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15. Wahlperiode
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16. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002

Beginn: 9.00 Uhr

* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *

* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *

* * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * * * *

16. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Wolfgang Thierse:

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

Der Abgeordnete Wolfgang Kubicki hat am 9. Dezember auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als Nachfolgerin hat die Abgeordnete Dr. Christel Happach-Kasan am 10. Dezember 2002 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße die neue Kollegin herzlich.

(Beifall)

Die Fraktion der SPD teilt mit, dass Professor Richard Schröder als Mitglied des Kuratoriums "Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung" ausscheidet. Als Nachfolgerin benennt sie die Kollegin Ulla Burchardt. Ich gehe davon aus, dass Sie damit einverstanden sind.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:

ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Daniel Bahr (Münster), Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Historischer Erweiterungsgipfel verstärkt Druck auf innere Reformen der Europäischen Union - Drucksache 15/216 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe

ZP 3 Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache

(Ergänzung zu TOP 19)

Beratung des Antrags der Bundesregierung: Ausnahme von dem Verbot der Zugehörigkeit zu einem Aufsichtsrat für Mitglieder der Bundesregierung - Drucksache 15/220 -

ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Ersten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt - Drucksachen 15/25, 15/77, 15/91, 15/132, 15/201 -

Berichterstattung:
Abgeordneter Ludwig Stiegler

ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Zweiten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt - Drucksachen 15/26, 15/77, 15/91, 15/133, 15/202 -

Berichterstattung:
Abgeordneter Ludwig Stiegler

ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Seesicherheit optimieren - nationaler und europäischer Handlungsbedarf nach Tankeruntergang der Prestige - Drucksache 15/192 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dagmar Wöhrl, Karl-Josef Laumann, Wolfgang Börnsen (Bönstrup), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Ladenschlussgesetz modernisieren - Drucksache 15/193 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien

ZP 8 Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Michael Meister, Otto Bernhardt, Leo Dautzenberg, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Vermögensteuergesetzes - Drucksache 15/196 -

Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit

Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.

Außerdem sollen die Tagesordnungspunkte 5 e und 5 l - es handelt sich um Wahlvorschläge für Gremien - abgesetzt werden.

Des Weiteren ist folgende Umstellung der Tagesordnung vereinbart worden:

Tagesordnungspunkt 17 - vereinbarte Debatte zu Wirtschaft und Arbeitsmarkt - wird bereits heute nach Tagesordnungspunkt 5 aufgerufen.

Tagesordnungspunkt 15 - kapitalgedeckte Altersversorgung für Beamte - wird heute nach Tagesordnungspunkt 9 aufgerufen.

Tagesordnungspunkt 7 - Einsetzung eines Untersuchungsausschusses - wird am Freitag nach Tagesordnungspunkt 13 behandelt.

Die Vorlage unter Tagesordnungspunkt 12 - Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaftsgesetz; ein enorm langer Titel - soll ohne Debatte überwiesen werden.

Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Überweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam.

Die in der 12. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgeande Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Tourismus zur Mitberatung überwiesen werden.

Gesetzentwurf von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zum Abbau von Steuervergünstigungen und Ausnahmeregelungen (Steuervergünstigungsabbaugesetz - StVergAbG) - Drucksache 15/119 -

überwiesen:
Finanzausschuss (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft

Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b sowie Zusatzpunkt 2 auf:

3. a) Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundeskanzler
zu den Ergebnissen des Europäischen Rates in Kopenhagen am 12. und 13. Dezember 2002

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Hintze,
Dr. Gerd Müller, Michael Stübgen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

Der Weg für die Osterweiterung ist frei: Abschluss der Beitrittsverhandlungen auf dem Europäischen Rat in Kopenhagen

- Drucksache 15/195 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe

ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Daniel Bahr (Münster), Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Historischer Erweiterungsgipfel verstärkt Druck auf innere Reformen der Europäischen Union

- Drucksache 15/216 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe

Zur Regierungserklärung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung zweieinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundeskanzler Gerhard Schröder.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Gerhard Schröder, Bundeskanzler:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am vergangenen Wochenende ist den europäischen Staats- und Regierungschefs in Kopenhagen gelungen, was sich viele unserer Vorgänger gewünscht hatten und was sicher ganz viele unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger in Europa, zumal auch in Deutschland, erwartet haben: aus unserem Kontinent, der in der Vergangenheit so oft Schauplatz grausamer Konflikte, Kriege und politischer Spaltung war, nun ein wirklich einiges Europa zu schaffen, ein Europa zudem mit einer wirklich glanzvollen ökonomischen und auch politischen Perspektive.

Der Weg in ein großes und starkes Gesamteuropa ist jetzt klar abgesteckt. Wir haben wirklich zusammengebracht, was zusammengehört, und wir vollenden damit das Werk so großer Europäer wie Konrad Adenauer und Monnet, wie Willy Brandt und Vaclav Havel, aber auch wie Marion Gräfin Dönhoff oder Wislawa Szymborska.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wo unsere Vorfahren in den europäischen Kriegen aufeinander gehetzt wurden, bauen wir heute ein Europa des Friedens, der Freiheit und des Wohlstands. Wir bauen es auf unserem gesamten Kontinent. Aus dem europäischen Albtraum von Mord und Gewaltherrschaft ist der Traum eines einigen Europas geworden. In Kopenhagen wurde dieser Traum nun Wirklichkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben den Auftrag, gemeinsam diese großartige Chance so zu nutzen, dass unsere Kinder und deren Kinder allen zusammen dafür dankbar sein können. Ich möchte an dieser Stelle zunächst Premierminister Rasmussen meinen Dank aussprechen. Er hat - daran kann es keinen Zweifel geben - die Präsidentschaft hervorragend wahrgenommen und die enorm schwierige Aufgabe der Erweiterung mit einer klugen und auch entschlossenen Verhandlungsstrategie wirklich bravourös gemeistert.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

In diesen Dank will ich ausdrücklich auch den für die Erweiterung zuständigen deutschen Kommissar Günter Verheugen einschließen, der im Erweiterungsprozess mit Umsicht, mit Zähigkeit und mit Geradlinigkeit verhandelt und so mit dazu beigetragen hat, dass dieses Ergebnis erzielt werden konnte.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Danken sollten wir vor allem auch den Völkern Ost- und Mitteleuropas. Lassen Sie uns nicht vergessen, wie sehr wir diesen großen Erfolg von Kopenhagen nicht zuletzt dem mutigen Kampf der Menschen in Polen, in Ungarn, in Tschechien und in anderen mittel- und osteuropäischen Ländern zu verdanken haben. Wir haben diesen Erfolg aber auch - das möchte ich nachdrücklich unterstreichen - der Zivilcourage der Bürgerinnen und Bürger in Ostdeutschland zu verdanken, einer Courage, die sie motiviert hat, gegen diktatorische Willkür zu kämpfen, wodurch sowohl die Einheit unseres Landes als auch die Einheit Europas ermöglicht wurde.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Sie alle hatten nicht zuletzt aufgrund der von Willy Brandt eingeleiteten Entspannungspolitik und den damit einhergehenden Erleichterungen nie die Hoffnung auf ein besseres und ein freieres Leben aufgegeben. Das historische Ergebnis des Kopenhagener Gipfels ist insofern auch eine Erfüllung dieser Zuversicht. Ich bin sicher: Die Menschen in den Beitrittsländern werden die Chancen, die sich uns allen durch die EU-Erweiterung bieten, nutzen und durch ihr positives Votum bei den Volksabstimmungen den Weg zur endgültigen europäischen Einigung frei machen.

Mein Dank geht auch unsere atlantischen Verbündeten, vor allem an die USA. Sie haben den europäischen Einigungsprozess stets unterstützt und die ganze Zeit positiv begleitet, weil sie mit uns davon überzeugt waren, dass ein geeintes, ein starkes Europa einen ganz wesentlichen Beitrag für eine stabilere, gerechtere und bessere Weltordnung leisten würde. Das neue, in Kopenhagen besiegelte Europa darf und wird diese Erwartungen nicht enttäuschen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir können ruhig darauf hinweisen - es wäre im Gegenteil nicht richtig, diese Tatsache zu verleugnen -, dass die in Kopenhagen beschlossene Erweiterung der Europäischen Union auch sehr stark im nationalen Interesse Deutschlands liegt. Gerade die Tatsache, dass die deutschen Interessen heute mit den Hoffnungen, mit den Erwartungen und mit den Interessen der Völker Europas übereinstimmen, beweist die historische Dimension der Beschlüsse von Kopenhagen und ermöglicht uns, die sich bietenden großartigen Chancen zu nutzen.

Trotz weltweiter Abschwächung haben die mittel- und osteuropäischen Staaten jährliche Wachstumsraten, die mit knapp 4 Prozent deutlich über dem EU-Durchschnitt liegen. Die Beitrittsländer zählen damit zu den dynamischsten Wachstumsregionen in der Welt. Das ist nicht zuletzt eine Chance für unsere Wirtschaft; denn wir sind auf diesen Märkten, was sowohl die direkten Investitionen als auch den Handel angeht, fast überall die Nummer eins. Ich sage es noch einmal - vor allem an diejenigen, die gegenüber dem Erweiterungsprozess skeptisch sind oder mit ihm Ängste verbinden -: Darin liegen nicht zuletzt für unsere Wirtschaft und damit für Arbeitsplätze auch und gerade in Deutschland enorme Chancen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Vorteile für unsere Unternehmen und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer liegen auf der Hand. Beschleunigtes Wachstum steigert die Importnachfrage dieser Länder und verbessert auf diese Weise unsere Exportchancen. In diesem Zusammenhang nur eine Zahl, die mir wichtig ist: Bereits heute ist der Außenhandel, den wir mit diesen Ländern betreiben, im Volumen höher als der Außenhandel, den wir mit den Vereinigten Staaten von Amerika haben.

Es wäre indessen falsch - das wird niemand hier tun -, den Blick auf das rein Ökonomische zu beschränken. Wir werden auch einen Zuwachs an innerer Sicherheit bekommen. Geldwäsche, Drogen- und Menschenhandel, organisiertes Verbrechen also, und auch der internationale Terrorismus, all dies kann heute nicht mehr ausschließlich im nationalen Maßstab bekämpft werden. Die Erweiterung wird also dazu beitragen, dass die Zusammenarbeit zum Beispiel der Polizeien Europas weiter verbessert und, wo immer nötig, intensiviert wird.

Dabei ist klar, dass unsere Grenzkontrollen gegenüber den neuen Mitgliedstaaten erst dann abgebaut werden können, wenn diese Länder in der Sicherung ihrer Außengrenzen das realisiert haben, was man den Schengen-Standard nennt. Daher war es eine richtige und keineswegs nur uneigennützige Entscheidung, dass wir in Kopenhagen den neuen Mitgliedstaaten Sonderzahlungen in Höhe von 858 Millionen Euro genau für diese Maßnahmen der Grenzsicherung, der Sicherung der Außengrenzen, gewährt haben.

Auch die großen grenzüberschreitenden Risiken wie etwa Umweltgefährdungen wird das neue Europa sehr viel besser, weil miteinander, bekämpfen können und übrigens auch bekämpfen müssen - und dies besser, als es in den Nationalstaaten je denkbar wäre.

Schließlich wird die Erweiterung - auch das sollte nicht vergessen werden - das Alltagsleben der Menschen in Europa auch kulturell sehr bereichern.

Meine Damen und Herren, natürlich ging es in Kopenhagen nicht zuletzt um die Finanzierung der Erweiterung. Dabei war klar, dass wir angesichts der historischen Dimension unsere Verhandlungsstrategie nicht einseitig auf die finanzpolitischen Kriterien würden ausrichten können, obwohl auch dies ein wichtiger Aspekt der deutschen Verhandlungsstrategie war. Denn angesichts knapper Ressourcen war es nicht zuletzt auch unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass mit diesen knappen Ressourcen sparsamer als in der Vergangenheit umgegangen wird. Wir hatten also eine gute Balance zwischen dem für uns finanziell Verkraftbaren, dem politisch Notwendigen und dem, was die Beitrittsländer brauchen, zu finden.

Insgesamt lässt sich feststellen: Wir haben auch und nicht zuletzt aus finanzpolitischer Sicht ein wirklich gutes, weil vernünftiges, Ergebnis erzielt. Für die zehn Beitrittsländer wird im Zeitraum von 2004 bis 2006 ein Betrag von insgesamt 40,9 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt.

Übrigens liegen wir - es ist mir wichtig, dass das nicht in Vergessenheit gerät - damit um 1,7 Milliarden Euro unter dem hier in Berlin 1999 verabschiedeten Finanzrahmen, der seinerzeit - auch das sollte bedacht werden - für nur sechs Beitrittskandidaten verabschiedet wurde und der jetzt für zehn Beitrittsländer gilt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ein großer Erfolg war auch, dass der auf meiner Vereinbarung mit Staatspräsident Chirac beruhende Brüsseler Kompromiss zur Stabilisierung der Agrarausgaben bis zum Jahr 2013 nicht angetastet worden ist. Was Frankreich und Deutschland in Brüssel vereinbart und verankert haben, hat insoweit gehalten. Damit ist es uns, denke ich, endgültig gelungen, das für die Erweiterung mit Abstand größte Kostenrisiko auf Dauer im Griff zu behalten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Gleichzeitig haben wir einen Weg gefunden, die schrittweise Einführung der Agrardirektbeihilfen in den Beitrittsländern bis zum Jahre 2013 nicht nur zu postulieren, sondern auch solide zu finanzieren. Mir scheint, dass das ein durchaus schlagender Beweis dafür ist, dass Europa auch angesichts von Interessengegensätzen führbar bleibt, weil zu pragmatischen Lösungen imstande.

Meine Damen und Herren, auch in der Frage der Freizügigkeit haben Mitgliedstaaten auf der einen Seite und Beitrittsländer auf der anderen Seite, wie ich finde, Augenmaß und politische Verantwortung bewiesen. Wir sind alle davon ausgegangen, dass es wichtig ist, dass das neue, große Europa möglichst niemandem Angst macht, schon gar nicht den Europäern selbst. Es war diese Bundesregierung, die eine siebenjährige Übergangsfrist bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit durchgesetzt hat. Dadurch können wir vor allem in den kritischen ersten Jahren den Zugang zu unseren Arbeitsmärkten mit den neuen Mitgliedstaaten entsprechend dem, was vernünftig und deshalb geboten ist, nicht zuletzt bilateral regeln. Mittel- und langfristig wird sich ein unter Umständen entstehender Migrationsdruck auf Grund des hohen Wachstums in den neuen Mitgliedstaaten ohnehin ganz deutlich relativieren. Das haben unsere Erfahrungen zum Beispiel bei der Süderweiterung mit Portugal und Spanien eindeutig bewiesen.

Kein Zweifel: In Kopenhagen haben wir ein neues Kapitel in der europäischen Geschichte aufgeschlagen. Mit der endgültigen Überwindung der gewaltsamen Teilung unseres Kontinents ist das europäische Werk jedenfalls insoweit vollendet worden.

Dieses Europa bedeutet - das muss man immer wieder deutlich machen - weit mehr als einen Binnenmarkt. Dieses Europa bedeutet ein politisches Gemeinwesen, das sich auf der Grundlage einer gemeinsamen europäischen Kultur und Lebensweise begreift. Diese Grundlage ist das ganz einzigartige europäische Sozial- und Gesellschaftsmodell, das auf umfassender Teilhabe im Politischen wie im Ökonomischen und den Prinzipien der Aufklärung beruht, das heißt auf den unveräußerlichen Rechten und Freiheiten des Einzelnen, aber eben auch und nicht zuletzt auf Solidarität und Verantwortung, die in einer wachen und starken Bürgergesellschaft verwirklicht werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das bedeutet auch ein Europa, das mehr auf Nachbarschaft und Interessenausgleich als auf Konflikt und Dominanz setzt, auf fairen Wettbewerb statt auf erbarmungslose Konkurrenz. Dieses neue Europa will weder Superstaat noch Supermacht sein. Es wird seine Erfahrungen und Fähigkeiten in den internationalen Beziehungen selbstbewusst, aber ohne Überheblichkeit zur Geltung bringen.

Es wird und es muss Exporteur von Stabilität werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist der Hintergrund.

Deshalb ist es so bedeutsam, dass wir in Kopenhagen den Weg für die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik endgültig frei gemacht haben. Wenn ich "Weg" sage, dann meine ich das auch; denn von Abschluss kann noch keine Rede sein. Erfolg und Stärke unseres neuen Europas werden eben auch daran gemessen werden, wie wir krisenhaften Entwicklungen in der eigenen Nachbarschaft und in einer von Unsicherheiten und Instabilitäten gekennzeichneten Welt begegnen.

Dabei ist eines klar: Wir Europäer haben schlimme Erfahrungen mit Krieg und Gewalt gemacht. Diese Erfahrungen haben uns eben nicht zu idealistischen Pazifisten werden lassen, wohl aber zu Gesellschaften, die ganz genau wissen, und zwar geprägt durch diese Erfahrungen von Generation zu Generation, dass Krieg und Gewalt in aller Regel keine Konfliktlösung, sondern allenfalls "Ultima Ratio" in solchen Konflikten sein können.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, Europa - so hat einer der großen europäischen Historiker einmal gesagt, ist noch nie in seiner Geschichte nur geographisch definiert worden, sondern stets vor allem politisch. Die Grenzen dieses Europas lernt man weniger im Erdkundeunterricht, sondern vor allem in Geschichte und eben in Politik. Deshalb ist dieses Europa keineswegs grenzenlos.

Es muss uns vor allen Dingen um zwei Bedingungen gehen. Erstens. Wer zu Europa gehören will, der muss die gemeinsamen Werte teilen: Menschenwürde, Demokratie, Grundrechte, Rechtsstaat und natürlich Völkerrecht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zweitens. Die dadurch definierte Europäische Union muss handlungsfähig, das heißt politisch führbar bleiben. Deshalb ist es so wichtig, dass wir die Erweiterung der Europäischen Union nicht nur in Quadratkilometern messen, sondern dass wir sie auch daran messen, wie weit die Vertiefung gelingt. Insoweit stimme ich der Überschrift des Antrags durchaus zu, wenn Sie darauf hinweisen, dass das Wesentliche in der europäischen Politik in der kommenden Zeit die Arbeit des Konvents, ihre Begleitung und, wo uns möglich, ihre Unterstützung sein wird. Es besteht kein Zweifel, dass das als die zentrale Aufgabe der nächsten Zeit hinzukommen muss.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vertiefung meint Strukturen, die Europa den Bürgern und die den Bürgern Europa näher bringen. Wir brauchen entschlossene institutionelle Reformen, die auf Dauer sicherstellen, dass dieses erweiterte Europa handlungsfähig bleibt. Wir brauchen also das, was im Konvent - im Übrigen weitgehend überparteilich, soweit es deutsche Politik angeht - diskutiert wird: nicht zuletzt eine sinnvolle und politisch wirksame Zuordnung der Institutionen zueinander und natürlich die Definition dessen, was Europa tun soll und was Sache der Nationalstaaten bleiben muss.

Kernelement muss eine europäische Verfassung als Basis für ein effizientes, aber auch demokratischeres und vor allen Dingen transparenteres Europa sein. Die Bürgerinnen und Bürger müssen wissen, wer im erweiterten Europa für was politisch verantwortlich ist. Nur dann kann Verantwortung zugemessen werden und können aus falsch verstandener Verantwortung oder auch aus Fehlern Konsequenzen gezogen werden.

Zu einer bürgernahen Verfassung, einer Verfassung also, wie wir sie wollen, gehört natürlich auch die rechtsverbindliche Integration der Grundrechtscharta, die unter dem Vorsitz von Herrn Herzog erarbeitet wurde.

Die aktive Gestaltung der Reformen in der Europäischen Union wird Schwerpunkt - ich betone es noch einmal - deutscher Politik in den nächsten Wochen und Monaten sein müssen. Nach den Beschlüssen von Kopenhagen besteht diese Möglichkeit als großartige Chance für uns und ich denke, wir werden sie alle zusammen nutzen wollen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist klar: Wir werden dabei weiterhin eng mit Frankreich zusammenarbeiten. Es hat sich auch in den letzten Wochen gezeigt, dass dann, wenn Frankreich und Deutschland gemeinsam vorgehen, nicht nur diese beiden Länder Nutznießer sein werden, sondern ganz Europa. Bei allen Schwierigkeiten und gelegentlichen Interessengegensätzen, die es natürlich in dieser Beziehung ebenfalls gibt, ist eines deutlich geworden: Die Partner in Europa erwarten, dass die deutsch-französische Zusammenarbeit im Interesse Europas funktioniert. Das ist eine Erwartung, die wir nicht enttäuschen dürfen und für die wir immer wieder Interessengegensätze, die es natürlich ebenfalls gibt, überwinden müssen und - das hat sich in Brüssel, Kopenhagen und anderswo gezeigt - auch überwinden können.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Konvent wird im Sommer nächsten Jahres einen Entwurf für eine künftige europäische Verfassung vorlegen. Ich denke, der Zeitplan ist einzuhalten. Es ist das Ziel, auch das deutsche, dass die Regierungskonferenz in der zweiten Hälfte des nächsten Jahres unter italienischer Präsidentschaft in Rom die neue Verfassung verabschiedet. Mein Eindruck ist - das habe ich dem italienischen Ministerpräsidenten auch gesagt -, dass Rom ein guter Ort für eine solche Verfassungsdiskussion sein könnte.

Meine Damen und Herren, der Europäische Rat hat Rumänien und Bulgarien, die wichtige Fortschritte gemacht haben, eine Perspektive für das Jahr 2007 eröffnet. Es wird einzig und allein auf die Beitrittsfähigkeit nach den festgelegten Kriterien ankommen.

Dass es auf die Beitrittsfähigkeit nach den 1993 in Kopenhagen festgelegten Kriterien ankommt, ist ein ganz wichtiger Grundsatz für die Bewertung auf uns zukommender europäischer Politik und dahinter stehender Wünsche; denn genau nach diesem Prinzip wird der Beitrittswunsch der Türkei behandelt werden.

Wir haben auch in diesem Fall in enger Abstimmung mit unseren französischen Freunden die Beitrittsperspektive für die Türkei beim Kopenhagener Gipfeltreffen konkretisieren können. Im Dezember 2004 werden wir über einen Beschluss zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zu diskutieren haben. Es wird nur dann eine positive Entscheidung geben, wenn die Türkei bis dahin auf der Basis von Feststellungen, die die Kommission treffen wird, die noch anstehenden Aufgaben beim Aufbau eines demokratischen Gemeinwesens auch wirklich bewältigt hat.

Dass die Türkei, wenn sie es will und diese Kriterien in der Sache - ich will das betonen -, also in der Staatspraxis, erfüllt werden, ihren Platz in Europa finden wird, ist aufgrund der historischen Erfahrungen und der politischen Realität im 21. Jahrhundert möglich und sicher auch nötig.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Türkei kann, wenn ihre Bürgerinnen und Bürger es wirklich wollen, eine wichtige, vielleicht die wichtigste Brücke zwischen Kontinentaleuropa auf der einen Seite und dem östlichen Mittelmeerraum auf der anderen Seite werden. Als Mitglied der NATO erfüllt die Türkei diese Rolle militärstrategisch bereits jetzt.

Wer die Mitgliedschaft der Türkei im Bündnis gutheißt, ihre Zugehörigkeit zu Europa als Perspektive unter den klar definierten Bedingungen jedoch ausschließt, der verhält sich widersprüchlich und - ich muss das auch an dieser Stelle sagen - verletzt die Kontinuität deutscher Europapolitik, die von allen meinen Vorgängern im Amt geprägt worden ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) und der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

Diese Kontinuität darf - davon bin ich überzeugt - gerade im deutschen Interesse nicht wahltaktischen und parteipolitischen Motiven geopfert werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) - Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Das sagt der Richtige!)

Meine Damen und Herren, die Türkei hat jetzt die Gelegenheit, zu beweisen, dass eine moderne Gesellschaft und eine demokratische Verfassung in islamisch geprägten Gesellschaften möglich und zum Besseren der Menschen auch in der Staatspraxis durchsetzbar sind. Eben deshalb noch einmal: Wir machen dieses Angebot nicht, weil andere es wünschen. In diesem Zusammenhang muss ich übrigens darauf hinweisen, dass es keineswegs so ist, dass die Debatte über die Türkei und Europa, soweit sich unsere Freunde in Amerika daran beteiligt haben, auf die jetzige Administration beschränkt geblieben wäre. Wir haben diese Diskussion im Vorfeld von Helsinki, als Bill Clinton amerikanischer Präsident war, natürlich mit gleicher Intensität geführt wie jetzt auch. Deswegen ist die ganze Aufregung darüber etwas, was sich vor diesem Hintergrund mindestens relativiert.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Um es noch einmal klar zu machen: Europa - Deutschland ist dabei - macht dieses Angebot nicht, weil andere es für richtig halten, sondern wir machen dieses Angebot, weil es im europäischen und damit auch im deutschen Interesse ist. Ich betone auch: Wir werden die Fortschritte der Türkei nicht allein daran messen, was Gesetz ist, sondern daran, was Staatspraxis ist. Unsere türkischen Freunde wissen dies und sie werden deshalb auch sehr genau auf die Umsetzung eben jener Kriterien achten, die über die Realisierung des Beitrittswunsches bzw. des Wunsches zur Aufnahme von Verhandlungen über den Beitritt - denn exakt darüber und nicht über den Beitritt an sich wird geredet werden - entscheiden.

Schließlich muss klargestellt werden: Wer am Thema des Beitritts der Türkei so etwas wie einen neuen Kulturkampf nach dem Motto "Christliches Abendland gegen Islam" anzetteln will, der will den Menschen weismachen, Muslime ließen sich aus unseren Kulturen und Gesellschaften heraushalten oder seien nicht in der Lage, die demokratischen Kriterien mit den Grundsätzen ihren Glaubens in Übereinstimmung zu bringen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich halte eine solche Denkweise für falsch, ja für gefährlich, denn Muslime gehören in allen europäischen Gesellschaften zum selbstverständlichen Alltag in eben diesen Gesellschaften.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was im Innern gilt, das trifft auch für Europa insgesamt zu: Wer den Türken in der Türkei die Demokratiefähigkeit pauschal abspricht, der kann nicht ernsthaft um das demokratische Engagement etwa türkischer Mitbürgerinnen und Mitbürger in Deutschland werben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Im Verhältnis verschiedener Kulturen, Religionen und ethnischer Gruppen zueinander geht es - jedenfalls nach unserer Auffassung - immer um ein und dasselbe: um Toleranz, um friedliches Zusammenleben und um Integration.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, ich denke, gerade der Deutsche Bundestag sollte im Angesicht der Ergebnisse von Kopenhagen vor allem dies eine würdigen: Die nun beschlossene und bald vollzogene Erweiterung der Europäischen Union macht Polen von unserem Nachbarn zu unserem wirklichen Partner.

Gerade Polen, das in den vergangenen Jahrhunderten zwischen deutschen und russischen Großmachtinteressen so zerrieben, so zerschunden wurde, kann jetzt endlich nach dem freien Willen seiner Bürgerinnen und Bürger die ausgestreckte Hand Europas ergreifen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vielleicht gestatten Sie mir folgenden Hinweis: An dieser Einigung ein wenig mitgewirkt zu haben war für mich als deutscher Bundeskanzler in Kopenhagen schon ein bewegender Augenblick.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Premierminister Miller aus Polen hatte maßgeblichen Anteil am historischen Erfolg von Kopenhagen. Ich werde noch heute Abend mit ihm zu einem Arbeitsbesuch zusammentreffen. Ich hoffe, ihm bei dieser Gelegenheit die Zustimmung des gesamten deutschen Bundestags gerade zur polnischen Mitgliedschaft in der Europäischen Union mitteilen zu können. Ich bin sicher, dass das im Interesse aller ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Nicht zuletzt die Integration Polens in die Europäische Union vollendet, was geschichtsbewusste Kanzler der Bundesrepublik Deutschland stets erstrebt haben. Vor diesem Hintergrund ist Kopenhagen auch ein später und ein verdienter Erfolg von Willy Brandt und Helmut Kohl.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Unser Auftrag ist es, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Ich denke, im Interesse aller sagen wir miteinander im Deutschen Bundestag, dass Deutschland das Seine dazu beitragen wird.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile der Kollegin Angela Merkel, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Angela Merkel (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist richtig: Das herausragende Ergebnis des EU-Gipfels von Kopenhagen lautet: Die Europäische Union bekommt zehn neue Mitglieder. Mit Polen und Tschechien sind darunter auch zwei unmittelbare Nachbarn Deutschlands. Sie alle werden nach den Ratifizierungsverfahren im kommenden Jahr ab dem 1. Mai 2004 der Europäischen Union angehören.

Der historische Prozess, der 1993 in Kopenhagen eingeleitet wurde und die Spaltung Europas überwinden wird, ist zehn Jahre später - wieder in Kopenhagen - auf der Zielgeraden angekommen. In dieser Hinsicht kann man sagen: Kopenhagen war ein historischer Gipfel; Kopenhagen war ein Meilenstein. Was dieser Prozess für diejenigen Länder, die bald dazukommen, die bald die Europäische Union bereichern werden, bedeutet, das hat der frühere polnische Außenminister Geremek 1998 bei der Verleihung des internationalen Karlspreises der Stadt Aachen so unübertroffen bescheiden und für mich auch anrührend formuliert:

... ich habe keinen Krieg gewonnen, keinen Frieden gestaltet, ich habe keine Grundlagen der europäischen Strukturen gelegt. Meinem Land war zwar eine Glanzzeit beschieden, im modernen Zeitalter fiel es jedoch des Öfteren den europäischen Großmächten zum Opfer und verschwand für mehrere Jahre von der politischen Karte Europas. Polen, der von Jalta aufgezwungenen Ordnung ausgeliefert, konnte bis zum Jahre 1989 an der Wiederentstehung der europäischen Einheit keinen Anteil nehmen.
Europa blieb aber für immer ein Gegenstand des polnischen Freiheitstraumes. Die Vereinigung Europas ... wäre ohne diesen polnischen Traum nicht möglich gewesen. Ich habe mich daran, so gut wie ich konnte, beteiligt. Von Europa habe ich immer geträumt. Es ist vielleicht auch wichtig: große politische Entwürfe müssen doch von Träumen begleitet werden, da diese den Willen zur Tat erwecken.

So weit Geremek. Sein Traum ist Realität geworden. Viele haben an dessen Verwirklichung mitgearbeitet. Es war gut, dass Sie am Ende Ihrer Rede Helmut Kohl erwähnt haben.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] (SPD): Na, so was!)

Wir sind dankbar, dass es gelingen konnte.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

CDU und CSU haben die Entscheidung von Kopenhagen mit Nachdruck begrüßt. Wir hatten uns an der Vorbereitung beteiligt. Die Erweiterung ist die logische Konsequenz der gesellschaftlichen Veränderungen von 1989 und 1990. Die neuen Mitglieder gehören zu uns. Sie werden uns schon bei den nächsten europäischen Wahlen bereichern. Ich plädiere dafür, dass gerade wir, die Deutschen, aus unserer Erfahrung der deutschen Einheit heraus, immer wieder darauf hinweisen, dass diese neuen Mitglieder Bereicherung sind, dass wir von ihren Erfahrungen lernen können, dass die Abwesenheit von Freiheit über Jahrzehnte diesen Ländern einen neuen Blick auf Europa ermöglicht und dass wir nicht einfach an den bestehenden Regelungen festhalten dürfen, sondern offen für Veränderungen sein müssen. Das sind wir diesen Ländern schuldig. Dafür werden wir uns einsetzen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Günter Rexrodt (FDP))

Wir werden in Europa bald statt 380 Millionen Menschen 500 Millionen Menschen in 27 Mitgliedstaaten sein. Es wird darauf ankommen, dafür zu sorgen, dass das, was bisher auf dem Papier steht, gelebte Realität wird. Wir müssen das, was bisher auf dem Papier steht, mit Leben erfüllen und müssen es den Bürgerinnen und Bürgern in unseren Ländern nahe bringen. Denn natürlich gibt es dort auch Sorgen, Ängste und Skepsis. Es wird die Aufgabe jedes verantwortlichen Politikers sein, aus diesem großen Europa ein Europa der Bürger zu machen.

Ich möchte deshalb darauf hinweisen, dass wir bei Staaten, wie zum Beispiel Tschechien, in denen noch Defizite bestehen und die noch nicht anerkannt haben, dass Unrecht nicht die Basis zukünftiger Demokratie sein kann, für das Recht auf Heimat eintreten und Dinge nicht in Vergessenheit geraten lassen, trotz der gemeinsamen Mitgliedschaft und gerade wegen des gemeinsamen Fundaments für Demokratie.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Herr Bundeskanzler, es wird nicht einfach werden, die Regierbarkeit dieses vergrößerten Europas wirklich zu gewährleisten. Ich bin sehr dafür, dass die deutsch-französische Kooperation weiterhin der Motor der zukünftigen Entwicklung Europas ist. Aber es wird ganz wesentlich auch darauf ankommen, dass gerade de Deutschen Anwalt der kleineren Länder in der Europäischen Union sind.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Deshalb sage ich mit allem Nachdruck: Das, was wir im Umgang mit Österreich vor einigen Jahren in der Europäischen Union erlebt haben, darf sich nie wieder wiederholen,

(Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU): Sehr richtig!)

weil es unveräußerbare Dinge in Frage gestellt hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dieses vergrößerte Europa ist natürlich eine Antwort der Europäer auf die Globalisierung. Die Vergrößerung hat außenpolitische Konsequenzen und Wirkungen nach innen. Was die außenpolitischen Konsequenzen anbelangt, so bin ich, wie alle anderen auch, sehr froh, dass der Durchbruch zu einer europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik jetzt wieder ein weiteres Stück vorangebracht wurde.

