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15. Wahlperiode
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   19. Sitzung

   Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2003

   Beginn: 9.00 Uhr

   * * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *

   * * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *

   * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * * * *

Präsident Wolfgang Thierse:

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

   Da wir uns das erste Mal in diesem Jahr sehen, wünsche ich Ihnen allen ein freundliches, gutes und friedliches neues Jahr.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Wir erwidern das!)

   Die Fraktion der CDU/CSU teilt mit, dass der ehemalige Kollege Gerhard Scheu aus dem Stiftungsrat der Stiftung „Humanitäre Hilfe für durch Blutprodukte HIV-infizierte Personen“ ausscheidet. Als seine Nachfolgerin wird die Kollegin Dorothee Mantel vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist die Kollegin Mantel für den Stiftungsrat der Stiftung „Humanitäre Hilfe“ benannt.

   Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:

1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Haltung der Bundesregierung zu ihren verschlechterten Prognosen für das Wirtschaftswachstum in Deutschland im Jahr 2003 und der daraus geforderten Erhöhung der Neuverschuldung für den Bundeshaushalt

2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren (Ergänzung zu TOP 18):

Erste Beratung des von den Abgeordneten Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, Georg Brunnhuber, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Bundesfernstraßenfinanzierungs- und Managementgesellschaft (Bundesfernstraßenfinanzierungs- und Managementgesellschaftsgesetz - BFFuMGG) - Drucksache 15/299 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Haushaltsausschuss

3 Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer Funke, Daniel Bahr (Münster), Rainer Brüderle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes (6. StU-ÄndG) - Drucksache 15/313 -

Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss

4 Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Wahl der vom Deutschen Bundestag zu entsendenden Mitglieder des Kuratoriums der Stiftung „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ - Drucksache 15/304 -

5 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Anrufung des Vermittlungsausschusses zu dem Zwölften Gesetz zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (Zwölftes SGB-V-Änderungsgesetz - 12. SGB V ÄndG) - Drucksachen 15/27, 15/74, 15/76, 15/120, 15/298 -

6 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über die Beschäftigung schwerbehinderter Menschen im öffentlichen Dienst des Bundes - Drucksache 15/227 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

   Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.

   Weiterhin wurde vereinbart, Tagesordnungspunkt 10 - internationales Insolvenzrecht - vor Tagesordnungspunkt 9 - GATS-Verhandlungen - aufzurufen und über die bisher ohne Debatte vorgesehene Beschlussempfehlung zur Weitergeltung von Geschäftsordnungsrecht - Tagesordnungspunkt 19 b - heute als letzten Punkt der Tagesordnung zu beraten.

   Darüber hinaus mache ich auf nachträgliche Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:

   Der in der 16. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft zur Mitberatung überwiesen werden.

Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Seesicherheit optimieren - nationaler und europäischer Handlungsbedarf nach Tankeruntergang der „Prestige“ - Drucksache 15/192 -

Überwiesen:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Der in der 12. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Rechtsausschuss zur Mitberatung überwiesen werden.

Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Abbau von Steuervergünstigungen und Ausnahmeregelungen (Steuervergünstigungsabbaugesetz - StVergAbG) - Drucksache 15/119 -

Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Aussschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

   Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d auf:

a) Vereinbarte Debatte

40 Jahre Élysée-Vertrag - Zusammenarbeit und gemeinsame Verantwortung für die Zukunft Europas

b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP

Entwurf einer gemeinsamen Erklärung der Französischen Nationalversammlung und des Deutschen Bundestages zur interparlamentarischen Zusammenarbeit

- Drucksache 15/295 -

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Andreas Schockenhoff, Dr. Friedbert Pflüger, Peter Hintze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

40 Jahre deutsch-französischer Freundschaftsvertrag - für eine neue Qualität und Dynamik der deutsch-französischen Beziehungen

- Drucksache 15/200 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss

d) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

40 Jahre Élysée-Vertrag - Die deutsch-französische Zusammenarbeit fortentwickeln und in gemeinsamer Verantwortung für Europa die Zukunft mitgestalten

- Drucksache 15/296 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Franz Müntefering, SPD-Fraktion, das Wort.

(Beifall bei der SPD)

Franz Müntefering (SPD):

   Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 22. Januar 1963, also vor fast genau 40 Jahren, unterzeichneten ein Franzose, Präsident Charles de Gaulle, und ein Deutscher, Bundeskanzler Konrad Adenauer, den Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit, den Élysée-Vertrag. Heute würdigen wir dieses Jubiläum mit einer Debatte im Deutschen Bundestag. Aus dem damaligen Vertrag der Aussöhnung und über Zusammenarbeit ist ein Dokument der Freundschaft zwischen unseren Völkern geworden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Am Jahrestag in der kommenden Woche werden der Deutsche Bundestag und die Französische Nationalversammlung, also die frei gewählten Abgeordneten als Vertreter ihrer Völker, gemeinsam das Ereignis würdigen und in Versailles beieinander sein. Wir werden gerne dort sein und freuen uns darauf.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Dass sich die beiden Parlamente treffen, habe es noch nie gegeben; das haben manche in Deutschland in großen Buchstaben reklamiert. Richtig, das gab es noch nie. Gerade deshalb ist es so wichtig. Das sei vor allen Dingen Symbolik, wurde geschrieben. Richtig, das ist ein Symbol, aber ein gutes.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das koste viel Geld, wurde beanstandet. Richtig, das kostet viel Geld. Was für eine glückliche Zeit, in der sich Menschen über die Kosten eines gemeinsamen freundschaftlichen Jubiläums Deutschlands und Frankreichs erregen können und nicht über die Milliarden klagen müssen, die für Kriege zwischen unseren Völkern ausgegeben wurden!

(Beifall im ganzen Hause)

   Ich bin Jahrgang 1940. Ich habe noch als Kind gelernt, dass Franzosen unsere Feinde seien. Sie standen im Krieg meinem Vater gegenüber. Er kam Gott sei Dank heil zurück. Meine Generation hat dann gelernt, dass Franzosen, Briten, Amerikaner und all die anderen, die im Zweiten Weltkrieg Nazideutschland gegenüberstanden, nicht unsere Feinde sind, dass wir sogar Freunde werden können. Nun haben wir seit bald 58 Jahren Frieden an dieser Stelle in Europa.

Das gab es an dieser Stelle in Europa noch nie, zumindest über Jahrhunderte nicht. Wenn es diesen Frieden seit 58 Jahren nicht gäbe, dann würden wir heute nicht über Wohlstand und nicht über einen Sozialstaat auf hohem Niveau sprechen; wir hätten ganz andere Sorgen.

   Wir müssen uns daran erinnern, wie dieser Friede in Europa und der Wohlstand in Europa möglich wurden, und daran, dass diese Entwicklung kein Zufall ist, dass kluge, weitsichtige Menschen, auch verantwortliche Politiker, dabei eine große Rolle spielten. Nicht Politik allein, aber eben doch auch und im Wesentlichen Politik hat das bewirkt.

   Das gilt auch für die großen Herausforderungen, vor denen wir in dieser Zeit stehen. Politik kann nicht alles und es gelingt ihr nicht alles. Aber sie hat die Macht und die Kraft, Weichen zu stellen, zum Beispiel was die gute Zukunft Europas angeht, und daran wollen wir mitwirken.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir wissen, dass dieses Europa mehr als Deutschland und Frankreich und deren Freundschaft ist, dass aber diese Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich der unverzichtbare Fokus für diese historische Entwicklung war und bleibt. Diese Freundschaft ist nichts Exklusives; aber sie ist exemplarisch. Die deutsch-französische Zusammenarbeit bleibt für die Entwicklung Europas wesentlich.

   Im Frühjahr 1961, noch vor dem Élysée-Vertrag, war ich bei einem der ersten Bataillone der deutschen Bundeswehr, die in Frankreich zu Gast sein durften, in Mourmelon. Viele haben damals noch gezweifelt, ob das trägt und ob das geht: Deutsche in Uniform in Frankreich. Manche, auch in Frankreich, haben nicht klatschen mögen. Wir haben das verstanden, besonders als wir an den riesigen Feldern mit den vielen, vielen Kriegsgräbern der Opfer gedachten. Aber die Zeichen standen überall auf Freundschaft.

   Edith Piaf, Juliette Gréco, Jacques Brel faszinierten uns, auch wenn wir ihre Sprache nicht verstanden. Existenzialismus war Mode, aber auch viel mehr. Albert Camus und Jean-Paul Sartre beeindruckten und beeinflussten uns. Camus‘ „Der Mensch in der Revolte“ und „Der Mythos von Sisyphos“ haben eine ganze Generation deutscher Jugendlicher mit geprägt.

   Die deutsche und die französische Jugend standen beieinander und nicht mehr gegeneinander. Das Deutsch-Französische Jugendwerk hat diese große Idee in feste Form gebracht. Mehr als 7 Millionen Jugendliche haben im Rahmen dieses Jugendwerks seitdem das jeweils andere Land kennen gelernt. Diese Idee braucht immer wieder neue Impulse. Jede Generation muss das neu lernen und erleben: die anderen zu kennen und gute Nachbarn nach innen und nach außen zu sein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Am 23. Januar, nächste Woche, am Tag nach dem Zusammentreffen von Bundestag und Nationalversammlung in Versailles, werden Bundeskanzler Gerhard Schröder und Präsident Chirac hier in Berlin mit jungen Menschen aus Frankreich und aus Deutschland über die gemeinsame Zukunft diskutieren. Eine solche Veranstaltung ist längst nicht mehr sensationell; aber sie ist ein gutes Zeichen dafür, dass die Jugend und die Politik den Mut und die Ausdauer haben, die Freundschaft zwischen unseren Völkern zu festigen und auszubauen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich will für meine Fraktion ein Dankeschön sagen an die vielen großen und kleinen Kommunen in Deutschland und Frankreich, etwa 5 000 insgesamt, die lebendige Städtepartnerschaften pflegen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Da wird ganz unspektakulär Frieden, Freundschaft und Wohlstand sicherer gemacht. Diese inzwischen gute Tradition darf nicht zur Routine werden. Dieses Jubiliäumsjahr des Élysée-Vertrages ist eine gute Gelegenheit, der Idee der Städtepartnerschaften neue Impulse zu geben und die enge Verflechtung der zivilen Gesellschaften und auch der Wirtschaft zu stärken.

   Wir würdigen heute einen Vertrag, der in vielem die Ziele der Mitgliedstaaten der Europäischen Union vorweggenommen hat. 1963 verpflichteten sich beide Staaten auf die Koordinierung ihrer Außen-, Sicherheits-, Jugend- und Kulturpolitik. 1988 wurde diese Kooperation auf die Wirtschafts- und Währungspolitik erweitert. Ganz selbstverständlich haben sofort nach der deutschen Einheit Präsident Mitterrand und Bundeskanzler Kohl bekräftigt, dass der Élysée-Vertrag auch für das vereinte Deutschland Gültigkeit und großes Gewicht hat.

   Kernstück des Élysée-Vertrages war damals, eine gemeinsame Konzeption in der Außen- und Sicherheitspolitik zu entwerfen. Heute haben wir längst ein deutsch-französisches Korps, in dem eng und regelmäßig zusammengearbeitet wird.

   Wir sind darüber hinaus bei der gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik vorangekommen, auch wenn wir noch nicht am Ziel sind. Das gilt auch für die Wirtschafts-, Innen- und Rechtspolitik sowie für andere Politikbereiche.

   Im Dezember 2002 hat der Europäische Rat in Kopenhagen den Beitritt von zehn weiteren Ländern beschlossen - eine historische Entscheidung. Wir sind stolz, dass die deutsche Bundesregierung unter Führung von Bundeskanzler Gerhard Schröder einen so entscheidenden Beitrag dazu geleistet hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Aber auch das große Engagement der EU-Kommission und besonders des zuständigen Kommissars Günter Verheugen hat eine besondere Anerkennung verdient. Es ist gerade heute wichtig, daran zu erinnern, dass Günter Verheugen wegen seiner Verdienste um die Erweiterung am 9. Januar in Polen als Mann des Jahres ausgezeichnet wurde. Das wurde in Deutschland kaum registriert. Wir gratulieren ihm zu diesem außerordentlichen Ereignis ganz herzlich.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Jetzt beginnt der Abschluss des großen europäischen Projekts: die endgültige Überwindung der Teilung Europas. Zusammen mit Frankreich wollen wir dafür sorgen, dass das größer werdende Europa politisch erfolgreich geführt werden kann. Wir wollen eine europäische Verfassung, die Demokratie, Transparenz und Entscheidungsfähigkeit garantiert.

   Der EU-Konvent ist mitten in der Arbeit. Vor wenigen Tagen hat der Präsident des Konvents in der „Süddeutschen Zeitung“ über die zukünftige Verfassung für Europa geschrieben und einen Vorschlag für den Art. 1 einer solchen Verfassung gemacht:

... eine Union von Staaten und Völkern, die ihre Politiken eng miteinander abstimmen und auf föderale Weise bestimmte gemeinsame Zuständigkeiten wahrnehmen.

Sie alle wissen: Vieles wird noch zu konkretisieren sein; aber die Dinge kommen in Bewegung. Das gilt auch für die Frage nach den neuen Führungsstrukturen der EU.

   Bundeskanzler Schröder und Präsident Chirac haben sich verständigt und gemeinsam ihren Vorschlag unterbreitet für die Wahl des Präsidenten des Europäischen Rates durch den Rat und für die Wahl des Präsidenten der Kommission durch das Europäische Parlament. Es kann uns Abgeordnete nur freuen, dass das Europäische Parlament auch insofern an Kompetenz gewinnen soll.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Von herausragender Bedeutung wird auch sein, die richtige und belastbare Lösung der mit der Bündelung der außen- und sicherheitspolitischen Aufgaben verbundenen Probleme zu finden. Auch dazu gibt es einen Vorschlag Deutschlands und Frankreichs.

   Europa, seine neue Dimension, seine neue Verfassung, Europa als Voraussetzung für dauerhaften Frieden und für Wohlstand, all das wird eines der großen Themen deutscher Politik in den kommenden Monaten und auch in den kommenden Jahren sein und sein müssen.

   Keines der europäischen Länder wird seinen Wohlstand allein dauerhaft sichern können. Auch die größeren Länder in Europa, zum Beispiel Frankreich und Deutschland, werden dazu nicht in der Lage sein. Mit anderen Worten: Dieses Europa mit seinen rund 500 Millionen Menschen, mit seinen großartigen Potenzialen ist eine gewaltige Chance für die Zukunftsfähigkeit dieses Teils der Welt und eine Hoffnung weit darüber hinaus. Die gute Erfahrung, die wir Deutschen und die Franzosen mit dem Élysée-Vertrag gemacht haben, soll dabei Ansporn sein.

   Die bewährte Freundschaft zwischen Sozialdemokraten aus Deutschland und Sozialdemokraten und Sozialisten aus Frankreich wird dabei helfen. Die Spitzen unserer Fraktionen haben gestern hier, in Berlin, konferiert und noch einmal festgestellt: Keiner der beiden Staaten, keine der verschiedenen Nationen Europas konnte vor 40 Jahren vor den Herausforderungen einer Welt, die dem Gebot der damaligen Supermächte unterworfen war, im Alleingang bestehen. Das ist insgesamt auch heute so und es wird auch in Zukunft so sein. Die vielfältigen Anforderungen einer von scharfem Wettbewerb und dem Verlust politischer und ethischer Maßstäbe gekennzeichneten Welt machen das freundschaftliche und enge Zusammenwirken von Deutschland und Frankreich und allen europäischen Nationen unverzichtbar.

   Frieden und Demokratie zu bewahren, Wohlstand zu entwickeln, das europäische Sozialstaatsmodell zu erhalten, Chancengerechtigkeit zu gewährleisten, den Ärmsten der Welt zu helfen, das sind unsere gemeinsamen Aufgaben. Wir sehen die Europäische Union in einer Mitverantwortung für den Frieden in der Welt. Wir Abgeordneten verleihen unserer Hoffnung Ausdruck, dass es der internationalen Gemeinschaft gelingt, den Irakkonflikt friedlich zu lösen. Wir begrüßen die Aussagen, die Bundeskanzler Schröder dazu in diesen Tagen noch einmal gemacht hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Am 22. Januar werden der Deutsche Bundestag und die französische Nationalversammlung in Versailles gemeinsam und feierlich ihren Willen und ihre Entschlossenheit bekunden, unsere beiden Länder miteinander in eine gute Zukunft zu führen.

