Der Hammelsprung im Parlament
1977 im Bonner Bundestag: Hammelsprung bei der Abstimmung über das 28. Rentenanpassungsgesetz
© Picture-Alliance/Egon Steiner
Woher der Ausdruck „Hammelsprung”
stammt und
wie er Eingang in die Parlamente gefunden hat, ist
nicht mehr eindeutig festzustellen. Vermutlich
wurde er in den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts
von einem Parlamentarier geprägt, den das Verfahren an das
Zählen von Schafen erinnerte und der dabei vielleicht auch an
einen „Leithammel”
denken musste. In Deutschland wurde
der Hammelsprung erstmals im Reichstag des Norddeutschen
Bundes angewendet, der von 1867 bis 1870 existierte. Der
Reichstag des 1871 gegründeten Kaiserreichs übernahm diese
Praxis.
Gelegentlich ist zu lesen, der Begriff gehe zurück auf ein
Intarsienbild im 1933 ausgebrannten Reichstagsgebäude, das
an der „Ja”-Tür zum Plenarsaal angebracht war. Das Bild
zeigte den Riesen Polyphem aus Homers „Odyssee”, wie er
seinen vorbeiziehenden Schafen mit der
Hand über die Rücken streift. Odysseus
und seine Gefährten haben den geblendeten
Zyklopen bekanntlich dadurch überlistet,
dass sie sich am Bauch der Schafe
festklammerten, die aus der Höhle des
Riesen liefen.
Doch die Bezeichnung Hammelsprung
wurde bereits 1885 im Preußischen
Abgeordnetenhaus verwendet und ist
damit älter als das 1894 fertiggestellte
Reichstagsgebäude. Möglicherweise ließ
sich der Architekt Paul Wallot bei der
Motivauswahl für die „Ja”-Tür bereits
von dem Ausdruck inspirieren. An der
„Nein”-Tür war der Berggeist Rübezahl
beim Zählen seiner Rüben zu sehen.
Der Zyklop Polyphem mit seinen Schafen auf einer Abstimmungstür im alten Reichstag
© Cosmos Verlag für Kunst und Wissenschaft (1897/1913)
Der Bundestag verwendet den Ham
melsprung seit 1950. Er kann vom Sitzungsvorstand
angeordnet werden, wenn
bei einer Abstimmung durch Handaufheben
die Mehrheitsverhältnisse angezweifelt
werden, die Beschlussfähigkeit
des Bundestages infrage steht oder ein
Einspruch des Bundesrats vom Bundestag
zurückgewiesen werden soll (sofern nicht namentliche Abstimmung
verlangt wird). Beim Hammelsprung verlassen
alle Abgeordneten den Plenarsaal. Gleichzeitig ertönt in allen
Gebäuden des Bundestages ein schriller Signalton, zur Aufforderung
an die Abgeordneten, in den Plenarsaal zu kommen.
Dann werden bis auf die drei Abstimmungstüren alle Zugänge
zum Plenum geschlossen. An diesen stellen sich jeweils zwei
Schriftführer auf. Auf ein Glockenzeichen des Präsidenten hin
betreten die Abgeordneten einzeln durch eine der drei Türen
den Plenarsaal und werden dabei von den Schriftführern laut
gezählt.
Der Bundestag verwendet den Ham
melsprung seit 1950. Er kann vom Sitzungsvorstand
angeordnet werden, wenn
bei einer Abstimmung durch Handaufheben
die Mehrheitsverhältnisse angezweifelt
werden, die Beschlussfähigkeit
des Bundestages infrage steht oder ein
Einspruch des Bundesrats vom Bundestag
zurückgewiesen werden soll (sofern nicht namentliche Abstimmung
verlangt wird). Beim Hammelsprung verlassen
alle Abgeordneten den Plenarsaal. Gleichzeitig ertönt in allen
Gebäuden des Bundestages ein schriller Signalton, zur Aufforderung
an die Abgeordneten, in den Plenarsaal zu kommen.