Aber ich sage mahnend, Herr Bundeskanzler: Es wird wiederum ganz entscheidend von Deutschland abhängen, ob diese europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik gelebt werden und funktionieren kann. Die Situation und die Finanzausstattung der Bundeswehr sind die Planungsunsicherheit, die an vielen Stellen bestanden hat, sind keine Grundlage für eine verlässliche Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union.

(Widerspruch bei der SPD)

Deshalb muss die Verteidigungspolitik auf bessere, sicherere Grundlagen gestellt werden. Ihr Stellenwert wird steigen müssen. Sprechen Sie einmal mit den französischen Kollegen. Dann werden Sie hören, dass man mit Deutschland unzufrieden ist, was den Stellenwert der Verteidigungspolitik für ein zukünftiges sicheres Europa angeht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Es gibt natürlich auch eine Wirkung nach innen, Herr Bundeskanzler. Es wäre vielleicht gut gewesen, Sie hätten ein Wort darüber gesagt - Sie haben über die Wachstumsraten in den mittel- und osteuropäischen Ländern gesprochen -, was der zukünftige wirtschaftliche Wettbewerb auch für die Modernität und die Erneuerungskraft in Deutschland bedeuten würde. Wir haben Ihnen jetzt in zähen Vermittlungsausschussverhandlungen etwas abgerungen, was uns zum Beispiel der Präsident des Ifo-Instituts in München, Herr Sinn, abfordert, damit Deutschland nicht der Bremser in Europa bleibt, sondern damit Deutschland wieder zum Motor in Europa wird.

Wir brauchen einen Niedriglohnbereich. Wir brauchen Entriegelung auf dem Arbeitsmarkt. Wir brauchen Aufweichungen des Flächentarifvertrags, damit mehr Flexibilität möglich wird. Wir brauchen diese Dinge, weil wir von unseren mittel- und osteuropäischen Nachbarn noch stärker als von anderen Nachbarn im Westen lernen werden, dass sie bereit sind, neue Wege in einer veränderten Welt zu gehen. Dadurch wird sich der Wettbewerb verstärken.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Deshalb wird es spannend sein, ob wir akzeptieren, dass es in Estland schon heute mehr Internetanschlüsse pro Kopf gibt als in Deutschland. Deshalb wird es spannend sein, ob wir bereit sind, neue Wege zu gehen und wie zum Beispiel in Slowenien die Mitbestimmung auch über Aktienbesitz und nicht nur durch formale Regelungen erfolgen zu lassen. Wir werden in den nächsten Jahrzehnten ganz kräftig und immer wieder gefordert sein, von unseren europäischen Nachbarn zu lernen, offen zu sein, bereit zu sein, ein Benchmarking einzugehen, um neue Wege zu gehen. Ich sehe dies bei dieser Bundesregierung überhaupt nicht. Es herrscht in Europa die Sorge, dass Deutschland der kranke Mann Europas wird. Das wäre bedauerlich. Wir können mehr. Die Menschen in diesem Lande können mehr.

Sie müssen einen Politikwechsel in Ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik vornehmen,

(Lothar Mark (SPD): Das sind Ihre Träume!)

damit wir endlich wieder ein Beispiel für andere europäische Länder werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es ist richtig: Die Erweiterung ist eine große Leistung. Ich möchte an dieser Stelle Kommissar Verheugen danken. Wir sind sicherlich nicht in allen Fragen immer einer Meinung. Aber es ist unbestritten, dass er sich als der für Erweiterung verantwortliche Kommissar bemüht hat und Erfolge erzielt hat, die vor vielen Jahren noch nicht denkbar erschienen. Es ist gut, dass der Finanzrahmen an dieser Stelle so eingehalten wurde, wie Sie das berichtet haben. Es ist gut, dass es Planungssicherheit im Bereich der Agrarpolitik gibt.

Aber, Herr Bundeskanzler, die Wahrheit ist auch: Wenn die deutschen Bauern den französischen Präsidenten nicht gehabt hätten, dann hätten Sie die Dinge am liebsten schon vor 2006 auf den Kopf gestellt. Deshalb war es gut, dass es wenigstens in Frankreich eine vernünftige Agrarpolitik gibt, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Wilhelm Schmidt [Salzgitter] (SPD): Das ist oberlächerlich!)

Es wäre gut gewesen, Sie hätten in diesem Zusammenhang auch einmal darüber gesprochen, was jetzt an zukünftigen Problemen auf uns in der Europäischen Union zukommt. Wir werden mehr Mitgliedsländer. Wir werden uns mit der Frage der unterschiedlichen Geschwindigkeiten in der Entwicklung Europas mit mehr als 25 Mitgliedstaaten natürlich intensiver befassen müssen.

Es geht zum Beispiel um die Europäische Währungsunion. Es ist wichtig, dass wir die Warnungen von Wim Duisenberg sehr ernst nehmen, der als Präsident der Europäischen Zentralbank deutlich macht, dass der Beitritt zur Währungsunion weiter an harte Kriterien gebunden sein muss. Genau aus diesem Grunde ist es wiederum so wichtig, dass der Stabilitätspakt so, wie er vereinbart wurde, auch eingehalten wird und dass Deutschland nicht zum Aufweicher dieses Stabilitätspakts wird, weil das unvorhersehbare Folgen für die gesamte Zukunft der Europäischen Union haben würde.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Herr Bundeskanzler, auf dem Gipfel in Kopenhagen hat es ein zweites großes Thema gegeben und das war der Beitritt der Türkei.

(Günter Gloser (SPD): Das war nicht der Beitritt!)

- Oder der Kandidatenstatus der Türkei

(Günter Gloser (SPD): Das ist ein Unterschied! - Weiterer Zuruf von der SPD: Sie sollten genau sein!)

mit dem Ziel des Beitritts. Wir brauchen hier keine Haarspalterei zu betreiben.

(Lachen bei der SPD)

Meine Damen und Herren, es war ein Thema, das von Ihnen im Vorfeld der Diskussion weitestgehend unter dem Deckel zu halten versucht wurde.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] (SPD): Quatsch!)

Ich halte es für einen Gewinn, dass wir heute öffentlich eine breite Diskussion über dieses Thema haben. Ich stelle fest, dass Ihre Einlassungen heute schon weitaus verhaltener sind, als sie das vor einigen Wochen waren.

Ich glaube, dass Sie sich damit zumindest ansatzweise der Problematik dieser Frage bewusst werden.

Wenn Sie uns immer wieder zu unterstellen versuchen, wir würden an dieser Stelle parteitaktisch oder wahltaktisch argumentieren, dann möchte ich Sie nur darauf hinweisen, dass bereits 1999 Wolfgang Schäuble in einer ähnlichen Debatte nach dem Rat von Helsinki sehr deutlich gemacht hat, dass wir die Entscheidung von Helsinki für falsch gehalten haben. Es muss heute und auch in den nächsten Jahren möglich sein, über diese Frage zu diskutieren, die im Übrigen überhaupt nicht parteitaktisch aufgeladen ist. Große Europäer wie Helmut Schmidt und große Historiker wie Professor Winkler, die alle eher dem sozialdemokratischen Lager zuzuordnen sind,

(Lachen bei der SPD - Wilhelm Schmidt [Salzgitter] (SPD): Schmidt immer noch uneingeschränkt!)

hegen genau die gleichen Bedenken, die auch von unserer Seite artikuliert werden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Es ist mir relativ schleierhaft, was Sie eigentlich dazu getrieben hat, in Europa zum Antreiber eines möglichst zügigen Beitritts der Türkei zu werden, wobei Sie von Frankreich und anderen immer wieder zurückgehalten wurden.

(Lachen bei der SPD - Gernot Erler (SPD): Keine Ahnung die Frau!)

Deshalb sage ich nicht, dass nicht alle amerikanischen Administrationen - egal ob der Präsident Clinton oder Bush hieß - ein Interesse daran hatten, dass die Türkei Mitglied der Europäischen Union wird. Die Amerikaner vertreten hier sehr eigennützige Interessen.

(Detlef Dzembritzki (SPD): Vorsicht! - Franz Müntefering (SPD): Können Sie das einmal erklären?)

- Es ist doch legitim, dass die Amerikaner eigennützige Interessen haben, so wie auch wir eigennützige Interessen haben. Wer seine Interessen nicht formuliert, kann in der Welt keine Politik machen. Ich bitte Sie, das ist doch das Simpelste von der Welt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Frage lautet daher nicht: Haben die Amerikaner Wünsche geäußert? Die Frage lautet vielmehr: Wie haben die Deutschen darauf reagiert?

(Michael Glos (CDU/CSU): So ist es!)

An dieser Stelle sagen wir: Der Beitritt eines Landes zur Europäischen Union ist nicht Gegenstand von Kompensationsgeschäften für nicht eingehaltene außenpolitische Versprechungen an anderer Stelle.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Es wird in Europa mit großem Staunen verfolgt, welche Kapriolen Sie schlagen müssen, um zu begründen, wie Sie Ihre Wahlversprechen, die Sie natürlich nicht halten können, zum Beispiel in der Frage der Verlässlichkeit in der NATO mit der Realität in Übereinstimmung bringen.

Ich erinnere Sie in Bezug auf die AWACS-Besatzungen daran, dass die Sozialdemokraten vor dem Bundesverfassungsgericht 1993 wegen der Frage geklagt haben: Dürfen AWACS-Maschinen mit deutscher Besatzung über Ungarn fliegen und auf Bosnien schauen? Nach Rechtsauffassung der SPD - dies wurde im Übrigen vom Bundesverfassungsgericht bestätigt - war dies nämlich ein Kampfeinsatz. Erklären Sie mir bitte den Unterschied zu AWACS-Maschinen über dem Territorium der Türkei, die auf den Irak schauen. Dass dies im Falle militärischer Aktionen dann kein Kampfeinsatz sein soll, das können Sie in Deutschland und auch anderswo mit Sicherheit niemandem erklären. Das ist das Problem.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Lothar Mark (SPD): Differenzierung ist nicht Ihre Stärke!)

Wir sollten ehrlich miteinander umgehen

(Michael Glos (CDU/CSU): Das wäre ja mal etwas Neues: Ehrlichkeit!)

und mit Blick auf die Türkei deutlich machen: Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union und in der NATO sind verschiedene Dinge. Sie lassen sich nicht miteinander kompensieren. Über die Frage, wer Mitglied in der Europäischen Union wird, entscheiden die Europäer selber und aus eigener Verantwortung.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie haben richtigerweise zwei Kriterien genannt. Das eine ist: Diejenigen, die Mitglied werden wollen, müssen die Werte miteinander teilen und die Kriterien erfüllen. Sie haben ein zweites Kriterium eingeführt: Europa muss handlungsfähig und politisch führbar sein. Genau um diese beiden Fragen geht es, wenn wir uns über die Grenzen Europas - ich meine ausdrücklich nicht die geographischen Grenzen - unterhalten. Sie haben die Antwort gegeben, dass Europa damit nicht grenzenlos ist. Was es nicht ist, wissen wir jetzt. Aber es fehlt die Definition dessen, was wir uns für Europa noch vorstellen können.

Dabei ist doch deutlich erkennbar, Herr Bundeskanzler, dass es - auch das könnten Sie von den Gipfeln in Kopenhagen und anderswo berichten - erhebliche Meinungsunterschiede zwischen den einzelnen Nationalstaaten gibt, wie das zukünftige Europa aussehen soll. Der italienische, der spanische oder der britische Ministerpräsident teilen offenbar die Auffassung derer, die aus Europa ein möglichst großes, aber locker zusammengefügtes Gebilde machen wollen. Wir teilen insbesondere mit den Beneluxländern, aber auch mit Frankreich die Vorstellung, dass die Vertiefung eine der Hauptaufgaben der nächsten Zeit darstellt - Sie haben sie im Übrigen eben selbst als die wesentliche Aufgabe bezeichnet -, damit sich eine europäische Identität herausbildet und wir gemeinsam in einer multipolaren Welt als Europäische Union auftreten können.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Nach dieser Feststellung blieben Sie aber die Antworten schuldig. Denn die Mitgliedschaft der Türkei wirft doch einige Probleme auf. Ich will an dieser Stelle nicht über die ökonomische Größe sprechen, sondern mit den Kriterien beginnen. Wir haben in den EVP-Gesprächen im Vorfeld des Gipfels darüber nachgedacht, was Europa in ökonomischer Hinsicht verkraften kann. Wir wissen, wie schwierig sich die Beitrittsverhandlungen mit den zehn neuen Mitgliedstaaten in dem bestehenden finanziellen Rahmen gestaltet haben. Die Türkei ist bekanntlich ein Land, das in seiner Bevölkerungszahl annähernd so groß ist wie Deutschland.

Lassen Sie uns nun zu den Kriterien kommen. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie heute festgestellt haben, dass die Türkei die Kriterien nicht nur auf dem Papier erfüllen, sondern dass sie sie auch in die Praxis umsetzen muss. Die Überprüfung soll in zwei Jahren stattfinden. Schauen Sie sich einmal die Amnesty-International-Berichte an, die sonst auf der linken Seite des Hauses doch oft Beachtung finden.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] (SPD): Typisch, dass es bei Ihnen offensichtlich keine Beachtung findet!)

- Bei uns auch, aber ich spreche das deshalb an, weil Sie sich zurzeit in Widersprüche verwickeln.

Schauen Sie sich die Fortschrittsberichte der Europäischen Union an. Darin wird festgestellt, dass die Türkei hinsichtlich der Meinungsfreiheit, der Versammlungsfreiheit, der Vereinigungsfreiheit, des Rechts auf Berufung vor Gericht und in vielen anderen Bereichen noch erhebliche Mängel aufweist. Ich kann mich nur dem EU-Kommissar Verheugen anschließen: Eine Gesetzesänderung allein kann nicht der Maßstab dafür sein, ob die Umsetzung in die Praxis tatsächlich erfolgt.

(Franz Müntefering (SPD): Der Kanzler hat es doch eben gesagt! Was soll das denn eigentlich?)

- Ganz ruhig, Herr Müntefering! Regen Sie sich nicht auf!

(Franz Müntefering (SPD): Es ist alles schon gesagt worden!)

Was uns verwundert hat, ist, dass entgegen der üblichen Praxis in Europa diesmal nicht die Kommission eine Empfehlung gegeben hat, Daten und Termine zu nennen, sondern dass im Falle der Türkei erstmalig der Rat von sich aus initiativ geworden ist. Eines ist sicher: Die Kommission hätte auf dem Gipfel in Kopenhagen keinerlei Daten genannt und auch keinen Druck gemacht, Daten zu nennen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Deshalb bin ich außerordentlich dankbar, dass neben dem Wegfall eines konkreten Termins zugunsten der Konzentration auf die Frage der Kriterien jetzt auch in den Schlussfolgerungen der Präsidentschaft festgehalten wurde, dass auf der Grundlage eines Berichts und einer Empfehlung der Kommission 2004 weiterberaten werden soll. Ich rate uns allen, der Kommission - zu der Sie ohnehin ab und an ein sehr kritisches Verhältnis haben, um es vorsichtig auszudrücken - ihre Aufgabe zu belassen, die sie auch in allen anderen Beitrittsverhandlungen wahrgenommen hat.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Lassen Sie mich nun zu der politischen Führbarkeit Europas kommen. Wir meinen, dass anders als 1963, als der Türkei die Aussicht auf die Mitgliedschaft in der Europäischen Union auf der Grundlage einer Wirtschaftsunion geboten wurde, die Erweiterung und die Vertiefung der politischen Union so weit fortgeschritten sind, dass sich für die Führbarkeit angesichts der politischen Situation in der Türkei und in den europäischen Ländern erhebliche Probleme auftürmen, die mit Sicherheit nicht in kürzester Zeit überwunden werden können. Aus diesem Grunde fordere ich Sie auf: Nehmen Sie die Frage der politischen Führbarkeit ernst.

Es geht doch hier nicht um die Frage, ob Muslime zu der Realität in den europäischen Ländern gehören. Ich bitte Sie! Wir alle leben mit den türkischstämmigen Bürgerinnen und Bürgern in diesem Land gut zusammen und wollen dies auch weiterhin. Das gilt für die CDU und die CSU genauso wie für die SPD und die Grünen.

(Dr. Sascha Raabe (SPD): Auch für Roland Koch? - Weiterer Zuruf von der SPD: Auch der Koch?)

Das ist doch nicht das Problem. Das Problem ist, dass die Integration dieser Bürgerinnen und Bürger nur unvollständig gelungen ist. Diese zu verbessern ist die Hauptaufgabe für die nächsten Jahre. Helmut Schmidt hat doch Recht damit, dass die Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union mit der Türkei als gedachtem Mitgliedstaat ein erhebliches Problem aufwirft.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] (SPD): Da brauchen Sie nur das Zuwanderungsgesetz zu unterstützen!)

Wer das nicht sieht und beim Namen nennt, redet einfach an den Menschen vorbei.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Herr Bundeskanzler, zur Wahrheit gehört auch, dass wir die politische Ordnung in der Türkei, die bis heute auf einer erheblichen Rolle des Militärs beruht, damit die Trennung von Religion und Staat überhaupt möglich ist, nicht einfach wegwischen können. Diese steht durchaus im Gegensatz zu der politischen Verfasstheit der Mitgliedsländer der Europäischen Union. Wir tun uns keinen Gefallen, wenn wir diese Unterschiede einfach wegwischen.

Zur Wahrheit gehört auch, dass ein politischer Führer wie Herr Erbakan in der Türkei jetzt spannende und interessante Wege geht, von denen wir noch nicht wissen, zu welcher politischen Ordnung der Türkei sie einmal führen werden. Deshalb plädieren wir dafür, erst einmal die Vertiefung der Europäischen Union voranzutreiben und die Entwicklung in der Türkei abzuwarten, aber nicht immer und immer wieder voreilige Erwartungen zu schüren, die nur in großen Enttäuschungen der Türkei enden würden.

(Beifall bei der CDU/CSU - Wilhelm Schmidt [Salzgitter] (SPD): Sie schüren doch!)

- Herr Schmidt, wenn Sie mir zugehört hätten, hätten Sie festgestellt, dass ich hier überhaupt nichts schüre, sondern über die Probleme spreche, die wir gemeinsam zu bewältigen haben

(Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Richtig!)

und die von erheblicher Bedeutung für das Gelingen des europäischen Einigungswerkes sein werden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, wer hier so tut, als sei der Beitritt der Türkei irgendeine Lappalie, die man einmal so am Rande erledigen könnte,

(Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wer tut das denn?)

versündigt sich an der Europäischen Union und ihrer Zukunft. Deshalb werden wir uns an dieser Stelle den Mund nicht verbieten lassen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Deshalb werden wir auch nicht zulassen, dass jede abweichende Meinung gleich mit Kulturkampf gleichgesetzt wird; das hat damit überhaupt nichts zu tun. Deshalb hätte ich es auch gut gefunden, wenn Sie, Herr Bundeskanzler, in Ihrer Regierungserklärung noch etwas stärker auf das Projekt eingegangen wären, das Sie für das zukunftsfähigste und für die nächste Zeit wichtigste halten, nämlich die Vertiefung der politischen Union und die Arbeit am Europäischen Verfassungskonvent.

(Günter Gloser (SPD): Das hat er doch gemacht!)

Nicht ohne Grund ist ja auch der Präsident des Europäischen Verfassungskonventes, den Sie ja nun wirklich nicht als einen Antieuropäer bezeichnen können, gegenüber einer Mitgliedschaft der Türkei, um es wieder vorsichtig zu sagen, außerordentlich skeptisch. Er sagt sogar, dass sie aus seiner Sicht mit einer Vertiefung der politischen Union nicht vereinbar ist.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Genau!)

Auch das müssen wir uns wenigstens anhören und ernst nehmen; denn die Meinung Giscard d'Estaings ist in diesem Zusammenhang nicht irgend eine x-beliebige.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Für die CDU/CSU sage ich: Wir werden die Vertiefung der politischen Union und die Arbeit am Verfassungskonvent intensiv begleiten, so wie wir es von Anfang an gemacht haben. Die Initiative für eine klare Aufteilung der Kompetenzen kam ja nicht von ungefähr aus den Ländern der Bundesrepublik Deutschland und da ganz besonders von den von der Union regierten, weil genau die Frage, wer wofür verantwortlich ist, die zentrale Frage ist, die die Bürger vor Ort interessiert, wenn sie Europa ganz persönlich erleben. Die Frage, ob man in Zukunft noch einen staatlichen oder einen kommunalen Zuschuss zum Bau eines Fußballstadions geben kann oder ob man damit das europäische Wettbewerbsrecht verletzt, ist für viele Bürgerinnen und Bürger spannender als manche Richtlinie, die wir sonst diskutieren.

Meine Damen und Herren, es wird deshalb ganz wichtig sein, dass wir im Rahmen der Arbeit des Konventes zu Strukturen kommen, die die politische Führbarkeit Europas wirklich erlebbar werden lassen. Es wird auch ganz besonders wichtig sein, dass wir uns darüber klar werden, in welchen politischen Bereichen wir eine Vergemeinschaftung haben wollen und in welchen Bereichen wir die Zuständigkeit vor Ort haben wollen. Ich plädiere übrigens in diesem Falle dafür, nicht zu sagen: Alles, was einmal in Europa angekommen ist, muss immer in Europa bleiben.

In einem sich vertiefenden Europa gibt es Felder, die durchaus wieder in die nationale oder kommunale Zuständigkeit zurückgeführt werden können. Auch diese Diskussion werden wir führen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Wir haben in unserem Antrag nicht von ungefähr relativ detaillierte Aussagen zu den Strukturen des zukünftigen Europas, wie wir es uns vorstellen, gemacht. Für uns muss zukünftig das Europäische Parlament in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle in Europa spielen. Deshalb haben wir immer wieder gefordert - ich hoffe, das wird von der Bundesregierung übernommen -, dass der zukünftige Kommissionspräsident vom Europäischen Parlament gewählt werden muss. Wir können es uns nicht vorstellen, dass das Ende einer institutionellen Debatte in Europa darin besteht, dass zum Schluss zwar der Rat einen hauptamtlichen Präsidenten hat, aber die Kommission und ebenfalls das Parlament geschwächt aus dieser Debatte hervorgehen. Wir können uns allenfalls vorstellen - das ist deshalb unser Vorschlag -, dass das Amt des Ratspräsidenten mit dem des Kommissionspräsidenten in Personalunion verbunden wird. Die Bedeutung beider Institutionen würde dadurch unterstrichen, dass sie in einer Hand liegen.

Mich würde schon interessieren - das habe ich bisher nicht gehört -, mit welcher Verhandlungsstrategie die Bundesregierung ihren Vertreter in den Konvent schickt, denn diese Fragen sollen und werden in den nächsten Monaten entschieden. Bei all diesen Punkten - manchmal wird ja von Blockadepolitik der Opposition geredet - sind wir meistens vor Ihnen mit sehr konkreten Vorschläge in die Offensive gegangen und haben damit unseren Beitrag zu dieser Europäischen Union geleistet.

Herr Geremek hat von einem Traum gesprochen. Ich sage: Wir müssen den Menschen in Deutschland und anderswo eine Vision von Europa geben. Ich habe die Sorge, dass diese Vision von Europa in der Geschäftigkeit der Räte manchmal verloren gehen könnte. Für mich besteht diese Vision in einer kulturellen Gemeinsamkeit und in einer wachsenden Identität, einer Identität, in der wir das Sozialstaatsmodell und unsere gemeinsame europäische Auffassung von Freiheit auch in einem globalen Wettbewerb gegen andere Pole dieser Welt durchsetzen, zumindest einbringen können, um dadurch eine zentrale Rolle zu spielen.

Ob es uns gelingt, über den Nationalstaat hinaus eine europäische Identität zu entwickeln, wird die spannende Frage sein, an der sich die Wettbewerbsfähigkeit Europas und damit auch Deutschlands entscheidet. Ich möchte nicht, dass Deutschland der "kranke Mann" ist und derjenige ist, der bremst und als Erster den Stabilitätspakt infrage stellt, sondern ich möchte, dass Deutschland in dieser Sache Motor ist. Dafür werden wir eintreten und kämpfen. Dabei werden wir konstruktiv mitarbeiten.

Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU - Beifall bei der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort der Kollegin Dr. Angelica Schwall-Düren von der SPD-Fraktion.

Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe den Eindruck, wir sind uns einig: Der Europäische Rat von Kopenhagen wird für immer als eines der wichtigsten Ereignisse in die Geschichte Europas eingehen. Am letzten Wochenende haben die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union mit der Aufnahme von zehn neuen Mitgliedern über nicht mehr und nicht weniger entschieden, als über die Wiedervereinigung Europas.

Wir wissen, welch großen Anteil die 40-jährige deutsch-französische Zusammenarbeit für die Erfolge im Prozess der europäischen Integration hat. Weder der politische Erfolg des ersten noch des zweiten Gipfels von Kopenhagen wären ohne den deutsch-französischen Motor in dieser Form denkbar gewesen.

(Beifall bei der SPD)

Mit der Kopenhagener Einigung beenden wir die vor allem für unsere Nachbarn in den Beitrittsländern so leidvolle Zeit, in der Mauern und Stacheldraht die Menschen im Westen und im Osten Europas voneinander trennten.

Adam Michnik, einer der großen Intellektuellen und ehemaligen Dissidenten Polens, stellte die Ergebnisse des Gipfels von Kopenhagen am Wochenende in direkten Zusammenhang mit dem Jahr 1980, als die polnische Gewerkschaft Solidarnosc ihren Kampf gegen das kommunistische Regime aufnahm. Erst seit dem letzten Freitag, so sagte er, sei ihr Werk wirklich vollendet. Er erinnerte auch daran, dass beide Entscheidungen, die Verhängung des Kriegsrechts in Polen 1981 und die Entscheidung über die Aufnahme neuer Mitglieder in die EU, auf einen 13. Dezember fielen. Aus einem der traurigsten Daten der polnischen Geschichte sei, so Michnik, nun auch eines der freudigsten geworden.

Als sich 1951 Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande zu den ersten Integrationsschritten entschlossen, ging es darum, für das vom Krieg zerstörte Europa Frieden und Stabilität durch die Einbindung Deutschlands herzustellen. Der Schutz vor dem sowjetischen Kommunismus war ein weiteres Motiv. In einem nächsten Schritt ging es um den ökonomischen Wiederaufbau und die Schaffung neuen Wohlstandes.

Nach Jahrhunderten kriegerischer Auseinandersetzungen ist die EU zu einem Erfolgsmodell des friedlichen Zusammenlebens und des konstruktiven Interessenausgleichs geworden.

(Beifall bei der SPD)

Der freiwillige Zusammenschluss von Staaten und die freiwillige Abgabe von Souveränitätsrechten an eine überstaatliche Institution sind einmalig in der Geschichte Europas und der Welt. All die Vorteile der europäischen Zusammenarbeit auch jenen Menschen zugute kommen zu lassen, die in den Zeiten des Kalten Krieges unter staatssozialistischen Diktaturen gelitten haben, bedeutet nichts anderes als die Einlösung eines Versprechens, welches wir bereits zu Beginn der europäischen Integration gegeben haben: Wir haben versprochen zusammenzuführen, was durch den Zweiten Weltkrieg so schmerzhaft geteilt war - sobald das historische Fenster sich öffnet. Das waren und sind gerade wir Deutschen den Menschen in Mittel- und Osteuropa schuldig; denn diese mussten die Folgen des Angriffskrieges von Hitlers Armeen ohne eigenes Zutun am längsten ertragen.

(Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Hört die Regierungsbank eigentlich zu?)

Jean Monnets Verheißung aus dem Jahre 1952 erhält durch die Osterweiterung der Europäischen Union daher eine aktuelle Bedeutung:

(Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Frau Schwall-Düren, ich würde mal auf die Regierungsbank schauen! Das würde ich mir nicht bieten lassen!)
Wir einigen keine Staaten, wir führen Menschen zusammen.
(Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Die lesen bloß, die Menschen! - Gegenruf des Abg. Gernot Erler (SPD): Hör doch auf!)

Nicht durch Gewalt und Unterdrückung, sondern durch den freien Willen der europäischen Bürger entsteht eine Union, deren Zusammengehörigkeit nicht auf Zwang beruht, sondern auf Werten, die wir alle teilen: Frieden, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Minderheitenschutz.

(Beifall bei der SPD)

Wir haben allen Grund, dieses Ereignis zu feiern. Wir haben auch allen Grund, die Leistungen der Beitrittsländer und ihrer Bevölkerungen im Transformationsprozess anzuerkennen. Sie alle haben einen langen und aufopferungsreichen Weg zurückgelegt, um die EU-Beitrittskriterien erfüllen zu können. Die politischen Eliten haben für ihre europapolitische Überzeugung oft sogar ihre eigene politische Zukunft riskiert.

Meine Kolleginnen und Kollegen, wie zu erwarten war, haben wir am vergangenen Wochenende noch einmal harte Verhandlungen erlebt. Es ging wieder einmal um die Finanzierung der Erweiterung. Gerade in Deutschland ist diese Frage mit der Befürchtung verbunden, dass die Bundesrepublik als Nettozahler den größten Anteil der Erweiterungskosten zu tragen hat. Ich bin überzeugt, dass der Kompromiss, der in Kopenhagen erreicht wurde, keine Grundlage für solche Befürchtungen bietet; denn es kann nicht oft genug darauf hingewiesen werden, dass gerade Deutschland auch ganz praktisch von der Erweiterung der Europäischen Union in hohem Maße profitiert. Durch die Fortentwicklung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der europäischen Verteidigungspolitik ebenso wie durch die bessere Zusammenarbeit bei der Kontrolle unserer Grenzen, bei Asyl- und Einwanderungsfragen, durch gemeinsame Anstrengungen zur Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität und durch gemeinsame Standards beim Umweltschutz wird unser aller Leben sicherer werden.

Gerade wir werden es sein, die wirtschaftlich in hohem Maß von der Aufnahme der Staaten Mittel- und Osteuropas in die Europäische Union profitieren. Der Herr Bundeskanzler hat ausdrücklich darauf hingewiesen. Höhere Investitionen, verstärkter Kapitalverkehr und eine engere Zusammenarbeit von west- und osteuropäischen Unternehmen werden das Wachstum beschleunigen. Der Markt von 450 Millionen Menschen wird der größte zusammenhängende Markt der Welt sein und Europa auch im internationalen Wettbewerb enorme Chancen bieten. Dies wird bereits dadurch deutlich, dass der deutsche Außenhandel mit den Ländern der Beitrittsregion im letzten Jahr um fast 13 Prozent gewachsen ist. Das Volumen liegt heute schon bei 141 Milliarden Euro. Damit entfällt ein Zehntel des deutschen Außenhandels auf die Beitrittsländer.

Über die gegenwärtige Erweiterungsrunde hinaus sind in Kopenhagen weitere wichtige Weichen gestellt worden. Mit seiner Aussage, mit der das Ziel eines Beitritts von Bulgarien und Rumänien im Jahr 2007 bestätigt wird, gibt der Europäische Rat beiden Staaten ein positives Signal. Dieses und die bestehenden langfristigen Perspektiven der Beitrittsmöglichkeit zu westlichen Institutionen für die Staaten des westlichen Balkans tragen viel zur Stabilisierung in Südosteuropa bei und weisen zugleich über die soeben abgeschlossene Runde der Erweiterung hinaus.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das europäische Modell regionaler Integration und friedlicher Zusammenarbeit kann auch dort wirken, wo wir es auch nach 1989 noch mit kriegerischen Auseinandersetzungen zu tun hatten. Durch den Stabilitätspakt wurden den Nachfolgestaaten Jugoslawiens Perspektiven eröffnet, die den Menschen dort zeigen, dass es sich lohnen kann, den demokratischen Weg zu gehen.

Ende 2004 - auch dies ist ein wichtiges Ergebnis von Kopenhagen - wird die Europäische Union darüber entscheiden - Frau Merkel ist leider nicht mehr anwesend -,

(Peter Hintze (CDU/CSU): Doch!)

ob mit der Türkei Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden sollen. Klar ist - ich muss es noch einmal betonen -: Auch mit der Türkei werden erst dann Beitrittsverhandlungen aufgenommen, wenn sie die politischen Kriterien erfüllt.

(Beifall bei der SPD)

Das Bestehen einer stabilen Demokratie sowie der Schutz von Menschen- und Minderheitenrechten haben absoluten Vorrang vor geostrategischen Überlegungen. Grundlage für einen Beitritt werden - wie auch im Fall der Kandidaten der gegenwärtigen Erweiterungsrunde - die politischen und wirtschaftlichen Kopenhagener Kriterien sein.

Vieles spricht für eine EU-Mitgliedschaft der Türkei. Die Türkei ist ein Land, das für die Europäische Union, die NATO und die gesamte Weltgemeinschaft sehr wichtig ist. Sie liegt an der Nahtstelle zur islamisch geprägten Welt und hat daher eine enorme geostrategische Bedeutung. Die Türkei könnte ein Land werden, das eine islamisch geprägte Kultur mit demokratischen Grundwerten in Einklang bringt. Gerade durch eine klare Trennung zwischen Religion und Staat könnte die Türkei ein Vorbild für die gesamte Region werden.

Das Argument, ein Beitritt der Türkei ließe sich nicht mit der europäischen Identität vereinbaren, ist unzutreffend. Ganz abgesehen davon, dass es in Vergangenheit und Gegenwart in Europa zahlreiche Verschränkungen antiker, christlicher und islamischer Kultur gegeben hat, ist die EU keine Religionsgemeinschaft. Die EU ist ein Zusammenschluss von europäischen Staaten auf der Basis einer säkularen Staatsform, von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und liberalen Wirtschaftsverfassungen. Wenn die Türkei diese Bedingungen erfüllt, steht ihr die Tür zur Europäischen Union offen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Denn die Mitgliedschaft der Türkei - auch dies muss noch einmal betont werden - ist im deutschen und europäischen Interesse.