Zwischen all den Sorgen und Aufgaben, die dort in Frankreich und hier in Deutschland auf der politischen Tagesordnung stehen, ist das eine Nachricht, die Anlass für viel Zuversicht gibt.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

   Lieber Kollege Müntefering, da Sie uns das Vergnügen bereitet haben, an Ihrem Geburtstag hier eine Rede zu halten, möchte ich Ihnen sehr herzlich, wie ich denke, auch im Namen des Hauses, zu Ihrem Geburtstag gratulieren.

(Beifall)

   Ich erteile nun das Wort Kollegin Angela Merkel, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Angela Merkel (CDU/CSU):

   Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir feiern und debattieren heute über den 40. Jahrestag des Élysée-Vertrages und werden aus diesem Anlass auch in wenigen Tagen in Paris sein. Wir können feststellen: Er hat sich als das wichtigste Fundament der deutsch-französischen Zusammenarbeit nach dem Zweiten Weltkrieg und zugleich als eine der wichtigsten Grundlagen für Versöhnung, Zusammenarbeit und Frieden auf dem europäischen Kontinent erwiesen.

   Fünf Seiten schlichten Papiers - dennoch war es ein politisches Programm für die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich. Wenn man sich die einzelnen Punkte noch einmal anschaut, stellt man vielleicht nichts Ungewöhnliches fest: Im ersten Teil geht es um Abstimmung in den wichtigen Fragen der Außenpolitik einschließlich der Europapolitik, der Ost-West-Beziehungen, der NATO- und der UNO-Fragen - damals schon alles so aufgeschlüsselt - sowie der Entwicklungspolitik, in einem zweiten Teil um gemeinsame Ziele auf dem Gebiet der Verteidigungs-, der Rüstungspolitik und des Zivilschutzes. Also insgesamt ein Programm, das überschaubar ist.

   Für mich war es sehr interessant, dass von Anfang an als dritter Schwerpunkt auch die Förderung der deutsch-französischen Jugendarbeit und einer entsprechenden Zusammenarbeit beinhaltet war. Ich denke, der Jugendaustausch muss auch für die Zukunft der Kraftquell sein, aus dem heraus sich jede Generation das deutsch-französische Verhältnis wieder neu erarbeiten kann.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Wichtiger vielleicht als die einzelnen Punkte erschienen Adenauer und de Gaulle damals schon die dahinter stehenden politischen Überzeugungen zu sein, die in einer gemeinsamen Erklärung zu dem Vertrag dann auch sichtbar wurden:

… in der Überzeugung, dass die Versöhnung zwischen dem deutschen und dem französischen Volk, die eine Jahrhunderte alte Rivalität beendet, ein geschichtliches Ereignis darstellt, das das Verhältnis der beiden Volker zueinander von Grund auf neu gestaltet …

   Und weiter:

... in der Erkenntnis, dass die Verstärkung der Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern einen unerlässlichen Schritt auf dem Wege zu dem vereinigten Europa bedeutet, welches das Ziel beider Völker ist …

Auf der Basis dieser Grundüberzeugungen hat sich die deutsch-französische Kooperation in allen Partei- und Regierungsstrukturen der letzten Jahre bewährt und immer wieder entwickelt sowie alle Häme und alle Fragezeichen überwunden. Deshalb ist es unsere Aufgabe, diesen Jahrhundertvertrag auch weiter am Leben zu erhalten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Nun habe ich noch einmal nachgelesen: Damals war die Debatte um diesen deutsch-französischen Vertrag, der uns heute so einleuchtend erscheint, gar nicht so unkontrovers; denn eingebettet in eine konkrete weltpolitische Lage wurde natürlich durchaus und von allen Fraktionen gleichermaßen die Frage gestellt: Ist es richtig, dass wir in einer solchen weltpolitischen Situation einen bilateralen Vertrag zwischen Deutschland und Frankreich abschließen, oder geben wir damit vielleicht dem Bilateralismus zu viel Gewicht, sodass die atlantische Partnerschaft zurücktreten könnte? - Das ist ein Thema, das auch in der heutigen weltpolitischen Lage immer wieder eine Rolle spielt.

   Es war damals so, dass sich die französische Armee aus der militärischen Zusammenarbeit in der NATO zurückgezogen hatte, außerdem gab es das französische Veto gegen den Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft - zwei Vorgänge, die die Parlamentarier in Deutschland mit Recht beunruhigten. Adenauer mit seinem Sinn fürs Praktische ließ sich nicht beirren. Er stellte dem Ratifikationsgesetz flugs eine Präambel voraus, die die Dinge klarstellte - sehr zum Missfallen von Charles de Gaulle.

   Nun hatten diese historischen Kontroversen sicherlich ihre Bedeutung; aber heute haben sie nur noch den Wert einer Fußnote der Geschichte. Uns steht die Frage vor Augen: Welche Bedeutung hat dieser Vertrag für die Zukunft und wie können wir ihn immer wieder mit Leben erfüllen?

   Meine Damen und Herren, es ist unstrittig, dass es eine Vielzahl interessanter deutsch-französischer Kooperationen gibt. Als Beispiel nenne ich das Jugendwerk. Ich verbinde das mit der Bitte, dass dieses Jugendwerk nicht finanziell ausgezehrt wird; denn jede Generation muss sich die Kontakte neu erarbeiten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

- Das Klatschen von Herrn Müntefering stimmt mich hoffnungsfroh; ich hoffe, dass wir das Gleiche darunter verstehen. Dieses Deutsch-Französische Jugendwerk ist nämlich außerordentlich wichtig, um immer wieder junge Menschen zusammenzubringen. In einer Welt, die vielerlei Faszinationen, gerade kultureller Art, aus dem angloamerikanischen Raum bietet, ist es von Bedeutung, dass wir sowohl in Bezug auf die Sprachfähigkeit als auch das gegenseitige Verständnis, wie es Herr Müntefering eben für seine Jugendzeit dargestellt hat, stets deutsch-französische Impulse setzen.

   Wir haben den Fernsehsender Arte, wir haben deutsch-französische Hochschulen, wir haben die deutsch-französische Brigade. Es gibt also eine Vielzahl von Kooperationen. Unsere Volkswirtschaften sind stark miteinander verflochten. Das ist allerdings mit der Aufgabe verbunden, dafür zu sorgen, dass die deutsch-französische Kooperation Motor und nicht Bremser der europäischen Entwicklung ist und dass das gemeinsame Grundbekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft nicht häufig in schönen Vereinbarungen zur Verlangsamung von Privatisierungen und Staatseinflüssen genutzt wird. Dafür gab es in der Vergangenheit ungute Beispiele.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

   Deshalb müssen wir, wenn wir lebendige Beziehungen haben wollen, immer wieder kritisch schauen, ob die deutsch-französischen Beziehungen in Ordnung sind. Der französische Botschafter in Deutschland hat einmal gesagt, die Beziehungen hätten einen Teil ihres emotionalen Charakters verloren. Es ist wichtig, dass wir diesen emotionalen Charakter stets deutlich machen und mit Leben erfüllen.

   Weil sich Charles de Gaulle damals bei der Unterzeichnung der Präambel außerordentlich geärgert hatte, hat er, als er Deutschland im Juli 1963 besuchte, gesagt, dass Verträge wie Rosen und junge Mädchen seien, sie blühten nur einen Morgen und deshalb dürfe man an ihnen nicht herummachen.

(Heiterkeit im ganzen Hause)

- Ich dachte, als Frau kann ich mir leisten, das zu sagen.

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Adenauer griff diese Worte auf und antwortete: „Rosen und junge Mädchen, natürlich haben sie ihre Zeit; aber die Rose - davon verstehe ich nun wirklich etwas - überdauert jeden Winter.“ Der deutsch-französische Vertrag hat sich mehr als Rose denn als junges Mädchen erwiesen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Meine Damen und Herren, inzwischen - auch das will ich anmerken - ist es manchmal so, dass wir, gerade in Europa, froh sind, dass wir die französische Regierung haben. Als Beispiel aus jüngster Zeit will ich den Agrarkompromiss nennen. Er wäre sicher nicht so gut geworden, wenn nicht der französische Staatspräsident ein etwas besseres Herz für die Bauern hätte als der deutsche Bundeskanzler.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Widerspruch bei der SPD)

   Alfred Grosser hat auf die Frage, ob der Élysée-Vertrag neu geschrieben werden sollte, geantwortet: Um Gottes willen, nicht neu schreiben! Aber er hat auch gesagt, dass er sich vorstellen könne, dass man einen Satz hinzufügt, nämlich: Wir, der französische Präsident und der deutsche Kanzler, erkennen an, dass unser hauptsächliches nationales Interesse die Vertiefung der Europäischen Gemeinschaft ist.

   Ich glaube, dieser Satz ist von außerordentlicher Bedeutung. Ich teile ihn uneingeschränkt.

   Die Frage, wie es mit Europa weitergeht, hängt natürlich von Deutschland und Frankreich ab. Ich bin sehr dafür, Herr Bundeskanzler und Herr Bundesaußenminister, dass Sie immer wieder versuchen, gerade zusammen mit Frankreich Motor der europäischen Einigung zu sein. Da gab es schlechtere Zeiten. Im Augenblick haben wir wieder etwas fruchtvollere Zeiten. Ich bitte Sie aber auch, dass die Schicksalsfragen im Zusammenhang mit der Entwicklung der Europäischen Union wieder vorher im überparteilichen Konsens geklärt werden. Diese Tradition scheint in letzter Zeit verloren gegangen zu sein

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir sind bereit, diese Dinge im Vorfeld zu klären. Aber man muss auch mit uns sprechen.

   Ich hätte eigentlich erwartet, dass Sie sich mit den Konventmitgliedern der Bundesrepublik Deutschland - natürlich gibt es keinen Zwang, sich zu einigen - einmal darüber austauschen, in welcher Art und Weise wir ein möglichst großes Stück des gemeinsamen Weges gehen könnten, was die Konventvorschläge anbelangt. Dasselbe hätte für die Frage der EU-Mitgliedschaft der Türkei gegolten. Da ist das Kind aber leider bereits in den Brunnen gefallen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Ernst Burgbacher (FDP) - Michael Glos (CDU/CSU): Wir werden es wieder herausholen!)

   Die Geschichte des deutsch-französischen Vertrages ist die Geschichte von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer. Es ist die Geschichte von Helmut Schmidt und Giscard d'Estaing. Es ist die Geschichte von Helmut Kohl und François Mitterrand. Es ist die Geschichte, die immer auf einem breiten Konsens in unseren beiden Völkern beruht hat. Damit es auch weiterhin eine gute Geschichte ist, sollte dieses Bemühen um eine gemeinsame, breite Grundlage nicht verloren gehen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Lassen Sie mich das, was Sie in Bezug auf den Konvent vereinbart haben, von meiner Seite kurz kommentieren.

   Erster Punkt. Es ist zu begrüßen, dass der zukünftige Kommissionspräsident vom Parlament gewählt werden soll. Das ist eine Forderung, die wir seit langem aufgestellt haben. Ich möchte an dieser Stelle nur die Anmerkung machen, dass man aufpassen muss, dass das Quorum für die Wahl durch das Parlament nicht so hoch gesetzt wird, dass letztendlich die Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger bei der Europawahl, auf der die Zusammensetzung des Parlaments beruht, völlig nivelliert wird; denn ein sehr hohes Quorum würde sozusagen eine gemeinschaftliche Regelung bewirken.

   Zweiter Punkt. Wir waren erstaunt, dass der Vorschlag, nämlich einen ständigen Ratspräsidenten zu installieren, den Sie bisher mit relativ großer Skepsis betrachtet haben, nun ein gemeinsamer Vorschlag ist. Ich will an dieser Stelle aber sagen, dass wir aufpassen müssen, dass ein solcher ständiger Ratspräsident nicht der heimliche Herrscher über alle Institutionen Europas wird, und dass wir dafür sorgen müssen, dass das Verhältnis zum Kommissionspräsidenten auf festgelegten Zuständigkeiten beruht. Denn der Sinn des Konvents besteht darin - das darf bei Diskussion über die Institutionen nicht vergessen werden -, die Zuständigkeiten zwischen Europa und den Nationalstaaten insgesamt klar zu regeln. Es gilt also, die neuen Überlegungen in das Gesamtkonzept für die Neuordnung der EU-Institutionen einzubetten. Es darf deshalb nicht sein, dass der ständige Ratspräsident Dinge außerhalb seiner Zuständigkeit entscheidet und so den Kommissionspräsidenten in seiner Arbeit behindert.

   Es ist auch erfreulich, dass die Kommissare offensichtlich Weisungsrechte bezüglich ihrer Generaldirektion bekommen sollen. Ich begrüße das außerordentlich, weil damit klarere Verhältnisse geschaffen werden. Aber beim ständigen Ratspräsidenten stelle ich mir die praktische Umsetzung relativ schwierig vor, weil er natürlich schnell sozusagen ein Herrscher ohne Unterbau sein könnte. Man muss sich fragen, woher er diesen Unterbau nimmt: entweder durch eine Aufblähung des Ratssekretariats, was ich nicht begrüßen würde, oder durch ein Hineinregieren in die Kommission, was ich für genauso falsch hielte. Über diese Fragen sollten wir ehrlich sprechen, damit wir später sowohl geklärte Zuständigkeiten, was die Sachaufgaben angeht, als auch geklärte Zuständigkeiten, was die Institutionen anbelangt, haben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Wir begrüßen es, dass es nunmehr eine deutsch-französische Gemeinsamkeit in der Frage der Außenvertretungen der Europäischen Union gibt. Allerdings sage ich auch: Bei allem intergouvernementalen Charakter der Außen- und Sicherheitspolitik wird es wichtig sein, dass die Persönlichkeit, die diese Funktion ausübt, auch die Chance hat, in der Kommission Einfluss zu haben, dass der Kommissionspräsident weiterhin die Außenvertretung der Europäischen Union übernimmt und dass diese Zuständigkeit nicht klammheimlich Richtung Rat wandert. Auch das wird ganz wichtig sein.

   Meine Damen und Herren, deshalb hoffen wir, dass wir in die Diskussionen der deutschen und der französischen Regierungen in Zukunft besser mit einbezogen werden. Ich glaube, es kann der Arbeit im Konvent nicht schaden. Es ist in anderen Ländern Usus, dass man versucht, die nationalen Interessen durch gemeinschaftliche Konsultationen vorher zu regeln. Deshalb möchte ich angesichts von 40 Jahren erfolgreicher deutsch-französischer Kooperation diesen Wunsch hier in aller Klarheit anmelden.

   Wir werden in der nächsten Woche nach Paris fahren. Ich glaube, dass angesichts des besonderen Charakters des deutsch-französischen Verhältnisses diese Reise des Parlaments angemessen ist, wenngleich sie eine Ausnahme bleiben sollte. Darüber sind wir uns aber auch einig. Ich glaube, es ist gut, dass es gerade auch mit jungen Menschen Diskussionen in unserem Land geben wird, die daraus etwas über das deutsch-französische Verhältnis lernen können.

   Ich bin der festen Überzeugung, dass Deutschland und Frankreich auch in Zukunft der Motor bleiben müssen, äußere allerdings einen allerletzten Wunsch: Mit der Erweiterung der Europäischen Union wird es noch wichtiger sein, dass Deutschland und Frankreich als Motor einer europäischen Einigung auch die Fähigkeit aufbringen, kleine Länder ernst zu nehmen. Deutsch-französische Kooperation darf woanders niemals so gesehen werden, dass kleine Länder kein wirkliches Mitspracherecht mehr haben. Darauf müssen wir achten, auch bei den weiteren Arbeiten im Konvent sowie in der sich anschließenden Regierungskonferenz.

   Ich glaube, es ist richtig, dass unser Parlament diese Debatte heute führt, und ich hoffe, sie ist zum Wohle des deutsch-französischen Verhältnisses.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

   Ich erteile das Wort Kollegin Krista Sager, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

   Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 81 Prozent der Franzosen und 86 Prozent der Deutschen halten gute deutsch-französische Beziehungen für wesentlich und wichtig. Aber diese nüchternen Zahlen sagen kaum etwas darüber aus, wie weit der Weg gewesen ist, den die ehemaligen Erbfeinde Deutschland und Frankreich erfolgreich hinter sich gebracht haben. Um die Bedeutung des Élysée-Vertrages, der die deutsch-französische Zusammenarbeit auf eine neue, einzigartige Grundlage gestellt hat, tatsächlich ermessen zu können, muss man schon einen Blick auf die Zeit vor 1963 werfen. Es ist aufschlussreich, was de Gaulle 1944 über Deutschland sagte:

Ein großes Volk, das aber ständig auf Krieg ausgerichtet ist, weil es nur davon träumt, zu herrschen, das immer bereit ist, denen, die ihm Eroberungen versprechen, bis zum Verbrechen zu folgen, das ist das deutsche Volk.