Dann werden bis auf die drei Abstimmungstüren alle Zugänge
zum Plenum geschlossen. An diesen stellen sich jeweils zwei
Schriftführer auf. Auf ein Glockenzeichen des Präsidenten hin
betreten die Abgeordneten einzeln durch eine der drei Türen
den Plenarsaal und werden dabei von den Schriftführern laut
gezählt.
Wenn ein Parlamentarier durch die „falsche” Tür läuft,
kann sein Abstimmungsverhalten
nicht rückgängig gemacht
werden. 1962 unterlief dies dem CDU/CSU-Abgeordneten
Hans Richarts, der in einer Abstimmung zur „Spiegel-Affäre”
beim Hammelsprung aus Versehen für den Antrag der SPD
votierte. In den ersten Wahlperioden des Bundestages stimmstimmten
die Abgeordneten jeweils mehr als einhundert Mal per
Hammelsprung ab. Später wurde das Verfahren zunehmend
von namentlichen Abstimmungen abgelöst, bei denen anders
als beim Hammelsprung
die Stimmabgabe jedes einzelnen
Abgeordneten protokolliert wird. In der aktuellen Wahlperiode
kam es bis Mitte Oktober 2008 zu fünf Hammelsprüngen.
Zuletzt am 24. September
2008, als die Grünen die abwesende
Forschungsministerin Annette Schavan (CDU) ins Plenum zitieren
wollten. Bei der Abstimmung per Handzeichen schien es eine
Mehrheit für die Grünen zu geben, doch im Sitzungsvorstand
wurde über das Ergebnis keine Einigkeit erzielt. Ein CDU/CSUParlamentarier
beantragte den Hammelsprung. Das gab der
Großen Koalition Zeit, genug Abgeordnete zusammenzutrommeln.
Am Ende waren 249 Abgeordnete durch die „Nein”-Tür
gelaufen und 64 durch die „Ja”-Tür – der Antrag der Grünen
war damit abgelehnt.
Im Jahr 1970, als der technische
Fortschrittsglaube
noch nahezu ungebrochen
war, schien es mit der Tradition
vorbei zu sein. In den Plenarsaal
des
Bonner Bundestages wurde der Abstimmungscomputer
„AEG 60-10-Digital-rechner”
eingebaut, der den Hammelsprung
durch eine elektronische Stimmabgabe
vom Sitzplatz aus ersetzen sollte.
Damit kein Abgeordneter für seinen fehlenden
Sitznachbarn eine Stimme abgeben
konnte, gab es in den Stühlen
Druckkontakte, die erst ab einer Belastung
von 40 Kilogramm den Mechanismus aktivierten.
Bei den Abstimmungen mussten
die Abgeordneten eine Identitätsnummer
eingeben und wählten dann zwischen
„Ja”, „Nein” und „Enthaltung”.
Doch von Beginn an traten technische
Probleme auf, sodass die Anlage 1973 zum
letzten Mal benutzt und 1977 wieder ausgebaut
wurde. Der Hammelsprung
wird
seitdem wieder regelmäßig
praktiziert.
Ob das auf Dauer so bleiben soll, ist im
Bundestag
umstritten. „Wenn man schnell und ohne großen bürokratischen
Aufwand
die Mehrheitsverhältnisse
klären will, ist
der Hammelsprung das ideale Abstimmungsverfahren”,
ist der
Vizefraktionschef der Unionsfraktion, Wolfgang Bosbach, überzeugt.
Dagmar Enkelmann, Parlamentarische Geschäftsführerin
der Fraktion Die Linke, hält den Hammelsprung hingegen für
überholt. „In fast allen anderen europäischen Parlamenten gibt es
elektronische Abstimmungsanlagen”, sagt Enkelmann. „Warum
soll es ausgerechnet in Deutschland unmöglich sein, eine solche
Anlage
fehlerfrei zu betreiben?”
Text: Joachim Riecker
Erschienen am 19. November 2008
Weitere Informationen:
Abstimmungsverfahren sind in der Geschäftsordnung geregelt:
www.bundestag.de/parlament
(Rechtliche Grundlagen)