Durch ihre inklusive und nachbarschaftliche Symbolik würde sie das innenpolitische Konfliktpotenzial auch in der Bundesrepublik reduzieren, den politischen Extremismus schwächen, Migrationsdruck durch ökonomische und soziale Entwicklung an Ort und Stelle senken, bessere Voraussetzungen zur Lösung des Kurdenproblems schaffen und dem Entwestlichungstrend in Gestalt des neoosmanischen Islamismus durch Stärkung des laizistischen Staates entgegenwirken. Mit einer politisch und wirtschaftlich integrierten Türkei könnte die EU außerdem ein aufgeklärt islamisches Scharnier mit Ausstrahlung in die islamische Welt erhalten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Bereits in den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass die aus diesen Erwägungen abgeleitete Heranführungsstrategie der Europäischen Union für die Türkei bisher erfolgreich war. Erst vor kurzem hat die neue türkische Regierung ein umfangreiches Reformpaket vorgelegt. Nun geht es vor allem darum, dass die Reformen fortgesetzt und auch tatsächlich umgesetzt werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dazu gehört ganz wesentlich die Religionsfreiheit.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist klar, dass die Erweiterung für die Europäische Union gleichzeitig eine enorme Herausforderung hinsichtlich der Vertiefung darstellt. Die EU ist in der Verantwortung, ihre inneren Strukturen bis 2004 so zu verändern, dass dieser große Erweiterungsschritt ihre Handlungsfähigkeit nicht beeinträchtigt. Es liegt im gemeinsamen Interesse, die EU nicht zu schwächen, sondern sie zu stärken.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Denn der fühlbare Verlust staatlicher Souveränität ist das Ergebnis einer entgrenzten Ökonomie, der grenzüberschreitenden Folgen von Umweltdesastern und der informationstechnologischen Revolution. Die Globalisierung erodiert den Nationalstaat. Die Vertiefung der EU bedeutet daher nicht die Aufgabe von Souveränität, sondern ist unter den veränderten internationalen Bedingungen für alle am Integrationsprozess Beteiligten der einzige Erfolg versprechende Versuch, Souveränität zurückzugewinnen bzw. zu erhalten.

(Beifall bei der SPD)

Das Projekt der Erweiterung muss also durch eine umfassende Reform der Union ergänzt werden. Dazu gehören im Grundsatz sowohl die Intensivierung der Integration als auch eine stärkere Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips. Das wird in den nächsten Jahren die versammelte europäische Staatskunst erfordern. Deutschland wird hier einen entscheiden Beitrag leisten.

(Beifall des Abg. Lothar Mark (SPD))

Dazu gehört vor allem die Umsetzung konkreter Schritte. Wir müssen die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie die europäische Verteidigungspolitik entscheidend fortentwickeln. Bundesminister Fischer hat gemeinsam mit seinem französischen Amtskollegen de Villepin einen Vorschlag erarbeitet, der eine hervorragende Grundlage zur Weiterentwicklung der ESVP im Sinne eines umfassenden Sicherheitskonzeptes mit zivil-militärischen Instrumenten bietet.

Die Herausforderungen der globalisierten Welt verlangen von uns Europäern mehr denn je, dass wir unser wirtschaftliches Gewicht gemeinsam in die Waagschale werfen. Deshalb wollen wir im Sinne der Lissabonstrategie das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell weiter stärken.

Bereits seit einiger Zeit ist klar geworden, dass es mit den für sechs Staaten konzipierten Institutionen nicht möglich sein wird, den Anforderungen der EU 15 und erst recht nicht der EU 25 Genüge zu tun. Deshalb muss nun eine Grundlage für das weitere Funktionieren der Europäischen Gemeinschaft gefunden werden. Die EU braucht ein auf Dauer tragfähiges Verfassungsfundament. Die Arbeiten dazu haben im Konvent begonnen. Es ist wichtig, dass erstmals die nationalen Parlamente daran beteiligt sind und dass auch die Beitrittskandidaten Teil des Konvents sind.

Wir haben nun durch den Präsidenten des Konvents einen ersten Verfassungsentwurf, vielmehr ein Gerüst, vorgestellt bekommen, das als Grundlage für die weiteren Arbeiten dienen kann. Mein Fraktionskollege Michael Roth wird noch detailliert darauf eingehen, welche Erwartungen wir zur Stärkung von Partizipation und Handlungsfähigkeit in der EU an eine europäische Verfassung stellen.

Ich bin davon überzeugt, dass in Kopenhagen Historisches geleistet wurde. Die vor uns liegenden Aufgaben haben wir alle im Blick. Wir können aus dem großen Erfolg des vergangenen Wochenendes die nötige Kraft schöpfen, um diese Aufgaben anzupacken.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang Gerhardt, FDP-Fraktion.

Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was sich in Kopenhagen ereignet hat, ist ein Stück Geschichte, hat eine große Bedeutung und ist der entscheidende Schritt zur Wiedervereinigung Europas.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Deswegen sollten wir jetzt manche vorherigen Gipfelveranstaltungen, die sich nach unserer Überzeugung mit Finanzfragen nicht so effektiv befasst haben, und auch den sehr schwierigen - um nicht zu sagen: zum Teil fehlgeschlagenen - Gipfel von Nizza, der sehr wenig zur möglichen späteren Vertiefung beigetragen hat, einmal vergessen.

Was für uns Deutsche wichtig ist, ist die große Zukunftsinvestition, die in unserem wohlverstandenen nationalen Interesse liegt. Es muss ausgedrückt werden, dass sie viel mehr Chancen als Risiken hat.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das ist der Kern des Gipfels von Kopenhagen. Sie bietet nicht nur ökonomische Chancen, sondern auch Chancen für die Erweiterung unserer Freiheit und unserer Sicherheit, die weit über die soziale Sicherheit hinausgeht. Sie bietet mehr und mehr Menschen weitere Chancen.

An diesem Prozess waren viele beteiligt. Einige Namen sind schon genannt worden: Das waren die Solidarnosc und eine Persönlichkeit wie Václav Havel. Das war das mutige Vorgehen der Ungarn und das waren die Bürgerinnen und Bürger in der früheren DDR. Das war ein Stück Tabubruch der alten Deutschlandpolitik in der alten Bundesrepublik Deutschland auch durch meine Partei. Das waren Willy Brandt und Walter Scheel mit den Vertragsbindungen zu Osteuropa.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das war ein anfänglich mit kritischen Augen betrachteter Helsinkiprozess, den Hans-Dietrich Genscher mit eingeleitet hat und dem niemand zugetraut hat, dass er solche lawinenartige Drücke auf Herrschaftsregime im Osten entfaltet.

Wir sollten auch ein Stück Frieden machen mit manchen innenpolitischen Diskussionen der Vergangenheit über Außenpolitik. Es gab Situationen, in denen die Sozialdemokratische Partei gänzlich anderer Meinung war als wir, und es gab Situationen, in denen sie unserer Auffassung war. Dieselbe Differenz gab es zur Union. Ich will in diesem Zusammenhang nur eine Randbemerkung machen, Herr Bundeskanzler: Die einzige Partei, die beide Schritte der Deutschlandpolitik mitgestaltet hat, ist die FDP im Deutschen Bundestag.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Jetzt haben wir diese großartigen Chancen und da stellt sich die Frage, was wir damit anfangen. Welche Potenziale haben wir? Wie gliedern wir uns in strategische weltpolitische Überlegungen ein? Was können wir anderen an Stabilität bieten? Zuallererst muss ich sagen: Es wird eine unglaublich ehrliche Überzeugungsarbeit zur wirklichen Vertiefung der Europäischen Union notwendig sein, auch in der Bundesrepublik Deutschland. Wir als Freie Demokraten haben uns nie vorgestellt, dass es eine Art allgemeiner Mitgliederverein ist. Wer an dem Gipfel in Kopenhagen teilgenommen hat und genau hinhörte, muss auch wissen, dass er auch in Westeuropa noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten hat.

Es sind viele zu uns in die Europäische Union gekommen, die der europäischen Familie angehören wollen und die sich geradezu danach gesehnt haben, ihre Chancen zu ergreifen. Aber manche haben nur sehr vage Vorstellungen, was das wirklich - auch für uns - bedeutet. Deshalb will ich es hier ansprechen. Eine Vertiefung Europas wird nur gelingen, wenn die alten Nationalstaaten zu einem wirklichen Souveränitätsverzicht bereit sind

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

und wenn sie es nicht als eine Prestigeangelegenheit ansehen, über die eine oder andere Frage noch in ihrem alten nationalen Gehäuse entscheiden zu können. Das wird ein Gedankensprung werden, den viele in Westeuropa noch nicht vollzogen haben. Ich höre manche Stimmen, die dauernd für Neuaufnahmen plädieren - manche plädieren auch für eine zügigere Aufnahme der Türkei -, bei denen ich das Gefühl habe, sie entschuldigen sich für Vertiefungsaufgaben, die wir wahrzunehmen haben.

(Michael Glos (CDU/CSU): So ist es!)

Deshalb muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden: Eine Erweiterung ohne eine klare, konkrete Vertiefung, ohne eine eigene europäische Identitätsfeststellung und ohne eine Beschreibung des eigenen Profils wird die Europäische Union nicht erfolgreich durchführen können. Das ist die Kernaufgabe, vor der wir stehen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Im Übrigen können wir uns heute Morgen in Bezug auf die Vertiefungsaufgabe manche innenpolitische Diskussion ersparen. Wenn die Europäische Union wirklich vertieft werden soll, dann wird das deutsche Modell der Sozialpolitik und der kollektiven Systeme sowie das, was Rot-Grün in der Wirtschaftspolitik macht, nicht zu halten sein. Selbst wenn Rot-Grün hier eine Mehrheit hat, wird ihnen das zerrinnen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Vertiefung wird alle zu Veränderungen zwingen. Sie wird eine Vertiefung sein müssen, die die beiden folgenden Dinge nicht enthalten kann: einerseits zu glauben, wir seien noch die alten Nationalstaaten, und andererseits europäisch agieren zu wollen, ein Global Player sein zu wollen, Europa wiedervereinigen und Stabilitätsbrücken zu den Ländern des Barcelona-Prozesses bis hin zu Israel und der Türkei bilden zu wollen.

Vor uns liegt noch die Frage bezüglich einer Perspektive für die Ukraine, Weißrussland und Russland. Es ist bisher nicht darüber diskutiert worden, wie wir uns dieser Frage nähern. Wir haben für Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Serbien eine Perspektive. Wir haben eine für Bulgarien und Rumänien genannt. Ich warne davor: Wir werden im Hinblick auf die Vertiefung Probleme bekommen, wenn wir diese Fragen nicht strategisch gliedern. Deshalb ist über die Frage "Vertiefung oder Erweiterung" offen zu diskutieren. Wir müssen erst einmal die jetzige Situation der Europäischen Union verarbeiten.

Im Übrigen - ich sage das nicht kritisch, Herr Bundeskanzler - sollte mit allen politischen Kräften in Deutschland, also auch mit uns, besprochen werden, wie wir gemeinsam den Prozess der Referenden, die jetzt in vielen anderen Ländern stattfinden müssen, begleitend unterstützen, damit sie zum Erfolg geführt werden. Das ist eine wichtige Aufgabe.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ein weiterer Punkt ist der Stabilitätsexport. Ich bin der tiefen Überzeugung, dass die Europäische Union genau das tun muss. Sie haben es in Ihrer Regierungserklärung angesprochen. Das erwartet man von uns. Wir sollten diese Aufgabe wirklich verantwortungsbewusst übernehmen.

Ich warne aber davor, beim Stabilitätsexport durch die Europäische Union nur in Kriterien von Mitgliedschaften in der Europäischen Union zu denken. Deshalb bin ich etwas zögerlich in der abschließenden Bewertung der Frage der vollen Mitgliedschaft, der Mitgliedschaft minus einiger Teilhabemöglichkeiten oder eines besonderen Partnerschaftsverhältnisses zur Türkei. Wir sollten diese Diskussion wieder führen, wenn der Evaluationsbericht der Kommission 2004 auf der Tagesordnung steht. Bis dahin wäre ich vorsichtig, jemandem falsche Hoffnungen zu machen. Denn die türkische Führungselite - wir beobachten seit Jahren, dass sie durchaus den Willen hat, einen europäischen Weg einzuschlagen - hat noch die gewaltige Aufgabe vor sich, diesen Weg gesamtgesellschaftlich wirklich abzusichern. Wenn sie ihn absichert, wird nicht nur die Fragestellung der Türkei auftreten. Vielmehr wird auch die Fragestellung anderer Länder - und dies bis hin zu Israel - auftreten, wie die Partnerschaftsbrücke dann aussieht. Viele nordafrikanische Staaten stehen in alter, historischer, wenn auch nicht immer nur glücklicher, Verbindung zu unserem großen Partner Frankreich. Das heißt, Stabilitätsexport ja, aber differenziert, nicht einheitlich und nicht als Raster. Die Frage nach einer Mitgliedschaft ist dann aufzurufen, wenn wir ein klareres Bild haben.

Welche Potenziale Europa hat - darauf will ich abschließend zu sprechen kommen -, stellen wir uns selbst möglicherweise noch nicht vollständig vor. Die Europäische Union ist nach meiner Überzeugung weltweit das beste und überzeugendste Beispiel für viele Erdteile, die geradezu bewundern, dass es einem Kontinent, der, wie in den Geschichtsbüchern nachlesbar, noch vor einem halben Jahrhundert große Konflikte hatte, gelungen ist, einen Mechanismus der Zusammenarbeit und der Konfliktregelung sowie eine einheitliche Währung zu entwickeln. Unsere amerikanischen Freunde haben das nie für möglich gehalten. Die Teilung des Kontinents musste überwunden werden. Manchmal setzen andere größere Hoffnungen in uns als das, was wir uns selbst zutrauen.

Deshalb sollte sich die Europäische Union nicht nur mit Butterbergen und Milchseen beschäftigen. Ob wir bis 2013 die Agrarausgaben in der derzeitigen Höhe halten können, das ist zwar für die Zukunftssicherung der Menschen im ländlichen Raum wichtig. Aber nach dem Gipfel in Kopenhagen wissen wir, dass wir ein geostrategischer Player sind.

Weltpolitisch haben wir aber noch nicht richtig laufen gelernt.

Herr Bundeskanzler, die Europäische Union wird Stabilitätsexport nur betreiben und eine geostrategische Rolle nur wahrnehmen können, wenn sie sich klar wird, mit wem sie dies tun will. Damit spiele ich darauf an, dass es allerhöchste Zeit wird, die Misstöne zwischen Berlin und Washington ein für alle Mal zu beseitigen, wenn wir diese Potentiale nutzen wollen.

(Beifall bei der FDP sowie bei
Abgeordneten der CDU/CSU)

Angesichts der Bemerkungen, die meine Kollegin Merkel vorhin zu AWACS und anderem gemacht hat, und der Bemerkungen zu den Spürpanzern und alledem frage ich mich heute, ob es nötig war, so Wahlkampf zu führen, wenn jetzt langsam die Tatsachen erkennbar werden. Dies sei aber nur eine Fußnote.

Wenn die Europäische Union eine große weltpolitische Rolle spielen will, kann sie das nur mit begleitender Partnerschaft im transatlantischen Bündnis mit den Vereinigten Staaten von Nordamerika und mit Kanada. Sonst wird sie sie nicht wahrnehmen können.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

Das hat zwei Seiten. Auch unseren amerikanischen Freunden sollte man sagen: Eine singuläre Supermacht wird nicht weltweit erfolgreich sein, wenn sie nicht begleitende Abstützung sucht. Wir haben 40 Prozent des Weltsozialprodukts in diesen beiden transatlantischen Partnern. Wir würden einen großen historischen Fehler machen, wenn wir damit nicht für alle Menschen auf dieser Welt etwas Vernünftiges anfangen würden.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.

Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute über einen wahrhaft historischen Gipfel, über den Gipfel von Kopenhagen, der den Weg für die große Erweiterung der Europäischen Union frei gemacht hat. Die Europäische Union ist die historisch richtige Antwort auf die leidvollen Erfahrungen von Generationen von Menschen in Europa: durch kriegerische Auseinandersetzungen, durch Nationalismus und durch religiösen Fundamentalismus, der die Menschen auf diesem Kontinent über lange Zeiten gequält, gefoltert, aus dem Land getrieben, ermordet hat. Deshalb ist die europäische Integration nach 1945 und nach 1989 in erster Linie ein Friedensprojekt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Die Europäische Union ist ein Friedensprojekt, das nach Osten und nach Süden noch nicht abgeschlossen ist.

Weil dieser Frieden so unbezahlbar ist, weil diese Erweiterung für uns keine Pflichtübung gegenüber der Geschichte, sondern die große Chance am Beginn dieses Jahrhunderts ist, die wir mitgestalten können, die wir aber auch mitverantworten müssen, ist es wichtig, dass wir uns bewusst machen, dass wir die Menschen in diesem Prozess mitnehmen müssen. Diese Erweiterung wird nicht gelingen, wenn es uns nicht gelingt, die Menschen in Europa in diesem Prozess mitzunehmen. Das nächste Jahr wird dabei sehr entscheidend sein; denn in fast allen Beitrittsstaaten sind Referenden über die Erweiterung zu gewinnen.

Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass sich in den Beitrittsstaaten nach der anfänglichen Euphorie längst eine differenzierte und auch durchaus EU-kritische öffentliche Meinung gebildet hat. Daher ist es wichtig, soweit wir überhaupt die Möglichkeit haben, auf diese Prozesse Einfluss zu nehmen, diejenigen in den Beitrittsstaaten zu unterstützen, die sich für Europa, die sich für die europäische Integration aussprechen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müssen uns natürlich - gerade in unserem eigenen Land - auch um die kümmern, die dem Erweiterungsprozess kritisch und skeptisch gegenüberstehen. Wir müssen die Ängste dieser Menschen ernst nehmen. Wir müssen ihnen die Kraft unserer Argumente gegenübersetzen. Das ist in dieser Debatte deutlich geworden. Kollege Gerhardt hat es angesprochen: Der Erweiterungsprozess hat mehr Chancen als Risiken. Aber wir müssen diese Risiken benennen können, um Vertrauen zu gewinnen.

Wir müssen das Europa des solidarischen Entwickelns von Wohlstand, des pfleglichen Umgangs mit Ressourcen, das Europa, das integrieren, Minderheiten schützen und Frieden sichern will, dagegen stellen. Es ist alternativlos, aber es ist nicht deshalb alternativlos, weil es das kleinere Übel ist, sondern weil es genau die Perspektive ist, die den Menschen Europa näher bringt und die Lebensqualität und die ökologische Qualität auf diesem Kontinent nachhaltig sichert.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Dieses Ernstnehmen von Ängsten bedeutet aber auch, dass wir eine harte Auseinandersetzung mit all den Populisten führen müssen, die die Ängste der Bevölkerung benutzen, um ihre nationalistische, ihre undemokratische Propaganda zu verbreiten, um dieses einzigartige Projekt zu zerschlagen oder zum Stillstand zu bringen. Diese populistische Argumentation müssen wir entschieden bekämpfen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Mit großer Spannung wurde darauf gewartet, welche Botschaft von Kopenhagen in Richtung Türkei ausgesandt wird. Das von Kopenhagen ausgegangene Signal ist richtig und notwendig, denn die Türkei brauchte die Bestätigung, dass sie in der Europäischen Union willkommen ist. Das ist das Signal: Wenn die Türkei die Kriterien erfüllt, ist sie willkommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Aber es ist auch richtig, dass wir der Türkei noch weitere zwei Jahre Zeit lassen, damit sich der politische Prozess in der Türkei weiterentwickeln kann, weil die Türkei die Kopenhagener Kriterien noch nicht erfüllt. Es ging aber auch darum, der Türkei sehr deutlich zu sagen: Wenn ihr die Kriterien erfüllt, dann können diese Verhandlungen beginnen und dann werden sie beginnen.

Für uns ist ein ganz wichtiger Gradmesser für die Demokratisierungsbereitschaft der Türkei und für die Ernsthaftigkeit der Reformpolitik, wie weit die Türkei es tatsächlich schafft, die Menschenrechte zu sichern, Folter zu beenden, politische Gefangene freizulassen und die Gleichberechtigung der kurdischen Bevölkerung tatsächlich durchzusetzen, und zwar nicht nur auf dem Papier. Es geht nicht nur darum, diese Durchsetzung der Menschenrechte in der Türkei gesetzlich zu regeln, sondern sie muss in der türkischen Gesellschaft Wirklichkeit werden. Darum muss es uns gehen und daran werden wir die Türkei messen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Liebe Frau Kollegin Merkel, Ihre wortreichen Ausführungen zur Türkei waren durchgängig von der tiefen Frustration der CDU/CSU gekennzeichnet, dass sie in dieser Frage europaweit selbst im konservativen Lager total isoliert ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Sie, Frau Merkel, haben es zugelassen, dass Roland Koch die Türkeifrage zu Wahlkampfzwecken instrumentalisiert. Das, was Herr Koch in Hessen gemacht hat, ist nichts anderes als eine Kampagne zulasten der bei uns lebenden Türken und Kurden und anderer Ausländer.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wenn Herr Stoiber von sich gibt, die Türkei passe nicht in die Europäische Union, weil sie nicht an der europäischen Geschichte der Aufklärung teilgenommen hat, dann will er damit die Türkei aus der westlichen Welt ausgrenzen. Das ist Ausgrenzungspolitik und gegen diesen Kampf der Kulturen wenden wir uns ganz entschieden. Ausgrenzung bedeutet immer auch ein Stück weitere Radikalisierung. Ausgrenzung bedeutet in der Konsequenz weitere Anwendung von Gewalt. An dieser Spirale dürfen wir nicht drehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir wollen genau das Gegenteil. Wir wollen Modernisierung und Demokratisierung mit kultureller Vielfalt. Das ist das Ziel, dem sich Europa verpflichtet fühlen muss. Für uns ist die Europäische Union ein Zukunftsprojekt, das weder als exklusiver christlicher Verbund konzipiert noch als monolithischer kultureller schwarzer Block definiert ist. Darüber gibt es auch in der Europäischen Union bis in die konservativen Parteien hinein große Einstimmigkeit.

In den Grundpfeilern der Europapolitik haben wir in diesem Hause viele Gemeinsamkeiten gehabt.

Lassen Sie uns mit diesen Gemeinsamkeiten bezüglich der Grundpfeiler der europäischen Integration ausgesprochen pfleglich umgehen und sie nicht kurzfristigen parteipolitischen Interessen opfern!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir müssen nicht nur über die Frage der Mitgliedschaft, sondern auch darüber diskutieren, wie die Europäische Union, deren Grenzen sich nicht geographisch, sondern politisch verändern, ihre Nachbarschaft organisiert. Das ist natürlich ein Bereich, der insbesondere für den Balkan, aber auch für den östlichen Teil Europas wichtig ist.

Ausdruck dieser künftigen Nachbarschaftsarchitektur ist sicherlich die verstärkte Verantwortung, die die Europäische Union jetzt in Friedensmissionen auf dem Balkan übernehmen wird. Das ist ein Prozess, den wir unterstützen. Die in Kopenhagen gefundene Einigung zu einer EU-NATO-Dauervereinbarung stellt einen Meilenstein auf dem Weg zu einer wirklichen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik dar. Auch das unterstützen wir.

Wir haben im Verhältnis zu Russland mit der Einigung, die zu Kaliningrad gefunden worden ist, eine ermutigende Regelung gefunden. Ich sage aber auch sehr deutlich: Der Weg zu einem gutnachbarlichen Verhältnis zwischen der Europäischen Union und der Russischen Föderation ist beschwerlich und weit. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Tschetschenienfrage, die für uns ganz wichtig ist. Zu guter Nachbarschaft gehört, dass die Nachbarn die Menschenrechte in ihren Ländern akzeptieren und sich für ihre Einhaltung einsetzen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Erweiterung bedeutet nicht nur Veränderung nach außen, sondern erfordert auch Reformen nach innen. Der Agrarkompromiss zum Beispiel, der in Paris den Weg für Kopenhagen freigemacht hat, war vielleicht notwendig, aber ich sage hier auch sehr deutlich, dass der Agrarkompromiss nicht das Ende der gemeinsamen Agrarpolitik in Europa darstellen kann. Wir wünschen uns weitere konkrete Reformschritte für eine Agrarpolitik, die an der Entwicklung der ländlichen Räume orientiert ist.

Hier muss Zukunftsfähigkeit gewährleistet werden, indem die ländlichen Räume wieder attraktiv werden, dort Arbeitsplätze und eine lebensfähige Infrastruktur geschaffen werden. Wir wollen eine Agrarpolitik, die sich an den Verbraucherinteressen orientiert und dabei hohe Umwelt- und Tierschutzstandards einhält.

Wir wollen eine Agrarpolitik, die auch international in den Globalisierungsprozessen, also in den WTO-Verhandlungen, tatsächlich die Perspektive für eine globale Gerechtigkeit eröffnen wird. Das ist eine Agrarpolitik, die die handelsverzerrende Wirkung der Direktzahlungen abbaut. Es ist eine Agrarpolitik, die sich von den Direktzahlungen abwendet und einer Modulation und Förderung der ländlichen Räume und der umwelt- und tierschutzgerechten Landwirtschaftspolitik zuwendet. In diese Richtung müssen wir weitergehen und nicht die Direktzahlungen als Ultima Ratio der Landwirtschaftspolitik erhalten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Deshalb glauben wir, dass die Vorschläge, die Agrarkommissar Fischler gemacht hat, eine gute Grundlage für weitere Reformüberlegungen bieten. Wir wollen darüber hinaus die Strukturfonds als Ausdruck von Solidarität für die besonders bedürftigen Regionen in Europa weiterentwickeln.

Die Frage nach der politischen Vertiefung der Europäischen Union ist von der Erweiterung nicht zu trennen. Deshalb tagt der Konvent seit Februar dieses Jahres. Er wird eine europäische Verfassung vorlegen. Wir unterstützen dieses Projekt nachdrücklich, weil wir wollen, dass die Bürgerinnen und Bürger die europäische Verfassung als ihr Projekt empfinden. Sie sollen spüren, dass dort Bürgerrechte verankert sind und von Solidarität und Nachhaltigkeit gesprochen wird. Das müssen zentrale Implikationen einer europäischen Verfassung sein.

Wir wünschen uns, dass die Menschen in Europa darüber in einem Referendum abstimmen, weil es um ihre Zukunftsperspektiven geht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Unstreitig ist, dass Kern der Verfassung die Europäische Grundrechte-Charta werden soll. Unstreitig ist auch, dass das Europäische Parlament und die Kommission gestärkt werden müssen.

Eine Reihe von anderen Gesichtspunkten sind gerade uns Grünen ganz besonders wichtig: Ökologie und Nachhaltigkeitsprinzip. Wir wollen aber auch - das sage ich an dieser Stelle sehr deutlich -, dass der Euratom-Vertrag im Sinne der europäischen Verfassung abgewickelt wird und dass wir eine europäische Energiepolitik bekommen, die ihre Schwerpunkte auf regenerative Energien setzt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir setzen uns dafür ein, dass das europäische Modell ein Modell der Solidarität wird, dass Solidarität und soziale Marktwirtschaft Eingang in die Verfassung finden. Deshalb begrüße ich, dass der Konvent eine Arbeitsgruppe zu sozialen Fragen eingerichtet hat.

Abschließend dazu sage ich: Natürlich wollen wir, dass direktdemokratische Elemente, Möglichkeiten der direkten Beteiligung von Menschen in Europa, in der Verfassung verankert werden, um die demokratische Legitimierung zu stärken und die Bürgerinnen und Bürger besser an die europäische Ebene zu binden. Dazu gehört auch, dass wir uns hier in diesem Hause und im Konvent den Fragen der Subsidiarität stellen. Die Frage, welche Entscheidung auf welcher Ebene getroffen wird, ist eine der Zukunftsfragen, um Europa für die Menschen tatsächlich lebbar und attraktiv zu machen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Wenn wir die Subsidiarität nicht in der Verfassung verankern, werden uns die Menschen davonlaufen. Deshalb sollten wir an diesen Stellen zusammenarbeiten.

Über die Politik bezüglich der Zukunft Europas können wir uns bei den Fachpolitiken wie Umweltpolitik, Verkehrspolitik usw. trefflich streiten. Wir sollten aber gemeinsam dafür eintreten, dass die Perspektive eines friedlichen Europas durch Integration als stabilisierender Faktor in den globalen Entwicklungsprozessen erhalten bleibt. Dafür sollten wir uns gemeinsam einsetzen wie für ein Europa, das mit den Ressourcen auf dem eigenen Kontinent pfleglich umgeht,

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

für ein Europa, das das solidarische Miteinander bei der Sicherung und Verteilung des Wohlstandes in Europa auf seine Fahnen schreibt. Wenn es diese Solidarität im Miteinander des Verteilens in Europa nicht gibt, dann werden all die positiven Vorstellungen zu Europa, die wir hier geäußert haben, keine Zukunft haben. Deshalb lassen Sie uns an dieser Stelle gemeinsam für dieses Europa der Menschen kämpfen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile dem Kollegen Peter Hintze, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Peter Hintze (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Gipfel von Kopenhagen hat gezeigt, dass gerade die kleinen Mitgliedstaaten oft die größten Beiträge zur Integration Europas leisten. Der dänischen Präsidentschaft ist in der schwierigen Schlussphase der Beitrittsverhandlungen ein Interessenausgleich gelungen, der den historischen Schritt der Wiedervereinigung Europas möglich macht.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Die Erweiterung ist für alle in der Europäischen Union politisch, ökonomisch und kulturell ein großer Gewinn. Ich möchte auch im Namen meiner Fraktion dem dänischen Premierminister Anders Fogh Rasmussen und seiner Regierung der bürgerlichen Mitte zu diesem erfolgreichen Gipfel herzlich gratulieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Im Vorfeld des Gipfels ist heftig über Geld gestritten worden. Auch die Bundesregierung hat mit markigen Worten Missverständnisse riskiert. Ich möchte deshalb ausdrücklich betonen, dass die Aufwendungen für die Erweiterung eine gute Investition in eine verlässliche Zukunft sind und dass wir froh sind, diese Investition zu tätigen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Es ist gerade für Deutschland ein beruhigendes Gefühl, auch an seiner Ostgrenze Freunden und Partnern zu begegnen, die die gleichen Ziele verfolgen: Frieden, Sicherheit und Wohlstand in funktionierenden Demokratien und mit markwirtschaftlichen Strukturen. Deutschland rückt mit dieser Erweiterung in die Mitte der Europäischen Union. Wir werden nicht zuletzt auch wirtschaftlich davon profitieren. Dies ist das einhellige Urteil führender deutscher Ökonomen.

Angela Merkel hat schon heute Morgen zu Recht auf die Gefährdungen hingewiesen, denen der Stabilitätspakt ausgesetzt ist oder ausgesetzt sein könnte. Lassen Sie mich zum Stabilitätspakt und zur Währungsunion einen zentralen Gedanken entwickeln. Es ist ein Alarmsignal, dass die "Financial Times Deutschland" in diesen Tagen getitelt hat: "Deutschlands Top-Bonität wackelt". Dass die drei führenden Ratingagenturen erwägen, Deutschland in seiner Bonität abzustufen, ist nicht nur eine weitere Schlappe für die Finanzpolitik der Bundesregierung, sondern - viel schlimmer - es zeigt auch das schwindende Vertrauen der Weltfinanzmärkte in die Reformfähigkeit dieser Regierung. Ein weiteres Alarmzeichen ist, dass der "Economist" festgestellt hat: Durch die Konjunkturschwäche Deutschlands wird Westeuropa im kommenden Jahr das niedrigste Wachstum einer Weltregion aufweisen. Durch die Fehler dieser Regierung zieht Deutschland zurzeit die Wirtschaft der Europäischen Union in die Tiefe. Das ist eine sehr bedenkliche Entwicklung, die dringend korrigiert werden muss.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Günter Gloser (SPD): Das war gestern ganz anders! - Wilhelm Schmidt [Salzgitter] (SPD): Was ist der zukunftsweisende Gedanke, den Sie dabei haben?)

- Der kommt jetzt, Herr Kollege Schmidt. Ich freue mich, dass Sie ihn freudig erwarten.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] (SPD): Ausgerechnet von Ihnen!)

Mit der Erweiterung wird nur etwa die Hälfte der EU-Staaten zur Eurozone gehören. Hieraus ergibt sich eine besondere Verpflichtung; denn die Währungsunion verbindet die beteiligten Mitgliedstaaten in einer besonders engen Weise. Die Währungsunion bildet Kerneuropa. Zur Bewältigung ihrer besonderen Aufgabe bedarf es einer besonderen Institution, etwa eines offiziellen Eurorates, nicht nur eines informellen, wie es ihn im Moment gibt. Deutschland sollte sich wieder zum Hüter der Währungsunion entwickeln und mit konstruktiven Vorschlägen dafür sorgen, dass die Eurozone auch in Zukunft Zentrum wirtschaftlicher und politischer Stabilität wird, die auf ganz Europa, auf die ganze Europäische Union ausstrahlt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Lassen Sie mich auch ein Wort zu unserem Umgang mit unserer gemeinsamen Geschichte sagen. Wir wissen um das dramatische Unrecht, das im deutschen Namen den Staaten in Mittel- und Osteuropa angetan wurde. Da gibt es keinen Vergleich und keine Verrechnung. Zur Wertegemeinschaft Europa gehört auch,

(Gert Weisskirchen [Wiesloch] (SPD): Jetzt kommt das Aber!)

jegliche Vertreibung für Unrecht zu erklären und jedem Menschen das Recht auf die Heimat zuzubilligen. Es wäre schön - das ist meine hoffnungsvolle Erwartung -, wenn es hier zu einer versöhnlichen Geste käme.

Heute Morgen ist hier sehr viel über die Türkei gestritten und diskutiert worden.

(Michael Roth [Heringen] (SPD): Diskutiert nicht!)