Das ist hart, aber es macht auch den Ausgangspunkt für die französische Annäherung deutlich. Es stellte sich die Frage: Was tun mit Deutschland, in der Mitte Europas, nach zwei verheerenden Weltkriegen und nach dem nationalsozialistischen Massenmord? Diese Frage stellten sich nicht nur die französischen Nachbarn.

   Es waren interessanterweise französische und deutsche Opfer des Nationalsozialismus, aber auch Männer wie Jean Monnet und Robert Schuman, die noch vor de Gaulle und noch vor Adenauer erkannten, dass die Antwort auf diese zentrale Frage nur in der europäischen Integration liegen konnte. Als Voraussetzung für diese Integration sollte die enge deutsch-französische Partnerschaft dienen. Dass wir heute auf Jahre des Friedens, der Sicherheit und des Wohlstands in Europa zurückblicken können, ist in erster Linie dem strategischen Weitblick, aber auch dem politischen Mut dieser Männer zu verdanken, vor allen Dingen unseren französischen Nachbarn.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Dieser strategische Weitblick, diese Vision eines vereinten Europas ermöglichte erst das Hineinwachsen Deutschlands in die Gemeinschaft der demokratischen Staaten und Völker. Die Vision von der Integration des großen Deutschlands in eine noch größere Gemeinschaft machte es überhaupt erst möglich, die Angst vor Deutschland zu überwinden, und gab außerdem eine Antwort auf die Frage: Wie können wir die jahrhundertealte Geißel des Nationalismus in Europa überwinden?

   Mit dieser Antwort konnte man sich auch davon befreien, Deutschland dauerhaft schwach oder geteilt halten zu müssen. Man konnte Deutschland als starken Partner für Sicherheit und Wohlstand in Europa akzeptieren. Die Unterstützung dieses Integrationsprozesses durch Frankreich hat letztlich überhaupt erst den Weg für die deutsche Wiedervereinigung geebnet. Auch dafür sollten wir heute dankbar sein.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Nicht Nationalismus und Abschottung, sondern Versöhnung und Partnerschaft sind die Kernmotive der deutsch-französischen Bezeichnung. Diese Kernmotive sind auch heute noch Richtschnur dafür, wie wir mit den osteuropäischen Staaten nach Überwindung der Blockkonfrontation umgehen. Sie liefern uns immer noch die Hinweise auch dafür, wie wir mit den Konflikten auf dem Balkan umgehen, wo erneut die europäische Geißel, nationalistischer Auseinandersetzungen und ethnischer Verfolgungen mitten in Europa entflammt ist.

   Frieden, Wohlstand und Sicherheit sind durch Annäherung und Partnerschaft tatsächlich erreichbar. Tiefe Antagonismen und Nationalismen können tatsächlich überwunden werden. Das durften wir durch die deutsch-französische Partnerschaft lernen und diese Erkenntnis können wir heute in Europa gemeinsam in die Bewältigung der anstehenden Aufgaben einbringen.

   Für diese Ziele brauchen wir auch weiterhin die Vertiefung und die Erweiterung des europäischen Integrationsprozesses. Lassen Sie mich eines zum Thema der Erweiterung sagen: Aus den Reihen der Opposition wird gefordert, die Grenzen der Europäischen Union zu definieren. Ich behaupte: Niemand kann derzeit die Finalität der EU definieren. Der Erweiterungsprozess ist nicht abgeschlossen. Prodi hat zu Recht in Athen formuliert: Die Tore der EU sind offen für den Balkan. Ob der Kandidat dann aufgenommen wird, hängt von der Erfüllung der wirtschaftlichen Bedingungen und der politischen Grundwerte ab.

   Lassen Sie mich an dieser Stelle auch sagen: Diese Grundwerte, das, was die europäische Wertegemeinschaft ausmacht, und nicht nur Wohlstand und Sicherheit sind für die Beitrittsländer und -kandidaten besonders attraktiv. Diese Werte sind entscheidend französisch geprägt. Sie beruhen auf den Werten der Französischen Revolution, der Aufklärung, der Deklaration der Menschenrechte, der Tradition des französischen Geisteslebens und der Rechtsstaatlichkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Dass Deutschland und Frankreich gemeinsam Motor und Impulsgeber für diese Werte sein konnten, ist darauf zurückzuführen, dass sie ihre Spaltung überwinden konnten. Deswegen müssen wir aufpassen, dass die Erweiterung der Gemeinschaft nicht eine neue politische Spaltung auf unserem Kontinent hervorruft. Das sage ich besonders all denjenigen, die jetzt nach einer Definition der Grenzen verlangen.

   Frau Merkel, Sie haben das Stichwort Türkei angesprochen. Die CDU hat in ihrer Göttinger Erklärung eine Beitrittsperspektive für die Türkei ausgeschlossen. Dazu sage ich Ihnen: Der Geist des Élysée-Vertrages ist ein anderer. Der Geist des Élysée-Vertrages ist: Kooperation und Integration statt Antagonismus. Das ist die Botschaft.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Natürlich geht es um die Erfüllung der Beitrittskriterien. Aber stellen wir uns einmal vor, wir hätten in den frühen 60er-Jahren über den Vorschlag diskutiert, ob man vor dem deutsch-französischen Vertrag nicht erst einmal in Frankreich eine Abstimmung darüber durchführen sollte, wie es die Franzosen mit den Deutschen halten. Frau Merkel, ich bin froh, dass Sie dem Vorschlag eines deutschen Referendums über den Beitritt der Türkei entgegengetreten sind. Aber Sie hatten dafür eine falsche Begründung. Sie wollen den Deutschen nicht das Recht geben, Volksentscheide und Volksbegehren durchzuführen. Dies passt nicht in die Zeit; dies ist eine falsche Begründung. Sie hätten mit Blick auf das Jahr 1963 lernen können, wie de Gaulle und Adenauer Ressentiments entgegengetreten sind, sie nicht befördert haben und wie sie ihre Völker auf dem Weg, Antagonismen zu überwinden, den sie für richtig erkannt haben, mitgenommen haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Zu Recht ist hier auch das Deutsch-Französische Jugendwerk besonders hervorgehoben worden. Gerade wenn man das als besonders vorbildlich sieht, dann müsste man heute eigentlich eher darüber nachdenken, wie man die deutsch-türkischen Austauschbeziehungen vertieft, nicht aber, wie man in diesem Zusammenhang Unüberbrückbarkeiten besonders betont.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Meine Damen und Herren, dass die deutsch-französische Zusammenarbeit nach wie vor als Motor für den europäischen Prozess funktioniert, haben wir gerade vorgestern durch die Vorschläge des deutschen Bundeskanzlers und des französischen Staatspräsidenten erlebt. Natürlich geben diese Vorschläge nicht auf alle Fragen eine Antwort - diese Fragen werden im Konvent auch weiter diskutiert werden müssen -, aber sie sind ein Kompromiss, um Europa handlungsfähiger, demokratischer und für die Bürgerinnen und Bürger transparenter zu machen.

(Beifall des Abg. Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD))

Ich bin ganz sicher, dass wir diesen Weg weiter gehen werden. Es gibt doch nichts Schöneres als die Vorstellung, dass der europäische Konvent in dem Jahr, in dem wir das 40-jährige Jubiläum des deutsch-französischen Vertrages feiern, eine Verfassung und eine Grundrechtscharta vorlegt. Das wäre doch wirklich die schönste Würdigung dieses deutsch-französischen Vertrages, die wir uns überhaupt vorstellen können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Meine Damen und Herren, die Befürchtung de Gaulles, der deutsch-französische Vertrag führe zu einem Widerspruch und Frankreich könne mit den gleichzeitigen transatlantischen Beziehungen nicht leben, hat sich zum Glück nicht bewahrheitet. Alle Befürchtungen, der deutsch-französische Vertrag schlösse aufgrund seiner Besonderheit weitere Partner aus dem Integrationsprozess aus, haben sich schon gar nicht bewahrheitet. Ich finde es richtig und gut, dass gerade vorgestern Frankreich und Deutschland ihre besondere Rolle auch mit Blick auf die gewachsene internationale Verantwortung Europas wahrgenommen haben.

   Natürlich ist es wichtig gewesen, dass Bundeskanzler und Staatspräsident hierbei deutlich gemacht haben, dass wir auch eine besondere Verantwortung für den Frieden in der Welt haben. Dies heißt, dass die Arbeit der Waffeninspekteure eine Chance haben muss und wir in dieser Hinsicht jede Möglichkeit nutzen müssen, eine militärische Auseinandersetzung im Irak zu verhindern. Auch das ist ein angemessener Beitrag Deutschlands und Frankreichs zu einer größeren Verantwortung Europas für den Frieden in der Welt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Frau Merkel, Sie haben zu Recht auf den Satz von de Gaulle hingewiesen, der deutsch-französische Vertrag sei wie die jungen Mädchen und wie Rosen, die nur einen Sommer blühen. Vielleicht sollte man, weil gerade die Franzosen angeblich von Wein und Frauen besonders viel, angeblich mehr als die Deutschen, verstehen,

(Widerspruch des Abg. Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU) - Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Das sind alles Experten!)

den deutsch-französischen Vertrag eher mit gutem Wein und gereiften Frauen vergleichen: Beide wachsen mit den Jahren in ihrer Substanz, beide werden von Jahr zu Jahr immer gehaltvoller und besser.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

   Ich erteile dem Kollegen Wolfgang Gerhardt für die FDP-Fraktion das Wort.

Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):

   Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist nicht nur ein nüchternes Vertragswerk, über dessen Zustandekommen man hier diskutieren kann. Der Élysée-Vertrag ist eine historische Leistung ohne Beispiel.

(Beifall bei der FDP)

Er erwuchs aus der unglückseligen Geschichte dieser beiden großen Völker mitten auf dem europäischen Kontinent. Diese Geschichte der unglückseligen Verkettung der Erbfeindschaften hat Herr Müntefering sehr gut dargestellt; er hat dies zu Recht mit seinem persönlichen Beispiel verwoben. Er ist ein Jahrgang, gar nicht weit von mir entfernt, der beim Aufwachsen in seiner Familie das Glück erlebte, dass sein Vater zurückkam; mein Vater ist in Frankreich beerdigt. Daraus können wir beide wohl schätzen, was ein solches Vertragswerk bedeutet. Es hat die größte Friedensperiode geschaffen, die heute viele vergessen - über die Selbstverständlichkeiten wird ja nicht mehr geredet -; es versetzt die beiden Völker und deren Repräsentanten in die Lage, auf europäischer Ebene Impulse zu geben und Schritte zu realisieren, die nach Ende der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges niemand erwartet hatte.

   Natürlich gab es Rückschläge. Nicht jede Gipfelveranstaltung war ein großer Erfolg, aber bei den entscheidenden qualitativen Schritten der Europäischen Union sind Frankreich und Deutschland die Impulsgeber gewesen. Dabei gab es langwierige Verhandlungen, die zu schwierigen Kompromissen führten. Die Ergebnisse wurden aber von anderen als akzeptabel empfunden, weil sie wussten, dass zwischen uns, zwischen den Deutschen und den Franzosen, oft viele psychologische nationale Unterschiede bestehen. Die Verhaltensweisen, die Mentalitäten sind oft anders, aber die Anstrengungen, zu einem Kompromiss zu kommen, werden so respektiert, dass sie auch für andere akzeptabel sind.

   Das ist das tiefe Geheimnis vieler gemeinsamer Vorschläge von Deutschland und Frankreich. Gerade in der Unterschiedlichkeit liegt die Chance, dass erreichte Verständigungen für die anderen akzeptabel sind.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Ein Grundsatz soll für uns gelten: Wir dürfen uns dabei gegenseitig nicht überfordern und wir müssen anderen gegenüber sensibel sein. Es ist gelungen, dass vielen das deutsch-französische Vertragswerk und die deutsch-französische Freundschaft nicht nur als ein Stück diplomatischer Vernunft oder notwendiger Zusammenarbeit erscheinen. Es ist wahr, dass die Partnerschaften - die Städtepartnerschaften, der Jugendaustausch und die vielfältigen Begegnungen - wirklich zu einem Fundament unterhalb der Ebene der Begegnungen von Wirtschaft, Verbänden und Politik geworden sind.

   Trotzdem empfinden wir, dass wir einen neuen Anstoß geben müssen. Mit Blick auf die europäischen Gipfel der letzten Jahre muss ich für meine Fraktion und mich ohne Vorwurf sagen, dass von ihnen schwächere Impulse als von früheren Veranstaltungen ausgegangen sind.

   Im Übrigen stehen wir nicht nur vor europäischen Herausforderungen: Es wird weiterhin kontrovers bleiben, ob wir eine Ratspräsidentschaft über einen längeren Zeitraum wollen oder ob es nicht besser wäre, die Kommission, den Kommissionspräsidenten und das Europäische Parlament zu stärken, um darin den entscheidenden Ansatzpunkt zu finden. Es ist natürlich auch eine Herausforderung, über Staatsanwaltschaften, Grenzpolizei, Verteidigungspolitik und vieles andere in Europa zu reden.

   Ich will aber wegen der Kürze der Zeit gleich auf das Wesentliche zu sprechen kommen: Die Bundesregierung hat sich bisher im Hinblick auf die Resolution 1441 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen betreffend den Irakkonflikt und die Chance, Saddam Hussein durch Inspektoren zur Offenlegung und gegebenenfalls zur Vernichtung von Massenvernichtungswaffen zu bringen, etwas missverständlich und in der Person des Bundesaußenministers reichlich sibyllinisch geäußert.

   Der Bundeskanzler hat - wir nehmen Sie, Herr Bundeskanzler, gern beim Wort - in dieser Woche erklärt, dass die europäischen Partner auf eine zweite Entschließung hinarbeiten müssen und er das auch für vernünftig halte. Die gesamte Bundestagsfraktion der Freien Demokraten stimmt Ihnen in dieser Äußerung ausdrücklich zu.

(Beifall bei der FDP)

   Nach 40 Jahren Élysée-Vertrag, nach den geglückten Erfahrungen deutsch-französischer Verständigung in bedeutsamen qualitativen europäischen Fragen und in der Überzeugung, die Sie nun geäußert haben, dass eine europäische Abstimmung, zumindest aber eine gemeinsame französisch-deutsche Bewertung des weiteren Vorgehens in der Irakfrage nicht nur wünschenswert, sondern unverzichtbar ist, möchte ich Sie ausdrücklich auffordern, bei dieser Position zu bleiben und eine enge, verantwortungsbewusste Abstimmung mit Frankreich herbeizuführen und - das füge ich ausdrücklich hinzu - beizubehalten.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Auch Helmut Schmidt hat das heute Morgen vorgeschlagen. Ich wiederhole das hier deshalb, damit wir uns richtig öffentlich auseinander setzen und die Chance eines solchen Freundschaftsvertrags mit Frankreich in der Frage „Krieg oder Frieden“ - so stellen Sie es immer dar - nutzen.

   Dabei - das möchte ich ausdrücklich sagen - möchte ich in dieser Debatte den großen Respekt aller Mitglieder der Fraktion der Freien Demokraten hier im Bundestag gegenüber dem französischen Staatspräsidenten erwähnen. Er hat nach unserer Überzeugung durch seine Verhaltensweise, sein Verhandeln, seine klare Aussprache, aber auch durch sein transatlantisches Bewusstsein stark persönlich dafür gesorgt, dass die Entscheidung eine Aufgabe des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen geworden ist und dort auch bleibt. Diese ausdrückliche Haltung sollten wir respektieren.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Diese Haltung ist nicht daraus entstanden, dass man beiseite stand, sondern daraus, dass man sich eingemischt hat und im Dialog geblieben ist. Deshalb sage ich: Es gibt nicht nur europäische Herausforderungen für die deutsch-französische Freundschaft. Es gibt heute internationale Herausforderungen mit für unser Land und für die beiden Völker hervorragenden Wirkungen.

   Angesichts einer solchen Debatte und angesichts des wichtigsten Punktes, des Themas „Krieg oder Frieden“, möchte ich die Chance nutzen, dem Bundeskanzler und der gesamten Bundesregierung zu sagen: Es sollte nichts unversucht gelassen werden, aus der deutsch-französischen Freundschaft die Kräfte zu bündeln, jetzt gemeinsame diplomatische Initiativen zu entwickeln und zu ergreifen sowie gemeinsame Verantwortung deutlich werden zu lassen, bis hin zu der Bereitschaft, bei einer gemeinsamen Verständigung dann auch entsprechend gemeinsam abzustimmen. Freundschaft und Klugheit gebieten dies ganz einfach bei einem solchen Vertragswerk, bei dessen Bedeutung und dessen Chancen.

