das ist schade für unsere Kinder, weil in den Ländern vielfach nur in Beton investiert worden ist und nicht in eine vernünftige Ausstattung, beispielsweise mit Lehrerstunden. Auch sonst ist die autonome Bildungspolitik der Länder oft alles andere als glanzvoll. Die Bandbreite der weiteren Sünden reicht von Abschaffung der Lernmittelfreiheit bis hin zur Einführung von Studiengebühren für das Erststudium. Auch dies sind Maßnahmen, die gerade diejenigen treffen, über deren Belange wir heute sprechen. Es sind Maßnahmen, die die Bildungsschere weiter und weiter öffnen und strukturelle Armut verfestigen.
Auch wer sich um die berechtigten Anliegen und Bedürfnisse Benachteiligter einen Dreck schert - entschuldigen Sie diesen harten Ausdruck -, kann diese Entwicklung nicht wollen: Unzureichende Bildung und Ausbildung bedeuten nicht nur Chancenungerechtigkeit; sie sind auch volkswirtschaftlicher Wahnsinn. Zum einen können wir es uns als Wissensgesellschaft nicht leisten, Potenziale brachliegen zu lassen, und zum anderen kosten uns Transferleistungen und Flickschusterei an Folgeschäden ein Vielfaches von dem, was wir investieren müssten, um ein leistungsfähiges und gerechtes Bildungssystem für alle Kinder und Jugendlichen in unserem Land zu schaffen.
Zur Leistungsfähigkeit Folgendes: Die wirklich allergeringste Anforderung an Schule muss sein: Wer in die Schule geht, kann Deutsch; wer rauskommt, hat einen Abschluss.
Das ist die Minimalanforderung. Wenn wir das erreichen würden, hätten wir schon eine ganze Menge geschafft.
Wie dem auch sei: Alle Anstrengungen zum Ausbau und zur Verbesserung von Betreuung, Bildung und Ausbildung, wie gut sie auch sein mögen, tragen erst in ferner Zukunft Früchte. Die Erfolge unseres bisherigen Regierungshandelns, von denen ich überzeugt bin, werden erst in Jahren zu sehen sein. Bis dahin - ich sagte dies - müssen wir mit Sozialtransfers, über deren Form und Höhe man sicherlich diskutieren muss, die Not lindern und den betroffenen Menschen jetzt helfen. Und es ist ja beileibe nicht so, dass wir in dieser Hinsicht bislang untätig waren. Meine Vorredner haben dies ja allzu deutlich gemacht: Unser Sozialstaat trägt wesentlich dazu bei, dass Armut vermindert wird.
Wir Sozialdemokraten werden unseren Weg weiter beschreiten - unseren Weg zu mehr Beschäftigung, zu fairen Bildungschancen und zu sozialem Ausgleich.
Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Jörn Wunderlich von der Fraktion Die Linke.
Jörn Wunderlich (DIE LINKE):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde das toll: Alle reden von Kinderarmut und darüber, wie sie bekämpft werden kann/sollte/müsste und was man früher alles gemacht hat; aber wenn es um etwas Konkretes geht, dann kneifen alle. Anders kann ich mir nicht erklären, dass über den Gesetzentwurf der Linken, der auch auf der Tagesordnung steht, nämlich zur Änderung des Unterhaltvorschussgesetzes, bislang so gut wie kein Wort verloren worden ist; bei der FDP war das nur ansatzweise der Fall.
Unterhaltsvorschuss bekommt ein Kind, wenn es bei einem Elternteil lebt und der andere Elternteil keinen Unterhalt zahlt. Ich will Ihnen einmal einen Fall aus dem Leben schildern, der die Linke zur Vorlage dieses Gesetzentwurfs bewegt hat:
Ein Kind lebt bei seiner Mutter; der Vater zahlt keinen Unterhalt; das Jugendamt leistet Unterhaltsvorschuss. Die Mutter hat einen Verkehrsunfall und stirbt; denkbar wäre auch: Sie wird psychisch krank, hat eine Depression und wird in eine Einrichtung eingewiesen. Zum Vater kann das Kind nicht. Das Kind soll ins Heim kommen, wird aber von der Großmutter aufgenommen: Es ist ja schließlich ihr Enkelkind. Und wozu ist Familie da? - Was macht das Jugendamt daraufhin? Es stellt die Zahlung des Unterhaltsvorschusses ein.
Ich weiß - wir haben es im Ausschuss erörtert -, so ein Fall ist für die CDU nicht vorstellbar.
Frau Möllring kennt aus Ihrer Erfahrung nicht einmal einen Fall, bei dem ein Kind nicht bei einem Elternteil lebt.
Dieses Kind lebt nicht mehr bei einem Elternteil, sondern bei einem Großelternteil. Deshalb gibt es per Gesetz, so wie es gegenwärtig ist, kein Geld mehr. Gerade das soll mit unserem Gesetzentwurf geändert werden.
- Nein, Marlene, heute nicht.
Was kann die Großmutter sonst machen? Für die Doppelbelastung anderer Personen als des Elternteils stehen die allgemeinen Jugendhilfeleistungen zur Verfügung. Diese Argumentation - das ist auch die Argumentation des Ministeriums - trägt aber nur teilweise.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Wunderlich, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Rupprecht?
Jörn Wunderlich (DIE LINKE):
Das besprechen wir im Ausschuss.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Wollen Sie die Zwischenfrage jetzt zulassen oder nicht?
Jörn Wunderlich (DIE LINKE):
Nein. - Pflegeltern beispielsweise erhalten nach § 39 SGB VIII sogenanntes Pflegegeld, sodass kein Bedarf hinsichtlich eines Unterhaltsvorschusses entstehen kann.
- Zu Ihnen, Herr Singhammer, komme ich noch. - Zu diesem Personenkreis gehört die Großmutter aber in aller Regel nicht, weil sie ihr Enkelkind aus innerfamiliärer Hilfsbereitschaft - es ist ja schließlich ihr Enkelkind - aufnimmt.
Ich weiß, solche innerfamiliäre Hilfsbereitschaft geht der SPD ab. Sie ist der Meinung, § 39 SGB VIII greife immer. Aber selbst wenn dieser Paragraf greift, kann das Pflegegeld aufgrund bestehender Unterhaltsverpflichtungen seitens der Großmutter nach § 1601 BGB - da steht: ?Verwandte in gerader Linie sind verpflichtet, einander Unterhalt zu gewähren? - angemessen gekürzt werden. In jedem Fall bleibt die Tatsache, dass das Kind seinen Anspruch auf Gewährung von Unterhaltsvorschuss verliert, wenn ein Großelternteil an die Stelle der Mutter tritt. Insoweit stellt sich schon die Frage, ob die alleinstehende Großmutter der belastenden Situation ausgesetzt werden soll, die das Unterhaltsvorschussgesetz eben vermeiden will.
Nun kann bei Bedürftigkeit Sozialhilfe in Anspruch genommen werden. Anspruchsinhaber auf den Unterhaltsvorschuss ist aber das Kind. Insoweit ist eine Bedürftigkeit der Großmutter nicht von Bedeutung.