Ich möchte auf einen Sachverhalt hinweisen, der uns gestern im Nachgang zum Gipfel in Kopenhagen aus Ankara erreichte. Der türkische Außenminister hat gestern ausweislich einer Pressemeldung der türkischen Nachrichtenagentur Anatolia erklärt, die Türkei widerspreche den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Kopenhagen im Hinblick auf Zypern und die Türkei spreche der Europäischen Union das Recht ab, über die Zukunft Zyperns zu entscheiden. Das ist ein arger Missklang im Nachgang zu diesem Gipfel. Ich erwarte, dass die Bundesregierung die gleiche Energie, die sie in einen Beitrittsverhandlungstermin gesteckt hat, dafür aufbringt, mit unseren Partnern in der Türkei darüber zu sprechen, dass der künftige Weg für Zypern selbstverständlich ein Weg innerhalb der Europäischen Union ist und bleiben wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Im Zusammenhang mit dem Beitrittswunsch der Türkei wird immer wieder die These aufgestellt, die Europäische Union sei kein christlicher Klub. Frau Dr. Schwall-Düren hat heute Morgen davon gesprochen, dass die Europäische Union keine Religionsgemeinschaft sei.

(Michael Roth [Heringen] (SPD): Sie sind Pfarrer?)

Das ist eine Selbstverständlichkeit, der zuzustimmen leicht fällt. Bei diesem wichtigen Thema sollten wir aber doch einmal einen Moment lang den Zusammenhang zwischen Religion und Politik untersuchen und ihn nicht einfach beiseite schieben.

Ich rate zu einer gründlichen Unterscheidung zwischen der Glaubensfreiheit auf der einen Seite und der kulturprägenden Wirkung des Christentums und des Islam auf der anderen Seite. Kulturelle Unterschiede zu achten, aber auch zu beachten, ist, wie ich finde, nicht nur sinnvoll, sondern wichtig und richtig. Der Bundeskanzler hat vor einem neuen Kulturkampf gewarnt. Es ist alles andere als Kulturkampf, sondern geradezu eine kulturelle Notwendigkeit, die unterschiedlichen Ausprägungen von zwei großen Hochkulturen zu achten, ernst zu nehmen, aber auch auf ihre Auswirkungen zu achten.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)

Die Europäische Union ist weltanschaulich neutral, aber von ihren Werten her eindeutig vom europäischen Menschenbild bestimmt, das zum einen durch die Aufklärung und zum anderen durch die christliche Anthropologie geprägt ist. Daraus entwickelten sich das Verständnis der unantastbaren Menschenwürde, die Menschenrechte, die Gleichheit von Frau und Mann, die rechtsstaatliche Demokratie, die Pressefreiheit und schließlich die soziale Marktwirtschaft.

(Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Aufklärung ist kein christliches Projekt! Denken Sie nur an die Säkularisierung unter Atatürk!)

- Herr Kollege Beck, sie rufen gerade "Säkularisierung" dazwischen. Wenn Sie diesen Zwischenruf ernst meinen, dann heißt das nichts anderes, als dass diese Werte, die aus dem christlichen Verständnis erwachsen sind, heute für viele Menschen - das gilt wahrscheinlich auch für Sie - keine religiöse Begründung mehr haben. Sie brauchen als Werte an sich auch keine religiöse Begründung mehr, aber sie haben eine bestimmte Prägung erfahren.

(Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie haben nicht richtig zugehört!)

Wenn Sie sich in islamischen Staaten und in früher christlich geprägten Staaten umschauen, dann werden Sie feststellen, dass die Einstellung zur Demokratie, zu Menschenrechten, zur Pressefreiheit und zur Glaubensfreiheit unterschiedlich ist.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Bisher gibt es keinen islamischen Großstaat auf der Erde, der unsere Werteordnung praktiziert.

(Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Antiaufklärung!)

Damit wir uns richtig verstehen: Wir unterstützen mit großer Anstrengung die europafreundlichen und demokratieorientierten Kräfte in der Türkei. Die Türkei ist ein alter Freund Deutschlands. Wir begrüßen alle positiven Entwicklungen, die durch die Reformgesetze eingeleitet worden sind. Wenn es einmal zu einer Werteübereinstimmung kommt, dann können sich Abendland und Morgenland versöhnlich die Hand reichen. Darüber würden wir uns freuen und würden es begrüßen. Es wäre ein großer Gewinn

Dass wir den Wunsch nach einer solchen Entwicklung aber nicht einfach mit der Realität vertauschen dürfen, erkennen wir nicht zuletzt an den beachtlichen Integrationsproblemen, die sich in Deutschland trotz vielfältiger guter Erfahrungen immer wieder stellen. Verantwortliche Politik nimmt solche Probleme ins Auge und leugnet sie nicht einfach oder überdeckt sie nicht mit einem freundlichen Wunsch.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Ein letzter Gedanke. Die jetzt beschlossene Erweiterung um zehn neue Mitgliedstaaten will politisch und wirtschaftlich gelebt werden. Das heißt auch, dass wir uns in Europa über unsere Identität klar werden müssen. Wir müssen uns überlegen, was für ein Projekt diese politische Union überhaupt ist. Das wollen wir im Rahmen des Verfassungsprozesses tun. Es geht dabei um unsere Grenzen im inhaltlichen und geographischen Sinne; denn ein grenzenloses Europa würde sich verlieren. Wir wollen ein Europa, das sich als Werte- und Schicksalsgemeinschaft versteht, um einen guten Beitrag für die Zukunft der Menschen zu leisten, die uns in unserer politischen Verantwortung anvertraut sind.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt Herr Staatsminister Bury.

Hans Martin Bury, Staatsminister im Auswärtigen Amt:

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seit Kopenhagen ist Freitag, der 13., ein Glückstag. Er ist ein Glückstag für Europa und damit auch ein Glückstag für Deutschland.

Mit der Entscheidung über die Erweiterung der Europäischen Union ist der Eiserne Vorhang endgültig gefallen. Europa wird wieder vereinigt. Wir nutzen die großartige Chance, ein Europa des Friedens, des Wohlstandes und der Sicherheit zu schaffen. Deutschland kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Wir haben die Erweiterung von Anfang an gewollt und mit allen Kräften unterstützt. Für uns war und ist der Einsatz für das weitere Zusammenwachsen Europas immer Herzenssache, historisches Vermächtnis und Zukunftsinvestition.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Erfolg hat bekanntlich viele Väter. Der von Kopenhagen hat insbesondere drei. Da waren erstens die dänische Präsidentschaft, die klug und entschlossen verhandelt hat, zweitens Erweiterungskommissar Günter Verheugen, dem ich für sein großes Engagement sehr herzlich danken möchte - er genießt gerade in den mittel- und osteuropäischen Staaten zu Recht hohes Ansehen und hat das Vertrauen in Deutschland und Europa weiter gemehrt -,

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

und drittens hat nicht zuletzt der Bundeskanzler entscheidenden Anteil am Erfolg des Gipfels, vor allem durch seinen Beitrag zur Lösung der Probleme, mit denen unsere polnischen Nachbarn bis in die letzten Stunden des Gipfels rangen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Gerhard Schröder hatte bewusst vor Kopenhagen deutlich gemacht, dass für uns eine Erweiterung ohne Polen nicht vorstellbar sei. Es ist gut, dass gerade Deutschland die Ideen beisteuern konnte, um den Knoten zu durchschlagen.

Deutschland rückt vom östlichen Rand der EU in die Mitte der erweiterten Europäischen Union. Gerade wir werden von der Erweiterung am stärksten politisch, wirtschaftlich und sicher auch kulturell profitieren. Bereits heute sind unsere guten und engen Beziehungen zu den mittel- und osteuropäischen Staaten auch ein Fundament für das Wachstum von Handel und Investitionen. Allein der Handel mit den Beitrittsländern hat schon jetzt mit über 140 Milliarden Euro das Niveau unseres Handels mit den Vereinigten Staaten übertroffen. Das Wachstum ist fast dreimal so hoch wie beim Handel mit der übrigen Welt - eine Tendenz, die sich in den nächsten Jahren auch bei den Investitionen verstärken wird.

Das Beste ist: Es handelt sich um eine Win-Win-Situation. In den Beitrittsländern - das stellen wir schon heute fest - entfaltet sich eine große Dynamik. Wachsender Wohlstand und damit einhergehende Verbesserungen der Sozial- und Umweltstandards wirken über alle Grenzen hinaus positiv. Hoch entwickelte arbeitsteilige Volkswirtschaften profitieren insgesamt, wenn alle Partner ihre jeweiligen Stärken einbringen. Gemeinsam gewinnt Europa ökonomisch und politisch.

Deshalb muss mit der Erweiterung jetzt die Vertiefung des Einigungsprozesses einhergehen. Auch auf diesem Weg kommen wir in jüngerer Zeit erfreulich gut voran. Wer hätte vor zweieinhalb Jahren bei der Rede eines Privatmannes in der Berliner Humboldt-Universität gedacht, dass wir heute im Konvent weitgehend im Konsens über eine gemeinsame europäische Verfassung beraten? Eine Verfassung, die Ausdruck der gemeinsamen Ziele und Werte ist, aber auch der Rahmen, das gewachsene Europa demokratisch, transparent und handlungsfähig zu erhalten.

Skeptiker - an denen ist in der europapolitischen Debatte traditionell kein Mangel - fürchten nun, dass die Erweiterung Europas zu einer Schwächung der Gemeinschaft, zu einem Integrationsrückschritt führen könnte. Das Gegenteil ist richtig: Die Erweiterung zwingt uns, die längst überfälligen institutionellen Reformen jetzt nicht länger hinauszuzögern.

Insbesondere auch in der Außen- und Sicherheitspolitik muss die EU ihre Handlungsfähigkeit stärken.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das betrifft die Umsetzung von Entscheidungen, die wir schon nach den heute geltenden Verträgen treffen können, und natürlich strukturelle Weiterentwicklungen, die Gegenstand der Konventsarbeit sind. Es ist deshalb gut, dass mit der umfassenden Einigung von Kopenhagen zu den EU-NATO-Dauervereinbarungen - "Berlin plus" - die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik einen entscheidenden Schritt vorankommt. Die EU ist nun in der Lage, bald und sichtbar auch ihre Verantwortung im Bereich des militärischen Krisenmanagements selbst wahrzunehmen. Bedarf dafür gibt es leider bereits jetzt genug.

In Mazedonien konnte dank des Engagements der internationalen Gemeinschaft und insbesondere der EU und der NATO erstmals ein Bürgerkrieg verhindert werden. Die Lage hat sich erfreulicherweise weiter stabilisiert. Wir wollen, dass sich diese positive Entwicklung fortsetzt, und treten dafür ein, dass die EU dort die Nachfolge der militärischen Mission der NATO übernimmt. Wir gehen davon aus, dass die noch notwendigen Voraussetzungen dafür bis März 2003 geschaffen werden und dann die konkreten Operationen unter Rückgriff auf Mittel und Fähigkeiten der NATO umgesetzt werden können.

Eine Stärkung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist keine Konkurrenz zur NATO und auch kein Ersatz für sie. Es geht vielmehr darum, die Vision von John F. Kennedy Wirklichkeit werden zu lassen, die Vision eines Bündnisses, das auf zwei starken Pfeilern ruht: einem nordamerikanischen und einem europäischen Pfeiler. Ein solider europäischer Pfeiler stärkt die transatlantische Partnerschaft.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Um die außenpolitische Handlungsfähigkeit der EU zu stärken, werben wir im Konvent dafür, einer Person die Aufgaben des Hohen Repräsentanten und des Außenkommissars zu übertragen. Dieser EU-"Außenminister" würde mehr Kohärenz in die gemeinsame Außenpolitik bringen können, die Troika ersetzen und der EU nach außen Gesicht und Stimme verleihen.

Von besonderer Bedeutung ist für Deutschland neben der Außen- und Sicherheitspolitik im Konvent die bereits angesprochene Reform der Institutionen. Für uns hat die Stärkung des Europäischen Parlaments und der Kommission Priorität. Alle Modelle müssen sich daran messen lassen, ob sie die Effizienz, die Transparenz und die Handlungsfähigkeit stärken.

Ein demokratisches Europa - wir legen Wert darauf, auch in der Verfassung zum Ausdruck zu bringen, dass es sich bei der EU nicht nur um eine Union der Staaten, sondern auch um ein Bündnis der Bürgerinnen und Bürger handelt - muss für seine Bürgerinnen und Bürger transparent sein. So wie wir - PISA hin oder her - zumindest den Anspruch erheben müssen, dass jeder Schüler Aufbau und Funktion unseres Staates begreifen kann, muss auch die Europäische Union mit ihren Institutionen für die Bürgerinnen und Bürger verständlich werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das dient auch der klaren Zuordnung von Verantwortung, damit nicht Ministerpräsidenten oder Bundesminister von Betroffenen für Entscheidungen kritisiert werden, die Kommissare zu verantworten haben, und gegebenenfalls auch umgekehrt.

Der gemeinsame Binnenmarkt trägt zu Wachstum und Wohlstand in ganz Europa bei. Wir werden die Integration auch in diesem Bereich weiter unterstützen. Doch wir legen zugleich Wert darauf, die Auswirkungen von Entscheidungen auf Unternehmen, Arbeitnehmer und Regionen stärker im Blick zu haben. Ich begrüße es, dass die Kommission künftig die Industriepolitik stärker in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen wird. Die Bundesregierung wird die Kommission dabei unterstützen, die Belange von Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik in eine ausgewogene Balance zu bringen, um so nachhaltigen Fortschritt zu gewährleisten.

Mit den deutschen Ländern setzen wir uns im Konvent für eine klare Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der Union und den Mitgliedstaaten ein. Im Mittelpunkt stehen dabei die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. In diesem Rahmen befürworten wir ein eigenes Klagerecht der Länder beim Europäischen Gerichtshof. Es geht Bund und Ländern dabei nicht vordergründig um die Stärkung bewährter Elemente des Föderalismus. Es geht im Ziel um die Bürgernähe Europas.

Da ich bei den Ländern bin, will ich bewusst an dieser Stelle ein Wort zur Türkei sagen. Es ist bedauerlich, dass Teile der Union meinen, damit vor dem 2. Februar 2003 ein neues Thema entdeckt zu haben. Frau Merkel und Herr Stoiber haben in Kopenhagen nicht ohne Grund die Erfahrung gemacht, selbst in konservativen Kreisen völlig isoliert zu sein.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Quatsch!)

- Herr Ramsauer, es waren vor allem und vorneweg konservative Ministerpräsidenten, die in Kopenhagen für ein früheres Datum zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei plädiert haben.

(Gernot Erler (SPD): Sie sind isoliert, Frau Merkel!)

Entgegen dem Anschein, den Sie hier erwecken wollen, werden wir ausgerechnet aus der Türkei dafür kritisiert, dass wir in Kopenhagen moderat und mit Erfolg verhandelt haben. Die Staats- und Regierungschefs haben auf der Grundlage eines deutsch-französischen Vorschlages den Beschluss gefasst, Verhandlungen über den Beitritt dann aufzunehmen, wenn die politischen Kriterien hierfür erfüllt sind, nicht mehr und nicht weniger. Alle Beteiligten wissen, dass es vom Zeitpunkt der Aufnahme von Verhandlungen an noch ein langer Weg sein wird. Die Alternative aber hieße, denjenigen, die Sie, meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP, eingeladen haben, nun ausgerechnet jetzt, nachdem sie wichtige Fortschritte im Bereich der Menschenrechte, bei der Verankerung der Demokratie und bei der Anerkennung der Rechte von Minderheiten gemacht haben, die Tür zuzuschlagen. Das kann auch nicht ernsthaft in unserem Interesse sein.

Wenn es gelingt, dass ein islamisch geprägtes Land den Weg der Demokratie, der Meinungsfreiheit, der Achtung und Verteidigung der Menschenrechte, der Gleichberechtigung von Frauen und Männern, der Trennung von Religion und Staat, der Rechtsstaatlichkeit und der sozialen Marktwirtschaft erfolgreich geht, dann wird das für Europa und weit über Europa hinaus von unschätzbarem Wert für Frieden, Freiheit und Sicherheit in der Welt sein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Diese Chance wirft man nicht so leichtfertig weg, wie Frau Merkel das heute Morgen getan hat.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die europäische Integration gilt längst weltweit als Modell für die erfolgreiche Integration von Ländern und Regionen in eine starke Gemeinschaft. Es ist ein Modell, das nicht auf Ablehnung und Ausgrenzung basiert, sondern auf Integration, Ausgleich und Partizipation. Diesen europäischen Weg werden wir fortsetzen.

Wer Folgen oder Begleiterscheinungen der Globalisierung kritisch hinterfragt, findet die richtigen Antworten nicht in der Ablehnung von freiem Handel, liberalisierten Märkten oder offenen Gesellschaften, sondern in der europäischen Idee des Sozialstaats und ihrer schrittweisen Umsetzung in der Europäischen Union.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Der Fortschritt der EU mag ungeduldigen Menschen, zu denen ich mich selbst auch zähle, manchmal etwas zu langsam voranschreiten. Keine Frage, es fällt nicht immer leicht, sich dieses neue Europa vorzustellen und über die Grenzen hinaus zu denken. Aber es ist mehr als eine Vision. Europa ist keine Religionsgemeinschaft, sondern unsere Heimat und Zukunft. Deshalb können wir nach dem EU-Gipfel in Kopenhagen und mit Blick auf eine europäische Verfassung, was Geschwindigkeit und Richtung angeht, zur Erweiterung und Vertiefung der EU feststellen: Und sie bewegt sich doch!

(Anhaltender Beifall bei der SPD - Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Kopenhagener Gipfel war - wie schon einmütig betont wurde - ein Ereignis von historischer Bedeutung. Die nun unumkehrbare Osterweiterung der Europäischen Union steht für die endgültige Überwindung der Teilung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. Angesichts dieses Ereignisses sollten wir den vielen großen Europäern danken und ihrer gedenken, die sich im Nachkriegseuropa mutig und visionär zugleich über die mentalen und ideologischen Sperren nationaler Egoismen und Provinzialismen hinweggesetzt haben. Nicht ohne Stolz darf ich zu diesen auch die deutschen Liberalen, vor allem die liberalen Außenminister unseres Landes, zählen.

(Beifall bei der FDP)

Jetzt aber kommt es darauf an, all denjenigen eine herbe Enttäuschung zu bereiten, die in der Osterweiterung der Europäischen Union nichts weiter als ein hinterlistig-destruktives Instrument gesehen haben, das vereinte Europa auf die Funktion einer besseren Freihandelszone oder eines verlängerten Flugzeugträgers zu reduzieren. Tief greifende Reformen der europäischen Institutionen und zeitlich parallel dazu die Mobilisierung aller nur denkbaren Hilfen für die verbliebenen Beitrittskandidaten sind das Gebot der Stunde. Bulgarien und Rumänien müssen in ihrem Reformwillen gestärkt werden. Die Türkei braucht Unterstützung bei der Fortsetzung des begonnenen Reformprozesses und der Stärkung der demokratischen Stabilität, die auch in unserem Interesse liegt.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Wir haben in unserem Antrag deutlich gemacht, dass die Tür im Blick auf die Beitrittsperspektive der Türkei nicht zugeschlagen werden darf.

(Beifall bei der FDP)

Die FDP-Fraktion hat ihrem Antrag den Titel "Historischer Erweiterungsgipfel verstärkt Druck auf innere Reformen der Europäischen Union" gegeben. Denn machen wir uns nichts vor: Wenn wir es nicht schaffen, bis zum Beitrittsvollzug am 1. Mai 2004 die inneren Reformen der EU-Institutionen umzusetzen, wird der Beitritt von zehn neuen Mitgliedern kaum verkraftet werden können.

An der Stärkung der Handlungsfähigkeit und der Effizienz der europäischen Institutionen führt kein Weg vorbei. Auch wenn der eine oder andere anders kalkuliert hatte, war die Entscheidung für die Osterweiterung die Entscheidung für eine vertiefte und reformierte Zusammenarbeit. Sie war das nicht rückholbare Ja zu einer europäischen Verfassung, die ein hohes Maß an integrativer Substanz benötigt.

(Beifall bei der FDP)

Deshalb liegt die Messlatte für die Arbeit des Europäischen Verfassungskonvents sehr hoch. Die deutschen Vertreter im Konvent sind aufgefordert, sich nachdrücklich für einen Verfassungsentwurf einzusetzen, der schwierige Themen nicht verdeckt oder verdrängt. Die Vorstellungen des Außenministers in seiner Rede in der Humboldt-Universität im Jahr 2000 finden sich in der aktuellen Debatte im Konvent überhaupt nicht wieder. Da hat sich jetzt sehr vieles geändert und vieles wird richtigerweise auch anders gesehen.

Für die FDP-Fraktion bedeutet dies zunächst: Wir wollen eine grundlegende Reform des Rates mit einer klaren Trennung seiner legislativen und exekutiven Aufgaben. Wir wenden uns entschieden gegen einen Unionspräsidenten oder Superpräsidenten, der das Gleichgewicht des institutionellen Geflechtes aus Rat, Kommission und Europäischem Parlament auflösen würde. Dies wäre ein Rückschritt für die europäische Integration und ein Sieg des Intergouvernementalismus.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Folgerichtig lehnen wir den Vorschlag von Valerie Giscard d' Estaing in diesem Punkt ab, einen Kongress der Völker einzuberufen, um einen derartigen Unionspräsidenten zu bestimmen.

Die Stärkung des Europäischen Parlaments gehört zu den wichtigsten Forderungen für ein Europa der 25, 27 oder 28 Staaten. Deshalb wollen wir ein gesetzgeberisches Initiativrecht für das Europäische Parlament, eine Ausdehnung des Mitentscheidungsverfahrens und das uneingeschränkte Budgetrecht. Wir wollen auch die Kommission stärken. Wir wollen einen starken Kommissionspräsidenten und wir wollen, dass er vom Europäischen Parlament gewählt wird.

(Beifall bei der FDP)

Wir unterstützen als FDP-Fraktion - ich kann darauf im Detail jetzt nicht eingehen - deutsch-französische Initiativen, um den Reformprozess voranzubringen. Solche Initiativen brauchen wir besonders in den Bereichen der Innen-, der Justiz-, der Außen- und der Sicherheitspolitik. Gerade Letztere muss die Säulenstruktur überwinden und zunehmend zu einer exekutivischen Kompetenzerweiterung der Europäischen Kommission führen. Die Idee des "Doppelhuts", die jetzt diskutiert wird, ist für uns allenfalls für eine Übergangszeit vertretbar.

Meine Damen und Herren, leider habe ich nur wenig Zeit. Lassen Sie mich deshalb zum Schluss nur noch ein wichtiges Zitat von György Konrad, einem großen Europäer und dem Karlspreisträger von 2001, bringen, der wiedergibt, was wir in Europa sein sollen. Er sagte:

Europäer sind wir durch innere, komplexe Gehirntätigkeit, durch die flexible Handhabung unserer inneren Paradoxa, durch unser Vergnügen an der Formenvielfalt, durch die Verwandlung des Abwechslungsreichtums unserer schöpferischen Spannung. Europäer sind wir dadurch, dass wir für andersartige Kulturen Verständnis haben beziehungsweise intellektuelle Sympathie und dass wir (selbstbewusst) darauf vertrauen, uns dadurch nicht zu verlieren.

Dieses Selbstverständnis und Selbstvertrauen wünsche ich uns bei dem weiteren Erweiterungs- und Vertiefungsprozess.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Anna Lührmann, unser "Parlamentsküken", zu ihrer ersten Rede.

Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In der Debatte ist bereits angeklungen: Die Union wird in eineinhalb Jahren zehn neue Mitglieder haben. In dieser Erweiterung liegt eine riesige Chance für Europa als Ganzes, für die bisherigen und natürlich auch für die neuen Mitgliedstaaten.

Wir haben diese Floskeln schon oft gehört. Sie sind auch richtig; aber sie treffen meiner Meinung nach nicht den entscheidenden Punkt. Es geht nicht um die Chancen von Staaten, sondern es geht um die Chancen von Menschen in Europa.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Es geht um die Chancen der Menschen, die das Pech hatten, auf der falschen Seite des Eisernen Vorhangs geboren zu werden. Jetzt sind sie wieder Teil der großen Idee Europa, der Idee von Demokratie, Menschenrechten und Solidarität.

Es geht aber auch um die Chancen der Menschen, die in den bisherigen Mitgliedstaaten leben. Auch sie werden von dieser Erweiterung profitieren, und zwar nicht nur durch den Abbau von Grenzen und Vorurteilen zwischen den Völkern. Vielmehr werden sie dies auch konkret im Portemonnaie spüren. Gerade wir in Deutschland werden in ganz besonderem Maße von den Wachstumschancen, die sich aus dem Beitritt der neuen Mitgliedstaaten ergeben, profitieren.

Nicht zuletzt geht es um die Chancen der jungen Generation in Europa; denn für uns bedeutet dieses neue Europa ein Leben in dauerhaftem Frieden, in dauerhafter Freiheit, in sozialer Sicherheit und in Wohlstand. Auch die Türkei wird eines Tages in dieses europäische Haus einziehen. Diese positive Perspektive für meine Generation lasse ich mir von Ihnen, Frau Merkel, nicht kaputtreden!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Zurufe von der CDU/CSU: Oh! Oh!)

Nachdem die Beitrittsverhandlungen jetzt erfolgreich abgeschlossen worden sind, dürfen wir Europäerinnen und Europäer uns aber nicht entspannt zurücklehnen. Nachdem die Beitrittskandidaten riesige Anstrengungen hinsichtlich der Übernahme des acquis communautaire unternommen haben, muss auch die Union ihre Hausaufgaben im Europäischen Konvent machen. Wir brauchen ein effizientes Entscheidungssystem, damit die EU auch mit 25 oder mehr Mitgliedstaaten in der Lage ist, politisch zu gestalten.

Wenn 25 oder mehr Mitgliedstaaten an einem Tisch sitzen, dann kann Politik nicht mehr nach den folgenden Devisen funktionieren: Ich stimme der Erweiterung nur zu, wenn ich dann nicht weniger Regionalförderung bekomme. Ich stimme der Vergemeinschaftung der Justiz- und Innenpolitik nur zu, wenn ich höhere Fischfangquoten bekomme. Wir müssen das Einstimmigkeitsprinzip im Rat endgültig überwinden.

Für uns junge Europäerinnen und Europäer ist die Europäische Union keine Veranstaltung von ehrwürdigen Staatsmännern, sondern eine Selbstverständlichkeit. Die Vorstellung, Kriege gegen andere Europäer zu führen, erscheint uns absurd. Stattdessen ist es für uns normal, Freunde in Paris oder Warschau zu haben, in Manchester zu studieren oder in Prag zu arbeiten.

Weil das so ist, wollen wir, dass die wichtigen Fragen der europäischen Politik nicht länger zwischen den Staats- und Regierungschefs unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der Abg. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP))

Die Europäische Union braucht endlich eine Verfassung, die eine demokratische Ordnung schafft. Die Verfassung muss das Europäische Parlament und die Kommission stärken. Die Verfassung muss die politische Integration vertiefen und die europäischen Werte Demokratie und Gewaltenteilung müssen endlich auch in Brüssel umgesetzt werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Mit anderen Worten: Der Europäische Konvent muss Europa vom Kopf auf die Füße stellen.

Wir brauchen ein solides demokratisches Fundament für eine Europäische Union, die ihren Bürgerinnen und Bürgern ein demokratisches Zuhause gibt, für eine Europäische Union, die es den Menschen leicht macht, sich als Europäerinnen und Europäer zu fühlen, für eine Europäische Union, die den Mut und die Kraft hat, sich ihrer weltpolitischen Verantwortung zu stellen und zu einer gerechten Gestaltung der Globalisierung beizutragen,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

und für eine Europäische Union, die sich den drängenden Zukunftsproblemen aktiv annimmt, anstatt sich permanent in den Weiten der gemeinsamen Agrarpolitik zu verlieren.

Die Zukunft meiner Generation liegt in der Europäischen Union. Sie demokratisch zu verfassen ist in den nächsten Monaten unsere Aufgabe; denn die Menschen in Mittel- und Osteuropa haben sich nicht von undemokratischen Strukturen befreit, um sich jetzt in einer nicht wirklich demokratischen Union wiederzufinden. Deshalb sage ich: Lassen Sie uns den Geist des demokratischen Aufbruchs von den neuen Mitgliedstaaten in die alte Europäische Union tragen!

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Ich möchte Ihnen im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede gratulieren, Frau Lührmann.

(Beifall)

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Dr. Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die PDS begrüßt alle guten Beschlüsse zur Osterweiterung der Europäischen Union. Ich denke, die Entscheidungen des Gipfels in Kopenhagen waren zu weiten Teilen in der Tat sehr erfolgreich. Die Frage ist nun allerdings: Was wird daraus gemacht werden?

Die Bürgerinnen und Bürger in den Beitrittsländern mussten auf die Möglichkeit, Mitglied der Europäischen Union zu werden, lange warten - länger als die Ostdeutschen. Doch nun sollte man die Chance nutzen, aus dieser Wartezeit auch zu lernen. Wir sollten gemeinsam aus den Erfahrungen mit der staatlichen Vereinigung Deutschlands einige Lehren ziehen, um bei der Erweiterung der EU nicht Schiffbruch zu erleiden.

Erste Lehre: Es wird für alle sehr teuer, wenn man versucht, alle EU-Regeln eins zu eins, ohne Rücksicht auf kulturelle Besonderheiten, auf die Beitrittsländer zu übertragen, nach der Devise: Das hat sich bei uns bewährt, das wird sich auch bei euch bewähren. Ich erinnere nur daran, dass Helmut Kohl mit dieser Methode die strukturelle Stagnation des Westens auf den Osten übertragen hat. Ich nenne nur als Beispiel - so bezeichnete es Professor Simon, der damalige Vorsitzende des Wissenschaftsrats - das "im Kern verrottete Hochschulsystem".

Zweite Lehre: Die EU braucht dringend neue politische und strukturelle Ansätze, wenn sie überleben will. Deshalb muss man den Beitrittsländern Spielräume lassen, um Neues auszuprobieren und Innovationen in die EU hineinzutragen.

Allerdings habe ich starke Zweifel, ob man wirklich bereit ist, aus den Fehlern der staatlichen Vereinigung Deutschlands zu lernen. Manchmal drängt sich der Eindruck auf, man wolle die gleichen Fehler wiederholen. Zum Beispiel wird im Augenblick wieder der Eindruck erweckt, es wäre alles wesentlich billiger als geplant und man könne die Dinge sozusagen aus der Portokasse bezahlen. Doch diese Illusion wird nur verbreitet, um sich die Zustimmung der Bürger in den Alt-EU-Mitgliedstaaten zu erkaufen. Dabei - das müssen wir alle wissen - wird die Erweiterung richtig teuer. Ich finde, es gehört zu einer verantwortlichen Politik, das den Bürgerinnen und Bürgern auch ehrlich zu sagen. Vor allem muss gesagt werden, wie diese Lasten verteilt werden sollen.

In Deutschland hatte man den Solidaritätszuschlag eingeführt. Die, die wirklich an der Vereinigung kräftig verdient haben, konnten diese Art von Solidarität sehr leicht wegstecken. Schon jetzt ist das Geschäft mit Osteuropa für einige Unternehmen eine wahre Goldgrube. Ein Siemens-Manager äußerte sich beeindruckt von dem Bildungsniveau der Osteuropäer. Noch mehr beeindruckt war er allerdings von den Personalkosten. Kostet ihn ein Ingenieur in Deutschland rund 50 Euro pro Stunde, so kann er einen ungarischen Ingenieur schon für 6 Euro pro Stunde haben. Wir als PDS sind deshalb der Auffassung, dass diejenigen, die von der Erweiterung profitieren, auch einen entsprechenden Anteil an der Finanzierung der Erweiterung leisten sollen.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

Meine Damen und Herren, die CDU/CSU hat auch heute wieder in ihren Debattenbeiträgen ihren Widerwillen gegen eine Aufnahme von Verhandlungen mit der Türkei bekundet. Ich möchte nur daran erinnern, dass der Türkei seit 1963 in Aussicht gestellt wurde, dass Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden sollten. 1963 - das sollten Sie einmal in Ihre persönliche Biografie einordnen. Ich war damals zwei Jahre alt; inzwischen habe ich zwei Kinder großgezogen und warte jetzt auf die Enkel.

Der Widerwille gegen die Aufnahme von Verhandlungen mit der Türkei riecht sehr nach einer neuen Giftmischung, die Herr Koch in Hessen für den Wahlkampf vorbereitet.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ein Schmarren!)

Ich denke, Sie sollten aber beachten, dass die Türkei in der jüngsten Zeit Verfassungsänderungen vorgenommen und Schritte zur Stärkung der Grund- und Bürgerrechte unternommen hat. Zahlreiche Probleme sind jedoch - das müssen wir bekennen - ungelöst. Die kurdische Bevölkerung ist noch nicht wirklich gleichberechtigt. Noch immer wird in der Türkei gefoltert. Noch immer werden die Menschenrechte durch Polizei und Armee massiv verletzt. Von der vollständigen Durchsetzung demokratischer Rechte und Strukturen kann keine Rede sein. Auch der Völkermord an den Armeniern wird noch von Staats wegen geleugnet.

Die Erfüllung der Kriterien von Kopenhagen ist der Maßstab für die Entscheidung über die Aufnahme von Verhandlungen. Ich erwarte, dass die Türkei die mit den Entscheidungen von Kopenhagen verbundene Chance für weitere Reformen nutzt, sodass im Jahr 2004 die Europäische Union eine positive Bilanz ziehen kann.

Wenn man die Türkei allerdings zurückweist, wie das die CDU/CSU tut, dann drängt sich doch sehr der Verdacht auf, dass man gar kein Interesse an wirklich demokratischen Veränderungen in der Türkei hat. Darin unterscheiden wir uns grundlegend.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Michael Roth.

(Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Was ist mit Gloser?)