   Ich sage mit Dank für Ihre Aufmerksamkeit: Ich glaube, beide Völker erwarten dies auch von uns. Damit wäre für eine überzeugende Position der deutschen Bundesregierung in enger Abstimmung mit dem französischen Nachbarn ein Weg zu gehen, der akzeptabel und chancenreich wäre, der immer den Krieg als letztes Mittel ansieht und vorher alles aus eigenen Kräften versucht, ihn zu vermeiden. Sie sollten diesen Weg gehen. Dann könnten Sie auf die Freien Demokraten hier in der Opposition bauen. Wir würden Sie dabei unterstützen.

   Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

   Ich erteile nun dem Bundesminister Joseph Fischer, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen:

   Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir stehen vor dem 40. Jahrestag des Élysée-Vertrages, eines Freundschaftsvertrages zwischen unserem Land und der Französischen Republik. Es ist ein Freundschaftsvertrag, kein Friedensvertrag, aber dieser Vertrag hat wesentlich zur Institutionalisierung eines dauerhaften Friedens in Europa beigetragen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Insofern stimme ich allen zu, die diesen Vertrag einen historischen Vertrag, einen Jahrhundertvertrag genannt haben, denn dies war er tatsächlich.

   Franz Müntefering hat aus seiner Biografie heraus nochmals die frühere Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich benannt. Gerade als Außenminister begegne ich oft Gesprächspartnern, die sich noch exakt in einer solchen Situation befinden. Erst jüngst fiel mir dies wieder ein, als ich mit dem armenischen Staatspräsidenten gesprochen habe. Dabei ging es um einen ähnlichen Konflikt in Bergkarabach, um einen Konflikt, bei dem zwei Völker, zwei Nachbarn um dasselbe Territorium streiten, jeweils mit historischer Legitimität begründet. Dabei fiel mir ein, welche Bedeutung die deutsch-französische Freundschaft, die deutsch-französische Aussöhnung für den Frieden auf unserem Kontinent tatsächlich hat.

   Wir dürfen nicht vergessen - Franz Müntefering hat es genannt, ich kann es biografisch nur unterstreichen -: In meiner Schulzeit wurden die Lehrer noch nach Erbfeindschaften eingeteilt. Da gab es diejenigen, die die Russen, diejenigen, die die Angloamerikaner, und natürlich immer wieder diejenigen, die die Franzosen als Erbfeinde begriffen haben. Hierauf beruhte die Einteilung. Dies klingt heute bereits wie eine Geschichte aus einer längst vergangenen Zeit. Auch dies ist eine der großen Leistungen, die der deutsch-französische Freundschaftsvertrag, der Élysée-Vertrag, erbracht hat: die Selbstverständlichkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Denken wir doch einmal daran, was gerade diese Grenze im deutschen Südwesten an Unglück für die dortige Region, für Baden und für Rheinland-Pfalz und immer wieder auch für das Saarland bedeutet hat und mit welcher Selbstverständlichkeit diese Grenze staatsrechtlich heute noch existiert, aber faktisch die Menschen nicht mehr trennt, sondern in einem gemeinsamen Europa längst durchlässig geworden ist. Hierfür hat der Élysée-Vertrag Wesentliches geleistet.

   Meine Damen und Herren, die deutsch-französische Aussöhnung war auf dem Hintergrund der Selbstzerstörung des europäischen Staatensystems möglich. Das Gleichgewicht der Mächte wurde in zwei großen Kriegen im 20. Jahrhundert, die vor allen Dingen von Deutschland und Frankreich geführt wurden, endgültig zerstört. Auf dem Hintergrund dieser Erfahrung haben zwei großartige Staatsmänner, nämlich Robert Schuman und Jean Monnet, die Idee eines anderen Prinzips gehabt: gründend auf der deutsch-französischen Aussöhnung die Integration der Interessen herbeizuführen.

   Sie begannen mit der Wirtschaft, aber sie hatten natürlich auch die Kultur und vor allen Dingen die Politik im Kopf. Das setzte voraus, dass Deutschland und Frankreich zusammenarbeiten, dass diese Erbfeinde gewissermaßen zu Erbfreunden werden. Das war und - ich unterstreiche das - das ist bis zum heutigen Tag die Grundlage, auch in einer erweiterten Union. Das ist der eigentliche Charakter des deutsch-französischen Vertrages.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Diese Vision in Politik umzusetzen war von Anfang an die große Leistung von Konrad Adenauer, von Willy Brandt, von Helmut Schmidt, auch von Helmut Kohl und jetzt von Gerhard Schröder, aller Bundeskanzler und aller französischen Premierminister und Staatspräsidenten seit Charles de Gaulle. Diese Vision in konkrete politische Realität und gelebte gesellschaftliche Realität umzusetzen und dieses gemeinsame Europa zu bauen ist das oberste Ziel und meines Erachtens auch das oberste Interesse beider Völker, beider Staaten.

   Dies gründet mit auf dem Élysée-Vertrag. Deswegen ist es sehr wichtig - ich freue mich, dass diese Debatte zu Ende gegangen ist; Frau Merkel, das soll keine Selbstverständlichkeit sein -, dass die beiden Parlamente sich treffen. Ich habe es gestern im Ausschuss gesagt: Vielleicht haben wir, was die Symbolik betrifft, nicht die Sensibilität unserer französischen Freunde. Aber für mich ist die Tatsache, dass beide Parlamente sich zum ersten Mal wirklich plenar treffen, ein ganz wichtiges symbolisches Faktum für die Versöhnung unserer beiden Völker. Insofern wird diese Initiative von der Bundesregierung voll unterstützt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

   Wir haben natürlich von Anfang an auch die kulturelle Dimension gehabt, die zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit vor allem der Jugend. Das ist im deutsch-französischen Freundschaftsvertrag, im Élysée-Vertrag, von entscheidender Bedeutung gewesen. Wir sollten dieses Vertragswerk nicht nur rückblickend loben; hier müssen wir uns für die Zukunft neue Initiativen vornehmen.

   Mit einer gewissen Sorge sehe ich, dass die Sprachentwicklung, das heißt das Lernen der jeweils anderen Sprache, auf beiden Seiten eher rückläufig ist, um es ganz diplomatisch zu formulieren. Dafür gibt es Gründe: die Globalisierung; die Tatsache, dass heute Englisch die Lingua franca, die universale, die Weltsprache ist - ohne jeden Zweifel. Aber wir würden auch und gerade in einem zusammenwachsenden Europa viel an Zukunft im deutsch-französischen Verhältnis verlieren, wenn wir nicht verstärkt Wert darauf legten, dass das Lernen der jeweils anderen Sprache für die kommende Generation wieder auf eine breitere Grundlage gestellt wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Hier müssen wir uns gemeinsam mit den Ländern - ich denke, da gibt es überhaupt keinen Widerspruch - verstärkt in die Zukunft hinein engagieren. Ich weiß, wie schwer das ist, aber ich halte das und gemeinsame kulturelle Initiativen für unverzichtbar.

   Sie sprechen die Agrarpolitik an. Wenn das Geld da wäre, würde ich darüber gar nicht so diskutieren. Aber wir müssen uns schon die Frage stellen, ob wir es uns in der Welt des 21. Jahrhunderts auf Dauer werden erlauben können, mehr als 40 Prozent des gemeinsamen Budgets in der Europäischen Union für Agrarpolitik und Agrarsubventionen auszugeben, während die gemeinsame Kulturentwicklung, Film etc., ziemlich Not leidend ist. Wenn Europa - und das heißt auch Deutschland und Frankreich - in der Welt von morgen, im 21. Jahrhundert seine Rolle spielen soll, müssen wir die Ressourcen anders einsetzen. Das wissen Sie, Frau Merkel. Das ist der entscheidende Punkt. Ich denke, das ist von zentraler Bedeutung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Lassen Sie mich hier nochmals klipp und klar sagen: Die deutsch-französische Zusammenarbeit ist der Kern und das Schwungrad der europäischen Entwicklung gewesen und wird dies - so behaupte ich - auch unter den Bedingungen der EU der 25 bleiben. Das ist die Erfahrung, die ich in den vergangenen vier Jahren gemacht habe: Wenn Deutschland und Frankreich sich einig sind, ist das nie exklusiv, gegen andere gerichtet gewesen, sondern hat immer als Schwungrad gewirkt.

   Wir haben vorhin Adenauer und de Gaulle und die Schwierigkeiten, die sich aus der Präambel ergeben haben, angesprochen. Das kam mir plötzlich bekannt vor. Da hat sich im deutsch-französischen Verhältnis nicht sehr viel geändert: Die Kompromisse sind schwierig; aber wenn man sie einmal erreicht hat, treiben sie die europäische Entwicklung unglaublich kraftvoll voran.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Das ist das Faszinierende am deutsch-französischen Verhältnis.

   So nah wir als direkte Nachbarn aufgrund unserer Historie in vielen Bereichen auch beieinander sind, so unterschiedlich - das ist in einer Familie oft so - sind wir. Dieses Spannungsverhältnis ist seit Adenauer und de Gaulle produktiv. Die Aufgabe des deutsch-französischen Motors ist es, diese Kompromisse für Europa voranzutreiben.

   Ich freue mich über Ihre positive Bewertung des vorgestern erreichten Kompromisses. Es war vor allen Dingen auch eine große Leistung des Bundeskanzlers, die integrativen Elemente in einem europäischen Verfassungskompromiss voranzubringen. Dass die Kommission vom Europäischen Parlament gewählt wird, ist natürlich eine enorme zusätzliche demokratische Legitimation für die Kommission im Rahmen einer zukünftigen Verfassung. Zugleich handelt es sich dabei natürlich um einen gewaltigen Kompetenzzuwachs sowohl für das Europäische Parlament als auch für die Bürgerinnen und Bürger, die dieses Europäische Parlament aufgrund dieser verstärkten Kompetenz anders sehen und indirekt einen Einfluss auf die Zusammensetzung der Kommission haben werden.

   Gleichzeitig werden wir in der Frage der Ausweitung der Rechte der Kommission einen entscheidenden Schritt nach vorne tun. So soll zum Beispiel die Kontrolle der Generaldirektionen von der Politik - genauer gesagt: von der Kommission - wahrgenommen werden. Das halte ich ebenfalls für einen ganz entscheidenden Schritt nach vorne. Wer die praktischen Verhältnisse kennt, wird mir zustimmen. Die Ausdehnung des Mitentscheidungsverfahrens auf sämtliche Legislativakte der Union ist für die zunehmenden Rechte des Europäischen Parlaments ebenfalls von sehr großer Bedeutung. Darüber hinaus haben Sie die Frage der gemeinsamen Außenpolitik angesprochen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die gemeinsame institutionelle Vertretung der Außenpolitik in Zukunft durch einen EU-Außenminister wahrgenommen wird.

   Frau Merkel, als genauso wichtig sehe ich es an, dass es uns im gesamten Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik jetzt gelungen ist, Mehrheitsentscheidungen generell einzuführen. Auch darin sehe ich einen ganz wichtigen Schritt nach vorn. Das reiht sich in die über Jahre hinweg andauernde Zusammenarbeit dieser Regierung mit der französischen Regierung ein. Eines möchte ich Ihnen noch sagen: An diesem Punkt freue ich mich, dass Sie Ihre Kritik, die Sie in der Vergangenheit immer geäußert haben, ein Stück weit zurückgenommen haben. Sie kritisierten ständig, der Bundeskanzler würde die deutsch-französischen Beziehungen, die europäischen Angelegenheiten insgesamt, schleifen lassen. Ich kann Ihnen nur sagen: Mit der Agenda 2000 haben wir unter diesem Bundeskanzler einen fast nicht möglich erscheinenden Kompromiss erreicht.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Das war eine Nullnummer!)

Das war die Voraussetzung dafür, dass wir in praktischen Verhandlungen weiterkommen konnten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Unter der Vorgängerregierung wurde das Jahr 2000 als Termin für den Beitritt Polens genannt. Ein halbes Jahr, bevor wir die Regierung übernommen haben, waren die Verhandlungsdossiers aufgeklappt worden. Unter der deutschen Präsidentschaft hat der Verhandlungsprozess Schwung bekommen. In Kopenhagen haben wir den historischen Prozess, nämlich die Verhandlungen mit zehn neuen Mitgliedstaaten, abgeschlossen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

   Darüber hinaus haben wir unter der deutschen Präsidentschaft den zweiten Teil - nicht nur die Erweiterung der Union - begonnen. Zugleich - dies geschah, gründend auf den Kompromiss von Berlin, immer gemeinsam mit Frankreich - war es aufgrund der deutschen Initiative möglich, den Konvent zu beginnen. Es geht also nicht nur um die Erweiterung, sondern auch um die Verfassung Europas.

   Ich stimme der Kollegin Sager völlig zu: Wenn es in diesem Jahr, dem vierzigsten Jahrestag des Élysée-Vertrages, gelingt, im Konvent zugleich zu einer europäischen Verfassung zu kommen - die Arbeiten im Konvent laufen auch dank der Führung von Präsident Giscard d‘Estaing sehr gut -, dann hat sich das Vermächtnis des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages, des Élysée-Vertrages, 40 Jahre danach erfüllt. Das war und ist das politische Ziel dieser Bundesregierung. Das ist die Politik von Bundeskanzler Schröder und - das füge ich hinzu - Staatspräsident Jacques Chirac. Ich finde, das ist eine beachtliche Leistung, die im Interesse Europas liegt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Das gilt auch für unsere Verpflichtung zum Frieden. Ich bin gerne bereit, diese Debatte an anderer Stelle aufzunehmen. An einem Tag wie heute sollten wir aber keine taktischen Debatten darüber führen, wie die Regierung irgendwohin geschoben werden kann.

(Beifall des Abg. Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD) - Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Das ist schon wichtig!)

- Es ist für Sie wichtig und völlig legitim. An einem solchen Tag sollten Sie das aber nicht tun. Jetzt ist nicht die Stunde der Taktik.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Ich sage Ihnen: Der deutsch-französische Vertrag ist ein Freundschaftsvertrag, der vor allen Dingen Frieden geschaffen hat. Wenn sich diese Bundesregierung zu etwas verpflichtet fühlt - dabei sind wir nicht naiv -, dann ist das die Verpflichtung zum Frieden.

   An diesem Punkt ist für uns eines klar: Wir sind für die Umsetzung der Resolution 1441. Das heißt, die Inspektoren sollen ihre Arbeit tun. Unserer Auffassung nach gibt es keinen Grund, militärische Gewalt einzusetzen. Unsere Sorge ist viel zu groß, dass ein Einsatz militärischer Gewalt im Irak eine Folgekette auslöst, die fatale Wirkungen haben könnte. Aus diesem Grund haben wir uns von Anfang an klar positioniert. Wir haben gesagt, dass wir uns an einer militärischen Aktion im Irak nicht beteiligen werden. Dabei bleibt es. Das ist konkrete Friedenspolitik.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

   Ich erteile dem Kollegen Michael Glos, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Michael Glos (CDU/CSU):

   Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bundesaußenminister, heute ist weniger die Stunde des Selbstlobes als vielmehr die Zeit, darüber nachzudenken, was uns der deutsch-französische Vertrag gebracht hat und was wir aus diesem Geist, der damals die Staatsmänner beflügelt hat, für unsere Zukunft mitnehmen können.

   Wir sind sehr dankbar, dass wir heute auf 40 Jahre Élysée-Vertrag zurückblicken können und dass das erfolgreiche Werk der Gründerväter, die die Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich überwunden haben und die sich die Hand zur Versöhnung gereicht haben, auch in die Zukunft getragen werden kann. Ich glaube, das war damals eine Leistung, die zu Recht den Namen „historisch“ verdient. Damals haben die Gründerväter europäische Geschichte geschrieben. Wir alle in diesem Haus müssen uns heute bewusst sein, dass deren Handeln für uns in Zukunft Auftrag und Verpflichtung ist.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP))

   Frieden auf dem alten Kontinent war damals nicht unbedingt selbstverständlich. Wir sind sehr dankbar, dass dies heute gerade für unsere Kinder und für die nachfolgende Generation vollkommen selbstverständlich geworden ist. Das ist aber nicht immer automatisch so, sondern an solchen Grundentscheidungen muss immer wieder weitergearbeitet werden.