Da sich weder der juristischen Literatur noch der Rechtsprechung Argumente entnehmen lassen, die einer Ausweitung des Berechtigtenkreises des § 1 Abs. 1 Unterhaltsvorschussgesetz entgegenstehen, sollte die Koalition ihre Meinung zu den Voraussetzungen, um zum Berechtigtenkreis nach § 1 Abs. 1 Unterhaltsvorschussgesetz zu gehören, in diesem begrenzten Sinne, wie es der Gesetzentwurf, vorsieht, einmal überdenken.
Die Linke will den in solchen Fällen betroffenen Kindern helfen. Helfen Sie mit! Da spreche ich jetzt insbesondere die SPD an.
Stimmen Sie dem Gesetz zu und lassen Sie diese Hilfe nicht wieder an der Kinderfeindlichkeit der Großen Koalition und Ihrer Hörigkeit in dieser Koalition scheitern! Hören Sie doch endlich einmal auf, der CDU/CSU immer hinterherzuhecheln!
Nun noch ganz kurz zum Antrag der FDP, die Altersgrenzen anzuheben. Das wird ja von der Linken schon seit eh und je gefordert. Insoweit ist das gut.
- Tun Sie nicht so erstaunt. Wir haben das schon oft im Ausschuss gefordert. Es gab dazu sogar einen Antrag von uns, der abgelehnt worden ist. Frau Laurischk, wo waren Sie bei diesen Ausschusssitzungen?
Die entsprechenden Anträge sind also bisher immer abgelehnt worden. Die FDP versucht jetzt das Gleiche noch einmal, aber gleichzeitig unter Kürzung der Bezugsdauer. Dazu kann ich nur sagen: Nicht mit uns!
Wenn bei Ihnen schon im Feststellungsteil der Kinderzuschlag erwähnt und bemängelt wird, frage ich mich, warum im Forderungskatalog keine entsprechenden Forderungen auftauchen. Ich kann dazu nur wieder feststellen: Auch hier hat die FDP wieder einmal kein eigenes Konzept. Eigentlich schade; denn es geht ja um die Kinder.
Nun zu Ihren Ausführungen, Herr Singhammer, zum Erziehungsgehalt: Kommen Sie einmal in der Realität an!
Es gibt einen Bundesparteitagsbeschluss der Linken vom 25. Mai, der ein solches Erziehungsgehalt eindeutig ablehnt,
auch wenn das Ihren Wünschen und Vorstellungen - es ist ja eine alte Zielvorstellung der CSU: Frauen an den Herd und sie dafür ordentlich bezahlen - nicht entspricht.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der Kollegin Marlene Rupprecht.
Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hätte dieses Problem eigentlich gerne durch eine Zwischenfrage gelöst. Herr Kollege Wunderlich, wir arbeiten sonst eigentlich sehr kollegial zusammen, wenn es um Kinder geht. Man sollte aber zumindest die Rechtslage kennen. Ich lese Ihnen einmal § 27 Abs. 2a des SGB VIII - Kinder- und Jugendhilfe - vor:
Ist eine Erziehung des Kindes oder Jugendlichen außerhalb des Elternhauses erforderlich, so entfällt der Anspruch auf Hilfe zur Erziehung nicht dadurch, dass eine andere unterhaltspflichtige Person
- unterhaltspflichtige Personen gibt es nur in direkter Linie, also Eltern und Großeltern, mehr nicht -
bereit ist, diese Aufgabe zu übernehmen; die Gewährung von Hilfe zur Erziehung setzt in diesem Fall voraus, dass diese Person bereit und geeignet ist, den Hilfebedarf in Zusammenarbeit mit dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe nach Maßgabe der §§ 36 und 37 zu decken.
Weitere Paragrafen, die hier zutreffen, sind die §§ 33, 36 und 39. Unterhaltspflichtige, die für ein Kind aufkommen müssten, werden also vom Jugendamt gefordert, wobei das Jugendamt die Fremdunterbringung bezahlen muss. Wenn hier irgendjemand etwas anderes sagt, dann ist klar, dass er die entsprechenden Gesetze zur Jugendhilfe und das Unterhaltsvorschussgesetz nicht kennt.
Der Unterhaltsvorschuss ist keine Ersatzleistung bei außerhäusiger Unterbringung. Für den Fall, dass ein Kind außerhäusig bei Großeltern untergebracht wird, haben wir mit der letzten Reform der Jugendhilfe im § 27 SGB VIII den Abs. 2a eingeführt, um damit die Verwandtenpflege abzusichern, also um dafür zu sorgen, dass Großeltern, die dazu bereit sind, nicht bestraft werden. Dabei kann dann die Unterhaltspflicht der Großeltern anteilig mitberücksichtigt werden, aber mehr nicht. Das Kind bekommt einen nach dem Alter abgestuften Barbetrag darüber hinaus. Ich bitte, dies einmal zur Kenntnis zu nehmen.
Es ist schon wichtig, dass man Gesetze liest, bevor man im Bundestag entsprechende Anträge stellt.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Wunderlich zur Erwiderung.
Jörn Wunderlich (DIE LINKE):
Frau Kollegin Rupprecht, der Anspruch auf Unterhaltsvorschuss entfällt in dem Falle; es ist halt so. Die übrigen Leistungen werden ersetzt.
Am Ende ist von Ihnen in einem konzilianten Nebensatz erwähnt worden, dass die Unterhaltsverpflichtungen der Großeltern bestehen und dass sie angerechnet werden können. Sie werden auch angerechnet. So sind die Fälle in der Praxis, und gerade um diese Fälle geht es in unserem Gesetzentwurf.
Es soll ein minimaler Punkt angepasst werden, um diese kleine Regelungslücke zu schließen. Trotzdem sträuben Sie sich ohne Ende. Jedes Mal, wenn es eine konkrete Problemlösung gibt - es handelt sich um Fälle aus der Praxis -, dann zieht diese Koalition nicht mit. Große Worte, keine Taten, das kennzeichnet die Kinder- und Familienpolitik dieser Regierung im Hinblick auf Kinderarmut.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Frau Rupprecht, Sie können darauf nicht erwidern. Andere Redner Ihrer Fraktion können darauf noch eingehen.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Elisabeth Winkelmeier-Becker von der CDU/CSU-Fraktion.
Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Überschriften der Anträge von Grünen und FDP lassen eigentlich einiges erhoffen. Aber leider kommt beim Weiterlesen schnell die Ernüchterung. Von einem Gesamtkonzept zur Vermeidung von Kinderarmut kann hier nicht die Rede sein.
Im Antrag der Grünen steht unter Punkt 2 - von der Linken wurde es gerade wiederholt -:
Das Ausmaß der Kinderarmut wächst und die Regierung schaut untätig zu.
Da kann ich nur sagen: Sie haben einige Dinge einfach nicht mitbekommen.
Werfen Sie doch einmal einen Blick in den neuen Armuts- und Reichtumsbericht von Minister Scholz. Er zeichnet das Bild der Armut anhand der Daten von 2004 und 2005.
