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Die kyrillischen Inschriften, die Soldaten der Roten Armee im Jahre 1945 im Reichstagsgebäude hinterlassen hatten, wurden bei dessen Umbau zum neuen Plenarsaalgebäude des Deutschen Bundestages wiederentdeckt. Der mit dem Umbau beauftragte Architekt Sir Norman Foster begann unmittelbar nach der Beendigung der Verhüllung des Reichstagsgebäudes durch Christo und Jeanne-Claude im Jahr 1995 die inneren Verkleidungen aus Gipsfaserplatten und Asbest entfernen zu lassen.
Diese Gipsfaserplatten waren von Paul Baumgarten (1900 bis 1984), dem Architekten des ersten Wiederaufbaus des Gebäudes in den 1960er-Jahren, vor die Wände des historischen Gebäudes gesetzt worden, sodass die Geschichte des Gebäudes hinter den neuen Innenwänden verborgen blieb.
Hinter den vorgeblendeten Gipsfaserplatten kamen sowohl ornamentaler Schmuck der frühen Jahre als auch Spuren des Kampfes um das Reichstagsgebäude im April 1945 zum Vorschein, darunter die Graffiti sowjetischer Soldaten. Der Reichstag war in den letzten Tagen der „Schlacht um Berlin“ besonders heftig umkämpft gewesen, zeitweise war das Gebäude in den unteren Räumen noch von deutschen Truppen und in den oberen gleichzeitig von sowjetischen Truppen besetzt.
Erst am 30. April 1945 gelang es Einheiten der Roten Armee, auf dem Dach die sowjetische Fahne zu hissen. Die zur fotografischen Ikone gewordene Aufnahme der Flaggenhissung von Jewgenij Chaldeij, die bis heute eines der zentralen Bilder der Erinnerungskultur Russlands um den „Großen Vaterländischen Krieg“ ist, wurde jedoch erst Tage später von Chaldeij inszeniert und von ihm selbst mehrfach retuschiert.
In den Folgetagen strömten sowjetische Soldaten zum Reichstagsgebäude, das in ihren Augen ein Symbol des Sieges über Hitler war. Sie schrieben ihre Namen und Heimatstädte mit farbiger Fettkreide oder Holzkohle auf die Innen- und Außenwände und nahmen auf diese Weise symbolisch Besitz vom Gebäude. Sie schrieben sich die Freude, überlebt zu haben, oder den Triumph, siegreich in Berlin zu sein, von der Seele, beschimpften Hitler und hinterließen Autogramme.
Als Architekt Foster die Verkleidung der Mauern entfernen ließ, entdeckte er noch über 200 Inschriften. Ehemals waren allerdings weitaus größere Flächen der Innen- und Außenwände bedeckt gewesen – soweit die Soldaten mit ihren Händen, auf dem Rücken von Kameraden sitzend oder auf Balustraden kletternd, reichen konnten. Die vorgefundenen Graffiti wurden unter der Betreuung des Landeskonservators und in Abstimmung mit der Baukommission und dem Kunstbeirat des Deutschen Bundestages gereinigt und konserviert.
Foster nutzte diese „Zeichen der Geschichte“, wie er die Inschriften nannte, um sie in die Innengestaltung künstlerisch zu integrieren: Er rahmte sie wie Fresko-Gemälde mit Putzflächen ein und trennte den modernen Putz vom historischen Mauerwerk mit einer tiefen Kerbe, die den Zeitsprung markiert. Die Sichtung der Graffiti ergab, dass die überwiegende Zahl der Inschriften aus der Feststellung „Hier war ….“ (russisch: „здесь был“), der folgenden Namensnennung und einem Datum oder einem Verweis auf die Herkunft, den Dienstgrad, den zurückgelegten Weg der Truppen oder die Zugehörigkeit zu einer militärischen Einheit bestand.
Einige wenige Inschriften geben auch deftige Flüche oder politische Parolen wieder, beispielsweise „Für Leningrad haben sie voll bezahlt! Stenischin“ oder „Hier war und hat ausgespuckt – Gornin“. Andere Zitate belegen die Verwechslung des Reichstagsgebäudes mit der Reichskanzlei: „Wir waren im Reichstag, in der Höhle Hitlers! Hauptmann Kokljuschkin Oberleutnant Krassnikow, J. 15/ V 45“. Soldaten rühmen sich ihrer militärischen Leistungen: „Ruhm den Pontonbauern, die die Spree und ihre Kanäle bezwungen haben. Wir waren im Reichstag 6.5.45 Iwanow und Tschichlin“.
Eine anrührende Zeichnung ist das mit einem Amorpfeil verzierte Herz für „Anatoli und Galina“. Die Herkunftsbezeichnungen wiederum offenbaren die Vielfalt der Völker in der Sowjetunion, die in der Roten Armee vertreten waren. So verweisen beispielsweise „Todorov V.I.“ und „Todowrow W.“ auf ihre Herkunft aus dem „Donbass“, ein anderer schreibt, dass er, „Shevchenko“, „aus der Ukraine“ stamme, wieder andere Soldaten beschreiben ihre „Marschroute Teheran-Baku-Berlin“ oder benennen ihre Heimat im „Kaukasus“, in „Jerewan“ oder „Nowosibirsk“.
Es überrascht angesichts der Vielzahl von Inschriften nicht, dass sich gelegentlich einzelne Urheber auch Jahrzehnte später noch identifizieren lassen. Beispielsweise entdeckte der Student Anar Najafow aus Aserbaidschan, der im Deutschen Bundestag ein Praktikum bei einem Abgeordneten absolvierte, die Inschrift seines Großvaters Mamed Najafow. Der Veteran Pavel Solotarejow oder Professor Boris von Sapunov aus Sankt Petersburg wiederum fanden über ein halbes Jahrhundert später sogar ihre eigenen Graffiti wieder.
Eine Besucherführerin erzählt von einem vergleichbaren Erlebnis: „Eine Reisegruppe von Veteranen-Frauen aus dem ehemaligen Stalingrad besichtigte die Inschriften. Nach der Tour kam eine ältere Frau aus der Gruppe auf mich zu und erzählte, dass ihr verstorbener Mann behauptet hatte, dass er hier gewesen sei und sich auch verewigt hätte. Als die betagte Frau vor dem handschriftlichen Zeugnis ihres Ehemannes stand, flossen die Tränen.“
So sind die kyrillischen Inschriften nicht nur ein historisches Zeugnis, sondern auch ein zutiefst menschliches Dokument, das Geschichte erfahrbar macht und die Darstellung der „großen“ Ereignisse wieder zu denen zurückführt, die diese Geschichte unmittelbar erlebt haben und sie oft genug ungefragt erleiden mussten. (io/eis/27.07.2016)