   Die Bedeutung des Élysée-Vertrages im Einzelnen zu würdigen hieße, Eulen nach Athen zu tragen. Es ist, wie gesagt, viel wichtiger, das Ganze in der Zukunft fortzusetzen. Wir wissen, dass der Geist, der damals geherrscht hat, auch heute notwendig bleibt, um viele Krisen in der Welt zu überwinden. Wenn zwischen den Nachbarn Misstrauen herrscht, dann lassen sich Krisen nicht überwinden. Trotz der aktuellen Diskussion, trotz der drohenden Kriegsgefahr im Nahen Osten, trotz der Tatsache, dass es so aussieht, als ob manches in einem nicht zu stoppenden Automatismus abläuft, dürfen wir nie vergessen, dass sich der Einsatz um Frieden immer lohnt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Dazu gehört immer auch das Überwinden von Misstrauen, weil nur dann, wenn man Misstrauen überwunden hat, eine friedliche Nachbarschaft möglich ist. Darin liegt der historische Kern des Élysée-Vertrages.

   40 Jahre Élysée-Vertrag zeigen auch, dass sich Deutschland Vertrauen bei seinen Nachbarn erworben hat. Diese Nachbarn sind von Deutschland im letzten und im vorletzten Jahrhundert nicht immer gut behandelt worden. Wir freuen uns, dass wir Deutschen heute ein anerkannter Partner sind, sowohl bei unseren europäischen Verbündeten als auch in der Welt überhaupt. Dazu gehört Verlässlichkeit. Dazu gehört, dass wir Deutschen keine Sonderwege mehr gehen, sondern dass wir unser politisches Handeln für die Zukunft in diese Partnerschaft einbetten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Wenn die deutsch-französische Partnerschaft für den Fortgang der europäischen Einigung entscheidend geworden ist, dann liegt das an der aufrichtigen Bereitschaft der Menschen zur Verständigung untereinander.

Es ist bereits gewürdigt worden, dass es sehr viele Städte- und Regionalpartnerschaften gibt, durch die die Menschen immer wieder zusammenkommen. Der Herr Bundesaußenminister hat zu Recht beklagt, dass die französische Sprache wie auch die deutsche Sprache in dem jeweils anderen Land zu wenig gepflegt werden.

   Es gibt auch heute noch sehr viele idealistisch gesinnte Jugendliche, denen der europäische Einigungsgedanke und die deutsch-französische Verständigung am Herzen liegen. Ich könnte Ihnen aus meiner eigenen Familie sehr viel darüber berichten. Mein Sohn hat in Frankreich studiert und dort ein juristisches Examen abgelegt. Insofern kann ich auch einiges über die praktischen Erfahrungen berichten, die die jungen Leute dort machen. Er ist sehr idealistisch gesinnt dorthin gegangen und hat auch alles gut bewältigt, aber es war ihm nicht verständlich zu machen, warum man sich in Frankreich ein Vierteljahr von einer Behörde zur anderen anmelden muss, wenn man dort als Deutscher in einem gemeinsamen Europa studieren will. Sicherlich gibt es immer noch viele praktische Schwierigkeiten, die überwunden werden müssen. Aber daran muss gearbeitet werden. Es hilft nicht, mit dem Finger aufeinander zu zeigen.

   Entscheidend ist sicherlich auch - wie immer, wenn etwas vorangehen soll -, dass die handelnden Personen ein gutes Verhältnis zueinander pflegen und dass zwischen den Staatsmännern die Chemie stimmt, wie man so sagt. Ich erinnere daran, dass zwischen Adenauer und de Gaulle die Chemie gestimmt hat; sonst wäre der deutsch-französische Freundschaftsvertrag, über den wir heute reden, nicht möglich gewesen. Ich erinnere daran, dass auch zwischen Helmut Schmidt und Giscard d'Estaing die Chemie gestimmt hat. Ich erinnere auch an das gute Verhältnis, das zwei an sich so gegensätzlich erscheinende Personen wie Helmut Kohl und François Mitterrand zueinander gefunden haben.

   Die CSU, für die ich hier spreche, hat diesen Prozess immer unterstützt und ihm auf wichtigen Etappen ihren Stempel aufgedrückt. Ich erinnere daran, dass Dr. Josef Müller, einer unserer Parteigründer, zu den Europäern der ersten Stunde gezählt hat und dass aus der CSU bereits 1946, als es die D-Mark noch nicht gab, eine europäische Währung gefordert wurde. Ich bin stolz darauf, dass der damalige Vorsitzende meiner Partei, Theo Waigel, entscheidenden Anteil am Zustandekommen der Europäischen Währungsunion gehabt hat.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn man den Blick nach vorne richtet, fallen einem viele aktuelle Notwendigkeiten ein, zum Beispiel, dass Europa nur dann stark werden und stark bleiben kann, wenn auch unsere Wirtschaft gut funktioniert. Dabei haben wir Deutsche eine besondere Verpflichtung. Ich will nicht alle Äußerungen des französischen Premierministers Raffarin über die mangelnden Anstrengungen der Deutschen zitieren, den europäischen Wirtschaftsmotor flott zu machen. Wir müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass wir Deutsche in Europa auch deswegen beliebt und geachtet sind, weil wir immer der wirtschaftliche Motor waren. Dass dieser Motor stottert, ist bedauerlich. Es dient der deutsch-französischen Freundschaft und der europäischen Einigung, wenn wir wieder gemeinsam daran arbeiten und wenn die Bundesregierung auf diesem Gebiet noch besser wird, als es der Herr Bundesaußenminister dargestellt hat.

   Der Verfassungskonvent tritt jetzt in eine entscheidende Phase. Wir fühlen uns bisher nicht sonderlich eingebunden. Überhaupt muss man sich nicht wundern, Herr Bundeskanzler, wenn vieles in unserer Gesellschaft nicht mehr zusammengeht, wenn Sie die politischen Eliten - dazu müssen immer noch die politischen Parteien gezählt werden -, die vorher immer über das notwendige Vorgehen einig waren, die Opposition nicht mehr einbinden. Früher ist es nie vorgekommen, dass sich ein EU-Kommissar an die Opposition gewandt hat. Auch entscheidende Erweiterungsschritte - vorhin ist bereits über die Türkei gesprochen worden - sind nicht diskutiert worden.

   Ich meine, wir müssen bei dem, was wir künftig zu gestalten haben, darauf achten, dass wir die Menschen auf unserem Weg mitnehmen. Wir können ihnen keine weiteren Entscheidungen überstülpen.

Auch gibt es gegenwärtig keinen nationalen Konsens, der überhaupt eine Rechtfertigung dafür böte, etwas ohne weitere Diskussion und ohne Mitentscheidung des Volkes durchzusetzen.

   Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Menschen erwarten natürlich eine Antwort auf die Frage, wohin in Europa die Reise geht. Die Menschen wollen wissen, welche staatsrechtlichen Ergebnisse am Ende dieses Prozesses zu erwarten sind, welches die Grenzen des gemeinsamen europäischen Hauses sind und über welches Selbstverständnis das gemeinsame Europa verfügt. Nur dann, wenn sich Europa am Schluss als Schicksalsgemeinschaft versteht, wird es sich dauerhaft behaupten können.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP))

   Nach wie vor befürchtet die große Mehrheit unseres Volkes infolge des Fehlens eines echten europäischen Bewusstseins, Nation und Region würden auf dem Altar der europäischen Einigung geopfert. Unter den gegenwärtigen Voraussetzungen sehe ich keinen anderen Weg als den, die Rolle der Nationalstaaten noch immer als sehr wichtig zu erachten. Der Vorschlag des französischen Staatspräsidenten und des deutschen Bundeskanzlers, den wir prüfen werden, sagt dies ebenfalls aus: Auch in Zukunft wird Europa auf einem Verbund selbstständiger Nationalstaaten aufbauen, die Souveränität nur in einem begrenzten Ausmaß an Europa übertragen. Es ist somit zwingend erforderlich, Föderalismus und Subsidiarität nicht nur in Paragraphen, sondern auch in der konkreten Politik Rechnung zu tragen. Auch darum wird es beim Verfassungskonvent gehen.

   Wir dürfen ferner nicht vergessen, dass Europa auf einem verbindenden historischen Erbe aufbaut. Die Europäer bekennen sich zu einer gemeinsamen Werteordnung auf den Grundlagen des Christentums und der Aufklärung. Nur dann, wenn wir diese uns verbindenden Werte aufrechterhalten, kann es zu einer eigenen gemeinsamen europäischen Identität kommen. Herr Bundeskanzler, Folgendes kann ich Ihnen in diesem Zusammenhang nicht ersparen: Dass die verbindenden europäischen Werte, die man definiert, wie man es gerade braucht - als es um die Türkei ging, ist darüber nicht diskutiert worden -, ausgerechnet an Österreich ausprobiert werden sollten, war ein schlimmes Bubenstück, das wir eigentlich vergessen machen sollten, an das wir als Opposition aber immer wieder erinnern müssen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Aufgabe des gemeinsamen Europas muss es sein, die globalen Probleme mit zu gestalten, Frieden und Freiheit in der Welt zu erhalten und den Terrorismus zu bekämpfen, der natürlich auch Europa bedroht. Manche Diskussionen in unserem Land - auch in unseren Reihen - zeigen, dass das Bewusstsein der Menschen zu gering ist, dass auch wir in der Bundesrepublik Deutschland mitten im Herzen Europas vom internationalen Terrorismus bedroht sind und im eigenen Interesse gegen diesen Terrorismus vorgehen müssen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dazu brauchen wir ein handlungsfähiges Europa. Lassen Sie uns auch in Zukunft daran bauen!

   Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

   Ich erteile Kollegin Angelica Schwall-Düren, SPD-Fraktion, das Wort.

Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD):

   Herr Präsident! Meine liebe Kolleginnen und Kollegen! Einer meiner Großväter liegt auf dem Hartmannsweiler Kopf, einem Bergrücken der Vogesen, begraben, gefallen in den letzten Monaten des mörderischen Ersten Weltkrieges. Mein Vater geriet 1945 verwundet in französische Kriegsgefangenschaft. Meine Kindheit in Baden war durch die französische Besatzung geprägt. Mein Vater verdiente nach 1945 das Brot für seine junge Familie als Arbeiter im Dienst des französischen Militärs. Das sind Einzelereignisse aus einer durch Feindschaft und blutige Auseinandersetzungen geprägten deutsch-französischen Geschichte.

   Und dann geschieht nach dieser leidvollen Geschichte das Unglaubliche: Trotz brutaler Okkupation Frankreichs durch die Deutschen und trotz Gestapo- und SS-Terror haben unsere Nachbarn uns nach der NS-Zeit die Hand zur Versöhnung gereicht. Franzosen und Deutsche haben aus Feinden Freunde gemacht. Die zwischen den beiden Zivilgesellschaften und Regierungen aufgebaute Partnerschaft wurde bereits vor 40 Jahren durch den Élysée-Vertrag feierlich besiegelt.

   Heute fragen uns viele Menschen: Macht es denn noch Sinn, wegen der notwendigen Versöhnung ein besonderes Verhältnis zu Frankreich zu rechtfertigen und aufrechtzuerhalten? Die Versöhnung ist doch längst erledigt. Heute geht es doch um andere Fragen in Europa. Heute muss zum Beispiel die Aussöhnung mit Tschechien und Polen vorangebracht bzw. vollendet werden. Heute muss die europäische Zukunft gestaltet werden.

   In der Tat ist das, was noch unsere Eltern und Großeltern für undenkbar hielten, nämlich dass sie ohne jede Schranke in das jeweils andere Land reisen und dass Franzosen und Deutsche in Freundschaft miteinander leben, für die jüngere Generation zu einer solchen Selbstverständlichkeit geworden, dass sie den weiten Weg kaum ermessen kann, den unsere beiden Völker aufeinander zugegangen sind. Sie versteht auch kaum, dass auch noch heute einzelne Vorfälle genügen, damit man sich bei unseren Nachbarn des hässlichen Deutschen erinnert. Aussöhnung, gute Nachbarschaft und Freundschaft müssen also auch mit den Menschen unseres großen westlichen Nachbarlandes immer wieder neu gewonnen und gelebt werden.

   Eine Bürgerin schrieb mir dieser Tage:

Ich wünsche uns, dass wir nicht ermatten in dieser Tätigkeit, die heute vielleicht schwieriger ist, sich mehr rechtfertigen muss als damals, wo man die Versöhnung als Glück und Fortschritt erlebt hat und nicht als etwas Gewöhnliches.

   Die deutsch-französische Zusammenarbeit hatte aber von Anfang an eine weit über die Verarbeitung der Vergangenheit hinausweisende Bedeutung und Aufgabe. Aus unterschiedlichen Motiven heraus - das ist schon angesprochen worden - wollten Deutschland und Frankreich die Westintegration der Bundesrepublik. Es war klar, dass dies nur über den europäischen Einigungsprozess möglich war. In den 50er-Jahren waren Deutschland und Frankreich deshalb maßgeblich an der Gründung der Europäischen Gemeinschaft beteiligt. Dabei war die Verständigung weder selbstverständlich noch einfach zu bewerkstelligen. Es war und ist durchaus nicht so, dass sich in Deutschland und Frankreich gesellschaftliche Entwicklungen in gleicher Weise vollzogen oder sich Traditionen und Wertvorstellungen völlig identisch herauskristallisierten. Daraus ergibt sich, dass unsere Länder auch nicht von vornherein gleich gerichtete Interessen haben und auch nicht hatten. Dafür lassen sich viele Beispiele anführen. Eines davon ist der unterschiedliche Umgang mit den Risiken der Nukleartechnologie.

   Über den Versöhnungswillen, über den brennenden Wunsch hinaus, unsere beiden Völker mögen aufhören, im Generationenabstand ihre Jugend auf den Schlachtfeldern zu opfern, gab es drei Grundlagen für die erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich:

   Erstens: eine Balance zwischen Partnern mit unterschiedlichen Stärken. Deutschland, durch den Viermächtestatus gebunden und mit eingeschränkter Souveränität, war politisch zunächst ein Zwerg. Das deutsche Wirtschaftswunder hatte es aber mit sich gebracht, dass die Bundesrepublik zur bedeutendsten europäischen Wirtschaftsmacht geworden war. Frankreich tat sich dagegen schwerer, den Weg von der alten Industrienation in das hochtechnologische Zeitalter zu finden. Politisch war Frankreich aber gleichberechtigtes Mitglied im Kreis der ehemaligen alliierten Kriegsgegner Deutschlands.

   Zweitens: der feste Wille, Gegensätze zu überwinden und die anstehenden Herausforderungen im Konsens zu meistern.

   Drittens: die Arbeit an einem gemeinsamen Projekt, wie es beispielsweise die Währungsunion darstellte, die bereits von Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt als Idee entwickelt und dann von François Mitterrand und Helmut Kohl in die Tat umgesetzt wurde.

   Trotz zeitweise auftretender Schwierigkeiten ist es immer wieder zu wegweisenden deutsch-französischen Initiativen gekommen. Dabei spielte im Übrigen die politische Farbe kaum eine Rolle.

Ohne den gemeinsamen deutsch-französischen Willen hätte es weder den Binnenmarkt noch das Verschwinden der Grenzkontrollen im Schengen-Raum gegeben.

   Nun ist viel darüber spekuliert worden, ob in den 90er-Jahren und erst recht mit Amtsantritt der rot-grünen Regierung der deutsch-französische Motor ins Stocken geraten sei.

(Zuruf von der FDP: Ja, ist er!)

Ich sehe das nicht so. Allerdings hatte sich die über Jahrzehnte existierende Balance zwischen den beiden Ländern nach dem 30. Geburtstag des Élysée-Vertrages verändert. Mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten hat Deutschland wieder seine volle Souveränität erhalten. Das relative politische Gewicht des größer gewordenen Deutschland als normaler Staat ist auch im Vergleich zu Frankreich gestiegen. Dagegen haben der Zusammenbruch der ostdeutschen Industriestrukturen und die Notwendigkeit, die neuen Länder ökonomisch und sozial zu integrieren, zu einer wirtschaftlichen Schwächung Deutschlands geführt. Frankreich hat den Übergang ins Zeitalter der Globalisierung etwas besser meistern können. Aber Frankreich sorgte sich, dass Deutschland mit dem Fallen des Eisernen Vorhangs seine Energie nun darauf richten würde, wieder Sonderbeziehungen zu osteuropäischen Ländern aufzubauen und daraus besondere Stärke zu beziehen.

   Nicht zuletzt deshalb war es ein besonderer Glücksfall, dass die Außenminister Polens, Frankreichs und Deutschlands, Skubiszewski, Dumas und Genscher, den Grundstein für das „Weimarer Dreieck“ gelegt haben, das nicht nur für die Heranführung Polens an die EU nützlich war, sondern auch Frankreich neben Deutschland eine wichtige Rolle bei dieser Heranführungsstrategie gab. Das ist im Übrigen ein Beleg dafür, dass die deutsch-französische Beziehung andere Partner nicht ausschließt, sondern auf Integration gerichtet ist.