Das ist der Zeitraum nach sieben Jahren grüner Regierungsmitverantwortung.
Ich finde es aber für diese Debatte nicht erhellend, wenn wir uns mit gegenseitigen Schuldzuweisungen beglücken. Ich finde es auch nicht gut, wenn mit dem Gestus der Empörung die Folgen von privaten Entscheidungen komplett der Regierung vor die Hütte gekippt werden.
Wenn es beispielsweise auf privaten Entscheidungen beruht, dass die Familien der türkischen Community eine höhere Geburtenrate haben,
dann bedeutet das zwar, dass wir uns besonders darum kümmern müssen, aber die Folgen sind der Regierung nicht von vornherein anzulasten. Deshalb finde ich es falsch, wenn dieses Thema mit dem Gestus großer Aufregung vorgetragen wird.
- Nein, das ist nicht die Konsequenz. Es hat vor allem nicht die Konsequenz - das dürfen Sie nicht falsch verstehen -, dass wir uns diesem Problem nicht widmen wollen. Aber dass bestimmte private Entscheidungen zu bestimmten Problemen führen, darf nicht von vornherein der Politik angelastet werden.
Seit 2005 haben sich die maßgeblichen Parameter für die Erwerbstätigkeit von Eltern durchweg verbessert. Wir haben die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert,
das Elterngeld eingeführt, die Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten verbessert sowie den massiven Ausbau der Kinderbetreuung beschlossen und finanziert. Wir stellen endlich auch die richtigen Weichen bei der Fortentwicklung des Kinderzuschlags, vor allem mit einer geringeren Transferentzugsrate, was dazu führt, dass von zusätzlichem Einkommen auch tatsächlich mehr übrig bleibt.
Wir kümmern uns verstärkt um den Wiedereinstieg von Frauen in den Arbeitsmarkt. Dank der guten Konjunktur - das zeigen die Zahlen - gibt es eine höhere Chance, dass mehr Menschen eine bezahlte Arbeit finden. Das ist das Maßnahmenpaket, mit dem wir Eltern zu mehr Einkommen verhelfen und damit Kinder aus der Kinderarmut herausholen können.
Ihnen fällt dazu nur ein, noch mehr Ausbau der Kinderbetreuung und mehr Rechtsansprüche zu fordern. Finanziert werden soll das durch Einsparungen beim Ehegattensplitting in Höhe von 5 Milliarden Euro. Sie möchten also Familien mit Kindern, die nachweislich am meisten vom Ehegattensplitting profitieren, das Geld wegnehmen,
und zwar unter der Überschrift: Vermeidung von Kinderarmut.
Das ist doch nicht logisch.
Als zweiten Punkt wollen Sie den Regelsatz für Erwachsene auf 420 Euro erhöhen. Gleichzeitig sollen diese Familien aber kein Betreuungsgeld erhalten; denn das würde den Anreiz setzen, Mütter vom Arbeitsmarkt fernzuhalten. So ist Ihre Argumentation, die gerade noch einmal vorgetragen wurde. Aber in der Argumentation ist doch ein klarer Bruch. Wenn Sie in Bezug auf das Betreuungsgeld kritisieren, dass es gerade für die Falschen lukrativ sei und den Anreiz zur Arbeit abschwäche - auch beim Ehegattensplitting wird häufig so argumentiert -,
dann erzielen Sie doch genau den gleichen Effekt, wenn die Transferleistungen erhöht werden, die es ohne eigene Erwerbstätigkeit und Anstrengung gibt. Wenn wir diese baren Transferleistungen einfach nur deutlich erhöhen, dann schwächt das die eigene Initiative, finanziell wieder selbstständig zu werden.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kurth von den Grünen?
Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU):
Ja, bitte.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte schön.
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Vielen Dank. - Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Erhöhung des Regelsatzes dazu dient, das Existenzminimum zu sichern, und wie bewerten Sie den einstimmig gefassten Beschluss des Bundesrates vom 23. Mai 2008, in dem die Bundesländer feststellen:
Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, die Regelleistung für Kinder nach dem SGB II sowie die Regelsätze nach dem SGB XII unverzüglich neu zu bemessen und als Grundlage dafür eine spezielle Erfassung des Kinderbedarfes vorzusehen. Dabei ist auch sicherzustellen, dass die besonderen Bedarfe der Kinder im Hinblick auf die Mittagsverpflegung in Ganztagsschulen oder Schulen mit einem Bildungs- und Betreuungsangebot am Nachmittag ? sowie bei der Beschaffung von besonderen Lernmitteln für Schülerinnen und Schüler ? abgedeckt werden.
Die Verhandlungsführung hatte - Sie kommen ja aus Nordrhein-Westfalen - Herr Laumann.
Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU):
Hätten Sie mich in meiner Rede fortfahren lassen, wäre ich genau darauf zu sprechen gekommen, dass dies alles für die Kinder durchaus anders bewertet werden kann. Der Punkt, den ich gerade ausgeführt hatte, betraf zunächst den für die Erwachsenen vorgesehenen Regelsatz. Wenn sich aus dem Existenzminimumbericht, dessen Vorlage wir im Herbst erwarten, Handlungsbedarf ergibt, dann haben wir eine andere Faktenlage und dann wird daraus eine Konsequenz zu ziehen sein. Lassen Sie mich am besten einfach in meiner Rede fortfahren und damit auf die Regelsätze für Kinder zu sprechen kommen!
Ich stimme Ihnen nämlich ausdrücklich darin zu, dass wir darüber nachdenken müssen, ob die sehr schematische Bedarfsberechnung mit 60 Prozent und 80 Prozent richtig ist. Denn als Mutter weiß ich, wie viel Kinder verputzen können und was das bei den ansteigenden Preisen bedeutet.
Weitergehende Barhilfen halte ich aber für kontraproduktiv; denn sie würden genau das subventionieren, was politisch nicht gewollt ist: das dauerhafte Verharren in der Arbeitslosigkeit und das Vererben von Armut. Da wären Sachleistungen und Gutscheine im Prinzip die bessere Alternative. Ich könnte mir da übrigens auch einen Anwendungsfall für das Betreuungsgeld vorstellen, der Ihre Bedenken aufgreifen könnte.
Darüber hinaus kostet das alles aber Geld, und zwar für Aufgaben, für die primär die Länder zuständig sind. Auf Bundesebene gibt es im Moment wenig Spielraum. Der Charme dieses Instruments wird aber auch in den Reihen der Union gesehen.
Noch einen Bruch in Ihrer Argumentation muss ich aufgreifen. - Ich sehe gerade, dass es hier blinkt.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ich blinke, weil die Redezeit zu Ende ist.
Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU):
In Deutschland sprechen wir allgemein bei einem Einkommen von unter 50 Prozent des Medianeinkommens von Armut. Sie aber beschreiben Kinderarmut anhand der Zahlen von Leistungsbeziehern. Das impliziert, dass das Beziehen von Leistungen mit Armut gleichzusetzen ist. Aber umgekehrt wird doch ein Schuh daraus: Der Sozialstaat funktioniert. Gerade mit diesen Leistungen holen wir die Leute aus der Armut heraus.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Jetzt müssen Sie aber zum Schluss kommen.
Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU):
Schade. So kann ich auf die positiven Vorschläge der FDP zum UVG leider nicht mehr eingehen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ekin Deligöz vom Bündnis 90/Die Grünen.
Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Winkelmeier-Becker, ich will direkt mit Ihrer Kritik anfangen. Das Problem der jetzigen Koalition ist, dass Sie im Moment Kinderarmut gar nicht vernünftig konzeptionell angehen.
Ihnen liegen ein Bericht von Herrn Scholz und ein Bericht von Frau von der Leyen vor. Frau von der Leyen bezweifelt die Zahlen von Herrn Scholz, Herr Scholz die von Frau von der Leyen, und Herr Glos bezweifelt einfach alle Zahlen. Sie führen eine reine Zahlendebatte. Das hat aber überhaupt nichts damit zu tun, wie man Kinderarmut konkret bekämpft.
Anstatt diese Zahlendebatte zu führen, sollten Sie sich mit den Instrumenten beschäftigen. Das müssen Sie sich vorwerfen lassen.
Wir brauchen ein Gesamtkonzept. Dieses Gesamtkonzept wird von zwei Säulen getragen. Das eine ist die Kinderbetreuung zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie und damit zum Schutz gegen Kinderarmut. Das andere sind die materiellen Leistungen. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist wichtig. Ja, Herr Singhammer, auch wir sind für Wahlfreiheit. Aber Kinderbetreuung dient nicht nur der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Kinderbetreuung ist auch die frühe Förderung von Kindern, sei es in der Sprache, sei es in weiteren Kernkompetenzen. Vor allem für benachteiligte Kinder ist frühe Förderung wichtig.
Wenn das Geld zu Hause knapp ist und die Eltern dann vor der Entscheidung stehen, dann entscheiden sie sich lieber für das Geld als für die frühe Förderung ihres Kindes.
Das ist das Manko Ihres Betreuungsgelds. Sie können das noch so sehr verneinen: Die Einführung des Betreuungsgelds wird dazu führen, dass Kinder eben nicht früh gefördert werden, weil ihnen diese Förderungsinstrumente vorenthalten werden. Das ist nichts anderes als eine reine Ideologiepolitik, die Sie hier durchzusetzen versuchen.
Kommen wir zu dem anderen Instrument, das Sie vorschlagen, dem Kinderzuschlag. Wir hatten dazu im Ausschuss eine Anhörung. Wissen Sie, was ich von dieser Anhörung mitgenommen habe? Dass der Kinderzuschlag nichts anderes als eine Mogelpackung ist.
Er ist Symbolpolitik, weil Sie nicht dazu bereit sind, ausreichend Geld in die Hand zu nehmen, um in diesem Land wirklich etwas zu verändern. In diesem Fall sollten Sie es lieber ganz lassen. Machen Sie keine Versprechungen, die Sie mit Ihren Taten nicht einhalten können.
Ich komme nun zu dem, was Sie gesagt haben, Herr Wunderlich. Sie tun so, als ob Sie mit einer minimalen Änderung im Unterhaltsvorschussgesetz Armut in Deutschland bekämpfen könnten. Der Bezug des Unterhaltsvorschusses ist in Deutschland auf sechs Jahre begrenzt. Unser Problem ist aber nicht das Unterhaltsvorschussgesetz. Unser Problem ist, dass zwei Drittel derjenigen, die unterhaltspflichtig sind, unterhaltssäumig sind und das Geld erst gar nicht zahlen. Da müssen wir sehen, wie wir die Menschen dazu bringen, den Unterhalt zu finanzieren und zu bezahlen.
Die komischen Vorschläge, die Sie machen, gehen komplett an der Realität vorbei.
Mit dem Instrument des Unterhaltsvorschusses können Sie die Armut nicht bekämpfen; das wissen Sie. Dieser Vorschlag macht sich vielleicht in Ihren Wahlkreisbüros gut, um sich in ein positives Licht zu rücken, aber mit Armutsbekämpfung hat er rein gar nichts zu tun.
Ich komme zum Vorschlag der FDP. Sie schlagen vor, die Freibeträge zu erhöhen. Wer profitiert davon? Davon profitieren doch nur diejenigen, die Steuern zahlen, um die Freibeträge nutzen zu können.
Das sind aber nicht die Menschen, die von Armut betroffen sind oder das ALG II beziehen. Wer profitiert davon, wenn das Kindergeld, wie Sie es fordern, auf 200 Euro erhöht wird? Schließlich ist auch Ihnen aufgefallen, dass die Freibeträge nur von einem Bruchteil der Menschen in Anspruch genommen werden können.
Wie finanzieren Sie das? Woher nehmen Sie das Geld? Wissen Sie überhaupt, was das kostet? Sie haben gerade der Linken und auch uns vorgeworfen, wir wüssten nie, wie wir unsere Forderungen finanzieren.
Wie Sie Ihre ?Träume? finanzieren, sagen Sie uns aber nicht.
Ich komme zu einem weiteren Punkt, der immer wieder angesprochen wird, das Ehegattensplitting. Über dieses Thema werden wir noch lange diskutieren. In allen Fraktionen gibt es dazu verschiedene Positionen. Aber eines müssen wir festhalten: Das Ehegattensplitting fördert nicht die Familie, sondern das Ehegattensplitting fördert die Ehe.
60 Prozent der Familien haben nichts, aber auch gar nichts vom Ehegattensplitting. Es gibt nun einmal verschiedene Lebensformen in Deutschland, nehmen Sie das zur Kenntnis. Es gibt nun einmal Verheiratete und Unverheiratete mit Familie.
Es gibt Doppelverdiener, die aber nicht viel verdienen. Sie profitieren überhaupt nicht vom Ehegattensplitting.
Dafür gibt es aber Menschen, die hervorragend verdienen und vom Ehegattensplitting maximal profitieren.
Dass diese Menschen dann bis zu 8 000 Euro mehr als Nichtverheiratete bekommen, liegt daran, dass sie sich für ein bestimmtes Lebensmodell entschieden haben. Es darf uns aber nicht darum gehen, bestimmte Lebensmodelle zu bevorzugen, sondern wir müssen Kinder und das Leben mit Kindern förderb. Dafür ist das Ehegattensplitting das falsche Instrument. Daran gibt es nichts zu zweifeln.
Zusammengefasst sage ich Folgendes: Der Kampf gegen Kinderarmut beruht auf zwei Säulen. Wir brauchen die Infrastruktur, wie den Ausbau der Kinderbetreuung für die unter Dreijährigen, qualitativ hochwertige Angebote und eine bessere Qualifizierung unserer Erzieherinnen. Wir brauchen die Ganztagsschulen, deren Förderung aber 2009 ausläuft und die dank der Föderalismusstrukturreform nicht fortgesetzt werden kann. Wenn es um die Fortführung der Ganztagsschulförderung geht, ist auch die FDP gefordert.