Michael Roth (Heringen) (SPD):

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit den jungen Europäerinnen und Europäern ist zu rechnen. Da ist Pep dahinter. Da ist ein guter Wille dahinter. Deswegen sollte uns vor Europas Zukunft alles andere als bange sein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Zuruf von der SPD: Das gilt auch für die Älteren!)

Vom Willen habe ich schon gesprochen. Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Der Erweiterungsgipfel von Kopenhagen ist der beste Beleg dafür. Ich will ganz selbstbewusst an den Beginn meiner Rede stellen: Diese Einigung, die Wiedervereinigung Europas, wird zukünftig mit den Namen von Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten verbunden sein,

(Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Das würde dir so passen!)

mit Kanzler Gerhard Schröder und mit Kommissar Verheugen. Ich bin mir sicher, dass beim nächsten großen Zukunftsschritt für Europa - -

(Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Hände aus den Hosentaschen!)

- Mehr als blöde Sprüche fällt Ihnen nicht ein. Dabei telefonieren Sie auch noch. Das finde ich sehr respektlos, nicht nur mir gegenüber, sondern auch Ihren Kolleginnen und Kollegen gegenüber.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Hände aus den Hosentaschen!)

Es geht um den Willen. Der Wille zur Zukunft Europas muss jetzt, wenn es um die Vertiefung der Europäischen Union geht, ebenso stark und ebenso mutig vorhanden sein. Die politische Union muss vorangetrieben werden; denn ohne die Vertiefung ist alle Erweiterung nichts. Wir alle wissen, dass die Europäische Union ohne grundlegende radikale Strukturreformen - diese ernsten Worte gehören bei aller Freude auch hierher - nicht mehr so weiterarbeiten kann, wie wir alle uns das wünschen. Der Gipfel von Kopenhagen sollte uns anspornen, all die Steine, die noch auf dem Weg liegen, wegzuräumen.

Wir alle wissen: Wenn wir den europäischen Zukunftszug jetzt auf das falsche Gleis setzen, droht Stillstand, schlimmstenfalls sogar Entgleisung. Wir werden mit der europäischen Bimmelbahn vielleicht noch den einen oder anderen Mini-Erfolg erreichen können, aber für die wirklich großen Herausforderungen sind wir noch nicht gewappnet, wenn die EU mit 25 Mitgliedstaaten weiterarbeiten möchte.

Die EU darf nicht zerfasern. Sie muss vielmehr einen substanziellen Beitrag zur Lösung der drängenden politischen, ökonomischen und sozialen Probleme leisten. Sie muss einen Beitrag zum Frieden in der Welt leisten. Das müssen wir auch den Bürgerinnen und Bürgern sagen, die uns bisweilen angstvoll mit der Frage konfrontieren: Wo bleibt die Handlungsfähigkeit der Nationalstaaten? Wir geben Macht und Einfluss und Kompetenzen der Nationalstaaten ja nicht aus Jux und Tollerei ab; ganz im Gegenteil: Mehr Handlungsfähigkeit für die Politik und für die Gesellschaften ist nur mit mehr Europa erreichbar.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wenn wir über Europa reden, müssen wir auch immer die Globalisierung mit im Auge haben. Davon hat schon Herr Staatsminister Bury gesprochen. Die Integration Europas ist die demokratische Antwort auf die Globalisierung. Sie ist auch eine selbstbewusste Antwort, die wir denen, die der Globalisierung kritisch oder angstvoll gegenüberstehen, immer wieder geben sollten. Der Dialog muss noch intensiviert werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wie schwierig der Gleichklang von Erweiterung und Vertiefung ist, haben uns schon in der Vergangenheit vor allem die Regierungskonferenzen gezeigt. Nizza war dabei der Gipfel der Traurigkeit. Willy Brandt, der ja viele Gipfel mit geprägt hat, hat diese Schwierigkeit einmal so umschrieben - ich hoffe, ich darf zitieren -:

Mit den Europa-Verhandlungen ist es wie mit dem Liebesspiel der Elefanten: Alles spielt sich auf hoher Ebene ab, wirbelt viel Staub auf - und es dauert sehr lange, bis etwas dabei herauskommt.

Leider haben wir diese Zeit nicht mehr.

Weil wir diese Zeit nicht haben, müssen wir die nächsten Monate sehr engagiert nutzen. Der Europäische Verfassungskonvent bietet eine hervorragende Möglichkeit, endlich über den Tellerrand der nationalstaatlichen Interessen hinauszublicken.

Denn was war bisher meistens das traurige Ergebnis allzu vieler Gipfel, vor allem der Regierungskonferenzen? Wir haben europäische Kompromisse gefunden, denen meistens nur der kleinste gemeinsame und allzu oft nationale Nenner zugrunde lag. Vor gut einem Jahr haben wir hier eine Konventsdebatte geführt. Damals waren wir uns alle einig: Wir brauchen den Konvent und müssen sehr engagiert dafür kämpfen. Nun haben wir unser Ziel erreicht und darauf können wir sehr stolz sein.

Jetzt hat der Konvent neun Monate gearbeitet und es ist Zeit für eine Zwischenbilanz. Zur Arbeit des Konvents ist schon viel Positives gesagt worden. Er hat eine Menge erreicht. Vor einem Jahr haben wir noch nicht geglaubt, dass das alles einmal so selbstverständlich sein würde, gerade wenn man an die vielen Partner denkt, die eine europäische Verfassung und einen einheitlichen Verfassungstext eher als problematisch ansehen, die mit der Grundrechtscharta ihre Probleme hatten und der EU keine eigene Rechtspersönlichkeit zusprechen wollten. Es gab immerhin auch viele Kolleginnen und Kollegen in anderen Ländern, die an der Pfeilerstruktur der Europäischen Union festhalten wollten. All diese Vorbehalte werden wir, wenn es weiterhin so gut läuft, überwinden können.

Aber dann sollten wir auch noch ein paar Forderungen und Vorschläge drauflegen. Wir sollten uns mit dem in den vergangenen neun Monaten Erreichten nicht zufrieden geben, auch wenn das, dank der engagierten Arbeit unserer Konventsvertreter, seitens der Bundesregierung und des Deutschen Bundestages, als Quantensprung zu bezeichnen ist.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Im Kern dreht es sich bei dem Konvent um die Frage, wie die Europäische Union politisch am besten geführt werden kann, und zwar sowohl nach innen als auch nach außen; ich denke da an die Verteidigungspolitik, die Sicherheitspolitik und die Außenpolitik. Das müssen wir auch den Bürgerinnen und Bürgern immer wieder deutlich machen; denn nur ein Europa mit einer größeren Handlungsfähigkeit kann den Menschen nutzen. Europa ist ja kein Selbstzweck.

Vielleicht fällt uns diese Klarstellung in den Diskussionen bisweilen noch schwer; denn eines ist auch klar: Debatten über Institutionen sind nicht besonders sexy. Deswegen sollten wir über diese Debatten hinaus Botschaften vermitteln, in denen es unmittelbar um Europa geht: Die soziale Dimension der Europäischen Union muss ausgebaut werden, ebenso der Aspekt der Nachhaltigkeit. Wir haben hier viele Debatten über Nachhaltigkeit geführt. Dieser Punkt ist in der politischen Debatte selbstverständlich geworden. Aber den sorgsamen Umgang mit unseren Ressourcen und die Beibehaltung von sozialen Gestaltungsspielräumen im Hinblick auf Solidarität und Gerechtigkeit werden wir nur mit Europa erreichen können und nicht ohne oder gegen Europa.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In den uns noch verbleibenden Monaten sollten wir uns unter strategischen Aspekten klar auf eines konzentrieren: Wir müssen mehr Integration fordern. Schon jetzt mit Formelkompromissen in die Debatte zu gehen, vor allem auf parlamentarischer Ebene, hielte ich für verfehlt. Wir haben in vielen Beschlüssen, die wir hier gefasst haben, ein großes Einvernehmen darüber erzielen können, wohin die Reise gehen soll: mehr Rechte für das Parlament, mehr Demokratisierung, Stärkung der Exekutive, in diesem Fall der Kommission. Deswegen gehen wir sehr vorsichtig mit der Forderung um, den Rat in der Weise zu stärken, dass an seine Spitze ein gewählter Präsident gestellt wird. Ich halte das für hochproblematisch, weil wir kein Europa der Regierungen wollen, sondern ein Europa, das über ein starkes, demokratisch verankertes Parlament verfügt, in dem die unterschiedlichen Verfahrensabläufe klar und transparent sind und wir allen Bürgerinnen und Bürgern sagen können, wofür Europa zuständig ist und wofür nicht.

Wenn wir uns selbstkritisch nach unserer Rolle als Parlamentarierinnen und Parlamentarier des Deutschen Bundestages fragen, dann darf unsere Antwort nicht sein: Wir machen uns auf die Reise nach Brüssel und setzen uns in eine wie auch immer geartete dritte Kammer. Nein, wir müssen uns innerstaatlich an der Kontrolle und Mitgestaltung der europäischen Politik beteiligen, wie das auch in Art. 23 des Grundgesetzes geregelt ist.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Wir haben einen gut arbeitenden Europaausschuss, über den wir das verstärkt tun müssen.

Deswegen ist dem Vorschlag von Valéry Giscard d'Estaing, einen Volkskongress mit nationalen Parlamentariern einzurichten, eine Absage zu erteilen. Er wäre auch nur ein Placebo für mangelnde Beteiligungsrechte der nationalen Parlamente.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Ich hoffe, dass es uns gelingen wird, zu erreichen, dass das Pendel im Verfassungskonvent am Ende zugunsten gemeinschaftlicher Lösungsansätze ausschlägt. Dass diese Chance gestiegen ist, zeigen auch die deutsch-französischen Initiativen. In diesem Bereich sind wir sehr weit vorangekommen. Ich meine, dass im Rahmen der Verhandlungen mit unserem französischen Partner noch vieles aus dem Weg geräumt werden kann, was momentan nach Stärkung der intergouvernementalen Politikansätze aussieht.

Die entscheidende Beratungsphase hat jetzt begonnen. Wir brauchen so schnell wie möglich die inhaltliche Ausgestaltung eines vollständigen und kohärenten Verfassungstextes. Wir brauchen keine Salamitaktik, mit der diverse Einzelvorschläge in die Debatte des Konvents eingespeist werden. Wir brauchen vielmehr so schnell wie möglich einen Gesamtvorschlag. Die Debatte um die Grundrechtecharta hat gezeigt, dass dies der richtige Weg war. Wir sollten auch bei der Verfassungsdebatte daran festhalten.

Eines muss allen, auch den Kritikern einer verstärkten Integration, klar sein: Nur die umfassende Parlamentarisierung der Verfassungsgebung sichert die Mitbestimmung der europäischen Bürgerinnen und Bürger auf dem weiteren Weg der europäischen Integration. Nur sie, nämlich mehr Parlamentarisierung, trägt zur Akzeptanz der EU-Verfassung in den Mitgliedstaaten bei.

Abschließend möchte ich den französischen Schriftsteller Paul Lacroix zitieren.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Aber nur ein kurzes Zitat.

Michael Roth (Heringen) (SPD):

Ein ganz kurzes Zitat. - Es lautet:

Die Einigung Europas gleicht dem Versuch, ein Omelett zu backen, ohne Eier zu zerschlagen.

Ich hoffe, dass es uns gelingt, das eine oder andere Ei noch zu zerschlagen, damit der Konvent ein großer Erfolg wird.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Man sieht, dass der Zitatenschatz zu Europa groß ist.

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gerd Müller.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Gerd Müller (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese Debatte hat einen großen Fehler: Sie findet nach dem Gipfel von Kopenhagen statt. Wir hätten erwartet, dass man mit dem Parlament einen solch weitreichenden Gipfel vorher bespricht.

(Zustimmung der Abg. Dr. Angela Merkel (CDU/CSU))

Das wäre der Stellung des Parlamentes angemessen gewesen.

(Beifall bei der CDU/CSU - Peter Hintze (CDU/CSU): Hundertprozentig!)

Man darf sich nicht wundern, dass sich bei dieser Debatte die Reihen jetzt lichten. Ich sehe aber viele junge Menschen auf der Tribüne.

(Gernot Erler (SPD): Auch im Parlament!)

Es gibt auch sicherlich viele, die vor dem Fernseher sitzen.

Heute wurde der Gipfel als ein historischer Gipfel gewürdigt. Man muss in der Tat fragen: Was ist das Historische an diesem Kopenhagener Gipfel? Der Kalte Krieg mit seiner atomaren Bedrohung dauerte 40 Jahre. In Berlin gab es die Mauer und Stacheldraht. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker Europas, die jetzt zur Europäischen Union hinzukommen, war durch autoritäre Systeme unterdrückt. Denken Sie einmal zurück, was historisch ist. Es ist eine großartige Entwicklung in den letzten 50 Jahren in Gang gekommen.

17. Juni 1953. Denken wir an die 500 000 Bürger der früheren DDR, die unweit von diesem Parlament auf die Straße gegangen sind. Die SED, die Mutterpartei der PDS, hat von einem faschistischen Putschversuch gesprochen. Panzer fuhren auf, der Ausnahmezustand wurde ausgerufen und es gab Erschießungen mitten in Berlin.

23. Oktober 1956: In Ungarn protestierten Studenten. Es gab die Hoffnung auf Liberalisierung. Russische Panzer haben diesen Traum am 4. November beendet. Der damalige ungarische Ministerpräsident wurde hingerichtet.

21. August 1968: Liebe junge Zuhörer, um 1.30 Uhr in der Nacht fand der Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in Prag statt. Über Radio Prag wurde der Ruf "Helft uns - Helft uns!" gesendet. Aber er war vergeblich. Auch dieser Aufstand wurde von den Truppen des Warschauer Paktes niedergeschlagen.

(Michael Glos (CDU/CSU): So war es!)

Viele mutige Opfer strebten nach Freiheit. Die Freiheit hat sich ihren Weg gebahnt.

Heute wurden viele Namen großer Staatsmänner genannt. Ich möchte den genannten ein paar wenige hinzufügen: Solschenizyn, den polnischen Papst, Lech Walesa, einen Vertreter des mutigen Volkes Polen, Willy Brandt, Gorbatschow, Präsident Bush und zweifelsohne Helmut Kohl.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Sie im Besonderen und viele andere schufen eine neue europäische Friedensordnung.

Man fragt sich: Woher kommt die Strahlkraft der Europäischen Union? Warum wollen all die Staaten Mittel- und Osteuropas - weit über die jetzigen zehn hinaus - in die Europäische Union? Es sind die europäischen Kulturwerte. Die Strahlkraft der EU ist auch eine Bestätigung dieser Kulturwerte. Frieden in Freiheit, Selbstbestimmung und Würde des Einzelnen, Individualität statt Vergesellschaftung und Vermassung, soziale Marktwirtschaft statt Sozialismus, Ludwig Erhard statt Honecker, diese Werte haben die Oberhand behalten.

Rechtsstaat, Demokratie, soziale Verantwortung und Marktwirtschaft sind die Regeln im europäischen Haus. Dies sind aber zugleich auch die Grundlagen und das Erbe des Christentums und der Aufklärung, unsere gemeinsame Geschichte und Kultur. Frau Merkel hat bereits darauf hingewiesen und es verdeutlicht - ich bin ebenfalls fest davon überzeugt -: Europa braucht eine Identität,

(Peter Hintze (CDU/CSU): Jawohl!)

eine kulturelle Grundlage, eine gemeinsame Wertebasis.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Darauf können sich dann Solidarität, Freundschaft und Miteinander auf dem Weg zur politischen Union begründen.

(Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Europa hat das längst!)

Der Herr Bundeskanzler sagte: Es wächst zusammen, was zusammengehört. - Aber die Frage ist: Was ist die Zielprojektion dieser Bundesregierung im Hinblick auf eine Europäische Union? Die Kernfrage, die hier von der Union gestellt wird und von Frau Merkel verdeutlicht wurde, möchte ich noch einmal herausarbeiten: Will die Bundesregierung eine Vertiefung der Europäischen Union oder beschreitet sie den Weg zu einem europäischen Völkerverbund mit 27, 30 oder 35 Mitgliedstaaten? Darüber gilt es zu sprechen.

Ich zitiere Herbert Kremp aus der "Welt am Sonntag" vom 15. Dezember 2002:

Mit 25 Staaten und der nahenden Türkei schwenkt die EU auf den Weg einer großen Freihandelszone im lockeren Staatenverbund ein. Die bundesstaatliche Integration, Kernidee der Gründergeneration, verfällt der schieren Größe. Das neue EU-Format ist politisch nicht als Einheit, als "Union" im wahren Sinne organisierbar.

Die Kernfrage, die sich hier stellt, lautet: Gehen wir weiter den Weg in Richtung politische Union und Vertiefung der Zusammenarbeit oder machen wir die Europäische Union zu einem Vielvölkerstaat, zu einem Staatenverbund, zu einer Freihandelszone? Eine weitere Öffnung der Europäischen Union in Richtung Kleinasiens, des Balkans oder der Nachfolgestaaten der Sowjetunion wäre mittelfristig das Ende der Vertiefung der Europäischen Union. Das ist uns bewusst. Auch deshalb sind wir gegen eine Beitrittsperspektive für die Türkei.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Hierüber sollten wir ganz nüchtern diskutieren. Herr Gloser wird dazu noch sprechen. Helmut Schmidt und Valéry Giscard d'Estaing sind dieser Auffassung. Auch der bayerische SPD-Fraktionsvorsitzende, den ich jetzt nicht umfassend zitieren will,

(Michael Glos (CDU/CSU): Maget heißt der Mann!)

schreibt in einem langen Artikel, an eine baldige Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU sei nicht zu denken. Dies geht weit über die Festlegungen der Union hinaus.

Unabhängig von der Tatsache, dass die Beitrittskriterien bei weitem nicht erfüllt sind: Wir wollen - das sage ich sehr deutlich; Edmund Stoiber hat immer wieder herausgestellt, dass die Türkei unser Freund und Partner ist - neue Strukturen der Zusammenarbeit entwickeln. Deshalb war es richtig, die Wirtschaftsleistungen bzw. die finanziellen Hilfen wesentlich zu erhöhen. Wir müssen neue Wege der Integration auch mit den hier lebenden Türken gehen.

Die Integration ist nicht erfolgreich verlaufen. Wir müssen diese Frage natürlich auch mit dem deutschen Volk diskutieren.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn Sie diese europäische Identität beiseite schieben und den Weg zum Beitritt der Türkei gehen, dann frage ich Sie: Mit welchen Argumenten verwehrt die Bundesregierung den Staaten, die dann folgen werden, den Beitritt zur Europäischen Union: Georgien, Aserbaidschan, Armenien, Ukraine, Serbien-Montenegro, Bosnien, Marokko, Israel?

(Zuruf von der CDU/CSU: Algerien!)

Deshalb können und dürfen wir uns heute an diesem Punkt der Frage der Finalität nicht verweigern. Das wird eine Kernfrage sein, die wir gemeinsam beantworten müssen. Wir müssen neue Strukturen der Zusammenarbeit mit und neben der politischen Union entwickeln. Wir haben noch eine ganze Menge zu tun, um den Begriff der privilegierten Zusammenarbeit - andere nennen sie Teilmitgliedschaft, wieder andere EWR Ost - inhaltlich zu füllen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Voraussetzungen für diesen Schritt der Erweiterung der Europäischen Union sind leider nicht umfassend gesetzt. Ich erinnere an das institutionelle Problem, das in Nizza nicht gelöst wurde. Wir sind finanziell nicht auf den Beitritt vorbereitet, weil der Berliner Gipfel unter Regentschaft von Gerhard Schröder gescheitert ist.

(Günter Gloser (SPD): Immer dieselbe Platte!)

- Herr Gloser, die Fragen der Reform der Agrarpolitik und der Reform der Strukturpolitik sind offen.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Sehr wahr!)

Alle diese Fragen schiebt diese Bundesregierung vor sich her: keine Lösung, kein Ansatz.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es gibt keine Position der Bundesregierung zum Verfassungsvertrag. Frau Merkel hat hier grundlegende Ausführungen gemacht. Der Bundeskanzler sprach in seiner Rede - ich habe sie hier - davon, es müsse eine entschlossene Reform sein, es müsse ein guter Vertragsentwurf sein. Das waren leere Formeln, leere Floskeln. Wir wissen nicht, in welche Richtung die Bundesregierung im Konvent über den Verfassungsvertrag verhandelt. Wir, der Deutsche Bundestag, und die Öffentlichkeit wollen wissen, welche Position die Bundesregierung zum Verfassungsvertrag einnimmt und wie ihr Konzept zur Souveränitätsteilung zwischen Europa und Nationalstaat aussieht. Zur Kompetenzabgrenzung zwischen Brüssel, Berlin und Düsseldorf oder München wurden bisher keine Vorstellungen entwickelt. Welche Rolle soll das nationale Parlament in Zukunft noch spielen? Wir wollen ein maßgebliches Mitentscheidungsrecht in der Sekundärrechtsetzung in Europa.

Wir haben mit dem Schäuble-Bocklet-Papier als einzige Fraktion, als einzige Partei ein umfassendes, geschlossenes Konzept vorgelegt.

(Zuruf von der SPD: Na, das stimmt nicht ganz!)

Das Prinzip Subsidiarität muss Verfassungsrang haben. Ich könnte weitere inhaltliche Ausführungen dazu machen, die ich beim Bundeskanzler vermisst habe.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Ich darf die Frage stellen: Was tun Sie, um die Herzen der Jugend und aller Menschen in unserem Lande für diese Osterweiterung zu gewinnen? Was tun Sie, um die Sorgen der Heimatvertriebenen aufzunehmen?

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Herr Kollege, eine Frage, aber nicht mehr viele.

Dr. Gerd Müller (CDU/CSU):

Wie lösen Sie die Probleme im Grenzland?

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Europa braucht Führung: wirtschaftlich, ordnungspolitisch. Europa braucht eine Identifikation, eine Gestaltungs- und Leitidee. Eine Regierung muss Orientierung geben. Sie haben keinen Kompass. Sie wissen nicht, woher Sie kommen, und Sie wissen nicht, wohin Sie wollen.

(Gernot Erler (SPD): Sie wissen nicht, was Sie tun, Herr Kollege!)

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU - Wolfgang Clement, Bundesminister: Ich kann Ihnen erklären, woher ich komme!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ludger Volmer.

(Wolfgang Clement, Bundesminister: Gibt es noch eine Phrase, die hier nicht gedroschen wurde?)

- Herr Minister, bitte Schweigen auf der Regierungsbank.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dass die Bundesregierung sowohl einen Kompass hat als auch genau weiß, wohin sie will, zeigt auch die Sicherheitspolitik, die im Rahmen des Europäischen Rates mitdiskutiert und teilweise beschlossen worden ist.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Deutscher Sonderweg!)

Herr Kollege, Ihre Fraktionsvorsitzende konnte sich heute Morgen leider nicht enthalten, das Thema Finanzierung der Bundeswehr, offensichtlich ein Evergreen der Oppositionskultur, in die Debatte um den europäischen Einigungsprozess einzubringen. Was sie damit bewiesen hat, waren nicht etwa Fehler der Bundesregierung; Sie, Frau Merkel, haben damit nur bewiesen, dass Sie einem altmodischen Verständnis von Sicherheitspolitik anhängen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Der Europäische Rat hat auf mindestens drei Ebenen neue Weichenstellungen für eine moderne Sicherheitspolitik vorgenommen, die einem erweiterten Sicherheitsbegriff folgt. Dieser Sicherheitsbegriff ist dabei, Abstand zu nehmen von seiner Militärlastigkeit.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Zunächst hat er beschlossen, dass die Ergebnisse der Verhandlungen, die damals in Berlin vom Bundeskanzler mit initiiert worden waren und die in das Konzept "Berlin plus" mündeten, nun notifiziert oder ratifiziert werden. Das heißt, die europäischen Streitkräfte, so sie im europäischen Kontext handeln wollen, können auf NATO-Assets, auf die Infrastruktur der NATO, zurückgreifen. Das heißt nicht mehr und nicht weniger, als dass die grundsätzliche Frage, ob die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit der NATO-Struktur kompatibel ist oder nicht, nun positiv geklärt ist.

Wir sehen ja schon die ersten positiven Auswirkungen. Im Vorgriff oder in Erfüllung von "Berlin plus" wird - darüber werden wir morgen diskutieren - die Bundesrepublik gemeinsam mit unseren niederländischen Freunden die Lead-Funktion bei ISAF in Afghanistan übernehmen. Das ist möglich, weil die auf dem Europäischen Rat beschlossenen Strukturen der Zusammenarbeit zwischen der NATO und der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik funktionieren und implementierbar sind. Dies ist auch ein Erfolg der rot-grünen Bundesregierung.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Die Europäer haben sich dazu bekannt, dass Sicherheitspolitik mehr ist als Militärpolitik. Deshalb ist die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik auch Teil der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, der GASP. Die GASP ist das übergeordnete Denksystem zur ESVP. Die GASP beinhaltet den Begriff der Außenpolitik. Das heißt, Sicherheitspolitik wird zum großen Teil nicht militärisch definiert. Dies ist der eigentliche Neuansatz, den Sie, Frau Merkel, überhaupt nicht gesehen haben.

Der gesamte Prozess der Osterweiterung der Europäischen Union ist ein Stück hervorragender Sicherheitspolitik. Es ist nicht militärische Sicherheitspolitik par excellence. Schauen wir doch 15 Jahre zurück. Viele der Staaten, die nun Mitglied der Europäischen Union werden, waren damals Teil eines gegnerischen Blocks. Wir standen uns hoch bewaffnet gegenüber. Dass der Warschauer Pakt zusammengebrochen ist, ist der eine Punkt. Dass die Europäische Union bereit ist, sich zu erweitern, heißt doch: Sie leistet Sicherheitstransfer nach Osten, und zwar in zweierlei Hinsicht. Erstens werden ehemalige Gegnerstaaten nun in ein gemeinsames Gesellschaftskonzept - nicht nur in ein Verteidigungskonzept - eingebunden und zweitens leisten wir Stabilitätstransfer für Staaten, für die möglicherweise sonst krisenhafte Entwicklungen drohen. Auch in diesem Sinne leistet der europäische Erweiterungsprozess einiges für unsere eigene Sicherheit in Europa.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Wenn wir diesen Sicherheitsbegriff zugrunde legen, hat das auch Rückwirkungen auf die Reform der Bundeswehr. Das kam schon in der Weizsäcker-Kommission zum Ausdruck und die Bundesregierung ist dabei, die Sicherheitspolitik und die Hardware, also die Sicherheitsstrukturen, in diesem Sinne zu reformieren.

Selbstverständlich braucht die Bundeswehr neue Möglichkeiten und die entsprechende Ausrüstung, um ihrer neuen Verantwortung auch weltweit gerecht zu werden, aber dies sollte nicht additiv zur bisherigen Landesverteidigung gesehen werden, sondern teilweise als Alternative.

(Beifall des Abg. Detlef Dzembritzki (SPD))

Denn Landesverteidigung im traditionellen Sinne, wie Sie, Frau Merkel, sie im Kopf haben, ist überflüssig geworden. Wir sind heute von Freunden umgeben. Ein Prozess, der vor zehn Jahren begann,

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Damals wollten Sie die Bundeswehr noch abschaffen!)

hat auf dem Europäischen Rat in Kopenhagen nun seinen Abschluss gefunden. Ehemalige Gegnerstaaten sind Freunde geworden. Wir heißen sie herzlich willkommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Dies gibt uns die Möglichkeit, unsere Sicherheitspolitik neu zu definieren, Abschied zu nehmen von einem längst überholten Verteidigungsdenken und uns modernen sicherheitspolitischen Anforderungen zuzuwenden.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Matthias Wissmann.

Matthias Wissmann (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte auf einige Interventionen der Kollegen von Rot-Grün eingehen. Ich verstehe nicht, warum Sie in dieser Debatte an der Opposition herumnörgeln. Eigentlich müssten Sie doch froh sein, dass die Entscheidungen des Kopenhagener Gipfeltreffens von Regierungsfraktionen und Opposition gemeinsam getragen werden und wir den Wettbewerb um die besten Ideen für die Zukunft Europas führen und es keine nennenswerte Antieuropafraktion gibt. Das ist doch der große Vorteil des Deutschen Bundestages gegenüber anderen Parlamenten.

Seien Sie froh, dass Sie eine so kreative und vorantreibende Opposition

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

und eine Oppositionsführerin haben, die das in ihrer Rede zum Ausdruck gebracht hat. Seien Sie froh, dass Sie nicht, wie das in anderen Parlamenten der Fall ist, mit Ressentiments behaftete Reden der jeweils anderen Seite hören müssen.

Wir sind uns erfreulicherweise über die große europapolitische und strategische Bedeutung der Erweiterung der Europäischen Union einig. Wir sind uns auch darin einig, dass wir alles tun müssen, um den bevorstehenden Prozess der Ratifizierung, der in einigen Ländern schwierig wird, positiv zu begleiten.

Trotz des Engagements empfiehlt es sich, wenn wir unsere Mitbürger auf den Weg der Erweiterung der Europäischen Union mitnehmen wollen, immer wieder den Blick auf die realen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, die jeden Einzelnen berühren, zu werfen. Es ist vorhin schon zu Recht gesagt worden, dass die Erweiterung der Europäischen Union für viele, die in Deutschland arbeiten, eine große Wachstumschance darstellt. Wir sind potenziell eigentlich eines der stärksten Länder der Europäischen Union - wir müssen nur die Fesseln abwerfen -, wenn es darum geht, neue Märkte zu erobern.

Schon heute sind wir in den mittel-, ost- und südosteuropäischen Ländern in der Regel Investitionsland und Handelspartner Nummer eins. Wir haben eine große Chance, diese Möglichkeiten auszubauen. Der Handel mit den Beitrittsländern - das wurde schon zu Recht gesagt - übersteigt den Wert von 140 Milliarden Euro.

Wenn wir den Blick auf die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse richten, dann dürfen wir auch nicht verschweigen, dass der gegenwärtige Zustand der Europäischen Union und ihres Haushalts nur sehr unzureichend auf die Erweiterungsperspektive eingestimmt ist

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

und die Agrar-, die Regional- und die Strukturpolitik der Europäischen Union ganz schnell an ihre finanziellen Grenzen kommen werden.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Alles offene Fragen!)

Was die finanzielle Bedeutung des Aus-dem-Ruder-Laufens von Haushalten angeht, so haben wir es an einigen Stellen mit tickenden Zeitbomben zu tun.

Meine Damen und Herren, sosehr wir die Erweiterung auch begrüßen, müssen wir dennoch sehen, dass es auf Dauer nicht gehen kann, dass in den letzten 20 Jahren in die Europäische Union gekommene Länder - ich nenne als Beispiel das uns sehr sympathische Irland - weiterhin die Absicht haben, soweit es geht, von den Mitteln der europäischen Fonds zu profitieren, obwohl alle vernünftigen Wohlstandskriterien erfreulicherweise bereits weit überschritten sind.

Es geht nicht, dass wir langfristig eine Europäische Union bauen, in der sich die neuen Beitrittsländer - die wir begrüßen - mit den alten Nettoempfängern zu einem Besitzstandskartell verbinden, das am Ende wirkliche strukturelle Reformen unmöglich macht. Das müssen wir auch sagen und die Sorgen der Bürger aufnehmen; nur so können wir die Weichen für die Zukunft richtig stellen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Wir müssen auch begreifen, dass eines der Defizite der Europäischen Union darin besteht - das ist vor allem ein Defizit der Nationalstaaten, die dazu bisher zu wenig Perspektiven eröffnet haben -, dass wir eine abgestimmte und koordinierte europäische Wirtschaftspolitik bis heute nicht haben.

Ich rufe nicht danach, die Wirtschaftspolitik nach Brüssel zu verlagern. Aber ich rufe dazu auf, dass wir kraftvoller und überzeugender als bisher eine abgestimmte europäische Finanz- und Wirtschaftspolitik betreiben, die dafür sorgt, dass wir in Europa nicht in erster Linie mit fragwürdigen Strukturhilfen und Subventionen operieren, sondern dass wir die Wachstumskräfte in Europa entfesseln. Ich glaube, hier liegen noch gewaltige Aufgaben vor uns.

Die Botschaft heißt klar: Runter mit den Subventionen in Europa, runter mit den übersteigerten konsumtiven Ausgaben, runter mit der Staatsquote! Sie heißt positiv: striktes Einhalten der Maastrichter Stabilitätskriterien, eine durchgreifende Deregulierung der Arbeitsmärkte nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa und eine mutige Konsolidierung der Haushalte in allen europäischen Mitgliedstaaten. In der Freude über die Erweiterung und über die erreichten staatspolitischen Ziele dürfen wir den Blick für die dahinter liegenden ökonomischen und sozialen Fakten nicht verlieren.

Nun will ich die Frage aufgreifen, wie die Europäische Union in Zukunft aussehen soll. Das Thema Türkei ist für keinen von uns ein ideologisches Thema, sondern wir stellen die Fragen: Wie soll eigentlich die künftige Gestalt der Europäischen Union im Jahre 2020 aussehen? Wozu führt eine grenzenlose Ausweitung der Europäischen Union? Kann eine Überdehnung der Europäischen Union am Ende politisch, wirtschaftlich und sozial überhaupt noch gemeistert werden? Meine Sorge ist: Eine grenzenlose Ausweitung der Europäischen Union führt am Ende - ob wir es wollen oder nicht - dazu, dass der Gedanke, der uns eint, nämlich die Integration Europas, zerstört wird.

(Michael Glos (CDU/CSU): Sehr wahr! Das ist der Punkt!)

Deswegen müssen wir alles daransetzen - auch wenn wir unterschiedliche Konzepte haben -, dass wir zuerst um die Integration der Europäischen Union und zunächst nicht um eine möglichst grenzenlose Ausweitung bemüht sind.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich sage dies auch ganz offen zu politischen Freunden. Herr Berlusconi - man mag die eine oder andere Meinung über ihn haben -fährt auch nach Russland und teilt dem russischen Präsidenten mit, dass er möglichst schnell dessen Land als Vollmitglied der Europäischen Union aufnehmen will. Wir müssen also mehr Fragen beantworten als nur die Frage nach dem Beitritt oder Nichtbeitritt der Türkei. Wir müssen die Frage nach der künftigen Gestalt Europas beantworten.