   Zum Ende der 90er-Jahre war auch das gemeinsame Projekt Euro erfolgreich abgeschlossen, sodass ein wichtiger Fixpunkt für die deutsch-französische Zusammenarbeit wegfiel. Dies alles machte es notwendig, dass die Partner zu einer neuen Rolle und zu neuen Projekten fanden.

   Doch lassen Sie mich zunächst noch auf einen anderen Punkt eingehen. Über die gesamten 40 Jahre des Bestehens des Élysée-Vertrags hinweg haben Kontakte und Zusammenarbeit der Zivilgesellschaft das deutsch-französische Verhältnis wesentlich bestimmt; Frau Griefahn wird darauf noch näher eingehen. Unzählig viele Arbeits- und Freundschaftsbeziehungen sind entstanden. Immer mehr dauerhafte Beziehungen sind das Ergebnis.

   Wo Menschen zusammenleben, entstehen auch neue Konflikte und nicht immer können sie von den Beteiligten selbst gelöst werden. Auch deutsch-französische Paare trennen sich gelegentlich und manchmal schaffen es die Menschen nicht, ihre Trennung so zu organisieren, dass ihre Kinder weiter regelmäßigen Kontakt zu beiden Elternteilen behalten. Eine unterschiedliche Rechtspraxis in unseren Ländern kann die Konflikte noch verschärfen.

   Deshalb hatten die Justizministerinnen Frankreichs und Deutschlands 1999 eine sechsköpfige deutsch-französische parlamentarische Mediatorengruppe ins Leben gerufen, die zerstrittenen binationalen Paaren helfen sollte, eine Regelung zugunsten ihrer Kinder zu finden. Diese Einrichtung ist ein Beispiel für zahlreiche Aktivitäten, die durchaus unspektakulär dazu beitragen, deutsch-französische Anliegen gemeinsam voranzubringen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Bei den großen europäischen Projekten erweist sich zum wiederholten Male die Stärke der deutsch-französischen Zusammenarbeit: Voraussetzungen für die EU-Erweiterung mussten geschaffen werden. Mit einer europäischen Verfassung soll in diesem Jubiläumsjahr die Handlungsfähigkeit der EU angesichts größerer und neuer Herausforderungen gestärkt werden.

   Wegen der Notwendigkeit, den EU-Stabilitätspakt einzuhalten, und angesichts weltweiter Konjunkturschwäche ist die Finanzierung der EU-Erweiterung mit Augenmaß zu betreiben. Dabei - das ist schon angesprochen worden - fällt der umfangreiche Agrarhaushalt besonders ins Gewicht. Hier sind die unterschiedlichen Interessen der Europäer auch sehr deutlich: Das Agrarland Polen als wichtigster Vertreter der Beitrittsländer wollte für seine Bauern wie die Altmitglieder Direktzahlungen erhalten. Deutschland wollte als größter Nettozahler keine zusätzlichen Mittel aufbringen. Frankreich mit seiner Agrarstruktur wollte auf keinen Fall auf Mittel verzichten. Trotz dieser schwierigen Ausgangslage haben es Deutschland und Frankreich geschafft, auf dem Brüsseler Gipfel den Agrarkompromiss zu schließen, dem sich die anderen Mitglieder anschließen konnten und der die Erweiterung möglich gemacht hat. Der deutsch-französische Motor hat funktioniert.

   Auch in Zukunft wird die Bewältigung dieser historischen Erweiterungsrunde hohe Anforderungen an das deutsch-französische Tandem stellen. Das anstehende Zukunftsprojekt der Vollendung der Einigung Europas durch die Erweiterung und die Vertiefung ist von historischer Dimension. Das Ziel muss es sein, dass auch die erweiterte EU demokratisch, handlungsfähig, bürgernah, transparent und solidarisch ist.

   Die dafür nötigen Weichenstellungen müssen im Europäischen Verfassungskonvent vorgenommen werden. Deutschland und Frankreich - das zeigt sich wieder - werden sich gemeinsam für den Erfolg des Konvents und für die weitere Vertiefung der Europäischen Union einsetzen. Der Außenminister und unser Fraktionsvorsitzender Franz Müntefering haben schon den Hinweis auf die verschiedenen konkreten Initiativen im Hinblick auf die Konventsarbeit, die wirtschaftliche Zusammenarbeit, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und den Raum der Sicherheit, des Rechts und der Freiheit gegeben.

   Die Bilanz des Élysée-Vertrages ist also nicht nur positiv, sie ist sogar hervorragend. Wir alle sollten dazu beitragen, dies deutlich zu machen und Impulse für die Fortsetzung der deutsch-französischen Zusammenarbeit zu setzen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Parlamente werden diese Initiativen über das Feiern des Geburtstages hinaus durch konkrete Arbeit begleiten.

   Es macht Sinn, kommende Woche zu unseren Kollegen nach Versailles zu fahren. Ich darf Alfred Grosser zitieren, der in Frankfurt am Main geboren wurde und nach Frankreich emigrieren musste - er ist ein großer Kenner Deutschlands -:

Wunderbar ist, dass endlich einmal die Volksvertretungen spektakulär zusammenkommen; das hat mehr Symbolkraft als jedes Treffen der Regierenden.

   Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

   Ich erteile das Wort dem Kollegen Ernst Burgbacher, FDP-Fraktion.

Ernst Burgbacher (FDP):

   Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! 40 Jahre Élysée-Vertrag, das bedeutet Aufbau einer tiefen und vor allem einer belastbaren Freundschaft zwischen den Menschen diesseits und jenseits des Rheins. 40 Jahre Élysée-Vertrag bedeutet auch eine intensive Kooperation mit vielen Mechanismen zwischen Regierungen und teilweise zwischen Parlamenten. Die Intensität dieser Kooperation war nicht immer gleich. Man muss schon feststellen: Mit Amtsantritt der Regierung Schröder/Fischer ist dieser Motor ins Stottern geraten und er hat leider viel zu lange gestottert.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD): Falsch! - Peter Hintze (CDU/CSU): Stottern ist noch freundlich!)

   Die FDP-Fraktion begrüßt ausdrücklich, dass die Zusammenarbeit in den vergangenen Monaten wieder besser geworden ist. Wir begrüßen ausdrücklich, dass diese Zusammenarbeit, anknüpfend an vergangene Perioden, wieder Erfolge zeigt. Auch das soll hier ganz deutlich gesagt werden. Wir mahnen aber auch an, dort, wo es Konflikte gibt, diese auszusprechen. Wir veranstalten heute keine Feierstunde - sie findet nächste Woche statt -, sondern wir führen eine Parlamentsdebatte durch.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Es beunruhigt mich schon, zu sehen, dass die Franzosen heute - vor einigen Jahren hatten sie noch ein Stück weit Angst vor der wirtschaftlichen Übermacht Deutschlands - eher Angst davor haben - ich erinnere an die Aussagen von Raffarin -, dass Deutschland Europa wirtschaftlich herunterzieht.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Herr Bundeskanzler, das beste Geburtstagsgeschenk, das Sie nächste Woche nach Versailles mitnehmen könnten, ist eine Änderung der Wirtschafts- und Finanzpolitik, damit in Deutschland endlich wieder Wachstum erfolgt, wodurch auch die Wirtschaft in Europa wieder angekurbelt würde.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   40 Jahre Élysée-Vertrag heißt enge Kooperation zwischen den Regierungen. Ich meine, es ist jetzt höchste Zeit, diese durch eine enge Kooperation zwischen den Parlamenten zu ergänzen. Gemeinsame Sitzungen der Auswärtigen Ausschüsse, der Europaausschüsse, eine enge Begleitung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik durch die Parlamente, aber auch ein regelmäßiger Austausch einzelner Abgeordneter, Hospitationsprogramme der Abgeordneten, das müssten wir viel mehr initiieren; denn wir haben doch gelernt: Dort, wo Menschen zusammenkommen, funktioniert die Zusammenarbeit. Diesem Motto sollten wir auch in diesem Parlament viel mehr folgen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   40 Jahre Élysée-Vertrag heißt, die Begegnungen und die Freundschaft zwischen den Menschen zu stärken. Und da hat sich, verehrte Frau Kollegin Schwall-Düren - da stimme ich Ihnen zu -, etwas verändert. Die Generation derer, die den Krieg noch erlebt hat, tritt nach und nach von der politischen Bühne ab. Die jungen Leute haben diesen besonderen Bezug nicht mehr. Es ist ja so, dass das, was wir bisher erreicht haben, nämlich dass Kooperation selbstverständlich ist und die Versöhnung erfolgt ist, die Raison d’être des Vertrages ein Stück weit obsolet gemacht hat. Deshalb müssen wir die jungen Menschen davon überzeugen, wie wichtig das besondere Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich ist.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD))

   Herr Außenminister, ich stimme Ihnen ausdrücklich zu: Zentrale Bedeutung hat hier die Sprache. Es muss uns schon mit Sorge erfüllen, wenn in Deutschland nur etwa 14 Prozent der jungen Menschen Französisch lernen und in Frankreich weniger als 10 Prozent Deutsch lernen. Die Zahl der Einschreibungen an germanistischen Instituten in Frankreich ist in den Jahren 1999 und 2000 um mehr als die Hälfte zurückgegangen.

(Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): So ist das!)

Da dürfen wir nicht einfach untätig zusehen. Meine Damen und Herren, wir müssen hier agieren. Hier liegt für unsere junge Generation eine riesengroße Chance.

   Nach Schätzungen des deutschen Botschafters in Paris können derzeit zwischen 20 000 und 40 000 Stellen in Frankreich nicht besetzt werden, weil die Bewerber über keine deutschen Sprachkenntnisse verfügen. Das französische Wirtschaftsministerium nennt sogar eine Zahl von 180 000. Hier muss etwas getan werden. Es dürfen nicht, wie es in den letzten Jahren erfolgt ist, Kultureinrichtungen geschlossen werden, vielmehr müssen wir Kultureinrichtungen schaffen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir müssen gemeinsame Projekte durchführen. Der in Baden-Württemberg beschrittene Weg, Französisch in Grundschulen in der Nähe zur französischen Grenze als Pflichtfach einzuführen, ist richtig.

   Ich möchte zum Schluss kommen: 40 Jahre Élysée-Vertrag impliziert auch, dass wir uns entsprechend verhalten. Die Menschen schauen auch auf uns. Ich habe, ehrlich gesagt, manche kleinkrämerische Reaktion in der Partei Konrad Adenauers in Bezug auf unser Treffen nächste Woche nicht verstanden. Die Freundschaft lebt von Symbolen. Die Unterzeichnung des Vertrages war ein solches Symbol. Das Treffen in Versailles in der nächsten Woche wird ein weiteres Symbol sein und auch zu neuen Aufbrüchen führen. Für die FDP-Fraktion sage ich: Wir sind stolz darauf, in Versailles an diesem Prozess mitwirken zu dürfen.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

   Ich erteile das Wort Kollegin Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos):

   Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Blick auf die deutsch-französischen Beziehungen hat für mich als ostdeutsche Parlamentarierin noch mehr Aspekte, als hier schon beschrieben wurden. Die Erfahrungen meiner Generation sind noch durch das Frankreichbild geprägt, das in der DDR vermittelt wurde. Dieses Bild war ambivalent: Auf der einen Seite wurde die Geschichte der Widersprüche und der Kriege zwischen beiden Völkern vermittelt, auf der anderen Seite gab es Hochachtung vor den französischen Beiträgen zur Aufklärung und große Sympathien für die revolutionäre Tradition von 1789, für die Tradition der Pariser Kommune und nicht zuletzt für die Kämpfe der Résistance gegen Faschismus und Krieg. So spiegelte sich unser Bild von Frankreich auch in den Erzählungen vieler Antifaschisten wider, die zusammen mit Franzosen gegen die deutsche Invasion in der Résistance gekämpft haben.

   Der französische Botschafter in der Bundesrepublik erklärte 1995 gegenüber Deutschen, die in der Résistance gegen Hitler gekämpft hatten, dass die Wurzeln der deutsch-französischen Versöhnung in dem gemeinsamen Kampf gegen den Faschismus liegen. Ich kenne viele deutsche Kämpfer der Résistance, die in Frankreich mit offenen Armen empfangen werden, aber in der Bundesrepublik, leider auch von dieser Regierung, bisher nicht die entsprechende Aufmerksamkeit erfahren haben. Hier gibt es, wie ich denke, noch Nachholbedarf.

   Aus all meinen persönlichen Erfahrungen speiste sich immer ein Gefühl der Achtung und des Respekts gegenüber dem französischen Volk, einem Volk, das sich zu Antifaschismus, Toleranz und gesellschaftlichem Fortschritt bekannte.

Ganz im Gegensatz zur Bundesrepublik der 60er- und 70er-Jahre, wo gegen solche Leute Berufsverbote verhängt wurden, spielten im politischen Leben Frankreichs Linke und Kommunisten immer eine normale und geachtete Rolle. Viele Prominente und Intellektuelle schlossen sich der kommunistischen und der Gewerkschaftsbewegung an. So kam Frankreich bei vielen Ostdeutschen oft besser weg als die damalige Bundesrepublik.

   Ich verstehe daher auch den Beitrag der Ostdeutschen als Träger von deutsch-französischen Beziehungen nicht nur quantitativ, sondern auch als kulturelle Bereicherung, die auf die Traditionen von Humanismus, Antifaschismus und gesellschaftlicher Toleranz Bezug nimmt und die dazu beitragen kann, die in der Geschichte entstandenen und leider sicher auch heute noch in der einen oder anderen Form vorhandenen Vorbehalte zwischen beiden Völkern abzubauen und zu überwinden.

   Ich möchte zum Abschluss noch einen Aspekt besonders hervorheben. Die große Lehre aus der deutsch-französischen und der europäischen Geschichte, die über Jahrhunderte viele verheerende Kriege hervorbrachte, besteht in der Erkenntnis, dass sich Konflikte nicht mit Gewalt lösen lassen. Umso mehr muss dieser Jahrestag auch Anlass für ein gemeinsames Bekenntnis zu Frieden und Zusammenarbeit sein. Angesichts der Gefahr eines neuen Golfkrieges liegt es, so denke ich, auch in der besonderen Verantwortung der Bundesrepublik und Frankreichs, sich als Mitglieder des Sicherheitsrates aktiv für einen friedlichen Weg einzusetzen und dies auch dann zu tun und durchzuhalten, wenn es Gegenwind gibt, statt einer falschen Doktrin zu folgen. Denn der Krieg wird dieser Region keine Befriedung geben, sondern zu neuem Terror aufwiegeln.

   Möge sich hier die Achse Paris-Berlin als eine verlässliche Stütze der europäischen und internationalen Kriegsgegner erweisen. Ich denke, dabei haben die politisch Verantwortlichen das deutsche und das französische Volk auf ihrer Seite.

   Vielen Dank.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

Präsident Wolfgang Thierse:

   Ich erteile das Wort Gert Weisskirchen, SPD-Fraktion.

Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD):

   Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jean Monnet hat einmal gesagt: Europa ist ein Beitrag zu einer besseren Welt. War das nicht eigentlich das Leitmotiv, das dem Élysée-Vertrag seinen Sinn gegeben hat und für immer geben wird, nämlich - wie es darin heißt - eine alte Rivalität zwischen den Deutschen und den Franzosen zu beenden, damit sie solidarisch miteinander leben? Charles de Gaulle und Konrad Adenauer haben damals als gemeinsames Ziel erklärt, „dass die Verstärkung der Zusammenarbeit ... einen unerlässlichen Schritt auf dem Wege zu dem vereinigten Europa bedeutet“.

   Die deutsch-französische Freundschaft also muss, seither jedenfalls, immer wieder neu erkämpft und erarbeitet werden. Sie ist keine Selbstverständlichkeit. Sie lebt, wenn sie immerfort aufgebaut wird, getragen aus der Mitte unserer Gesellschaften, immerzu angetrieben von einem stetigen politischen Willen. Tausende von Städtepartnerschaften, von Gemeinden, die zueinander gefunden haben, bilden das feste Netzwerk, das wir miteinander geschaffen haben. Dieses Netzwerk der Zivilgesellschaften, der Menschen, die zusammenarbeiten, ist unzerreißbar. Durch die Instrumente, die entwickelt worden sind, haben in diesen 40 Jahren beispielsweise 6,5 Millionen Jugendliche an Austauschprogrammen teilgenommen. Es sind noch immer jährlich - Frau Merkel hat das Thema angesprochen - 140 000 Jugendliche, die einander begegnen. Daran wollen wir festhalten, denn das ist das feste Fundament, auf dem wir eine gemeinsame Zukunft aufbauen wollen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

   Der Élysée-Vertrag war ein Meilenstein, der Deutschland einen Weg in die Europäisierung gezeigt hat. Vielleicht darf ich an die Kolleginnen und Kollegen von der Union gewandt sagen - gerade als Deutscher, gerade als Mitglied der Sozialdemokratie, die gegründet worden ist, um die Enge des nationalen Denkens zu überwinden -:

Es war ein Glücksfall, dass Konrad Adenauer und Charles de Gaulle, die beide aus einem eher konservativen Lager stammten, zueinander gefunden haben. Es war auch für die Sozialdemokratie ein glücklicher Umstand, weil damit die Zeit jahrzehntelanger Gegnerschaft und Rivalität zwischen Deutschen und Franzosen beendet werden konnte.