Wir brauchen all dies, darüber hinaus brauchen wir aber auch eine materielle Sicherung, vor allem auf der untersten Ebene: Die ALG-II-Leistungen für Kinder müssen neu berechnet werden. Vor allem müssen wir aber eine Neustrukturierung der Leistungen ins Visier nehmen; denn die gegenwärtige Leistungsstruktur dient vor allem den Gut- und Besserverdienenden.
Dafür steht der Antrag der Grünen. Uns geht es nicht darum, ein bestimmtes Familienmodell zu unterstützen, sondern darum, Kinder direkt und effizient zu unterstützen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Helga Lopez von der SPD-Fraktion.
Helga Lopez (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zu Beginn meiner Rede das Wort an Herrn Wunderlich richten. Ich konnte vorhin leider keine Zwischenfrage stellen; da ich jetzt rede, kann ich diesen Punkt aber jetzt anbringen. Eines ist noch nicht gesagt worden - Marlene Rupprecht hat es vorhin angedeutet -: Das Pflegegeld beträgt in der untersten Stufe roundabout 650 Euro. Sie können doch nicht erwarten, dass zusätzlich Unterhaltsvorschuss gezahlt wird. Das ist nun wirklich nicht notwendig und deswegen auch nicht vorgesehen.
- Ich weiß nicht, wo der Fall, den Sie skizziert haben, aufgetreten ist. Ich würde Ihnen empfehlen - schließlich sind Sie Bundestagsabgeordneter -, zur Behörde zu gehen. Ich kenne einen solchen Fall nicht.
- Nein. Ich kann Ihnen schon jetzt sagen: Da stimmt etwas nicht. Gehen Sie zur Behörde und klären Sie das. Dahinten sitzt Rolf Stöckel. Er kennt die Rechtslage aus dem Effeff und kann Ihnen nachher bestätigen, dass auch er einen solchen Fall noch nicht erlebt hat.
Zur Debatte über die vorliegenden Anträge: Den Antrag der FDP haben wir erst gestern erhalten, vor ziemlich exakt 24 Stunden. Wir hatten aber genug Zeit, um ihn aufmerksam zu lesen. Eine Stelle in Ihrem Antrag hat mir besonders gut gefallen. Im Antrag der Grünen gibt es eine ähnliche Formulierung. Ich lese die beiden Stellen einmal vor, weil sie eine Herzensangelegenheit von mir betreffen; das gilt nicht erst seit heute. Im Antrag der Grünen heißt es:
So sind Kinder auch nicht per se arm, sondern die Familien, in denen sie leben.
Im Antrag der FDP heißt es:
Kinder und Jugendliche sind arm, weil die Familien, in denen sie leben, arm sind.
Das kann ich unterschreiben. Das trifft den Kern. Deswegen sollten wir aufhören, von Kinderarmut zu sprechen. Familienarmut ist der treffendere Begriff.
Der Begriff Kinderarmut suggeriert leider - das will ich deutlich sagen -, dass Eltern ihren Kindern nicht das geben, was ihnen zusteht bzw. das Geld unverantwortlich ausgegeben wird. Das gilt für die weitaus größte Zahl aller Fälle mitnichten.
Ich komme aus einem rein ländlichen Gebiet. Dort sind viele Leute arbeitslos geworden, weil Firmen abgewandert oder in Konkurs gegangen sind. Die Zahl der Arbeitslosen nimmt zwar auch dort inzwischen ab, aber - und das ist der eigentliche Skandal in diesem Land - innerhalb von zwei Jahren ist die Zahl der Bedarfsgemeinschaften - das sind Familien, die Zuzahlungen benötigen, obwohl die Eltern arbeiten gehen - von 1 200 auf über 3 000 gestiegen. Ich sage es noch einmal: Das ist ein Skandal.
Dort, wo ich lebe, schämen sich arbeitslose, insbesondere langzeitarbeitslose, Menschen für ihre unverschuldete Situation. Sie tun alles, wirklich alles, damit wenigstens ihre Kinder nicht auf alles verzichten müssen. Für sie bedeuten 5 Euro Kindergelderhöhung nicht eine Packung Zigaretten, sondern ein paar Liter Milch. Aber - auch das will ich sagen - sie bedeuten hier und da auch die Möglichkeit, auf dem Flohmarkt eine gebrauchte Markenklamotte, vielleicht sogar einen gebrauchten Nintendo Gameboy zu kaufen. Denn Teilhabe bedeutet in dieser Gesellschaft nicht nur die wichtige Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, sondern leider auch Teilhabe an Statussymbolen. Diese Eltern wollen nicht, dass ihre Kinder gehänselt und stigmatisiert werden, dass sie ?Assi? genannt werden; so ist der Sprachgebrauch unter Jugendlichen. Das ist schlimm und bleibt für diese Kinder leider nicht folgenlos.
Wenn man sich also anschaut, woher Armut in Deutschland kommt, ist man unweigerlich und sofort bei den prekären Beschäftigungsverhältnissen.
- Nicht bei der schlechten Politik, die wir machen. Sie können das tausendmal wiederholen. Ich sage Ihnen: Schauen Sie sich Berlin an. Dort sind Sie an der Regierung beteiligt. Verbessern Sie die Situation dort.
Wenn ich schon dabei bin, möchte ich noch sagen: Die ersten privatgewerblichen Kindergärten gibt es in Berlin.
Sie sind also mitverantwortlich; Sie können sich nicht rausreden.
Ich war gerade bei prekären Beschäftigungsverhältnissen, bei Dumpinglöhnen und bei den allgemein schlechteren Bedingungen für Alleinerziehende. Ich frage mich, Kolleginnen und Kollegen von der FPD: Wo ist bei Ihnen die Forderung nach einem Mindestlohn?
Sie fordern die Einführung von Bürgergeld. Mir ist nie klar geworden - ich habe viel dazu gelesen -, wem Bürgergeld nutzt. Ich habe den Eindruck, es nutzt nicht den Bürgern, sondern den Unternehmen, die dann noch einfacher Dumpinglöhne zahlen können.
Sie sagen auch nicht, wie Sie das finanzieren wollen.
Wenn Sie den Umsatzsteuersatz auf 40 Prozent erhöhen wollen, dann fordern Sie weiterhin ein Bürgergeld! Ich weiß nicht, wie Ihre Forderungen finanziert werden sollen. Wir sollen den Staat entschulden, fordern Sie; das ist eine vernünftige Forderung. Zeitgleich legen Sie jetzt das größte Steuersenkungspaket auf, das ich bisher gesehen habe.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Frau Kollegin Lopez, kommen Sie bitte zum Schluss.
Helga Lopez (SPD):
Einen Satz noch.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ja, bitte.
Helga Lopez (SPD):
Wer den höchsten Steuersatz auf 35 Prozent senkt - das fordern Sie -, hat kein Geld, um die Familien ernsthaft zu fördern. Das ist Fakt.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Jetzt hat das Wort die Kollegin Katharina Landgraf von der CDU/CSU-Fraktion.