Deswegen rate ich uns, alles daranzusetzen - wenn Sie daran engagiert arbeiten, haben Sie die Unterstützung der Union -, dass wir der Europäischen Union die Vertiefung, die Führungsfähigkeit, die parlamentarische Kontrolle und die Transparenz geben, die sie dringend braucht. Dies ist die allererste Aufgabe. Wenn die Erfüllung dieser Aufgabe durch uferlos viele Beitritte gefährdet würde, wäre - das sage ich ganz klar - für die Union die Integration Europas wichtiger als eine grenzenlose Ausweitung.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Zusammengefasst: Bei allen Unterschieden gibt es, wenn wir guten Willens sind, bezüglich der europäischen Perspektive eine weit über Parteigrenzen hinausgehende Gemeinsamkeit. Meine Hoffnung ist, dass wir verstehen, dass sich der Europäischen Union eine Riesenchance bietet, wenn uns im nächsten halben Jahr die Vertiefung der Europäischen Union gelingt. Wir müssen dabei die Bürger mitnehmen. Die Bürger in Deutschland sind nicht europafeindlich, aber sie nehmen eine abwartende Haltung ein. Sie sind über alle Aspekte dessen, was wir hier besprechen, nicht genügend bzw. in vollem Umfang informiert.

Frau Präsidentin, wenn Sie mir erlauben, dies hier noch zu sagen: Ich beschäftige mich jetzt verstärkt mit Europapolitik und habe den Eindruck, dass wir uns auch im Parlament überlegen müssen, wie wir das gesamte Parlament in den nächsten zwölf Monaten stärker mit dem Thema Europa beschäftigen können, damit durch die Beschäftigung des Parlamentes mit dem Thema auch die Bürger klarer verstehen können, vor welch großen Weichenstellungen wir stehen.

Ich glaube, dem können wir nicht gerecht werden, wenn die Sitzungen des Deutschen Bundestages nach dem normalen Muster ablaufen. Wir stehen vor der Ratifizierung der Erweiterung und wir stehen vor der Frage der Vertiefung. Deswegen glaube ich, dass das Parlament die Abläufe der Plenarsitzungen im nächsten halben Jahr ändern muss - das französische Parlament hat eine solche Entscheidung bereits getroffen -, damit das Thema Europa wirklich in den Mittelpunkt rückt. Dieses Thema sollte nicht nur dann im Mittelpunkt stehen, wenn ein erfolgreicher Gipfel stattgefunden hat, sondern auch, wenn die großen Entscheidungen vorbereitet werden. Vorhin ist zu Recht gesagt worden: Das Thema Europa gehört nicht nur nach den Entscheidungen, sondern auch davor zum Kern der Plenartagungen des kommenden Jahres.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Günter Gloser.

Günter Gloser (SPD):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Kopenhagen, Brüssel, Laeken, Barcelona, Sevilla - es hat viele Stationen gegeben. Ich möchte in Bezug auf bestimmte Ausführungen des Kollegen Matthias Wissmann unterstreichen, dass es auf dieser langen Wegstrecke auch viele Gemeinsamkeiten im Deutschen Bundestag gegeben hat. Die Strecke von Kopenhagen nach Kopenhagen ist dank der Arbeit unterschiedlicher Regierungen, unterschiedlicher Lager zustande gekommen.

Ich werde auf ein paar Punkte eingehen, die die aktuelle Diskussion beleuchten sollen. Ich möchte Folgendes deutlich herausstreichen - das haben viele, auch Frau Angelica Schwall-Düren, sehr deutlich gemacht -: Ohne den Willen und die Bereitschaft aller Beteiligten, zu Kompromisslösungen zu kommen, wäre dieser Erfolg nicht zustande gekommen. Das gilt zuallererst im Hinblick auf die großen Leistungen und die großen Anstrengungen der Regierungen und der Bevölkerungen in den Beitrittsländern. Ich meine, dies sollte an dieser Stelle deutlich herausgestellt werden.

(Beifall bei der SPD)

Denn gerade die Umstellungen und die Reformprozesse haben den Menschen in den Beitrittsländern große Anpassungsleistungen abverlangt, die sie weitestgehend - in einer bestimmten Phase sicherlich auch mit Unterstützung der Europäischen Union - aus eigener Kraft bewältigt haben.

Schließlich will ich auch den Mitgliedstaaten der EU meine Anerkennung dafür aussprechen, dass sie Solidarität übten und sich auch in Fragen, die wichtige nationale Interessen berühren, zu gemeinsamen Positionen durchringen konnten. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den deutsch-französischen Agrarkompromiss. Aber auch andere haben trotz öffentlicher Diskussionen in vielen Bereichen, was ihre Interessen angeht, zurückgesteckt.

Ich möchte meinen Dank ausdrücklich Bundeskanzler Schröder aussprechen, weil er in den letzten vier Jahren gemeinsam mit dem Außenminister Joschka Fischer die Position der rot-grünen Bundesregierung vertreten hat. In diesem Zusammenhang kann ich der Union zumindest einen Rückblick nicht ersparen. Diskussionen, die hier 1999 stattgefunden haben, erinnern mich an das Verhalten gewisser Schüler in meiner Schulzeit, die zu den Lehrern gelaufen sind und gesagt haben: Herr Lehrer, ich weiß etwas. - Sie haben uns nach Ihrem Ausscheiden aus der Regierungsverantwortung, also zu Beginn unserer Regierungszeit, bei den Beitrittskandidaten häufig in Verruf gebracht, nach dem Motto: Die rot-grüne Bundesregierung will diese Erweiterung nicht. - Das hat einfach nicht gestimmt.

In den letzten Jahren ist uns von diesen Ländern signalisiert worden, dass sie in dieser deutschen Bundesregierung einen Befürworter - von "Makler" möchte ich nicht sprechen - dieses großen Projekts gehabt haben. Man hat in der Tat gesagt: Sprecht mit uns wahrhaftig, sprecht mit uns über realistische Ziele und Daten; das ist besser, als uns Beitrittsdaten zu nennen, die niemand einhalten kann. Das muss ich auch hier in Erinnerung rufen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte, der polnischen Geschichte, aber auch unserer eigenen Geschichte war es doch ein sehr eindeutiges Zeichen, dass Gerhard Schröder gerade in einer sehr schwierigen Phase der Kopenhagener Verhandlungen deutlich gesagt hat: Es gibt keine Erweiterung ohne Polen. Das ist ein wichtiges außenpolitisches Zeichen. Ich denke, darüber gibt es hier, im Deutschen Bundestag, einen entsprechenden Konsens.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Lieber Gerd Müller, wir beide sind 1994 in den Deutschen Bundestag gewählt worden. Manche CD, die du - ich darf das sagen, weil wir uns ganz gut kennen - hier immer wieder auflegst, stimmt einfach nicht.

Ich denke zum Beispiel an die Verhandlungen im Rahmen des Berliner Gipfels zur Agenda 2000. Gerade auf der Grundlage der Ergebnisse von Berlin ist es doch gelungen - das ist heute durch den Beitrag des Bundeskanzlers und durch andere Beiträge deutlich geworden -, diese Erweiterung zu finanzieren, und zwar statt für sechs Länder, wovon man damals in Berlin ausgegangen ist, sogar für zehn Länder. Dabei bleiben wir sogar unter dem, was wir uns damals als finanziellen Rahmen gesetzt haben. Wenn das kein Erfolg ist, dann weiß ich nicht, was ein Erfolg sein soll. Ich hätte mir gewünscht, manches wäre schon unter der CDU/CSU-Regierung geschehen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Kollege Wissmann hat einen Punkt zu Recht angesprochen - darüber gibt es im Grundsatz keinen Dissens - dass man bestimmte Bereiche wie die Strukturfonds, dem Agrarbereich usw. reformieren muss. Ich habe eine herzliche Bitte - schließlich kommen wir aus demselben Landstrich und demselben Bundesland -, nämlich dass der Ministerpräsident des Freistaates Bayern nicht gegen jede Reform, die im Agrarbereich angegangen wird, ist und dass er einsieht, dass es ohne größere finanzielle Beteiligung gemacht werden muss und dass es Nachteile auch für bayerische Landwirte geben wird. Wenn die Reform gewollt wird, dann brauchen wir auch seitens der CSU in Bayern Unterstützung und nicht nur eine populistische Politik.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Dann müssen Sie einmal ein Konzept entwickeln! Da müsste erst ein Impuls kommen!)

Ein weiterer Punkt. Es gibt, wie ich denke, einen großen Konsens, was den Verfassungskonvent angeht. Ich denke, wir sind, auch wenn man die Debattenbeiträge berücksichtigt, hier im Parlament auf einem guten Weg.

Lassen Sie mich einen weiteren wichtigen Aspekt ansprechen; das sage ich auch etwas selbstkritisch. Am vergangenen Montag haben die Vertretung der Europäischen Kommission in Berlin und der schon vielfach gelobte Kommissar Günter Verheugen eine Initiative pro Erweiterung gestartet. Auf dem Film stand, er sei von der Europäischen Kommission und vom Informationsbüro des Europäischen Parlaments. Ich hätte mir vor dem Hintergrund, dass auch wir in Zukunft Verantwortung dafür haben, diesen großen Erweiterungsprozess innenpolitisch zu flankieren, natürlich gewünscht, in dieser Aufzählung auch den Deutschen Bundestag oder die deutsche Bundesregierung zu lesen. Ich richte auch an die Bundesregierung die Bitte, bei Gelegenheit auszuloten, warum diese Initiative nicht gemeinsam machbar war.

(Beifall des Abg. Dr. Gerd Müller (CDU/CSU))

Meine sehr verehrten Damen und Herren, in diesen Tagen ist häufig, auch hier, die Türkei angesprochen worden. Herr Michael Glos hatte vor kurzem ein Pressegespräch gegeben. Leider bin ich aus den verschiedenen Aspekten nicht schlau geworden.

(Michael Glos (CDU/CSU): Das ist bei Ihnen aber auch schwer!)

- Das kann ich mir nicht vorstellen, Herr Glos. - Das Fazit dieser Pressemitteilung ist, die CSU wolle vor dem Hintergrund der Entscheidung zur Türkei ihre EU-Politik verändern. Es hätte alle hier brennend interessiert, schon jetzt zu erfahren, wie die CSU ihre EU-Politik verändert, damit wir nicht auf die Ergebnisse der Tagung in Kreuth warten müssen. Es hat ja schon kritische Stimmen auch aus der CDU gegeben.

(Michael Glos (CDU/CSU): Lesen Sie einmal die Presseerklärung vor!)

Bundeskanzler Kohl ist richtigerweise für seine Verdienste im Zusammenhang mit den Erweiterungsprozessen gewürdigt worden. In den Schlussfolgerungen über den Europäischen Rat in Luxemburg vom 12. und 13. Dezember 1997, lieber Michael Glos - das hat Bundeskanzler Kohl entsprechend mit entschieden -, ist unter Ziffer 31 über die europäische Strategie für die Türkei zu lesen:

Der Europäische Rat bekräftigt, dass die Türkei für einen Beitritt zur Europäischen Union infrage kommt. Das Beitrittsersuchen der Türkei wird auf der Grundlage derselben Kriterien untersucht wie im Falle anderer Bewerberstaaten.
(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Das stand nicht zur Debatte!)

Die Bundesregierung macht doch nichts anderes als das, was hier niedergelegt ist. Sie sollten bei diesem Thema nicht in dieselbe isolationistische Phase eintreten, wie Sie das schon einmal in diesem Deutschen Bundestag an anderer Stelle getan haben. Als der Deutsche Bundestag nämlich über die KSZE in Helsinki entschieden hat, haben Sie als CDU/CSU dagegen gestimmt. Sie befanden sich in dieser Frage damals im Gleichklang mit den albanischen und den italienischen Kommunisten.

(Michael Glos (CDU/CSU): Ihr wart öfter mit Kommunisten im Einklang als wir!)

Jetzt sind Sie wieder isoliert. Ich meine, Sie sollten Ihren Standpunkt überprüfen. Es gibt in Ihrer Fraktion glücklicherweise - ich nenne nur Volker Rühe und auch Ruprecht Polenz, der anders argumentiert hat - vernünftige Stimmen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich glaube, wir sollten - das unterstreiche ich zum Schluss meiner Rede - diesen großen Grundkonsens, den es in Fragen der Europapolitik gibt, fortführen.

Wir haben das getan, als wir in der Opposition zu der Bundesregierung aus CDU/CSU und FDP waren. Es ist guter demokratischer Brauch, in wichtigen Existenzfragen, auch beim Bau dieser Europäischen Union, die Unterstützung aller in diesem Hause zu haben. Ich ermuntere Sie, all meine üblichen europäischen Verdächtigen, die Skeptiker in Ihren Reihen noch zu überzeugen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Markus Meckel.

Markus Meckel (SPD):

Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen am Ende einer Debatte zu einem - wie oft gesagt wurde - historischen Ereignis, dem Gipfel in Kopenhagen, zu dessen Erfolg - auch das wurde zu Recht gesagt - der deutsche Bundeskanzler wesentlich beigetragen hat, aber ebenfalls der deutsche Kommissar Günter Verheugen. Beiden ist hier noch einmal zu danken.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dies ist ein historisches Ereignis für viele ganz konkrete Menschen, insbesondere für diejenigen, mit denen ich, gemeinsam mit anderen, in kommunistischer Zeit für Freiheit und Demokratie eingetreten bin. Auch diese Linie ist heute schon gezogen worden. Es ist die Vollendung, die Erfüllung eines Lebenstraumes vieler Europäer, die nicht zurück nach Europa wollten, sondern die wollten, dass die europäischen Traditionen von Freiheit und Demokratie auch für ihr Land Wirklichkeit werden. Ich bin froh, dass verschiedene Redner dies heute schon zum Ausdruck gebracht haben. Dieser Lebenstraum dauert nun schon länger an. Es gibt ihn nicht erst seit dem Jahr 1989, obwohl in dieses Jahr ein ganz zentrales Ereignis fiel. Erst heute schließt sich der Kreis wirklich.

Die Bilder, die wir nach Kopenhagen sehen konnten, sind prägende und wichtige Bilder. Wenn sich zum Beispiel in Polen Adam Michnik und der dortige Ministerpräsident, das heißt zwei Menschen aus ganz unterschiedlichen Lagern, die vor 1989 auf entgegengesetzten Seiten standen, wegen dieses Ereignisses in den Armen liegen, dann spricht dies Bände: Es zeigt die Größe der gemeinsamen Aufgabe, dass sich die politischen Lager heute völlig neu formieren und dass auch die Opposition in diesen Ländern davon zu überzeugen ist, diesem europäischen Weg, der für das betreffende Land wichtig ist, zuzustimmen. Denn in diesen Ländern gibt es Referenden und es ist keineswegs klar, dass diese Referenden alle positiv ausgehen. Hier sollten wir selber klare Signale geben und die Beitrittsverträge baldmöglich ratifizieren. Es ist gut, dass von Kopenhagen diese klare Botschaft ausgeht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es ging um die Vollendung und nicht nur um eine Erweiterung Europas. Ich glaube, darin liegt die zentrale Bedeutung. Insofern ging es in Kopenhagen um die Frage der Identität Europas. Aber Europa ist noch nicht vollständig. Mit Rumänien oder Bulgarien laufen noch Verhandlungen. Es ist richtig, dass wir sagen: Wir wollen auch diesen Ländern verstärkt helfen, dass sie Mitglied werden können. - Es gibt den Vorschlag - den ich sehr unterstütze -, dass man diesen beiden Ländern ab 2004, das heißt, wenn die zehn anderen EU-Mitglieder sind, ein klares Signal gibt, dass sie dazugehören. Dazu sollte man im Europäischen Parlament einen Beobachterstatus schaffen, um sie in europäischen Fragen mitreden, wenn auch noch nicht mitentscheiden zu lassen. So erhielten Politiker der Regierungs- und Oppositionsparten die Gelegenheit, in ihren Ländern für die EU-Integration einzutreten und diese Prozesse voranzubringen. Hier ist Wesentliches zu tun.

Wir haben mitten in Europa eine Wunde, das frühere Jugoslawien. Hier ist viel Blut geflossen. Hier war Krieg. Durch die Ergebnisse von Kopenhagen und dadurch, dass wir demnächst zwischen NATO und EU - durch diesen Durchbruch - entsprechende Abkommen haben werden - das ist von Staatsminister Bury angesprochen worden -, können wir nun, nach zwei Jahren, als Europäer dort auch die militärische Sicherung übernehmen.

Dass im Zentrum Europas eine friedliche Entwicklung militärisch abgesichert werden muss, macht deutlich, wie groß die Aufgabe noch ist. Deshalb brauchen wir für diese fünf Staaten eine gezielte und engagierte Heranführungspolitik. Denn Stabilität und Integration auch für diese Länder im Zentrum Europas zu gewährleisten ist eine wesentliche Aufgabe und diese müssen wir entschlossen anpacken.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Darüber hinaus gibt es die Länder am Rand Europas. Es ist eine Frage der Identität, dass wir zum Beispiel ein Land wie Moldova nicht völlig vergessen dürfen. Es ist ein Land, an das normalerweise keiner denkt. Dort haben die Not, die Armut und die Verzweiflung der Menschen dazu geführt, dass man eine nicht reformierte, kommunistische Regierung gewählt hat, die nun den Präsidenten stellt. Dies ist ein Problem. Es resultiert aus der großen Armut und bringt Risiken für die Stabilität mit sich. Wenn wir uns die Region genauer ansehen, stellen wir fest, dass auch dort europäisches Wirken notwendig ist, um genau verfolgen zu können, was mit diesem Land und dieser Region geschieht.

Wir haben uns hier auch über die Türkei unterhalten. Es ist überhaupt keine Frage, dass wir uns mit den Problemen, die durch eine Mitgliedschaft der Türkei auf die Tagesordnung gekommen sind, intensiv beschäftigen müssen. Aber eines muss man sehr deutlich machen - darauf ist hier bereits hingewiesen worden -: Diese Frage war schon sehr viel früher aktuell. 1963 ist, meine Herren und Damen von der CDU/CSU, von Kanzler Adenauer der Assoziierungsantrag mit vorbereitet worden. Schon damals ging es um die Perspektive der Mitgliedschaft. 1987 hat die Türkei einen Antrag auf Mitgliedschaft gestellt. Der parallel gestellte Antrag Marokkos wurde vom Rat mit der Begründung abgelehnt, es sei kein europäisches Land. Ich denke, das war richtig. Der Antrag der Türkei wurde nicht in der gleichen Weise abgelehnt, sondern der Kommission zur Prüfung übermittelt. Damit ist klar: Die Türkei ist ein europäisches Land.

Ich sehe gerade, dass Herr Glos mit anderen Dingen beschäftigt ist. Aber ihm muss ich deutlich sagen: Es wäre sinnvoll gewesen, diese ablehnende Haltung seinerzeit unter dem damaligen Kanzler, zum Ausdruck zu bringen. Adenauer aber vertrat eine andere Auffassung. Er war der Ansicht, dass die Türkei sehr wohl eine europäische Perspektive habe.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Dafür gab es mehrere Gründe!)

Auf der Basis dieser Linie hat 1999 der Gipfel in Helsinki stattgefunden, der dem in Luxemburg 1997 folgte. Dieser Linie, die Kanzler Adenauer vorgegeben hatte und die Kanzler Kohl fortgesetzt hat, ist die jetzige Regierung gefolgt. Dabei lassen sich viele Probleme ausmachen, von denen ich eine Fülle aufzählen könnte.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Da liegen Sie nicht falsch!)

Den Zeitplan, der jetzt abgesteckt wurde, sehe ich als ausgesprochen ambitioniert an, wenn man sieht, was in der Türkei alles gemacht werden muss. Es darf keinen politischen Rabatt geben. Es reicht nicht aus, dass man sich im Gesetzblatt zur Einhaltung der Menschenrechte verpflichtet, sondern sie müssen in der Praxis auch eingehalten werden. Auch das ist bereits gesagt worden. Sowohl Christen als auch Muslime müssen sich nicht nur frei bewegen, sondern auch ungehindert ihre Religion ausüben können. Die Ausübung unterschiedlicher Religionen und unterschiedlicher ethnischer und kultureller Traditionen müssen in diesem Land zur Praxis werden. Wir werden sehen, ob dies in den nächsten Jahren der Fall sein wird.

All dies wird zu neuen Entscheidungen führen. In zwei Jahren wird dies dann nicht nur von den heutigen 15, sondern von 25 Mitgliedstaaten gemeinsam entschieden. Hier stellt sich dann für uns alle die Frage der Zukunft Europas.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Ich schließe damit die Aussprache.

Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 15/215 zu überweisen, zur federführenden Beratung an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss sowie an den Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/195 und 15/216 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 15/195 soll zusätzlich an den Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernähung und Landwirtschaft überwiesen werden. - Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:

Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung

Bericht der Bundesregierung über die Lage der freien Berufe

- Drucksachen 14/9499 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Kultur und Medien

Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Kein Widerspruch. Dann verfahren wir so.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Parlamentarische Staatssekretär Rezzo Schlauch.

Rezzo Schlauch, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit:

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat gegen Ende der vergangenen Wahlperiode dem Parlament den dritten Bericht über die Lage der freien Berufe vorgelegt. Diesen Bericht möchte ich mit einigen grundsätzlichen Bemerkungen in die parlamentarische Diskussion einführen.

Unser Land braucht mehr Menschen, die den Mut haben, eigene unternehmerische Ideen zu verwirklichen und Arbeitsplätze zu schaffen.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Hat das die Bundesregierung jetzt auch schon erkannt?)

Die Angehörigen der freien Berufe sind hierfür bekanntlich hervorragende Repräsentanten.

Gerade in den vergangenen Wochen haben wir Entscheidungen vorbereitet und getroffen, die unternehmerisches Handeln erleichtern und fördern.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Das glauben auch nur Sie selbst!)

- Hören Sie erst einmal zu! Sie können später dazu Stellung nehmen. Dafür ist eine Parlamentsdebatte schließlich gedacht.

Als Erstes nenne ich die Sicherung der Mittelstandsfinanzierung. Es ist bekannt, dass sich die Banken - sowohl Geschäftsbanken als auch öffentliche Banken - zunehmend aus der Finanzierung des Mittelstandes zurückgezogen haben. Deshalb haben wir mit der Schaffung einer neuen Mittelstandsbank durch die Fusion von KfW und DtA einen wichtigen Schritt getan.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Sie stören den Wettbewerb!)

Als Mittelstandsbank des Bundes wird sie ein zentraler Ansprechpartner in allen Fragen der Mittelstandsförderung werden. Wir schaffen damit eine höhere Effizienz und bauen Bürokratie ab.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Zweitens. Mit einem Masterplan Bürokratieabbau werden wir wuchernde Bürokratien abbauen. Alle, die sich diesem Thema ernsthaft widmen und es nicht nur als Schlagwort in der politischen Auseinandersetzung im Munde führen, wissen, welche Herkulesaufgabe dies darstellen wird.

Drittens. Wir werden deutliche Erleichterungen für Gründer schaffen. So planen wir zusammen mit dem Handwerk, den durch die Leipziger Beschlüsse eingeleiteten Liberalisierungsprozess im Handwerk fortzuführen.

Meine Damen und Herren, es kann doch nicht wahr sein, dass man - wie es mir in den vergangenen Wochen untergekommen ist - beim Kauf von Jalousien für innen und für außen in einem Einrichtungshaus vonseiten des Verkäufers die Auskunft erhält: Innen können wir sie Ihnen anbringen, aber außen nicht, weil dem die Handwerksrolle entgegensteht. - Das müssen wir ändern und in diesem Bereich müssen wir weitere Fortschritte erzielen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist übrigens ein gutes Beispiel dafür, dass die Verkarstung nicht nur in der Politik, sondern auch in den gesellschaftlichen Gruppierungen vorhanden ist.

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Vor allem in den Köpfen von Rot-Grün ist Verkarstung!)

Ich hoffe, dass wir diese Verkarstung gemeinsam werden aufbrechen können.

Außerdem wollen wir Existenzgründer in der Gründungsphase finanziell entlasten, zum Beispiel durch die Freistellung von Kammerbeiträgen. Auch die Umsetzung des Hartz-Konzepts bringt viel Positives für den Mittelstand. In den jüngsten Verhandlungen sind weitere Verbesserungen und Entbürokratisierungsmaßnahmen für Kleingewerbetreibende und die Gründer einer Ich-AG vereinbart worden, beispielsweise - das wird einen entscheidenden Punkt darstellen - die vereinfachte Besteuerung und vereinfachte Buchführungspflichten für Kleingewerbetreibende.

Viertens. Mit der grundlegenden Reform der geringfügigen Beschäftigung und mit der Einführung einer Gleitzone zwischen 400 und 800 Euro werden wir mit Sicherheit gerade den freien Berufen und dem Mittelstand viel Gutes tun.

(Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Nein, das haben wir Ihnen doch aufgezwungen! Sie wollten es doch gar nicht!)

- Herr Kollege von der CDU/CSU, ich würde den Mund an dieser Stelle nicht so voll nehmen, und zwar deshalb, weil wir von den Grünen bereits im vergangenen Sommer so weit waren wie Sie zu Beginn dieses Jahres.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Johannes Singhammer (CDU/CSU): Aber Sie haben es doch nicht durchgeführt!)

Bei den freien Berufen haben wir es mit einer der wichtigsten Gruppierungen des Mittelstandes zu tun, die auf bemerkenswert positive Entwicklungen verweisen kann.

Sie werden es in dem Bericht gelesen haben - und wenn Sie das nicht getan haben, können Sie es nachholen.

Auch wenn in Deutschland von vielen über vieles auf hohem Niveau gejammert und geklagt wird, so sind die Freiberufler komischerweise nicht in der ersten Reihe zu finden.

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Jammern die Apotheker nicht? Sie befürchten eine Existenzbedrohung!)

Ich denke, die Freiberufler gehen die Dinge mit ihrem Sachverstand etwas nüchterner, etwas vorurteilsfreier und ohne die großen politischen Brillen an.

Die Bundesregierung kennt und schätzt die in den letzten Jahren ständig gewachsene Bedeutung der freien Berufe in Wirtschaft und Gesellschaft. Die freien Berufe haben in den letzten zehn Jahren eine außerordentlich positive Dynamik aufgewiesen. Nach wie vor besteht bei ihnen ein hohes Potenzial für Wachstum und Beschäftigung.

So wuchs die Zahl der Selbstständigen und der abhängig Beschäftigten in den freien Berufen auf über 3 Millionen. Damit repräsentieren sie nicht nur 7 Prozent aller Erwerbstätigen in Deutschland; sie erwirtschafteten auch rund 8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Zwischenzeitlich ist mehr als jede fünfte selbstständige Person in der Bundesrepublik freiberuflich tätig. Bemerkenswert positive Aspekte hierbei sind die bei den Freiberuflern bestehende stabile Beschäftigung auch in schwachen Konjunkturphasen, die Spannungen auf dem Arbeitsmarkt mindert, das hohe Engagement der freien Berufe bei der Lehrlingsausbildung und nicht zuletzt die hohe Frauenquote bei den selbstständigen freien Berufen mit vergleichsweise hohen Einkommen bei den Freiberuflerinnen.

Meine Damen und Herren, die Zukunft der freien Berufe wird deutlich stärker als bisher von der Binnenmarktstrategie der EU geprägt sein.

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Was wollen Sie eigentlich tun?)

Ich nenne hier das Stichwort "freie Preisgestaltung". Der Europäische Gerichtshof hat zwar die kollektive Preisgestaltung gerechtfertigt; auf ihr liegt aber vonseiten der Kommission nach wie vor hoher politischer Druck. In vielen Berufsfeldern wie denen der Architekten, der Rechtsanwälte und der Steuerberater wird zurzeit über Gebühren und Honorare diskutiert.

(Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Was haben Sie denn gerade im Sommer getan? - Gegenruf des Abg. Ludwig Stiegler (SPD): Nicht zugegriffen, Pech gehabt! Wer nicht will, hat schon gewollt!)

Wir werden auf dieses Thema mit Sicherheit auch in den Ausschussberatungen zu sprechen kommen.

Das bedeutet: Der scharfe Wind des internationalen Wettbewerbs weht auch diesem Berufsstand stärker ins Gesicht. Wo nötig, wird die Bundesregierung Windschutz geben.

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Aha!)

Dabei werden wir die Freiheit wettbewerblichen Handelns aber hoch halten; denn gute Wettbewerbspolitik ist immer auch gut für den Verbraucher.

(Zuruf von der SPD: Richtig!)

Wir können bezüglich der Situation der freien Berufe optimistisch in die Zukunft blicken. Denn die freien Berufe haben wegen ihrer Leistungsfähigkeit, ihrer Eigenständigkeit und des Willens zur persönlichen Verantwortung in unserem Land und darüber hinaus auch im vereinten Europa beste Chancen. Ich freue mich, Ihnen vor diesem Hintergrund diesen dritten Bericht vorlegen zu können, und wünsche eine fruchtbare parlamentarische Diskussion.

Ich bedanke mich.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Johannes Singhammer (CDU/CSU): Amen! - Abg. Ernst Hinsken (CDU/CSU) meldet sich zu einer Zwischenfrage)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Es tut mir Leid, Herr Kollege Hinsken. Ich habe Sie zu spät gesehen.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Schade! Ich hätte nämlich gern etwas zum Thema gehört!)

- Dazu haben Sie jetzt noch Gelegenheit. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Rolf Bietmann.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Die werden wir auch nutzen!)

Dr. Rolf Bietmann (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach so viel Bekenntnis zu unternehmerischer Eigenverantwortung, Herr Staatssekretär

(Ludwig Stiegler (SPD): Er ist ganz ergriffen!)

- jawohl, ich bin ergriffen -, stellt man sich natürlich die Frage, warum dieses Bekenntnis in der praktischen Politik der Bundesregierung keine Umsetzung findet.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Denn Ihre Politik in Steuerfragen und Ihre Politik in Arbeitsmarktfragen ist doch ein klassischer Angriff auf den Mittelstand und die freien Berufe in diesem Land.

(Zuruf von der SPD: Das sagen Sie!)

Dass die freien Berufe in unserem Land eine herausragende Bedeutung haben, wissen wir, Gott sei Dank, seit längerem. Sie sind ebenso wie die breite Schicht leistungsfähiger kleiner und mittlerer Unternehmen für das Funktionieren der Marktwirtschaft unverzichtbar. Darum sagen wir von CDU und CSU ein ganz klares Ja zu den freien Berufen und wir danken für die großartigen Beiträge der Angehörigen der freien Berufe zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Annähernd jeder fünfte Selbstständige ist als Freiberufler tätig.

(Ludwig Stiegler (SPD): Das haben wir schon einmal gehört!)

Zu Beginn des Jahres gab es rund 761 000 selbstständige Freiberufler und - wir hörten es bereits - knapp 2 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie über 157 000 Auszubildende in diesem Bereich.

Aufgabe der Politik in einer marktwirtschaftlichen Ordnung ist es, die Bereitschaft der Menschen zu Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit zu fördern. Wir brauchen heute mehr denn je die individuelle Verantwortung des Einzelnen für die Gemeinschaft bei der Entwicklung beruflicher Ziele. Dazu brauchen wir auch eine politische Strategie, die nur lauten kann: weniger Staat und dafür umso mehr privat!

Die politische Realität in Deutschland ist heute allerdings eine andere: Statt Selbstständigkeit zu fördern, greift der Staat immer weiter um sich. Die Zahl der Gesetze und Verordnungen steigt unerträglich. Die steuerlichen Lasten der Privaten haben eine Höhe erreicht, die die Motivation zu selbstständiger und eigenverantwortlicher Berufs- und Arbeitsleistung zurückdrängt. Nicht nur der volkswirtschaftliche Schaden dieser Politik ist immens, auch die gesellschaftspolitische Bedeutung fehlender Motivation für Selbstständigkeit ist verheerend.

Der vorgelegte Bericht der rot-grünen Bundesregierung enthält insoweit - man kann es kaum glauben - erstaunliche Bekenntnisse zur Selbstständigkeit. Beispielsweise heißt es, die Bundesregierung ziele mit ihrer Mittelstandspolitik darauf ab, die Leistung und Wettbewerbsfähigkeit kleinerer Unternehmen und der freien Berufe zu stärken.

(Zuruf vom Bündnis 90/Die Grünen: Sehr richtig!)

"Unternehmerische Dynamik und innovative Ideen", so liest man, "sollen sich voll entfalten können."

Wer dies heute, wenige Monate nach der Bundestagswahl, hört, der reibt sich verwundert die Augen und stellt fest, dass dieses richtige Bekenntnis mit der tatsächlichen Politik von Rot-Grün völlig unvereinbar ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Der kurz vor der Wahl erstellte Bericht mit seinen wohl formulierten Floskeln ist angesichts der politischen Realität ein weiterer Beweis dafür, dass die Menschen durch Erklärungen vor der Wahl über die wahren Absichten rot-grüner Politik nach der Wahl getäuscht worden sind.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Statt der angekündigten Freiräume für die Entfaltung unternehmerischer Dynamik erleben die Vertreter der freien Berufe und des Mittelstandes dramatische Einengungen ihrer wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit. Dies gilt in besonderer Weise für die gerade von Freiberuflern privat finanzierte Altersvorsorge. Die geplante Besteuerung von nicht selbstgenutzten Immobilien sowie die Einführung der Pauschalsteuer für Wertpapiergeschäfte treffen die selbstständig Handelnden in der Bundesrepublik Deutschland im Kerngehalt ihrer privaten Altersvorsorge. Diese Steuerpolitik ist ein Angriff auf die selbstständig Tätigen in Deutschland.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wer als Freiberufler seine Altersvorsorge über Immobilien, Wertpapiere und Lebensversicherungen organisiert, sieht sich heute einem unkalkulierbaren Zugriff durch den Staat ausgesetzt.

(Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): So sind die Sozis halt!)

Wie der Bericht insoweit von der Senkung der Staatsquote, der Konsolidierung des Staatshaushalts und dem politischen Bekenntnis zu privater Eigenverantwortung sprechen kann, bleibt rätselhaft. Mit ihrer Steuerpolitik zerstört Rot-Grün die Grundlagen einer über Jahre privat aufgebauten Altersvorsorge zulasten der Menschen.

(Zuruf des Abg. Ludwig Stiegler (SPD))

- Herr Stiegler, das ist die Wahrheit. Ihr Fraktionsvorsitzender möchte am liebsten, dass die Menschen in Deutschland nur noch für den Staat arbeiten, damit das Geld, das sie hart erarbeiten, durch Sie ausgegeben werden kann.

(Ludwig Stiegler (SPD): Sie sollten die Kohl-Zeit mit der Schröder-Zeit vergleichen!)

Herr Stiegler, diese neue Form des Sozialismus wollen wir aber nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Im Übrigen treffen die steuerpolitischen Vorhaben der Bundesregierung die freien Berufe und die Selbstständigen. Dies gilt für die Erhöhung der Pauschalierung für die private PKW-Nutzung ebenso wie für die Einführung einer Mindestbesteuerung bei Personenunternehmen und die Verschärfung der Abschreibungsregeln. Insbesondere die Einschränkung der Verlustverrechnung bei Personenunternehmen ist ein massiver Angriff von Rot-Grün auf den Mittelstand und die freien Berufe in Deutschland.

(Zuruf von der FDP: So ist es!)

Der neueste Vorschlag der Bundesregierung ist die Ausweitung der Gewerbesteuerpflicht auf die freien Berufe.

(Beifall des Abg. Christoph Strässer (SPD))

Dabei - Sie klatschen Beifall - ist mir durchaus bekannt, dass auch Bürgermeister und Landräte, die der Union angehören, angesichts der katastrophalen Finanzsituation der öffentlichen Haushalte eine Reform der Gewerbesteuer fordern. Die von Rot-Grün zu verantwortende finanzielle Dramatik der kommunalen Haushalte kann aber nicht dadurch gelöst werden, dass wir eine wichtige gesellschaftliche Gruppe, die für Arbeits- und Ausbildungsplätze in Deutschland hohe Verantwortung zeigt, mit einer neuen Steuer überziehen. Ich will eine Einführung der Gewerbesteuer für die freien Berufe nicht zur Diskussion stellen. Für mich sind Freiberufler wegen ihrer Verpflichtung auf das allgemeine Wohl keine Gewerbetreibenden im Sinne des Gesetzes. Deshalb hat die Gewerbesteuer dort auch nichts zu suchen.

Statt gerade Selbstständige und Freiberufler mit neuen Steuern zu überziehen, sollte sich die Regierung Gedanken machen, wie man im Rahmen einer sozial verantwortbaren Privatisierungspolitik konkrete Aufgaben öffentlicher Dienstleistung auf freie Berufe übertragen kann. Dies gilt für den Bau- und Planungsbereich wie für eine Vielzahl von öffentlichen Beratungsangeboten. Wir dürfen jedenfalls nicht immer nur von weniger Staat reden. Wir müssen es dort, wo möglich, auch praktizieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Vertreter der freien Berufe weisen mit Recht auf die immer stärker anwachsende Kostenlast hin. Die Kostenstruktur, insbesondere der stark ansteigende Personalkostenanteil, der jetzt durch die Erhöhung der Lohnnebenkosten auszuufern droht, belastet die unternehmerische Flexibilität der freien Berufe und gefährdet mittel- und langfristig Arbeitsplätze. Ein Beispiel: Die Bundesregierung verkündet in dem Bericht, insbesondere bei den heilkundlichen Berufen habe es bei der Zahl der Ausbildungsstellen Zuwächse gegeben. Zugleich enthält der Bericht die Aussage, dass bei den Umsätzen sowie Einkünften der Ärzte und Zahnärzte deutliche Rückgänge zu verzeichnen waren. Aber anstatt diese Missstände zu beseitigen, werden sie durch verordnete Nullrunden noch verstärkt. Die Einnahmen gehen zurück und die Lohnnebenkosten steigen. Das passt auf Dauer nicht zusammen. Das belastet Ausbildungs- und Arbeitsplatzentwicklung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dabei ließe sich die Zahl der Arbeitsplätze - hören Sie jetzt wirklich einmal gut zu - in den freien Berufen deutlich erhöhen, würden wir in Deutschland endlich Mut zu einer Flexibilisierung des Arbeitsrechts haben. Es kann doch nicht angehen, dass in einer kleinen Anwalts- oder Steuerberatungspraxis in Erfurt - oder wo auch immer - mit sechs oder acht Mitarbeitern der Kündigungsschutz in gleicher Weise Anwendung findet wie bei Daimler-Chrysler in Stuttgart.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ähnliches lässt sich für die Betriebsverfassung sagen: Bereits die Anhebung der Mindestmitarbeiterquote in beiden Gesetzen würde zu einer deutlichen Beschäftigungssteigerung bei Mittelstand und freien Berufen führen.

(Ludwig Stiegler (SPD): Das haben Sie schon einmal versprochen! - Walter Hoffmann [Darmstadt] (SPD): Seien Sie froh, dass wir das nicht einmal ausprobieren! Wo leben wir denn?)

Kein anderes Land in Europa erlaubt sich den Luxus einer fehlenden Differenzierung zwischen Kleinunternehmen und Großunternehmen im Arbeitsrecht. Auf diese Weise opfern wir in Deutschland sehenden Auges Jahr für Jahr und Monat für Monat Tausende von Arbeitsplätzen. Das ist nicht nur Blockade für unternehmerische Freiheit, das ist auch zum Nachteil der Menschen, die in unserem Land ehrlich nach Arbeit suchen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Klaus Brandner (SPD): Sie bauen einen Popanz auf!)

Lassen Sie mich, wenn Sie von Popanz reden, auch kurz von der Scheinselbstständigkeit sprechen. Hier sind Sie doch wirklich kläglich gescheitert. Sie wissen, dass Jahr für Jahr etwa 10 Prozent der Existenzgründungen von Freiberuflern über die Regelung zur Scheinselbstständigkeit unterlaufen worden sind; das bedeutet pro Jahr 2 000 betroffene Existenzgründungen in Deutschland. Hierdurch wurde das Wachstum der freien Berufe entscheidend abgeschwächt und gleichzeitig die Bereitschaft der Menschen zu mehr Selbstständigkeit auch noch staatlich bestraft.

Dass diese rot-grüne Geißel der Selbstständigenkultur in Deutschland bald der Vergangenheit angehört, ist ein großes Verdienst der Union. Rot-Grün hat durch den Kompromiss im Vermittlungsausschuss eingestanden, dass diese Regelung ein ideologischer Irrweg war. Meine Damen und Herren, wir brauchen in Deutschland nicht Regelungen gegen Selbstständigkeit, wir brauchen Freiraum für mehr Selbstständigkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vor diesem Hintergrund ist auch die Diskussion über die Anpassung der Gebührenordnungen nachvollziehbar. Dabei geht es ja nicht nur um die Höhe, sondern auch um strukturelle Fragen.

Auf diesem Gebiet wurden Versprechungen gemacht, die Rot-Grün nicht eingehalten hat. Das gilt für die Rechtsanwaltsvergütung ebenso wie für die Reform des Justizkostenrechts und anderes.

Besonders schlimm trifft es angesichts des Chaos in der Gesundheitspolitik die Ärzteschaft, die mit Budgetierung und Honorarabsenkungen nachhaltig geschädigt wird.

Leider lässt der Bericht auch eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Entwicklung der freien Berufe in den neuen Bundesländern vermissen. Dabei wissen wir alle, meine Damen und Herren, dass Freiberufler aufgrund der wirtschaftlichen Situation dort beginnen, ihr Engagement einzuschränken oder berufliche Aktivitäten zu verlegen, sodass der Prozess der wirtschaftlichen Destabilisierung in den neuen Bundesländern voranschreitet.

Dies gilt auch wieder für die Ärzteschaft. Wie wir wissen, gibt es inzwischen Regionen mit ärztlicher Unterversorgung. Praxen können nicht besetzt werden, Ärzte fehlen vor Ort. Solche Entwicklungen müssen analysiert werden. Hierzu findet sich kein Wort in dem Bericht.

Auch fehlt eine differenzierte Betrachtung neuer Gruppen von freien Berufen, insbesondere auch der so genannten nicht verkammerten freien Berufe. Hierzu hätte es einer gründlichen Untersuchung bedurft, um flexibel auf geänderte Bedingungen reagieren zu können. Doch auch da bleibt der Bericht Antworten schuldig.

Der Bericht insgesamt lässt Mängel deutlich werden. Er ist im Juni dieses Jahres formuliert und daher wohl eher wahlstrategisch ausgerichtet worden. Die Bundesregierung ist daher aufzufordern, den Bericht in möglichst kurzer Zeit zu aktualisieren

(Carl-Ludwig Thiele (FDP): Sehr richtig!)

und dabei vor dem Hintergrund der angespannten Arbeitsmarktsituation vor allem die Entwicklung der freien Berufe in neuen Berufsfeldern sowie auch die sich zuspitzende Situation in den neuen Ländern zu untersuchen.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Herr Kollege!

Dr. Rolf Bietmann (CDU/CSU):

Ich komme zum Schluss.

Die freien Berufe haben aufgrund ihrer hohen volkswirtschaftlichen, arbeitsmarktpolitischen und gesellschaftlichen Bedeutung unser Augenmerk verdient. Sie sind ein wesentliches Element der Freiheit und einer der letzten Wachstumsmärkte in Deutschland. Gerade darum brauchen wir mehr denn je ein Bekenntnis zu Selbstständigkeit und ein Bekenntnis zu Eigenverantwortung, verbunden mit einem klaren Ja zu unternehmerischer Leistungsbereitschaft. In diesem Sinne bleiben CDU und CSU Partner der freien Berufe und des Mittelstands in Deutschland.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Herr Kollege, ich habe gehört, dass dies Ihre erste Rede hier war. Dazu möchte ich Ihnen die Glückwünsche des Hauses aussprechen.

(Beifall)

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Lange.

Christian Lange (Backnang) (SPD):

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es war eine SPD-Bundesregierung unter Bundeskanzler Schmidt, die im Jahr 1979 erstmals einen Bericht über die Lage der freien Berufe erstellt hat.

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Der war viel besser! - Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Den sollten Sie sich öfter zu Gemüte führen!)

In dieser guten Tradition wird dem Deutschen Bundestag heute der dritte Bericht vorgelegt.

Die Bundesregierung und die SPD-Bundestagsfraktion haben die Förderung von Selbstständigkeit, kleinen und mittleren Unternehmen und Existenzgründern zu einem Schwerpunkt ihrer Wirtschaftspolitik gemacht. Dass nicht nur wir das so sehen, sondern auch die freien Berufe selbst, können Sie der neuesten Ausgabe der Zeitschrift "Der freie Beruf" entnehmen. Sie gestatten, dass ich daraus das eine oder andere zitiere.

Darin heißt es:

Der Bundesverband der Freien Berufe begrüßt, dass die Bundesregierung in der Regierungserklärung überfällige Eigenverantwortung betont und in einer zentralen Funktion für das Gemeinwesen sieht. Dies entspricht dem gesellschaftlichen Modell, das den freien Berufen eine zentrale Funktion im Zusammenspiel zwischen Individuum und Gemeinschaft zuweist.

So die Bundesregierung, so die freien Berufe und so die SPD-Bundestagsfraktion!

(Beifall bei der SPD)

Lassen Sie mich ein zweites Zitat bringen:

Der Bundesverband der Freien Berufe greift die Initiative der Bundesregierung auf, durch Förderung des Mittelstands den Ausbau der wissensgestützten Dienstleistungen in der Informationsgesellschaft zu stärken.

Er weist aber auch darauf hin, dass Selbstständigkeit nicht nur aus der Arbeitslosigkeit heraus, sondern auch dann gefördert werden sollte, wenn vorher eine feste Anstellung vorhanden war. Sie haben bei dem Beispiel Mittelstandsbank gehört, in welche Richtung die Bundesregierung geht. Wir werden dies unterstützen - freie Berufe, Bundesregierung und SPD-Bundestagsfraktion gemeinsam.

(Beifall bei der SPD - Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Das ist eine Drohung!)

Ein zweiter Aspekt, den Sie, Herr Bietmann, dargestellt haben, betrifft die alte Litanei rund um die Steuer- und Sozialabgabenlast. Herr Kollege, auch wenn es Ihre erste Rede war,

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Die Rede war sehr gut!)

möchte ich Sie doch einfach einmal auf die Statistik hinweisen. Die OECD hat eine Statistik zu den Steuern und Sozialabgaben im Jahr 2001 in Prozent der Wirtschaftsleistung erstellt. Deutschland ist darin mit 36,4 Prozent aufgeführt.

Wenn ich Ihnen aufzählen würde, wer alles vor uns liegt, dann wäre meine Redezeit fast vorbei: Es geht von Schweden über Italien, Griechenland, die Niederlande, Ungarn und Großbritannien. Alle haben eine wesentlich stärkere Belastung als wir. Nehmen Sie das doch endlich einmal zur Kenntnis und setzen Sie Ihre ideologische Brille ab!

(Beifall bei der SPD)

Dritter Punkt. Wenn Sie die Steuer- und Abgabenentwicklungen, insbesondere die Steuerbelastungen, anschauen, dann nehmen Sie zur Kenntnis, dass wir mit der Steuerreform 2004 und 2005 weitere Absenkungen der Steuern in Deutschland vornehmen werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Carl-Ludwig Thiele (FDP): Heute nicht!)

Nehmen Sie vor allen Dingen zur Kenntnis, wo Sie von der CDU/CSU und der FDP 16 Jahre lang stehen geblieben sind: Ein Spitzensteuersatz von 53 Prozent war im Jahr 1998 das Ergebnis Ihrer Regierung.

(Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Weil ihr uns nicht gelassen habt! Das war Ihre Blockade von 1994 bis 1998 im Bundesrat! Lafontaine lässt grüßen!)

Jetzt sind wir bei 48,5 Prozent angelangt. 2004 werden wir bei 47 Prozent und 2005 bei 42 Prozent angelangt sein. Das ist ein gemeinsamer Beitrag der Bundesregierung und der SPD-Bundestagsfraktion für die freien Berufe. Ich bitte Sie, dies einmal zur Kenntnis zu nehmen.

(Beifall bei der SPD)

Die Entwicklung der freien Berufe ist übrigens auch deshalb eine Erfolgsbilanz.

Insbesondere die Dynamik bei der Entwicklung der freien Berufe zeigt die positive Entwicklung in Deutschland hin zu einer wissensbasierten Dienstleistungsgesellschaft. Wir haben die Zahlen gehört. Mittlerweile haben wir in Deutschland fast genauso viele Freiberufler wie Handwerker, und zwar mit steigender Tendenz. Allein in unserer Regierungszeit hat sich die Zahl der Freiberufler von 650 000 auf etwa 740 000 erhöht.

(Ludwig Stiegler (SPD): Da schau her!)

Anfang 2001 gab es über 160 000 Ausbildungsplätze. Die freien Berufe sind mit 10 Prozent aller Auszubildenden hinter Industrie und Handwerk der drittgrößte Ausbildungsbereich.

(Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Diese Leistung sollten Sie einmal belohnen!)

Hier wird weit über den Bedarf hinaus ausgebildet. Damit werden berufliche Chancen eröffnet, die weit über diesen Sektor hinausreichen.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)

Insgesamt konnten die freien Berufe bundesweit das hohe Ausbildungsniveau halten. Die positive Entwicklung auf dem Lehrstellenmarkt muss angesichts des Rückgangs der Zahl der Ausbildungsverträge in allen Wirtschaftsbereichen ganz besonders gewürdigt werden. Deshalb will ich ein Wort des Dankes an die freien Berufe aussprechen. Sie bilden aus und das verdient unseren Respekt.

(Beifall bei der SPD - Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Nicht nur Respekt! Belohnen muss man das!)

Ein weiterer Punkt. Der Herr Staatssekretär hat auf den hohen Frauenanteil hingewiesen: 58 Prozent aller Erwerbstätigen in den freien Berufen sind Frauen. Die Frauenquote unter den Selbstständigen in den freien Berufen liegt bei etwa 40 Prozent und entwickelt sich weiter positiv. Gründe hierfür sind die Unabhängigkeit der Berufsausübung und die Möglichkeit, Arbeit und Familienleben besser miteinander zu vereinbaren. Außerdem kommen hier der höhere Grad an Hochschulbildung und die vergleichsweise hohen Verdienstmöglichkeiten zum Ausdruck.

Mehr als jeder fünfte Selbstständige ist in der Bundesrepublik inzwischen freiberuflich tätig. Mit rund 3 Millionen Selbstständigen und abhängig Beschäftigten im Jahr 2001 entfallen auf die freien Berufe 7 Prozent aller Erwerbstätigen in Deutschland. Sie erwirtschaften 8 Prozent des Bruttoinlandsproduktes.

Die Bundesregierung wird diesen positiven Trend in den freien Berufen weiter unterstützen.

Das Stichwort Mittelstandsoffensive ist gefallen. Die Sicherung der Finanzierung des Mittelstands ist dabei ein zentrales Anliegen von SPD und Bundesregierung. Wir werden deshalb die Kreditanstalt für Wiederaufbau und die Deutsche Ausgleichsbank zu einem Förderinstrument zur Unterstützung der mittelständischen Wirtschaft zusammenlegen, die Förderprogramme für den Mittelstand optimieren und entsprechende Doppelförderungen einstellen.

(Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Eigenkapital brauchen die, nicht nur Kredite!)

Jedoch nicht allein die Fördermittel für die Finanzierung von selbstständigen Existenzen im Bereich der freien Berufe sind wichtig. So sollen beispielsweise Studierende schon während ihres Studiums Erfahrungen und Wissen in Bezug auf unternehmerisches Handeln sammeln. Hier setzt die vom Bundeswirtschaftsministerium zusammen mit der Deutschen Ausgleichsbank und anderen Partnern aus der Wirtschaft gestartete Initiative zur Errichtung von Existenzgründerlehrstühlen an. Mittlerweile gibt es 42 Lehrstühle an deutschen Universitäten, die sich mit Existenzgründungsthemen befassen. Ein flächendeckendes und fächerübergreifendes Lehrangebot im Bereich Existenzgründungen und Entrepreneurship zu schaffen ist das Ziel.

(Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Was Sie von den Professoren halten, das wissen wir ja von Herrn Stiegler!)

Gerade in den freien Berufen können betriebswirtschaftliche und juristische Kenntnisse als Ergänzung zum beruflichen Wissen von großem Nutzen sein.

(Beifall des Abg. Ludwig Stiegler (SPD))

Diesen guten Geist der Selbstständigkeit zu etablieren ist Sinn und Zweck dieses Programms. Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen treiben dies voran.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Mit der Initiative "Innovation und Zukunftstechnologie im Mittelstand" werden wir außerdem die Innovationskompetenz der kleinen und mittleren Unternehmen und der freien Berufe stärken. Außerdem werden wir die Ausbildungsberufe verstärkt modernisieren und durch ein reformiertes Berufsbildungsgesetz mehr Jugendlichen eine echte Chance auf eine Ausbildung geben.

Für die freien Berufe - da haben Sie Recht - ist der Bürokratieabbau ganz besonders wichtig. Sie wissen - der Minister hat es mehrfach hier gesagt -, dies ist eines der zentralen Anliegen der Bundesregierung. Ich sage Ihnen ganz offen: Ich bin der Auffassung, dass wir in diesem Bereich etwas wagen und Testgebiete ausweisen müssen, so wie es Altkanzler Schmidt vorgeschlagen hat. Ich bin sicher, dass wir in diese Richtung gehen werden. Wir werden auf jeden Fall mehr machen, als in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit geschehen ist: nämlich nichts.

(Beifall bei der SPD - Widerspruch des Abg. Karl-Josef Laumann (CDU/CSU))

Wir werden die Probleme angehen. Das haben der Minister und auch sein Staatssekretär mehrfach angekündigt. Seien Sie daher versichert: In Sachen Bürokratieabbau werden wir den Vergleich mit Ihnen allemal gewinnen.

Auch in der Vergangenheit sind wir bereits diesen Weg gegangen. Besonders erwähnenswert sind die Projekte "Media@Kom",

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Betriebsverfassungsgesetz!)

die Verbesserung der Kommunikation, zum Beispiel zwischen Arbeitgeber und Krankenkassen, durch den Einsatz neuer Medien und die Erprobung einer bundeseinheitlichen Wirtschaftsnummer.

Wir werden die begonnenen erfolgreichen Arbeiten fortführen und zu einem flächendeckenden Masterplan zum Abbau der Bürokratie ausbauen. In den Masterplan werden auch die Vereinheitlichung von Bescheinigungen im Arbeits- und Sozialrecht, die stärkere Nutzung der elektronischen Datenübermittlung, die zentrale Speicherung von Arbeitsbescheinigungen, die Reduzierung der Statistikpflicht und die Senkung der Grenzen zur Buchführungspflicht aufgenommen. Die Bundesregierung handelt also; sie hat es auch schon in der Vergangenheit getan.

(Widerspruch des Abg. Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU))

Sie wird noch einen Zahn zulegen. Seien Sie sicher: Die Fraktionen von SPD und Grünen, die Bundesregierung und die freien Berufe werden an einem Strang ziehen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Darüber hinaus gibt es eine Reihe spezifischer Fragen mit engem Bezug zu den freien Berufen, etwa die IT-Beratung, Hompagedesign, Ökoaudit oder die erwähnte HOAI. Zur HOAI liegt dem Bundeswirtschaftsministerium ein Gutachten vor, das derzeit noch geprüft wird. Dabei stellt die Untersuchung zur wirtschaftlichen Lage der Architektur- und Ingenieurbüros bzw. zur Honorarauskömmlichkeit einen wichtigen Aspekt dar. Auch die Überprüfung der Honorarordnung für Architekten und Ingenieure im Hinblick auf das EU-Recht und den sich erweiternden Binnenmarkt wird damit verbunden. Darüber hinaus sollen Vorschläge zur Vereinfachung und Modernisierung der HOAI erarbeitet werden.

Mit der 4. und 5. Novelle der Wirtschaftsprüferordnung sind wir ebenfalls einen wichtigen Schritt vorangegangen. Lassen Sie mich abschließend erwähnen: Die 5. WPO-Novelle - das offizielle Unterrichtungs- und Beteiligungsverfahren ist seit dem 10. Dezember dieses Jahres im Gange - geht in ihrer Zielsetzung weit über das hinaus, was die Regierung bereits in der vergangenen Legislaturperiode getan hat. Vor dem Hintergrund der Entbürokratisierung verfolgen wir eine umfassende Reformierung der Wirtschaftsprüferausbildung, die Zusammenführung der Prüferberufe sowie die Stärkung der berufsrechtlichen Aufsicht.

Sie sehen also: Bundesregierung und SPD-Bundestagsfraktion ziehen zum Wohle der freien Berufe in Deutschland an einem Strang. So soll es auch bleiben.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner ist der Kollege Carl-Ludwig Thiele, FDP-Fraktion.

Carl-Ludwig Thiele (FDP):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatssekretär Schlauch und Herr Kollege Lange, wenn man Ihnen zugehört hat, dann konnte man den Eindruck gewinnen, dass Ihr Glaube an einen Regierungsbericht erheblich stärker zu sein scheint als der Wille, das zur Kenntnis zu nehmen, was in unserem Lande derzeit stattfindet.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Es findet kein Aufbruch, sondern ein Abbruch statt. Die Wirklichkeit in Deutschland sieht so aus, dass wir in diesem Jahr 40 000 Insolvenzen haben werden. Die einzige Boombranche bei den Selbstständigen ist die Branche der Konkursverwalter. Das Einzige, was die freien Berufe momentan noch trägt, ist die Hoffnung, und zwar die Hoffnung auf einen möglichst baldigen Regierungswechsel.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Walter Hoffmann [Darmstadt] (SPD): Das haben die Wähler entschieden!)

Ich finde es gut, dass sich der Deutsche Bundestag in der heutigen Debatte - erstmalig unter Rot-Grün - mit der Lage der freien Berufe befasst. Gerade die freien Berufe sind es, die sich in freier Tätigkeit selbst verwirklichen wollen, mit sämtlichen Risiken und Chancen, die diese bieten. Etwa 750 000 Selbstständige in den freien Berufen sind in Deutschland tätig. Zusammen mit ihren Mitarbeitern gibt es in diesem Bereich mehr als 3 Millionen Beschäftigte.

Gerade als jemand, der selbstständig als Rechtsanwalt tätig ist, weiß ich, dass es spannend und interessant sein muss, eine Existenz zu gründen, sich hierin auch über eine 35-Stunden-Woche hinaus selbst zu engagieren und für sich und andere Arbeitsplätze zu schaffen.

Es ist aber notwendig, mit einem überschaubaren Aufwand überhaupt in die Möglichkeit zu kommen, diese Existenz zu gründen und nicht schon im Vorfeld an Behörden, Paragraphen und Genehmigungsverfahren verzweifeln zu müssen.

Es sollte das gesellschaftliche Ziel vieler sein, sich im Bereich der freien Berufe selbst zu verwirklichen und dabei entsprechende gesellschaftliche Anerkennung zu erhalten. Gerade die Mitglieder der freien Berufe sind es, die in zumeist zeitaufwendigen Tätigkeiten bereit sind, sich ehrenamtlich in den unterschiedlichsten Vereinen und in anderen Formen bürgerlichen Engagements einzubringen, um außerhalb des organisierten Staates die Entwicklung unserer Gesellschaft mit ihren Erfahrungen und ihrem Sachverstand aktiv zu begleiten.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Zudem sind gerade im Bereich der Ausbildungsberufe mehr als 10 000 Selbstständige ausbildungsverstärkend und prüfend tätig. Wir brauchen in unserem Land Leistungsträger und eine höhere Zahl an Selbstständigen und an freien Berufen.

Leider sind von Rot-Grün in den letzten viereinhalb Jahren die Rahmenbedingungen der Selbstständigkeit erheblich verschlechtert worden.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): So ist es!)

Im Zuge der Steuerreform sind Kapitalgesellschaften entlastet worden, aber der normale Arbeitnehmer und Selbstständige nicht. Diese wurden auf das Jahr 2005 vertröstet und werden bis dahin durch diverse Steuererhöhungen und ein als Steuersubventionsabbaugesetz getarntes weiteres Steuererhöhungsgesetz massiv zur Kasse gebeten und in ihrer Investitionsfähigkeit beschnitten.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Das ist die bittere Wahrheit!)

Das unsinnige Gesetz gegen die Scheinselbstständigkeit hat entscheidend dazu beigetragen, dass sich weniger Menschen in unserem Land selbstständig machen konnten. Die gerade jetzt beschlossenen Maßnahmen, die Erhöhung der Ökosteuer, die Erhöhung der Bemessungsgrundlagen für die Sozialversicherungsbeiträge und die Erhöhung der Lohnnebenkosten insbesondere im Bereich der Kranken- und Rentenversicherung, sind das genaue Gegenteil einer Politik, die unser Land benötigt.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Zudem ereilen uns - auch das wurde komplett ausgeblendet - nahezu täglich Katastrophenmeldungen aus dem Gesundheitsbereich. Die Krankenversicherungsbeiträge explodieren und gleichzeitig werden ohne ein klares Konzept Maßnahmen beschlossen, die dazu führen, dass im nächsten Jahr voraussichtlich Zehntausende von Menschen in diesen Berufen ihren Arbeitsplatz verlieren werden. Dass weder die Bundesregierung noch die Koalitionsfraktionen überhaupt ein Wort der Sorge um die Existenz dieser Menschen geäußert haben, das bewerte ich als einen Skandal dieser Debatte.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Deshalb halten wir als FDP es für richtig, dass mit dem Aufruf "Mittelstand macht mobil" mehr als 250 000 Stellungnahmen von Unternehmen, Selbstständigen und deren Mitarbeitern vorgelegt wurden. All diese Personen, die gerade im wirtschaftlichen Bereich das zentrale Rückgrat der Gesellschaft unseres Landes darstellen, wünschen sich von der neuen Bundesregierung das, was auch wir von der FDP uns wünschen: Gebt uns mehr Freiheit und baut die Bürokratie endlich ab! Redet nicht nur darüber, sondern tut auch etwas!

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Denn nicht die Regierung bzw. der Staat, sondern die Unternehmen und die Unternehmer in unserem Land können Arbeitsplätze schaffen, die zu mehr Beschäftigung führen.

Voraussetzung dafür ist aber, dass die Politik eine positive Einstellung zu den Selbstständigen und den freien Berufen hat. Deshalb ist die Einstellung der Politik zu den freien Berufen von ganz zentraler Bedeutung. Wenn ich allerdings sehe, dass 75 Prozent der SPD-Abgeordneten und 25 Prozent der Abgeordneten der Grünen Mitglied einer Gewerkschaft sind,

(Detlef Parr (FDP): Hört! Hört!)

dann denke ich, dass bei vielen dieser Abgeordneten häufig das Sein das Bewusstsein und damit auch das parlamentarische Handeln bestimmt.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Detlef Parr (FDP): Denkblockaden!)

Ohne jede Wertung möchte ich darauf hinweisen, dass es eben ein Unterschied ist, ob man seine berufliche Tätigkeit in einem Anstellungsverhältnis oder als Selbstständiger erlebt. Es ist ganz natürlich, dass jemand, der angestellt ist, zu einigen Dingen eine andere Sichtweise hat als jemand, der selbstständig tätig ist. Aber nur mit diesem Wissen über die soziale Verankerung der rot-grünen Parlamentsmehrheit kann man es überhaupt verstehen, warum ein Gesetz gegen die Scheinselbstständigkeit entstehen konnte, warum mit einem bombastischen Kanzlerwort zu Beginn der letzten Wahlperiode die 630-Mark-Jobs nahezu abgeschafft wurden und warum der Schwellenwert im Kündigungsschutzgesetz von zehn auf fünf herabgesetzt wurde. Nur mit diesem Wissen kann man auch verstehen, warum die freien Berufe unter dem Stichwort der Revitalisierung der Gewerbesteuer voraussichtlich noch in dieser Wahlperiode zusätzlich mit der Gewerbesteuer belastet werden sollen.

Wir als FDP verstehen uns als Partei der sozialen Marktwirtschaft. Wir wünschen uns eine Rückbesinnung auf die Tugenden der klassischen sozialen Marktwirtschaft, um Arbeitsplätze und Wohlfahrt für alle durch eine neue Kultur der Selbstständigkeit, durch mehr Freiheit und weniger Staat sowie durch weniger Steuern und weniger Abgaben zu sichern.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Nur so kann der Rahmen geschaffen werden, in dem es für die in den freien Berufen Tätigen interessant wird, dieser Tätigkeit weiter nachzugehen. Nur so kann ein Anreiz für diejenigen geschaffen werden, die den Beruf noch vor sich haben. Gerade diese jungen Menschen brauchen wir als Leistungsträger in unserer Gesellschaft. Gerade für diese Menschen müssen wir das Gemeinwesen so gestalten, dass es interessant ist, das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen - für sich selbst und für diejenigen, denen dadurch zusätzliche Arbeitsplätze geboten werden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner ist der Kollege Walter Hoffmann, SPD-Fraktion.

Walter Hoffmann (Darmstadt) (SPD):

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Thiele, akzeptieren Sie doch endgültig, dass der Wähler sich am 22. September so entschieden hat.

(Beifall bei der SPD - Carl-Ludwig Thiele (FDP):
Der wird sich aber wieder entscheiden!)

Ich bin dessen, mit Verlaub, langsam überdrüssig. Es hat auch - entschuldigen Sie, dass ich es so hart formulieren muss - ein Stück Arroganz, wenige Monate später zu sagen, die Wählerinnen und Wähler wünschten nichts anderes als einen Regierungswechsel.

(Carl-Ludwig Thiele (FDP): Aber so ist das! -
Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt ja!)

Sie müssen nun einmal akzeptieren, dass der Wähler sich so entschieden hat. Wir versuchen in einer in der Tat schwierigen Situation, in Kooperation mit großen Teilen des Hauses vernünftige Lösungen für die dringendsten Probleme dieses Landes zu finden.

(Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Der Versuch ist aber untauglich! - Johannes Singhammer (CDU/CSU): Zwischen Wollen und Können ist ein Unterschied!)

Es ist auch überheblich, zu sagen, dass wir keine Antenne oder keine Sensibilität für die Existenzängste der Freiberufler und ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hätten.

(Carl-Ludwig Thiele (FDP): Kein Wort vom Staatssekretär!)

Diese Existenzängste und diese Probleme sind nicht im Jahre 1998 oder in dem Zeitraum seitdem entstanden, sondern sind über viele Jahre hinweg gewachsen.

(Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Ach, jetzt kommt die alte Leier! - Johannes Singhammer (CDU/CSU):
Bitte mal was Neues!)

Jetzt läuft der Kessel über und wir versuchen in einer extrem schwierigen wirtschaftlichen Situation, auch für die Freiberufler und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Lösungen zu finden.

Sie haben unterschiedliche Realitäten angesprochen. Jeder von uns hat in seinem Bekanntenkreis freiberuflich Tätige; viele sind selbst davon betroffen. Sie sind als Ärzte, Rechtsanwälte, Journalisten, Hebammen oder in anderen Berufen tätig. Wir alle wissen, dass sie jeden Morgen mit großem Engagement, Idealismus und Intelligenz im wahrsten Sinne des Wortes in den täglichen Kampf um die eigene Existenz gehen.