   Denken Sie an 1871, als es im Reichstag Stimmen - wenn auch nur wenige Stimmen, darunter die von August Bebel - gegen den deutsch-französischen Krieg gegeben hat. Das ist die Tradition, die die deutsche und französische Sozialdemokratie miteinander verbindet: Es gab den Versuch, den Ersten Weltkrieg abzuwenden. Ich nenne ferner die Demonstrationen, an denen Léon Blum und August Bebel in Basel teilgenommen hatten, um die schreckliche Tragödie, die dann über Europa hereinbrach, zu verhindern.

   Denken Sie an 1925, als im Heidelberger Programm der deutschen Sozialdemokratie gefordert wurde - dies ist vielleicht ein verstaubter Begriff -: Wir wollen die Vereinigten Staaten von Europa schaffen. Was wäre geschehen, wenn dieser Grundgedanke der Sozialdemokratie damals Realität geworden wäre? Vielleicht wären diesem Kontinent die zwei Weltkriege, die ihn so zerrissen haben und die ihn haben so bluten lassen, erspart geblieben. Dieser Grundgedanke liegt in der Tradition der Sozialdemokratie beider Länder und der europäischen Sozialdemokratie.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Nicht vergessen werden darf: Der Élysée-Vertrag hat schießlich die Möglichkeit geschaffen, dass Willy Brandt seine Ostpolitik machen konnte. Nur aufgrund der festen Verwurzelung Deutschlands in der atlantischen Allianz und in der Europäischen Gemeinschaft sowie der festen Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland war es möglich, dass es eine nach Osten gewandte Politik der Verständigung gab. Die Politik Willy Brandts war nur möglich - er hat das immer wieder betont -, weil es diese feste Bindung Deutschlands an Europa gegeben hat. Darin liegt der unendlich große historische Gewinn, den Konrad Adenauer und Charles de Gaulle für unsere beiden Nationen geschaffen haben. Auf diesem Fundament stehen wir und auf diesem Fundament werden wir weiterarbeiten, damit - dieses Ziel wurde schon im Élysée-Vertrag formuliert - Europa ein Kontinent des Friedens wird. Diesem Ziel bleiben wir verpflichtet und daran werden wir weiterarbeiten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Natürlich hat es - auch das ist heute schon angesprochen worden - in der Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland immer wieder Verstimmungen gegeben. Es gab auch manches Missverständnis. Vielleicht sollten wir überlegen - Kollege Gerhardt hat es vorhin schon angesprochen -, woher ein Teil dieser Missverständnisse kommt. Ein Teil rührt sicherlich daher, dass wir unterschiedliche historische Erfahrungen haben. Frankreich achtet aus seiner großen Tradition der Aufklärung und der bürgerlichen Revolution heraus natürlich darauf, dass der Zentralstaat das wichtigste Element der nationalen Identität ist und bleibt. In Deutschland ist der föderale Gedanke der wichtigste Bestandteil unseres Selbstverständnisses. Die Föderation der Länder ist für uns unverzichtbar - aus ihr ziehen wir unsere Kraft - und wird uns noch für lange Zeit prägen.

   Aber gerade weil es diese Unterschiedlichkeiten zwischen föderalem Staat und Nationalstaat, zwischen lokaler Autonomie und zentraler Politik gibt, besteht für das gemeinsame Duo Deutschland und Frankreich die große Chance, den Kerngedanken der europäischen Integration lebendig zu halten.

Den Grund dafür nennt „Le Monde“ heute in einem wunderbaren Artikel über den Vorschlag von Jaques Chirac und Gerhard Schröder: dass wir immer dazu verdammt sind, den Zwang des Kompromisses selbst zu erarbeiten, aus den Logiken, die auseinander fallen - oder, wie Verfassungsrechtler sagen, aus der doppelten Legitimation Europas -, eben aus dem Nationalen und aus dem Regionalen heraus die Kraft zu schöpfen. Dieses Spannungsverhältnis müssen wir produktiv nutzen und in den gemeinsamen Prozess der Integration einbringen. Das ist das, was Europa lebendig macht und lebendig hält.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist vielleicht auch der Grund dafür, dass die große Weltmacht unserer Zeit, die Vereinigten Staaten von Amerika, nicht ganz versteht, was die europäische Integration bedeutet. Dieses Spannungsverhältnis aus den Regionen und aus den Kommunen ist für die USA zwar etwas ganz Natürliches. Daraus leben die USA auch selbst. Doch die Vielfalt in den Sprachen und in den unterschiedlichen Konzepten verwirrt manche innerhalb der USA. Es ist ja auch schwierig, damit umzugehen. Nur sage ich: Wenn diese unterschiedlichen kulturellen, sprachlichen und politischen Herkünfte zueinander finden, wenn sie miteinander Kooperationsbedingungen eingehen, machen sie die wirkliche Modernität unserer Zeit aus - nicht die Hegemonialmacht, sondern das, was uns in Europa miteinander verbindet, dass wir aufeinander hören, dass wir jeden, auch den Kleinen, ernst nehmen und ihm Respekt zollen. Diese unterschiedlichen Herkünfte müssen wir zusammenbinden und zusammenzuführen, um aus dieser produktiven Spannung heraus ein neues, integratives Europa zu schaffen. Das ist die wirkliche Kraft Europas, das ist die Modernität. Ich finde, in diesem Punkt hat das europäische Modell eine Faszination, die stärker ist als die Faszination der USA. Ich darf das so, jedenfalls für mich, sagen.

(Beifall bei der SPD)

   Ein letzter Aspekt, Herr Präsident, gerade auch aus Ihrer eigenen Vergangenheit und Geschichte heraus: Dieses faszinierende Modell hat gerade im Osten Europas gewirkt. Gestern noch hat mir Kazimierz Wojcicky, einer der großen Denker der polnischen Dissidenz, gesagt: In den 70er-Jahren war dieses sich integrierende Europa, der Westen, das große faszinierende Modell dafür, wie man sich selber entwickeln kann, wie man eine zivile Gesellschaft vorantreiben und von unten entwickeln kann, um zu versuchen, dass Polen, Deutschland und Frankreich der Kern werden für ein sich vereinigendes Europa. Ein Gedanke, der 30 Jahre alt ist, der auf dem Élysée-Vertrag fußen kann und der im nächsten Jahr Realität wird. Ein wunderbarer Gedanke von Charles de Gaulle und von Konrad Adenauer ist Realität geworden und heute kann Europa sagen: Das hat uns vorangebracht und daran werden wir festhalten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

   Ich erteile das Wort dem Ministerpräsidenten des Saarlandes, Peter Müller.

Peter Müller, Ministerpräsident (Saarland):

   Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Élysée-Vertrag markierte weder den Beginn noch den Endpunkt des Prozesses der deutsch-französischen Aussöhnung. Aber er war sicherlich eine wichtige Wegmarke in diesem Prozess, denn er besiegelte nach Jahrhunderten blutiger Auseinandersetzungen den Frieden zwischen Deutschen und Franzosen. Der Begriff der Erbfeindschaft, der sehr lange die Debatte geprägt hat, wurde damit überwunden. Es ist gerade einmal 70 Jahre her, dass ein vermeintlicher Philosoph wie Joseph Sieberger formulierte: Deutsche und Franzosen markieren die jeweils äußerste Möglichkeit des Menschseins.

   Vor diesem Hintergrund war der Élysée-Vertrag, den Konrad Adenauer und Charles de Gaulle unterschrieben haben, ein nicht unumstrittener Pakt, der darauf abzielte, menschliche Begegnungen zu ermöglichen, der aber vor allem darauf abzielte, in der Zukunft konstruktiv und schöpferisch zusammenzuarbeiten.

Er wurde Grundlage der deutsch-französischen Zusammenarbeit. Aus ihm hat sich die Rolle Deutschlands und Frankreichs als Motor der europäischen Integration entwickelt, ganz im Sinne Robert Schumans, der gesagt hat: „L’Europe ne sera possible sans la France et sans l‘Allemagne.“

   Gerade für ein Land wie dasjenige, aus dem ich komme, das Saarland, das zwischen den Nationalstaaten Deutschland und Frankreich immer wieder hin- und hergeworfen wurde, ist der Élysée-Vertrag ein Vertrag von unschätzbarem historischen Wert. Deshalb ist es richtig, den 40. Jahrestag zu feiern. Deshalb ist es richtig, dass sich die nationalen Parlamente zu dieser Gelegenheit zu einer gemeinsamen Sitzung treffen. Deshalb ist es kleinkariert, darüber ausschließlich unter Kostengesichtspunkten zu diskutieren. Das wird der historischen Bedeutung des Vertrages nicht gerecht.

(Beifall im ganzen Hause)

   Ich freue mich, hier im Bundestag als Bevollmächtigter der Bundesrepublik Deutschland für kulturelle Angelegenheiten im Rahmen des Vertrages einige Sätze sagen zu dürfen. Diese Institution wurde vor dem Hintergrund der Kulturhoheit der Länder und vor dem Hintergrund der Erfahrung, dass in diesen Beziehungen gerade die Kultur eine besondere Rolle spielt, in den Vertrag mit aufgenommen. Jean Monnet soll auf die Frage, was er mit Blick auf den Prozess der europäischen Integration anders machen würde, wenn er noch einmal von vorne anfangen könnte, gesagt haben: Wenn ich noch einmal von vorne anfangen könnte, dann würde ich mit der Kultur beginnen. Das zeigt die Bedeutung der kulturellen Beziehungen, die Bedeutung der interkulturellen Kommunikation. Nur wenn diese funktioniert, kann auch Freundschaft funktionieren. Deshalb ist dies ein ganz wichtiger und zentraler Punkt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Die vermeintliche Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich war nur vor dem Hintergrund der kulturellen Selbstüberschätzung der jeweils eigenen Nation und vor dem Hintergrund der kulturellen Abwertung der jeweils anderen möglich. Die deutsche Kultur und die „civilisation française“ galten im Selbstverständnis beider Nationen lange als unüberbrückbare Gegensätze. Die Überwindung dieser Gegensätze, die kulturelle Aussöhnung und die kulturelle Wertschätzung des jeweils anderen, war die Basis für den Prozess der gesamten Aussöhnung. Nur auf der Basis einer Kultur der Toleranz, nur auf der Basis gemeinsamer Werte und nur auf der Basis des klaren Bekenntnisses zu Freiheit, Demokratie und universellen Menschenrechten konnte die deutsch-französische Aussöhnung gedeihen. Nur auf dieser Basis und auf der Grundlage des Élysée-Vertrages kann auch in Zukunft weitergearbeitet werden. Ich glaube, dass gerade in diesem Zusammenhang auch in der heutigen Zeit der Élysée-Vertrag Bedeutung und Aktualität hat.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Der Prozess der Aussöhnung ist sicher eine der größten historischen Leistungen in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Für unsere junge Generation, für meinen 15-jährigen Sohn, ist die Aussöhnung keine große Errungenschaft mehr. Für ihn ist die deutsch-französische Freundschaft eine Selbstverständlichkeit geworden. Deshalb brauchen wir, wenn wir junge Menschen für dieses Projekt gewinnen wollen, eine weitergehende, eine zusätzliche Begründung. Diese weitergehende Begründung sollte das klare Bekenntnis zu Freiheit, Demokratie und Menschenrechten, das Eintreten für Frieden und Toleranz überall auf der Welt sein. Auf dieser Grundlage können wir die Rolle eines Motors in Bezug auf die europäische Integration wahrnehmen. Mit diesem Inhalt können wir junge Menschen für die Mitarbeit am Projekt der deutsch-französischen Freundschaft gewinnen. Es gilt, genau an diesem Punkt anzusetzen.

   Die deutsch-französische Freundschaft kann nur gedeihen, wenn sie nicht nur in den Institutionen und in den Köpfen der Politiker vorhanden ist, sondern auch in den Herzen der Menschen verinnerlicht ist, insbesondere in den Herzen der jungen Menschen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

   In der kulturellen Zusammenarbeit sind in den 40 Jahren des Bestehens des Élysée-Vertrages viele Fortschritte erzielt worden.

Wir sollten diese Fortschritte nicht kleinreden. Das Deutsch-Französische Jugendwerk ist angesprochen worden. Fast 7 Millionen Menschen sind sich in den zurückliegenden Jahren begegnet. Ich kenne keine vergleichbare Institution, die so viele junge Menschen zueinander bringt, wie das Deutsch-Französische Jugendwerk es tut.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)

   Wir sollten aber auch zur Kenntnis nehmen, dass sich - ich habe dies selbst erfahren -, junge Deutsche und junge Franzosen auch bei Zusammenkünften unter dem Dach des Deutsch-Französischen Jugendwerkes miteinander weder deutsch noch französisch unterhalten, sondern in Englisch.

(Zuruf von der SPD: Na und?)

Dies ist ein Punkt, der uns nachdenklich machen muss. Es ist bereits angesprochen worden: Die deutschen Sprachkenntnisse in Frankreich gehen ebenso wie die französischen Sprachkenntnisse in Deutschland zurück. Ich glaube, wir dürfen uns damit nicht abfinden. Wir sollten uns vor falschen Frontstellungen hüten. Es ist klar, dass Englisch in der heutigen Zeit unverzichtbar geworden ist. Deshalb heißt die Herausforderung auch nicht Bilingualität, sondern Trilingualität.

   Vielleicht sollten wir einmal darüber nachdenken, ob nicht zumindest in den grenznahen Regionen die Vermittlung der Sprache des Nachbarn, die Vermittlung der französischen Sprache nicht nur eine Aufgabe für unsere Schulen ist, sondern ob wir nicht verstärkt damit beginnen müssen, diese Vermittlung bereits in die vorschulischen Einrichtungen zu tragen. Die Erfahrungen, die wir mit Kindergärten machen, in denen französische Muttersprachlerinnen und Muttersprachler beschäftigt sind, sind höchst ermutigend. Das ist vielleicht ein Weg, um das Zurückgehen der Französischkenntnisse in Deutschland abzubremsen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Es gibt viele andere Bereiche, in denen wir vorangekommen sind: mehr als 100 Schulen mit bilingualen Klassenzügen, 23 Gymnasien, die das Abi-Bac, also das deutsche und das französische Abitur gleichzeitig, anbieten, das deutsch-französische Sekretariat, das jedes Jahr etwa 4 000 junge Auszubildende zusammenführt, die deutsch-französische Hochschule mit Sitz in Saarbrücken, ein Erfolgsmodell mit mittlerweile mehr als 100 angeschlossenen Universitäten und mit inzwischen mehr als 4 000 Studenten.

   Wenn aber die Aufgabe Deutschlands und Frankreichs gerade darin besteht, weiterhin Motor der europäischen Entwicklung und der Erweiterung der Europäischen Union zu sein, dann sollten wir darüber nachdenken, diese Hochschule weiterzuentwickeln, uns zwar nicht nur mit Blick auf binationale, sondern mit Blick auf trinationale, auf multinationale Studiengänge, dann sollten wir sie zu einer europäischen Universität weiterentwickeln, die aus dem binationalen Erfolgsmodell ein europäisches Erfolgsmodell macht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

   Neben allem, was erreicht wurde, gibt es eine Vielzahl von Dingen, die gerade auch im Bereich des kulturellen Austauschs noch bewältigt werden müssen: Noch immer ist es nicht vollständig gelungen, Diplome und Abschlüsse gegenseitig anzuerkennen. Die Zusammenarbeit der Museen und der Rundfunkanstalten kann ausgebaut werden. Über die Reichweite eines Senders wie Arte sollte man noch einmal nachdenken. Grenzüberschreitende Kulturereignisse finden immer noch in relativ begrenztem Umfang statt. Die Problematik der Sprachkenntnisse habe ich bereits angesprochen.