Katharina Landgraf (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Anträge bzw. der Gesetzentwurf der drei Parteien sehen, zumindest wenn man die Überschriften betrachtet, eigentlich gut aus. Man muss dafür sein. Denn die Existenz von Kindern zu sichern und Familien zu stärken, ist auf jeden Fall gut. Ich habe mir jetzt vor allen Dingen die Anträge der Grünen und der FDP angeschaut. Ich stelle zum Beispiel fest, dass im Grünen-Antrag ein Mischmasch von Zuständigkeiten vorherrscht. Die Verantwortung der Eltern fehlt. Darüber steht dort überhaupt nichts.
Am meisten ärgere ich mich darüber, dass unter Punkt 2 im Antrag der Grünen steht, die Regierung schaue untätig zu.
Ich muss fragen: Haben Sie nichts erkannt? Haben Sie nichts gemerkt? Waren Sie nie anwesend, oder wollen Sie das aus strategischen Gründen verschweigen? Die Behauptung ist falsch, und wir können nachweisen - meine Vorredner haben das schon gesagt -, was alles getan wird und was wir weiterhin vorhaben.
Es wird zum Beispiel von zentralen Barrieren gesprochen, ohne das Wort zu erklären. Ich frage mich, was Sie damit meinen. Meinen Sie eine bundespolitische Barriere? Mir ist so etwas nicht bekannt.
Beim Antrag der FDP sieht es schon besser aus. Sie haben einen besseren Bezug zu den Kompetenzebenen der Länder und der Kommunen gefunden. Ebenso wie bei den Grünen fehlt aber auch bei Ihnen die direkte Ansprache der Eltern. Haben diese eine Verantwortung?
- Das steht aber nicht definitiv im Antrag.
Auf Seite 2 steht ein interessanter Satz:
Die soziale Lage der Eltern darf nicht über den Bildungsweg der Kinder und Jugendlichen entscheiden.
Das stimmt.
Wir kommen jedoch nicht darum herum, zuzugeben, dass die soziale Lage der Eltern letztlich doch entscheidet. Unsere Aufgabe ist es, die Eltern zu stärken und ihnen Kompetenzen an die Hand zu geben, damit die Kinder einen besseren Zugang zur Bildung erhalten.
Nun komme ich zu Aspekten, von denen ich hoffe, dass andere sie noch nicht in dem Sinne angesprochen haben. Ich denke aber ähnlich wie Sie, Frau Lopez. Wir müssen mehr für die Eltern tun. Wir müssen die Kompetenz der Eltern erhöhen, denn wir dürfen nicht nur an den Symptomen der viel beklagten Kinderarmut herumdoktern. Eltern brauchen Deutschland als ein familienfreundliches und kindergerechtes Land. Sie brauchen ebenfalls familienfreundliche Gemeinden, Landkreise und Bundesländer. Wir müssen hier klar äußern: Betreuungsangebote sind Ländersache. Die Kommunen haben ebenso viele Kompetenzen. Durch unseren Gesetzentwurf zur Förderung von Kindern unter drei Jahren eröffnen wir die Möglichkeit, gemeinsam mit den Kommunen und den Ländern etwas für die Eltern zu tun. Auf diesem Wege haben wir die Möglichkeit, den Kindern die frühkindliche Bildung zuteil werden zu lassen, die uns vorschwebt.
Eltern brauchen das Angebot einer hochkarätigen frühkindlichen Bildung. In meinem Heimatland Sachsen wurden in diesem Bereich schon erste Schritte getan. Wie ich gehört habe, gilt das auch für andere Bundesländer, die auch die Mittel für die Weiterbildung von Erzieherinnen und Erziehern, die schon in Arbeit sind, erhöht haben. Es wurde ebenfalls ein neues Programm für die Ausbildung von Erzieherinnen aufgelegt. Ich finde es toll, dass im FDP-Antrag auch von Erziehern die Rede ist. Ich finde es super, dass man auch die Männer in diesem anspruchsvollen Beruf anspricht. Es tut unseren Kindern gut, wenn sich auch Männer an ihrer Ausbildung und Betreuung beteiligen. Das soll auch ein Signal unserer heutigen Debatte sein.
In Sachsen wird übrigens auch das Ganztagesschulprogramm weiter gefördert. Dort steht nicht nur das Bundesprogramm im Blickfeld. Wir haben ein Landesprogramm, und Schulen werden mit Mitteln für Honorare ausgestattet und können entscheiden, welche ehrenamtlich Tätigen und welche Experten weitere Nachmittagsangebote an Ganztagsschulen anbieten. Ich finde das gut.
- Lehrer auch, aber auch andere von außen, zum Beispiel aus den Vereinen.
Eltern brauchen eine familienfreundliche Arbeitswelt. Sie brauchen familienfreundliche Arbeitsplätze und familienfreundliche Arbeitszeiten. Es gilt kein Anwesenheitsmythos. Vielmehr muss die Arbeitszeit vereinbart werden. Dann ist die Motivation junger Eltern am größten. Auch die Unternehmer haben Vorteile, das müssten diese erkannt haben. Wir brauchen auch eine Arbeitsagentur, die auch Mütter mit mehreren Kindern vermitteln kann und will. Wir brauchen Netze, die zum Beispiel durch Mehrgenerationenhäuser, Nachbarn, Freunde, Paten, Großeltern und ehrenamtlich Tätige gebildet werden.
- Nein, das ist nicht ein Wegschieben von Verantwortung. Liebe Frau Reinke, alle müssen sich dazu bekennen. Vielleicht haben Sie es selbst nicht erlebt, aber wir praktizieren es und tragen dazu bei, dass Umfeld und Netz funktionieren. Die Grünen haben in ihrem Antrag von Eltern-Kind-Zentren gesprochen. Unser Mehrgenerationengedanke geht noch einen Schritt weiter, denn er umfasst eine Generation mehr. Das müssen wir in unserer modernen Zeit mit ihrer mobilen Arbeitswelt fördern.
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird es den Eltern ermöglichen, ihren Kindern eine verantwortliche Erziehung angedeihen zu lassen und ihnen aus der Familie heraus Selbstbewusstsein zu vermitteln. Die Familie pflanzt das ein, was ein Kind braucht, nämlich die Neugier auf die Welt und einen Wissensdurst, der zuerst in der Familie akzeptiert werden muss, um dann später von uns, von der Öffentlichkeit, weiter gefördert zu werden.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Rolf Stöckel von der SPD-Fraktion.
Rolf Stöckel (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als einer der letzten Redner in dieser Debatte möchte ich hervorheben, dass heute wohltuend viele Gemeinsamkeiten deutlich geworden sind. Wir teilen die Erkenntnisse, dass das Thema Kinderarmut auf der Tagesordnung bleiben muss und dass wir alle - das gilt nicht nur für die Mitglieder dieses Hauses, sondern auch für alle staatlichen Ebenen und gesellschaftlichen Institutionen sowie für die Menschen im Lande - Verantwortung dafür tragen, die Kinderarmut in diesem reichen Land konsequent zu bekämpfen.
Es darf nicht immer nur darum gehen, welche Armutsrisiken in 20, 30 Jahren auf die Rentner zukommen, weil wir unsere Hausaufgaben nicht gemacht und versäumt haben, heute die notwendigen Investitionen in die zukünftigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu tätigen.