Für mich ist der Prototyp eines freiberuflich Tätigen ein sehr enger Freund von mir, der als Architekt arbeitet. Er hat sich in sehr jungen Jahren selbstständig gemacht und gibt mittlerweile einer ganzen Reihe von Menschen Brot und Beschäftigung. Er trägt auch die Verantwortung für diese Mitarbeiter. Er engagiert sich neben seinem Job kommunalpolitisch. Das macht häufig Arbeitszeiten von zwölf bis 16 Stunden aus, fast wie bei uns.

Ich denke, dass es von dieser Sorte Menschen eine ganze Menge gibt. Wir sollten stolz darauf sein, dass es sie gibt und dass sie sich in einem hohen Maße für die Allgemeinheit engagieren.

Meine sehr verehrtenDamen und Herren, Freiberufler sind überwiegend positive Menschen, die motiviert sind, die Mut haben, die jeden Tag ihr Bestes geben und denen es fern liegt, durchgängig zu klagen. Vielmehr nehmen sie ihr Schicksal selbst in die Hand und schaffen, wie man so schön sagt.

In einigen Stellungnahmen in dem Organ des Bundesverbandes der Freien Berufe, "Der freie Beruf", erkennt man in der Tat eine andere Welt, Herr Thiele. Da wird gejammert, geklagt, verzweifelt. Da steht: Keiner hört auf uns. Da wird eine Weltuntergangsstimmung verbreitet, wie es auch viele Medien und die Opposition in großem Umfange tun. In einer zentralen Schlagzeile heißt es dort: Die Situation ist geprägt durch politisches Heulen und Zähneklappern.

Wer sich nun den Bericht der Bundesregierung anschaut, kommt zu völlig anderen Schlussfolgerungen. Egal wie man die aktuelle Situation im Detail bewertet: Die Geschichte der freien Berufe in den letzten Jahren - Zahlen haben der Staatssekretär und mein Kollege Christian Lange hier verdeutlicht; ich will Sie damit nicht noch einmal quälen - ist insgesamt in der Tat eine Erfolgsgeschichte.

Die Zahlen sind von 500 000 auf 750 000 gestiegen, das ist ein Zuwachs von 50 Prozent. 7 Prozent der Erwerbstätigen werden durch Freiberufler repräsentiert, Freiberufler erwirtschaften 8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und bilden 10 Prozent der Auszubildenden aus.

Meine Damen und Herren, das sollte man doch nicht gering schätzen. Das ist ein großartiges Ergebnis und - ich sage es noch einmal - darauf können wir stolz sein. Den freien Berufen, die in schwieriger Lage ihre Arbeit getan haben, gilt im wahrsten Sinne des Wortes unser Dank.

(Beifall bei der SPD - Ernst Hinsken (CDU/CSU): Das ist interessant, wenn das ein DGB-Sekretär sagt!)

Ich verkenne nicht, dass es nicht allen Freiberuflern gut geht. Wir wissen, dass viele Gruppen in der Tat Probleme haben. Es gibt Schwierigkeiten bei der Existenzgründung, es gibt hohen Wettbewerbsdruck, wir haben Probleme bei der Finanzierung von Investitionen, es gibt ein hohes Anforderungspotenzial beim technologischen Fortschritt und bei der Internationalisierung der Märkte, wir haben ein Problem bei der Bewältigung des Generationenkonfliktes und wir haben eine hohe Belastung durch bürokratische Aufgaben.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, meine Vorredner haben bereits gesagt, dass der Minister hier einen klaren und eindeutigen Schwerpunkt gesetzt hat. Wir wollen versuchen, in den nächsten Jahren einen Teil dieser bürokratischen Belastungen und Auflagen, Stichwort: Bürokratieabbau, zu beseitigen. Das haben schon viele vorher gesagt und ich verkenne in der Tat die Schwierigkeiten nicht; aber die im Masterplan festgelegten Maßnahmenschwerpunkte sind erstrebenswert und wir sollten sie getreu dem Motto "Einen Kloß nach dem anderen" schrittweise angehen.

Dabei geht es um eine stärkere Nutzung von Internet und digitalen Medien, um die Steigerung der Serviceorientierung von Behörden, um die Vereinheitlichung und Vereinfachung von Formularen, um die Beschleunigung von Verwaltungsabläufen, um die Abschaffung überflüssiger Regelungen und um die Verringerung der Zahl statistischer Meldepflichten der Unternehmen.

Wir alle wissen, dass es im Land durchweg in der gesamten Bevölkerung ein hohes Maß an Überdruss über eine Fülle von Gesetzen und bürokratischen Vorschriften gibt. Es gibt auch - das muss man fairerweise sagen - eine durchgängige Resignation gegenüber der Politik und gegenüber dem Glauben daran,

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Gegenüber Rot-Grün!)

ob wir wirklich in der Lage sind, bürokratische Vorschriften ein Stück weit abzubauen.

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Wer regiert denn Deutschland?)

Dieser Überdruss ist über viele Jahre hinweg gewachsen und nicht erst seit dem Jahre 1998 entstanden. Wir sollten, auch im Interesse der freien Berufe, dies als eine große Chance und als eine große Herausforderung sehen.

Ich sage es hier noch einmal und spreche für die SPD-Fraktion: Wir meinen es ernst mit dem Bürokratieabbau. Wir wollen bürokratische Regelungen Schritt für Schritt abbauen. Wir sollten bei jedem Gesetz und bei jeder Verordnung, die zwangsläufig entstehen, immer auch an die Folgen für die operative Ebene denken, für diejenigen, für die wir das Gesetz vorgesehen haben.

(Zuruf von der CDU/CSU: Schaffen Sie den Ladenschluss gleich ab!)

Lassen Sie mich abschließend sagen, dass der Bericht deutlich zeigt: Freiberufler sind Aktivposten in unserer Gesellschaft. Wir wollen sie in dieser Rolle auch weiter unterstützen. Ich denke, wir sollten daran in einem möglichst breiten Konsens arbeiten.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kollegen Detlef Parr.

Detlef Parr (FDP):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Hoffmann, Sie waren nach dem Staatssekretär und Ihrem Kollegen Lange jetzt der dritte Redner der Regierungsfraktionen, der nur in Nebensätzen den Bereich angesprochen hat, in dem es am heftigsten brennt, nämlich den Bereich der Heilberufe, der Ärzte und Apotheker. Staatssekretär Schlauch hat davon gesprochen, die Freiberufler würden sich ruhig verhalten. Er kann nicht in Berlin gewesen sein, als vor wenigen Tagen die Heilberufler zusammengerufen wurden und 15 000 Demonstranten am Brandenburger Tor gegen die Politik von Rot-Grün im Gesundheitsbereich demonstriert haben.

Es ist schon interessant, dass Sie davon sprechen, alles für die freien Berufe zu tun. Im Gesundheitsbereich ist das nicht erkennbar. Im Gegenteil: Sie verordnen Nullrunden und Zwangsrabatte. Sie nehmen hier rigide staatliche Eingriffe vor und gefährden damit die Zukunft der niedergelassenen Ärzte und der Apotheker.

Der Herr Staatssekretär hat davon gesprochen, dass gerade im freiberuflichen Bereich besonders viele Frauenarbeitsplätze geschaffen worden seien. Gerade darin besteht der Skandal Ihrer Gesundheitspolitik: Durch Ihr Vorschaltgesetz werden die Arztpraxen und die Apotheken nämlich gezwungen, Entlassungen vorzunehmen.

Das betrifft in erster Linie die Frauen und ist ein Weg in die falsche Richtung.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ein weiteres Ergebnis Ihrer Politik ist die Ärzteflucht. Über 30 Prozent der jungen Menschen, die das Medizinstudium beenden, ergreifen den Arztberuf überhaupt nicht mehr, weil sie wissen, unter welchen Bedingungen sie in den Krankenhäusern arbeiten müssen. Jetzt verordnen Sie den Krankenhäusern Nullrunden, die Entlassungen und weitere Leistungsverdichtungen zur Folge haben. Es sind unmenschliche Arbeitsbedingungen, wenn Ärztinnen und Ärzte in Krankenhäusern 30 Stunden und mehr arbeiten müssen, und in dieser Situation bringen Sie Ihr Vorschaltgesetz auf den Weg.

Es ist Planwirtschaft pur, was Sie hier praktizieren. Wir haben große Sorge, dass Sie durch Ihre Politik die Freiberuflichkeit in den Heilberufen abschaffen und dazu beitragen, dass nur noch staatliche Planwirtschaft im Gesundheitssystem regiert. Das geht zulasten der Kranken und Versicherungen und das machen wir nicht mit.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege Hoffmann, Sie wollen sicher antworten.

Walter Hoffmann (Darmstadt) (SPD):

Herr Kollege Parr, nehmen Sie uns allen ab, dass wir sehr intensiv und feinfühlig die vielfältigen Proteste, Hinweise und Kritiken aus den Bereichen des Gesundheitswesens täglich - sozusagen stundenweise - mitbekommen.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Nein, das nehmen wir Ihnen nicht ab!)

Nehmen Sie uns auch ab, dass wir uns intensiv mit dieser Situation auseinander setzen.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Nein, ihr geht kaltschnäuzig damit um!)

Aber ich sage hier noch einmal ganz deutlich: Die Probleme des Gesundheitswesens sind nicht in den Jahren 1998/99 entstanden, sondern sie haben sich über viele Jahre hinweg aufgrund bestimmter Strukturen entwickelt.

(Carl-Ludwig Thiele (FDP): 1952!)

Sie brechen in einer wirtschaftlich schwierigen Situation massiv auf.

Die Bundesregierung - jetzt verrate ich Ihnen nichts Neues - hat in dieser Situation nun ein Maßnahmenpaket auf den Tisch gelegt, mit dem sie in einem ersten Schritt die Stabilisierung der Kostenentwicklung in den Griff zu bekommen versucht, um im Jahre 2003 zu strukturellen Reformen zu kommen.

Ich weiß sehr wohl, dass das aktuell nur wenig Beruhigung für den einen oder anderen Bereich gibt, aber wir haben kurz-, mittel- und langfristig keine andere Chance. Sie sind eingeladen, sich im Jahr 2003 ganz intensiv an der Erarbeitung von Lösungsvorschlägen für diesen Sektor und damit für viele Freiberufler zu beteiligen.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner ist der Kollege Johannes Singhammer, CDU/CSU-Fraktion.

Johannes Singhammer (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dieser Bericht ist eine gequälte Referenz an die Leistungskraft und die Leistungsfähigkeit von Ärzten, Rechtsanwälten, Apothekern und in den freien Medien Schaffenden, während diesen Berufsgruppen gleichzeitig von hinten in die Kniekehlen getreten wird.

(Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Bittere Wahrheit!)

Während Sie auf der einen Seite mit schmerzverzerrtem Blick und in offenkundig nicht nur ehrlicher Absicht diesen Gruppen Lob für ihren großen Anteil an der Schaffung von Lehrstellen und am Wirtschaftswachstum zollen, wird den Freiberuflern auf der anderen Seite das Leben jeden Tag schwerer gemacht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wie ein roter Faden zieht sich eine auffällige Asymmetrie von Taten und Worten durch die Politik dieser Bundesregierung, so auch in diesem Bericht. Auf gut Deutsch: Es wird vieles versprochen und ganz wenig gehalten.

(Beifall der Abg. Helga Daub (FDP))

Wir als CDU/CSU sind froh, dass es noch so viele Freiberufler gibt, die Arbeitsplätze sichern und vor allem 140 000 Lehrstellen schaffen und erhalten. Wir haben aber schon erwartet, dass in einem solchen Bericht nicht nur die Probleme intensiv und präzise erwähnt, sondern dass auch ganz konkrete Lösungsvorschläge dazu vorgelegt werden.

Der Bericht enthält dazu aber keine Lösungsvorschläge.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie reden immer davon, tun aber nichts. Ich nenne Ihnen einige Beispiele. Wenn Sie den freien Berufen wirklich entscheidend helfen wollen, dann tun Sie etwas dagegen, dass allein in den letzten vier Jahren unter Ihrer Regierung 300 zusätzliche Gesetze und mehrere Tausend Bundesverordnungen, die zu beachten sind, erlassen worden sind. Sie brauchen keine Gesetzesentrümpelungskommission, wenn Sie sich genau überlegen, ob die eine oder andere Vorschrift, die Sie erlassen haben, wirklich notwendig ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn Sie wirklich den Arbeitsplatzmotor freie Berufe starten wollen - dieser verfügt noch über ein sehr hohes Potenzial -, dann lassen Sie sich doch nicht erst durch den Vermittlungsausschuss dazu zwingen, endlich die eine oder andere Erleichterung im Bereich der Minijobs oder auch der regulären Beschäftigungsverhältnisse von 400 bis 800 Euro mit viel Druck durchzusetzen, sondern tun Sie auch etwas in anderen Bereichen. Ich nenne Ihnen einige, zum Beispiel das Betriebsverfassungsgesetz.

(Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD): Jetzt kommt wieder die alte Leier!)

Natürlich belasten diese Regelungen auch viele Freiberufler. Tun Sie auch etwas im Bereich Teilzeit. Das Teilzeitgesetz, das Sie geschaffen haben, verhindert viele Neueinstellungen.

(Zurufe von der SPD)

Wenn Sie es ändern würden, könnten viele zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden.

Ich sage Ihnen, worauf Sie noch genau achten müssen und wovon ich erwartet hätte, dass die Bundesregierung darauf eingegangen wäre. Wir wissen, dass die Europäische Union zunehmend mehr Regelungsmacht, mehr Regelungskompetenz hat. Dies hat natürlich Wirkung auch für die freien Berufe. In Ihrem Bericht wird zu diesem entscheidenden Gesichtspunkt der Überlagerung durch EU-Normen, dem Einwirken auf unsere Regeln, wenig oder gar nichts gesagt. Die Auswirkungen auf die freiberuflichen Dienstleistungen sind gravierend. Hier fehlt eine entsprechende Stellungnahme.

Was ist mit den neuen freien Berufen gerade im IT-Bereich? Auch hierzu gibt es wenig Erhellendes; im Klartext: Fehlanzeige! In Ihrem Bericht findet sich kein Kommentar beispielsweise zur wachsenden Bedeutung neu hinzukommender freiberuflicher Tätigkeitsfelder wie zum Beispiel von Informatikern und Webdesignern. Selbst zu dem Problem der Gebührenordnung, das natürlich die freien Berufe bewegt, wo seit zehn Jahren eine Reform notwendig wäre, wird nichts Konkretes gesagt.

(Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD): Aha! Warum haben Sie nichts gemacht!)

Was Sie aber tun, ist, mit der Frage "Gewerbesteuer für diese Berufsgruppe - ja oder nein?" einen neuen großen Schatten der Ungewissheit auf die freien Berufe zu werfen

(Christian Lange [Backnang] (SPD): Der Schatten heißt Singhammer!)

Ich verstehe die Diskussion, weil Sie die Kommunen durch Ihre Steuerpolitik weitgehend ruiniert haben. Ich nenne hier als Beispiel nur die Landeshauptstadt München. Der Münchner Oberbürgermeister - zufälligerweise SPD -

(Dr. Uwe Küster (SPD): Nicht "zufälligerweise"! Erstklassiger Mann! Wählerwille!)

beklagt sich, dass die Landeshauptstadt allein für die vergangenen zwölf Monate 500 Millionen Euro Gewerbesteuer nachzahlen muss, die im Stadtsäckel fehlen. Deshalb ist es klar, dass man nach neuen Einnahmequellen sucht. Aber jetzt die freien Berufe in Ungewissheit zu stürzen und Investitionen letztendlich zu verhindern, ist der völlig falsche Weg. Ich erkläre hier auch klipp und klar: Mit uns wird es eine zusätzliche Belastung der freien Berufe nicht geben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir wollen die jungen Menschen ermutigen, dass sie das Risiko eingehen, aber auch die Chancen und die Freude, die ein freier Beruf macht, wahrnehmen. Wir wollen, dass die freien Berufe mehr Chancen haben, dass der Arbeitsplatzmotor freie Berufe neu gestartet wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, SPD-Fraktion.

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD):

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Trotz aller Weltuntergangsgemälde unserer Kolleginnen und Kollegen von der Opposition ist in der heutigen Debatte die wichtige Rolle der freien Berufe als tragende Säule unserer modernen Dienstleistungsgesellschaft erfreulicherweise sichtbar geworden. Das wird sich auch in Zukunft nicht ändern, wenn - darüber haben Sie heute wenig gesprochen - der Wettbewerbsdruck auf dem heimischen Markt anhält und wichtige Veränderungen ins Haus stehen durch die Vollendung des europäischen Binnenmarktes, die Erweiterung der Europäischen Union und die jetzt diskutierte Liberalisierung der internationalen Dienstleistungsmärkte, wie sie durch die neue Welthandelsrunde der WTO im GATS angestrebt wird.

Herr Singhammer, Sie haben Vorstellungen zur Europäische Union und zum GATS angedeutet. Aber wo sind Ihre Vorschläge? Wo ist Ihre Analyse? Wo sind Ihre weiter reichenden Gedanken?

(Christian Lange (Backnang) (SPD): Fehlanzeige! - Horst Kubatschka (SPD): Fehlanzeige!)

- Fehlanzeige!

Auf dem enger gewordenen Inlandsmarkt wird die Luft ohne Zweifel dünner - das müssen wir feststellen -, nicht durch Dinge, die die Bundesregierung zu verantworten hat, sondern durch die Konkurrenz und die Wettbewerbslage. Wenn man mehr Menschen zur Selbstständigkeit ermuntert, dann entsteht auch mehr Konkurrenz. Darüber darf man sich nicht hinwegtäuschen, indem man auf der einen Seite Sonntagsreden hält und auf der anderen Seite der Frage nachgeht: Wie können wir das wieder umgehen und wie können wir die eine oder die andere Berufsordnung so gestalten, dass nicht mehr Konkurrenz entsteht?

(Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Wir wollen Wettbewerb!)

Hier besteht ein Widerspruch. Mehr Konkurrenz heißt auch: bei einem gleich bleibenden Markt geringeres Einkommen. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ob wir die Chancen auf dem europäischen Binnenmarkt wirksam nutzen - er wird bald eine halbe Milliarde Menschen umfassen und damit zum größten Konsumentenmarkt der Welt anwachsen -, hängt wesentlich von fünf Faktoren ab, bei denen Politik in der Tat eine Rolle spielt.

Der erste Faktor sind die Initiative und der unternehmerische Wagemut der Freiberufler selbst.

Der zweite Faktor ist die Unterstützung der Freiberufler durch ihre Berufsorganisationen, durch Information, durch Beratung und durch Förderung der Kooperation, zum Beispiel für Ingenieure und Architekten.

Den dritten Faktor bilden die Unterstützung durch die Auslandskammern und die politische Flankierung der Auslandstätigkeit, zum Beispiel die Förderung von Informationssystemen und Informationsveranstaltungen, Internetportalen, Beteiligung an Auslandsmessen. Sie müssen einmal darüber reden, welche Verbesserungen durch die Politik der Bundesregierung in den letzten vier Jahren geschehen sind, und sie sollten nicht nur herumjammern und völlig falsche Zahlen über die Steuerquote dieses Landes, von denen Sie selbst wissen, dass sie unrichtig sind, verbreiten.

(Beifall bei der SPD)

Wo waren denn unter Ihrer Regierung die hochrangigen Wirtschaftsdelegationen, in denen auch einmal Freiberufler vertreten waren? Als Sie regierten, waren doch nur die Manager der Großkonzerne dabei. Bei uns werden die Vertreter von kleinen und mittleren Unternehmen und die Vertreter der freien Berufe berücksichtigt. Das ist die richtige Antwort auf die Fragen der zunehmenden Internationalisierung.

(Carl-Ludwig Thiele (FDP): Aber nicht in der Gemeindefinanzreform!)

Der vierte und wesentliche Faktor lässt sich mit der Frage umschreiben, wie die freien Berufe ihr Auslandsengagement finanzieren wollen. Welche Bank ist denn heute noch bereit, das gewiss höhere Risiko, die längeren Anlaufkosten, die zum Teil schwierige Rechtslage für die Besicherung von Krediten bei relativ kleinen Darlehen auf sich zu nehmen? Hier gilt es im Rahmen der Auslandsfinanzierung nicht nur an die notwendige und richtige Exportabsicherung, zum Beispiel durch die Hermesversicherung oder die Kredite der KfW, zu denken, sondern neue Wege auch für das Auslandsengagement von Dienstleistern und Freiberuflern zu entwickeln.

Der fünfte und leider nicht unwesentliche Faktor, gerade für die Freiberufler, ist die politische Flankierung in Form von Rechtssicherheit für den im Ausland tätigen Betrieb. Wir wissen, wie wichtig die politische Unterstützung durch die Botschaften und die Bundesregierung angesichts der herrschenden Korruption und der fehlenden Rechtssicherheit ist.

All diese Faktoren sind wichtig und müssen von den Beteiligten gemeinsam berücksichtigt werden. Alle Betroffenen werden auch im kommenden Haushalt durch diese Bundesregierung aktiv unterstützt. Diese Unterstützung reicht von den Auslandsmessen bis zur Kooperation im Ausland.

Herr Minister, was die Finanzierung des Auslandsengagements gerade von kleinen und mittleren Betrieben angeht, muss man allerdings noch darüber nachdenken, wie man den in diesen Berufen tätigen Menschen hilft, damit sie die Chancen im erweiterten Binnenmarkt und im Ausland wahrnehmen können.

Wir haben noch ein weiteres Problem - Herr Singhammer hat das eben angesprochen, hat sich dazu allerdings nicht inhaltlich geäußert -, nämlich die neue Richtlinie der Europäischen Union bezüglich des grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs, die den Berufszugang und die Berufsausübung betrifft. Dieser soll auf der europäischen Ebene so erfolgen, wie das bisher nur auf der nationalen Ebene der Fall war.

Die Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarkts bei Dienstleistungen ist aber eine ungleich schwierigere Aufgabe als die eines gemeinsamen Binnenmarkts für Waren. Die Interessen der freien Berufe müssen gegenüber der Kommission nachdrücklich vertreten werden. Das tut die Bundesregierung.

(Beifall bei der SPD)

Ich sage ganz offen: Für die freien Berufe wird es neben der Möglichkeit, dass sie in Europa auftreten können, wesentlich wichtiger sein, dass wir die Frage der Berufsqualifizierung und die Frage der Qualität der Leistungserbringung genau klären.

Die Europäische Union und die Europäische Kommission machen bei ihren Vorschlägen zum grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr unseres Erachtens aber einen schweren Fehler und sind sehr widersprüchlich. Von der Kommission werden hierzu zwei völlig verschiedene Vorgehensweisen vorgeschlagen: Wenn sich ein EU-Bürger zur selbstständigen Berufsausübung in einem anderen Mitgliedstaat niederlassen will, dann muss er wie bisher die Nachweise seiner Qualifikation erbringen. Wenn dieser EU-Bürger aber seine selbstständige Tätigkeit im Weg des grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs anbieten will, dann kann er das bis zu vier Monaten ohne jeglichen Qualifikationsnachweis unter der Berufsbezeichnung seines Heimatlandes tun. Das ist unmöglich. Wir müssen die Gleichbehandlung sichern, da eine gleichmäßige Qualität sonst nicht zu garantieren ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Kontaktstellen, die die Kommission vorgeschlagen hat, führen schon innerhalb der Europäischen Union zu einem unglaublichen bürokratischen Aufwand; auf globalen Dienstleistungsmärkten sind sie schlicht nicht praktikabel. Ich sage das deswegen, weil die künftige europäische Richtlinie auch eine qualitative und quantitative Vorgabe für die neuen GATS-Verhandlungen ist.

Ich komme zum Schluss. Mit dieser Bundesregierung, uns Sozialdemokraten und unserem Koalitionspartner haben die freien Berufe einen guten Anwalt und einen Bündnispartner, um die Probleme der Zukunft gut zu bestehen und weiterhin ein wichtiges Potenzial für die deutsche Volkswirtschaft zu sein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Letzter Redner in der Debatte ist Jochen-Konrad Fromme, CDU/CSU-Fraktion.

Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will diese Diskussion aus dem Wolkenkuckucksheim in die Realität zurückholen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Carl-Ludwig Thiele (FDP) - Christian Lange [Backnang] (SPD): Wollen Sie wieder einmal alles schlechtreden?)

Die Grünen nehmen an dieser Debatte überhaupt nicht teil. Es hat zwar ein Vertreter der Bundesregierung von dieser Partei gesprochen, aber die Grünen haben sich verabschiedet.

Der Bericht enthält allerhand kluge Sätze; aber Anspruch und Wirklichkeit liegen, wie so häufig bei Ihnen, weit auseinander. Die Situation bei den freien Berufen ist ein Spiegelbild der wirtschaftlichen Lage. Das Problem ist: Die Wirtschaft und damit auch die freien Berufe liegen am Boden. Alle Fortschritte im Vermittlungsausschuss dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die eigentliche Arbeit, nämlich die Schaffung von mehr Arbeitsplätzen, noch vor uns liegt. Die Institute haben, wie man das in den letzten Tagen lesen konnte, vorhergesagt, dass die Wachstumserwartungen wieder zurückgehen, und zwar - das war die ausdrückliche Begründung - aufgrund der Regierungspolitik. Das Handeln der Regierung wirkt also wie ein Schuss gegen die freien Berufe und Sie reden alles schön.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Carl-Ludwig Thiele (FDP))

Schauen Sie sich einmal an, wie sich die Freiberufler in Hamburg bei einer Umfrage geäußert haben. Sie sprechen davon, Bürokratieabbau sei eines Ihrer großen Ziele. Kollege Lange, können Sie mir dann erklären, warum Sie die vereinfachte Buchführung für die Landwirte nach § 13 a gerade gestrichen haben? Können Sie mir erklären, warum Sie kurz vor der Sommerpause eine Erhöhung der Freigrenzen für die vereinfachte Buchführung abgelehnt haben? Sie waren es doch, die das 630-DM-Gesetz, das angebliche Bürokratiemonster, geschaffen haben, was den freien Berufen so große Arbeit gemacht hat. Wir mussten Ihnen eine Einigung hierzu im Vermittlungsausschuss mühsam abringen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie haben doch dieses Bürokratiemonster eingeführt.

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Schreien Sie doch nicht so!)

Meine Damen und Herren, Sie haben doch die Existenzgründung erschwert. Wenn der Verlustvortrag unter den Einkunftsarten nicht mehr möglich ist, dann ist es eben viel schwerer, sich selbstständig zu machen. Es waren doch in der Regel diejenigen mit gutem Einkommen aus unselbstständiger Tätigkeit, die die Anfangsverluste mit Steuerrückzahlungen finanziert haben. Das haben Sie gestrichen und nicht andere, meine Damen und Herren.

Sie haben doch dafür gesorgt, dass Steuerberater, Wirtschaftsprüfer und Konkursverwalter die einzig boomenden Branchen sind. Ihr einziges Steuerchaos führt doch dazu,

(Christian Lange (Backnang) (SPD): Immer schlecht reden!)

dass diese Leute Arbeit haben. Es führt zu immer mehr Konkursen und dazu, dass diejenigen, die keine Arbeit haben, auch nicht in Arbeit kommen und damit nicht mehr Arbeit für die freien Berufe entsteht.

(Christian Lange (Backnang) (SPD): Sagen Sie, was Sie wollen!)

Wer die Konsumkraft der Menschen mindert, wie Sie es über die Ökosteuer und andere Dinge gemacht haben, der braucht sich nicht zu wundern, wenn am Ende weniger Wirtschaftstätigkeit da ist. Weil weniger Arbeit da ist, können weniger Menschen beschäftigt werden. Diese Spirale haben Sie ständig nach unten angetrieben, anstatt für eine Umkehr zu sorgen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Klaus Brandner (SPD): Was wollen Sie? - Christian Lange [Backnang] (SPD): Sagen Sie doch mal, was Sie wollen!)

Sie sagen, Sie wollen eine Einkommen- und Körperschaftsteuerreform zugunsten des Mittelstandes machen. Dann frage ich Sie, warum am Ende der Mittelständler mit 53 Prozent Versteuerung dasteht und die Körperschaften mit 25 Prozent plus 13 Prozent Gewerbesteuer?

(Klaus Brandner (SPD): Jetzt sag mal, was du willst!)

Wer hat denn für Wettbewerbsungleichheit bei den Abschreibungen gesorgt?

(Carl-Ludwig Thiele (FDP): Richtig!)

Wir wollten überhaupt nicht, dass die Abschreibungszeiten verlängert werden, weil das innovationsfeindlich ist.

(Carl-Ludwig Thiele (FDP): Richtig!)

Sie haben es bei den allgemeinen Tabellen gemacht. Das betrifft überwiegend die Freiberufler. Als es dann um die Branchentabellen für die Großindustrie ging, haben Sie gesagt: Das machen wir nicht mehr. - Es ist doch nicht so, wie die Kollegin Scheel vor einigen Wochen auf eine Zwischenfrage von mir behauptet hat, dass wir die Abschreibungen hinsichtlich der Branchentabellen nicht wollten. Wir wollten gar nichts, weil es falsch ist und in die falsche Richtung geht. Wir wollten keine neuen Wettbewerbsverzerrungen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Christian Lange [Backnang] (SPD): Sie wollen gar nichts! Da haben Sie Recht!)

Meine Damen und Herren, Sie brüsten sich damit, dass Sie bei Basel II für gute Konditionen gesorgt haben. Ich erinnere mich noch daran, dass, als die Diskussion angefangen hat, der Kollege Dautzenberg im Finanzausschuss gesagt hat: Wir müssen uns um das Thema kümmern. - Das wollten Sie gar nicht. Sie sagten, das sei eine Einmischung in die Regierungsgeschäfte. Wenn Basel II in der ersten Version, so wie es der Finanzminister wollte, gekommen wäre, wäre das der Tod des Mittelstandes gewesen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Zurufe von der SPD)

Dass die Diskussion überhaupt so weit gekommen ist, verdanken Sie nur der Opposition.

Ich will Ihnen noch eines sagen: Die Freiberufler müssen im Laufe ihres Berufslebens ihre Altersversorgung erarbeiten. Durch Ihre Steuerpolitik sind das die Gekniffensten von allen. Sie wollten sie mit der Vermögensteuer zur Kasse bitten. Nun haben Sie das vor den Wahlen sozusagen ausgeklinkt und haben gesagt: Wir machen etwas anderes. - Ich kann Ihnen nur sagen: So wie Sie die Abgeltungsteuer machen wollen, wird das nie etwas. Denn das funktioniert nur, wenn es Vertrauen gibt.

(Carl-Ludwig Thiele (FDP): Richtig!)

Die Menschen fühlen sich in die Falle gelockt. Wenn Herr Stiegler sagt, na ja, zuerst müsse man den Steuersatz halten, aber sich nicht festlegt, dann ist das doch ein Signal dafür, dass Sie wollen, dass das Geld der Leute reinkommt, damit Sie sie erst richtig an den Kanthaken nehmen können.

(Beifall bei der FDP)

So kann es doch nicht sein. Der Herr Gabriel macht schon Wahlversprechen, weil er meint, 100 Milliarden Euro kämen zurück, das bringe 25 Milliarden Euro Steuern und 1 Milliarde Euro für Niedersachsen. Meine Damen und Herren, das sind Luftschlösser. Es wird genauso kommen, wie die "FAZ" vor einigen Tagen geschrieben hat. Das Thema Vermögensteuer ist nur auf Wiedervorlage gelegt. Denn Sie haben diese Diskussion immer geführt. Im vorigen Sommer, zu den Bundestagswahlen, musste die Diskussion weg. Dann haben Sie sie nach der Bundestagswahl wieder geführt. Jetzt musste sie wieder weg.

Ich kann Ihnen sagen: Die Menschen werden Ihnen das nicht glauben. Es gibt ein Sprichwort: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht.

(Widerspruch bei der SPD)

Was hat denn der Kanzler versprochen? - 6 Pfennig Ökosteuer sind genug. Inzwischen haben wir fünfmal 6 Pfennig plus Mehrwertsteuer. Jetzt haben wir die sechste Stufe Ökosteuer bekommen.

(Zurufe von der SPD)

Wie sieht es denn bei den Heilberufen aus? Der Kollege Parr hat es angesprochen. Wie sieht es denn bei den Landwirten aus?

(Zurufe von der SPD)

Wie sieht es denn bei den Kulturschaffenden aus?

(Carl-Ludwig Thiele (FDP): Sehr richtig!)

Die Kommunen haben kein Geld und können nichts mehr tun und deswegen können auch die Freiberufler nichts mehr tun.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Widerspruch bei der SPD)

Ich kann Ihnen sagen: Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen unserer Politik und Ihrer.

Sie sagen: Staatsquote rauf, immer mehr Steuern rein, das ist gut, und wer alles verfrühstückt, hat es am besten. - Das ist genau die falsche Politik. Denn wer Freiberufler will, der muss Leistung belohnen und der darf nicht alles "wegsteuern", der muss den Menschen Eigenkapital lassen, damit sie investieren können.

Vergleichen Sie einmal die Arbeitsstatistiken am Ende des Jahres miteinander Sie werden feststellen: Die Freiberufler, insbesondere die im Medizinsektor, müssen am Ende dieses Jahres Mitarbeiter entlassen, weil sie nicht mehr können. Sie werden Ihr blaues Wunder erleben.

Sie haben mit Ihrer Politik die Existenz der Freiberufler abgewürgt, so wie Sie die Konjunktur abgewürgt haben. Das sagt sogar VW. Sie haben die Konjunktur nicht befördert. Legen Sie bitte ehrliche Berichte vor.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Christian Lange (Backnang) (SPD): Wieder kein Konzept, sondern nur alles schlecht reden - das ist die CDU/CSU!)
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 16. Sitzung - wird morgen,
Freitag, den 20. Dezember 2002,
an dieser Stelle veröffentlicht.]
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/plenarprotokolle/15016
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