Es gibt Übereinstimmung, was die strukturellen Veränderungen betrifft. Uns ist klar, dass wir die Kinderarmut nicht nur durch materielle Transferleistungen bekämpfen können. Mit Ausnahme der Linken haben wir deutlich gemacht, dass die Länder bei Bildung, Frühförderung, Elementarerziehung und Kinderbetreuung Zuständigkeiten haben, dass wir aber gewillt sind, ihnen zu helfen. Vor allen Dingen die alten Bundesländer sind noch weit von der Erfüllung der Standards in diesem Bereich entfernt. Deshalb müssen unsere Anstrengungen verstärkt werden.
Zur materiellen Existenzsicherung. Wir haben zugesichert, dass wir im Herbst dieses Jahres auf der Grundlage der Existenzminimumberichte über die Neufestlegung der Steuerfreibeträge für Kinder und damit auch über die Höhe des steuerfreien Existenzminimums und der Regelsätze der Grundsicherung, über die Pfändungsfreigrenzen usw. diskutieren. All dies muss dann angepasst werden.
Man kann sich darüber streiten, ob die Art und Weise, wie die Transferleistungen erbracht werden, optimal ist. Im Rahmen der Arbeitsmarktmaßnahmen und des Grundsicherungssystems für Arbeitsuchende wird allerdings evaluiert, wie diese Maßnahmen wirken. Daher ist es folgerichtig, auch dies zu überprüfen.
Ich möchte davor warnen, all die Maßnahmen, die im Hinblick auf den Bürokratieabbau und die Herstellung von Leistungsgerechtigkeit durch Pauschalierungen zu Fortschritten geführt haben - das ist damals von allen Seiten gefordert worden -, jetzt aus populistischen Gründen zurückzunehmen. Ich bin der Meinung, dass es Öffnungsklauseln für individuelle Hilfen und für Sachleistungen geben sollte. Diese sollten denjenigen zugute kommen, die darauf angewiesen sind. Allgemeine Rechtsansprüche nach dem Gießkannenprinzip einzuführen, lehne ich allerdings ab.
Ich denke, dass es nicht hilft, in einen Wettbewerb über die Höhe der Transferleistungen einzutreten.
Mir ist kein Vorschlag bekannt, weder von den Linken noch von den Wohlfahrtsverbänden noch vom DGB noch von anderen, nach dem durch eine Erhöhung der Transferleistungen eine Senkung des Armutsrisikos - auf der Grundlage der EVS liegt die Armutsrisikogrenze bei 936 Euro pro Monat - erreicht würde.
Wir haben die Grundsicherungssysteme als Armutsbekämpfungsinstrumente eingeführt. Uns ist klar, dass die Hauptursache für die Armut von Kindern die Tatsache ist, dass ihre Eltern arbeitslos sind oder in prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten. Es ist richtig, in diesem Bereich die vernünftige Politik, die die rot-grüne Koalition in den letzten Legislaturperioden betrieben hat und die wir Agenda 2010 genannt haben, fortzuführen; denn sie hat zu positiven Ergebnissen geführt. Herr Singhammer, die beste Botschaft lautet in der Tat: Die Arbeitslosigkeit sinkt.
Wir müssen allerdings auch dafür sorgen, dass die Menschen, die arbeiten, vernünftige Löhne bekommen.
Bei allen Gemeinsamkeiten muss ich Ministerin von der Leyen Folgendes sagen - sie ist im Moment zwar nicht hier, aber vielleicht wird ihr das überbracht -: Wenn man als Familien-, Frauen- und Jugendministerin gute Arbeit und staatliche Mindestlöhne ablehnt, dann betreibt man eine Politik, die vor allen Dingen gegen erwerbstätige alleinerziehende Frauen gerichtet ist.
Das zeigt die Erfahrung in Großbritannien: Zu 80 bis 90 Prozent kommt dieses Instrument alleinerziehenden erwerbstätigen Frauen zugute.
Frau Gruß, ich finde in Ihrem Antrag viele richtige Ansätze. Ich möchte Ihnen das Angebot machen, dass wir uns zusammensetzen und das, was in der Tat nicht nur im Bereich der Bildung und Förderung, sondern auch im Bereich der Jugendhilfe an Strukturverbesserungen notwendig ist, gemeinsam mit der FDP umsetzen.
Am Samstag hat Ihr Parteivorsitzender, Guido Westerwelle, in München eine Rede gehalten und sich groß darüber ausgelassen, dass Nächstenliebe von den Menschen ausgeht, dass der Staat sie nicht ersetzen kann, dass er das nicht leisten kann. Gleichzeitig fordern Sie in Ihrem Antrag nicht nur von der Bundesregierung, sondern vom Staat insgesamt, noch größere Anstrengungen als bisher zu unternehmen. Dabei gab es unter Rot-Grün und gibt es auch jetzt unter der Großen Koalition mehr an staatlichen Familienleistungen als jemals zuvor. Entweder haben Sie den falschen Vorsitzenden,
oder Ihr Antrag ist eigentlich kein FDP-Antrag - diesen Widerspruch müssen Sie in Ihrer Partei lösen!
Ich habe nicht mehr viel Redezeit, will aber noch anbringen: Ich respektiere Ihre Arbeit und die Ihrer Kolleginnen und Kollegen in der Kinderkommission des Deutschen Bundestages. Es ist mir, der ich einmal Mitglied der Kinderkommission war, wichtig, darauf hinzuweisen, dass der konsensorientierte Ansatz einer Arbeit für Kinder und Kinderrechte in diesem Hause notwendig ist. Ich vermisse Ihre Initiative, aber auch eine gemeinsame Initiative aller Fraktionen, für ein Antragsrecht der Kinderkommission in diesem Hause.
Ich vermisse - schließlich wollen Sie mit Ihrem Antrag etwas für die materielle Sicherung von Kindern tun -, dass Sie sich für eine Ausweitung der Rechte von Kindern aussprechen. Das heißt ganz klar: für die Einführung eines Kinderwahlrechts ab Geburt. Ich weiß, dass da nicht alle klatschen können.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Stöckel, ich habe Ihnen jetzt einen ausreichenden Kinderzuschlag gegeben; aber Sie müssen jetzt zum Ende kommen.
Rolf Stöckel (SPD):
Damit komme ich zum Schluss, Herr Präsident. - Es reicht nicht aus, materielle Forderungen zu erheben. Man muss Kindern und Familien die Rechte einräumen, die andere selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen. Deshalb gehören das Kinderwahlrecht und ein Antragsrecht der Kinderkommission auf die Tagesordnung, und die Kinderrechte gehören ins Grundgesetz.
Wir werden noch lange über diese Fragen diskutieren.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der Kollegin Miriam Gruß.
Miriam Gruß (FDP):
Sehr geehrter Herr Stöckel, als ehemaligem Mitglied der Kinderkommission darf ich Ihnen in Erinnerung rufen, dass wir in der Kinderkommission über ein Antragsrecht der Kinderkommission im Deutschen Bundestag beraten haben, dort aber das Einstimmigkeitsprinzip gilt.
Ich darf Ihnen mitteilen: Ich bin ebenso wie meine Fraktion dafür. Ich kann Ihnen auch drei andere Fraktionen nennen, die dafür sind. Jetzt bleibt es dem Publikum und Ihnen überlassen, zu überlegen, welche Fraktion in der Kinderkommission nicht dafür ist und warum ich mich ausgerechnet auf Ihren Redebeitrag zu Wort melde.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Stöckel zur Erwiderung.
Rolf Stöckel (SPD):
Herr Präsident! Frau Gruß, ich begrüße, dass die Unterstützung für dieses berechtigte Anliegen gewachsen ist. Ich hoffe natürlich, dass das auch in meiner Fraktion so ist.
Aber ich rede hier als Sozialpolitiker, nicht nur als jemand, der einmal Kinderbeauftragter seiner Fraktion war. Die Beachtung der Kinderrechte muss natürlich auch dazu führen, dass sich die materiellen Bedingungen für Kinder verbessern, vor allen Dingen für diejenigen, die es am nötigsten haben. Das muss durchgesetzt werden. Insofern begrüße ich Ihre Haltung, und ich biete Ihnen meine Zusammenarbeit gerne an.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat nun die Kollegin Petra Hinz von der SPD-Fraktion das Wort.
Petra Hinz (Essen) (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gerade all diejenigen, die im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu Hause sind, werden sich sicherlich wundern, dass ich als Haushälterin jetzt hier zu Wort komme. Erst einmal möchte ich mich bei meiner Fraktion ganz herzlich dafür bedanken, dass ich die Möglichkeit dazu habe. Wir wollen damit deutlich machen, dass das, was hier heute besprochen worden ist - Vorschläge, Initiativen usw. - auch umgesetzt werden muss.
Wir haben für uns die Marschrichtung, dass all die heutigen Lippenbekenntnisse des einen oder anderen bei den nächsten Haushaltsberatungen in Form von Anträgen Widerhall finden müssen. Es muss fiskalisch wiederzuerkennen sein.
Wenn ich das heute hier richtig verstanden habe, dann sind wir uns darin einig, dass wir zur Beseitigung der Armut deren Wurzeln bekämpfen müssen. Für mich haben sich hier heute zwei Lösungen herauskristallisiert:
Erstens ist das die Erwerbsarbeit für Eltern. Es ist viel über den Mindestlohn, über die Verantwortung für die Alleinerziehenden und diejenigen, die wieder in den Beruf einsteigen wollen, gesprochen worden. All diese Themen haben wir auch in den zurückliegenden Haushaltsberatungen auf den Weg gebracht.
Zweitens. Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, herauszusuchen, welche Maßnahmen gegen Kinderarmut wir auf den Weg gebracht haben, um das hier heute im Plenum deutlich zu machen: Kinderzuschlag, Elterngeld, Erziehungsgeld, Unterhaltsvorschuss. Im Gegensatz zur Regierung - in diesem Fall zur Ministerin - war das Thema Kindergeld für uns kein Ruhekissen, sondern ganz im Gegenteil - Frau Künast hat das vorhin schon gesagt -: Während unserer Regierungsverantwortung ist das Kindergeld gestiegen. Das möchte ich hier auch noch einmal deutlich machen.
Allerdings sagen wir Sozialdemokraten nach den vielen Debatten, die im Fachausschuss stattgefunden haben, auch Ja zur Förderung von Familien und Kindern, aber nicht mit der Gießkanne. Erreichen wir das, was wir wollen, tatsächlich durch eine Kindergelderhöhung,
oder müssen wir in diesem Bereich nicht noch wesentlich mehr auf den Weg bringen? Die Devise muss doch sein: Das eine tun, ohne das andere zu lassen. Dies werden wir im Rahmen der Haushaltsberatungen auch tun.
Wir waren es, die für einen Rechtsanspruch auf Betreuung gesorgt haben. Das Kinderbetreuungsfinanzierungsgesetz ist auf den Weg gebracht und verabschiedet worden. Ich sage es hier noch einmal: 4 Milliarden Euro stehen zum Beispiel für den Ausbau der Betreuungsinfrastruktur und die Finanzierung von Betriebskosten zur Verfügung.
Wir, der Bund, haben Wege gefunden, die Kommunen und die Träger über das Land zu finanzieren und zu fördern.
Wie sehen denn die Wirklichkeit und die Praxis aus? In meiner Kommune, der Stadt Essen, ziehen sich einige kirchliche Träger gerade aus der gesellschaftlichen Verantwortung, die wir alle haben, zurück. Aufgrund von Finanz- und Wirtschaftsplänen aus dem Jahre 2001 schließen sie gerade Kindertageseinrichtungen in nicht unerheblicher Zahl. Dies tun sie nicht, weil kein Bedarf vorhanden ist, weil keine langen Wartelisten bestehen oder aufgrund des Finanzierungskonzeptes, sondern weil von den Bewerbern nicht der entsprechende Glaube vertreten wird. All diejenigen, die angemeldet worden sind, sind Muslime, Nichtgläubige oder wie auch immer.
Sie haben eine gesellschaftspolitische Verantwortung.
Wir waren diejenigen, die hier Fördergelder zur Verfügung gestellt haben. Das Land und vor allem die Kommunen müssen finanziell entsprechend ausgestattet werden. Schauen Sie sich an, was alles beim Land klebrig hängen bleibt,
dass das Land Nordrhein-Westfalen das KiBiz auf den Weg gebracht hat, die Finanzierung aber im Prinzip den Trägern überlassen wird, und dass dort Eltern, die möglicherweise nicht zu den Begünstigten gehören, ihren Kindern nicht mehr Zeit in Kindertagesstätten kaufen können. Das ist die Wahrheit.
Ich erwarte von der Regierung, der Ministerin und auch Ihnen, Herr Staatssekretär Kues, dass Sie im Rahmen der Konferenzen zwischen Bund und Land genau dies thematisieren, damit all die Punkte, die im Kinderarmutsbericht dargestellt worden sind, auch mit Leben erfüllt und umgesetzt werden.
Wir wollen also keine Förderung mit der Gießkanne, sondern werden im Rahmen der Haushaltsberatungen das fortsetzen, was wir auf den Weg gebracht haben. Wir haben die Programme zum Ausbau der Ganztagsschule, das Ganztagsbetreuungsgesetz und das neue Elterngeld auf den Weg gebracht. All dies kann sich sehen lassen. Aber darauf können wir uns nicht ausruhen. Deshalb freue ich mich sehr auf die Beratung im Haushaltsausschuss.
Ich bitte Sie, Herr Staatssekretär Kues, den Fachausschussmitgliedern und den Haushältern eine Auflistung über alle Maßnahmen zu geben, die sich im Haushalt und im Finanzkonzept widerspiegeln und deutlich machen, wo wir gemeinsam gegen Kinderarmut kämpfen.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich schließe die Aussprache.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 166. Sitzung - wird am
Freitag, den 6. Juni 2008,
an dieser Stelle veröffentlicht.]