   Ich glaube deshalb, dass der Élysée-Vertrag ein Vertrag ist, der vieles bewirkt hat, auf den wir mit Freude blicken können, der uns aber unverändert auch nach 40 Jahren noch viele Aufgaben für die Zukunft stellt. Auf der Grundlage des Élysée-Vertrages haben Deutsche und Franzosen zur Versöhnung gefunden und sind zum Motor der europäischen Einigung geworden. Der Élysée-Vertrag ist eine Erfolgsgeschichte, aber die letzten Kapitel sind noch lange nicht geschrieben. Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass auch die noch folgenden Kapitel zu erfolgreichen Kapiteln werden.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

   Nächste Rednerin ist die Kollegin Monika Griefahn, SPD-Fraktion.

Monika Griefahn (SPD):

   Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Freundschaft - das kennen Sie aus Ihren eigenen Beziehungen - ist eben keine Selbstverständlichkeit, sondern muss immer wieder erarbeitet werden. Anderenfalls hätten wir auch innerdeutsch nicht so viele Trennungen. Das gilt auch dann, wenn der

Titel einer jüngst erschienenen Studie unsere Länder als „Ganz normale Freunde“ beschreibt, und das nach Jahrhunderten von Krieg und Feindschaft.

   Mich berührt immer noch, wenn der Konzertchor von Canteleu - das ist eine kleine Stadt in der Normandie - mit seinem Partner aus Buchholz in der Nordheide ein gemeinsames Konzertwochenende organisiert, bei dem die Mitglieder der Chöre in den Familien wohnen, gemeinsame Aufführungen machen und gemeinsam feiern. Das wäre vor einem halben Jahrhundert so nicht möglich gewesen und zeigt mir, dass der Dialog nach Kriegen und emotionale Nähe möglich sind. Ich glaube, das ist ein ganz wichtiges Gut.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Aber auch die normalste Freundschaft braucht hin und wieder einen Anstoß, um lebendig zu bleiben. Wir hatten öfter Stillstand zu verzeichnen, das Erstarren in Ritualen war und ist manchmal eine Gefahr. Auch das haben wir erlebt. Vor allen Dingen in den 90er-Jahren schien es, als ob die Fähigkeiten und der Wille zu gemeinsamen europapolitischen Projekten abnähmen.

   Das hatte viele Ursachen, eines aber wurde deutlich: Erst ein Befreiungsschlag wie die Kompromisse von Brüssel Ende Oktober 2002 und - zu meinem Leidwesen als Sozialdemokratin - das Ende der Kohabitation in Frankreich machten es möglich, neue Impulse für unsere Beziehungen zu geben.

   Deutlich wird immer wieder: Nur gemeinsam können wir europäische Integrationspolitik vorantreiben, keiner kommt am anderen vorbei. Das zeigt auch das Ergebnis des jüngsten Gespräches zwischen Kanzler Schröder und Präsident Chirac.

   Allerdings werden in einer erweiterten Union auch zusätzliche Führungsqualitäten gefragt sein. Die Fliehkräfte in der EU werden größer und das bedeutet, dass wir eine zusätzliche Verantwortung haben. Die Rolle unserer beiden Länder in Europa wird wachsen und wir müssen wieder Motor sein, damit Europa durch die zusätzlichen Mitglieder stärker und nicht schwächer wird.

   Kurzfristig werden alle Blicke auf die Ausgestaltung und Umsetzung der Arbeit im Verfassungskonvent gerichtet sein. Neben den Fragen der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik sowie der europäischen Innenpolitik ist ein Thema, das heute bereits mehrfach angesprochen wurde, zentral: Wir müssen die Besonderheit der kulturellen Vielfalt in Europa erhalten und gleichzeitig die Stärke der Bürger nutzen.

   Jean Monnet hat gesagt - Herr Müller hat es ausgeführt -, dass er, wenn er das Projekt der europäischen Einigung noch einmal anfangen müsste, mit der Kultur beginnen würde. In der Tat: Die Kultur schien schwach beleuchtet zu sein, aber gerade hier liegt das größte und interessanteste Potenzial der europäischen Einigung, wie es schon der Kollege Weisskirchen gesagt hat.

   Das Potenzial ist groß, weil es so viele unterschiedliche Kulturen bereits in einem Land gibt, wodurch schon sichtbar wird, wie wichtig der Erhalt und die Förderung der kulturellen Vielfalt in Europa ist. Interessant und schwierig ist es deshalb, weil Fragen der Sprache, der Musik, der Literatur, des Films und damit auch des Selbstverständnisses herausragende Ansatzpunkte für produktive Auseinandersetzungen und kreative Lösungen bieten, auf die andere Regionen der Welt schauen, um davon lernen zu können. Das ist gerade für unsere Arbeit in Krisenregionen wichtig.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Bei der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Ländern geht es eben nicht um die Schaffung einer europäischen Kultur, im Gegenteil: Die Beteiligung der Bürger und besonders der unterschiedlichen Gruppen in Europa ist ein Schlüssel für die Akzeptanz und damit auch für den Erfolg von Europa. Solange es heißt, das passiert da hinten in Brüssel, werden wir keinen Erfolg haben. Wir müssen alle beteiligen.

   Alle Vorschläge zu vertieften bilateralen Beziehungen auf parlamentarischer und Regierungsebene, so sehr ich sie begrüße und fördere - ich glaube, dass wir in der letzten Legislaturperiode viele gemeinsame Schritte, auch mit der Assemblée Nationale, gemacht haben -, reichen nicht weit, wenn wir nicht darauf achten, das ungeheure Interesse, das die Gesellschaften aneinander haben, wirklich zu fördern und weiterzuentwickeln.

   Es gibt die Städtepartnerschaften, in deren Rahmen sich Jugendgruppen, Sportler und Ratsmitglieder treffen und eine andere Kultur und andere Denkstrukturen direkt kennen lernen. Das Deutsch-Französische Jugendwerk - es wurde schon mehrfach erwähnt - tauscht immer noch wie im Jahr 1963 200 000 Jugendliche jährlich aus; ihm stehen aber heute, nach Kaufkraft berechnet, nur noch 34 Prozent der Mittel, die es 1963 hatte, zur Verfügung.

Daran müssen wir sicherlich etwas ändern, wenn wir von dem wegkommen wollen, was eine Studie des Deutsch-Französischen Jugendwerkes vor zwei Tagen veröffentlicht hat: Obwohl die Jugendlichen die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich für gut halten, besteht das Wissen übereinander immer noch aus Stereotypen, wenn sie nicht an einem Austausch teilgenommen haben. Diese Stereotypen lauten „Baguette“, „Eiffelturm“ und „Käse“ auf deutscher Seite und „Zweiter Weltkrieg“, „deutsche Automarken“ und „deutsche Küche“ auf französischer Seite. Dies kann eigentlich nicht das Ergebnis sein, wenn man so eng miteinander arbeitet. Hier müssen wir nacharbeiten.

   Die Sprache ist ein ganz wichtiger Punkt. Wir brauchen die Umsetzung des Vorschlages von Jack Lang, der gesagt hat: Wir müssen in Europa zu einem System kommen, dass das Abitur mit mindestens zwei Sprachen abgeschlossen wird, dass wir also dadurch unsere Vielfalt erhalten, dass jeder neben Englisch noch eine zweite Sprache lernt. Dies muss vorangebracht werden.

(Beifall bei der SPD)

   Ich finde es interessant, dass die Zusammenarbeit der Deutschen und der Franzosen auch auf dem kulturellen Gebiet wirklich Früchte zeigt. Vor zwei oder drei Jahren wurde die Diskussion darüber, ob man zum Beispiel eine Quote für Film oder Musik einführen sollte, noch als vollkommen absurd abgetan. Heute wird dies von Musikproduzenten gefordert, weil sie das französische Modell gesehen haben. Sie haben zum Beispiel auch gesehen, dass in der WTO und in den GATS-Verhandlungen die kulturelle Vielfalt in Europa leidet, wenn wir solche Dinge in Europa nicht unterstützen. Hier gibt es viele Annäherungen und viel Zusammenarbeit.

   Wir haben viel zu tun, wir haben viele gemeinsame Projekte. Ich werde in diesem Sinne persönlich für die deutsch-französischen Beziehungen weiterarbeiten und mich dafür einsetzen, dass die Stärke von Europa, die kulturelle Diversität, erhalten bleibt.

   Ich freue mich auch auf die Begegnung der Parlamente in Versailles. Dies wäre noch vor einem halben Jahrhundert undenkbar gewesen. Wenn, dann gab es Regierungskontakte, aber keine Parlamentskontakte. Diese sind etwas wirklich Neues. Das sollten wir auch als positiv beschreiben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Unsere Möglichkeiten, neue Kontakte mit Parlamentariern auf der ganzen Welt zu knüpfen, werden gestärkt, wenn wir sehen, dass die Parlamente auf deutsch-französischer Ebene zusammenarbeiten.

   Ich denke, es liegen noch große Aufgaben vor uns. Wir müssen weiter zusammenarbeiten. Dazu sind auch der persönliche Kontakt und die emotionale Nähe notwendig. Wir sollten dies auch als solches positiv begreifen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

   Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU):

   Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir sind uns in diesem Hause einig: Die Einigung Europas bleibt auch in Zukunft auf das strategische Bündnis zwischen Deutschland und Frankreich angewiesen. Seit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die Einheitliche Europäische Akte, das Schengen-Abkommen, die Wirtschafts- und Währungsunion gab es keinen Integrationsfortschritt in der Europäischen Union, dem nicht eine gemeinsame deutsch-französische Initiative vorausgegangen wäre.

   Umgekehrt zeigten die Verhandlungen des Europäischen Rates in Berlin und Nizza, dass Europa nicht vorankommen kann, wenn Spannungen zwischen Frankreich und Deutschland manifest werden.

(Michael Glos (CDU/CSU): Sehr wahr!)

Wir begrüßen es daher ausdrücklich, dass bei den Feierlichkeiten am 22. Januar 2003 der Aufbau einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion angestoßen werden soll.

   Im „Spiegel“ dieser Woche war zu lesen:

In ihrer „Gemeinsamen Erklärung zum 40. Jahrestag des Élysée-Vertrags“ kündigen Bundeskanzler Gerhard Schröder ... und Staatspräsident Jacques Chirac an, „in internationalen Gremien, einschließlich des Sicherheitsrats, gemeinsame Standpunkte zu vertreten und abgestimmte Strategien gegenüber Drittländern festzulegen“.

Dies wäre ein echter Fortschritt. Wir unterstützen dies mit Nachdruck.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Gert Weisskirchen [Wiesloch] (SPD))

   Am Dienstag hat nun der Bundeskanzler auf einer Pressekonferenz betont, der deutsche Vertreter im UN-Sicherheitsrat habe gegen ein militärisches Vorgehen gegen den Irak zu stimmen, sollte es dort zu einer Abstimmung kommen. Deshalb, Herr Bundeskanzler, fragen wir Sie: Haben Sie dies so mit der französischen Seite abgestimmt oder nicht? Das müssen Sie spätestens am 22. Januar 2003 klipp und klar sagen.

Aus Paris hören wir nämlich ganz andere Töne. Sie können nicht dort feierliche Erklärungen abgeben, an die Sie sich zu Hause nicht halten.

   In Fragen der Sicherheitspolitik kann sich keiner auf unsere französischen Freunde berufen, der einen Sonderweg propagiert. Ganz im Gegenteil: Wenn es um den Schutz der eigenen Bevölkerung geht - um nichts anderes geht es ganz aktuell in der Irakkrise -, haben alle französischen Präsidenten, egal welcher Couleur, den engen Schulterschluss mit Amerika gesucht. Ich erinnere an die Rede von Präsident Mitterrand zum 20. Jahrestag des Élysée-Vertrages am 20. Januar 1983. In Deutschland tobte der Streit um den NATO-Doppelbeschluss, die Linke warnte vor amerikanischen Abenteuern und forderte einen deutschen Sonderweg. Wie sich Geschichte doch wiederholt!

(Beifall bei der CDU/CSU)

   In dieser Situation hat der große französische Sozialist Mitterrand vor dem Deutschen Bundestag seinen Genossen die Leviten gelesen.

(Zurufe von der CDU/CSU: So ist das! - So war es!)

Er forderte die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen, ohne die wir den Kalten Krieg nicht überwunden hätten. Er sprach sich vehement gegen die Abkopplung des europäischen Kontinents von den Vereinigten Staaten aus und für eine enge Solidarität unter den NATO-Staaten.

(Michael Glos (CDU/CSU): Gut, dass das einmal gesagt wird!)

Ich will eine Passage aus dieser Rede Mitterrands zitieren:

Es gibt kein vorbestimmtes Schicksal, und unsere Völker wissen sehr wohl, dass sie heute im Frieden das Wertvollste aller Güter haben, nachdem ihre Eltern, ihre Großeltern so häufig an der Front, in den Schützengräben, im Widerstand, in den Lagern, in den Befreiungsarmeen davon geträumt haben, dass Frankreich und Deutschland sich irgendwann einmal gegenseitig achten und zu einem guten Einvernehmen finden würden ...
Leider

- Herr Bundesaußenminister, gerade nach Ihren Einlassungen heute möchte ich Ihnen besonders folgenden Satz Mitterrands in Erinnerung rufen -

hilft es nicht, den Frieden wie eine unsichtbare Macht anzurufen. Man muss den Frieden aufbauen, jeden Tag mit eigenen Kräften neu bauen, festigen, absichern.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Dazu braucht man einen kühlen Kopf und einen festen Willen.

   Der Aufbau einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion ist eine zentrale Aufgabe der deutsch-französischen Zusammenarbeit. Dazu brauchen wir keine Stimmungsmache, sondern in der Tat einen kühlen Kopf und einen festen Willen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Unsere engen und freundschaftlichen Beziehungen sind Aufgabe der Politik. Sie sind aber, so hat es bereits de Gaulle 1962 bei seinem Deutschlandbesuch formuliert, insbesondere das Werk der Jugend. Es ist von den Vorrednern auf die großartige Erfolgsbilanz des Deutsch-Französischen Jugendwerkes hingewiesen worden, an dem bisher knapp 7 Millionen Jugendliche teilgenommen haben; Herr Müller, Sie haben das gerade erwähnt. Wir wünschen uns, dass in Zukunft nicht weniger, sondern noch mehr junge Menschen Kultur und Sprache des Partnerlandes kennen lernen. Es ist zu Recht gesagt worden: Während die wirtschaftlichen Verflechtungen immer enger werden, sinkt die Zahl derer, die jeweils die Sprache des Partnerlandes lernen.

   Ich will mit Nachdruck unterstreichen, was der Ministerpräsident des Saarlandes über die Wichtigkeit des Erlernens der Partnersprache als Drittsprache bereits in der Vorschule, in der Schule, aber auch später in der Hochschule gesagt hat. Herr Müller, lassen Sie mich aber ergänzen: Angesichts der engen wirtschaftlichen Verbindungen zwischen unseren Ländern ist es auch für Auszubildende und deren spätere berufliche Zukunft entscheidend, dass sie einen Teil ihrer dualen Ausbildung im Partnerland absolvieren können.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

   Es ist meiner Ansicht nach auch überfällig, bei der Erarbeitung von Lehrplänen und Schulbüchern zusammenzuarbeiten, ganz besonders bei der Erarbeitung von Schulbüchern für den Geschichtsunterricht.

   Meine Damen und Herren, die Erklärung des 79. deutsch-französischen Gipfels in Schwerin verweist völlig zu Recht auf die Bedeutung der Medien für die Schaffung einer europäischen Öffentlichkeit. Wir haben seit Jahren den deutsch-französischen Fernsehsender Arte. Ich habe überhaupt nichts gegen Arte. Allerdings handelt es sich dabei nur um ein Programm für ein elitäres, intellektuelles Publikum.

Wir brauchen deutsch-französische Medien und wir brauchen ein deutsch-französisches Fernsehprogramm für ein Massenpublikum,

(Beifall bei der CDU/CSU)

in dem Nachrichtensendungen, die Übertragung gesellschaftlicher und sportlicher Ereignisse, regionale Schwerpunktprogramme und vor allem auch Unterhaltungsprogramme und Quiz-Shows, in denen die jeweilige Lebensart und das kollektive gegenseitige Wissen zu einem Gemeinsamen werden, vorgesehen sind.

   Herr Müller, ich freue mich, dass Sie als Vertreter des Bundesrates heute an dieser Debatte über die deutsch-französischen Beziehungen teilnehmen. Wir müssen in den Grenzregionen der betroffenen Bundesländer noch viel stärker zusammenarbeiten und zu modellhaften, starken binationalen Räumen kommen. Wir müssen gemeinsame Verwaltungseinheiten aufbauen, eine gemeinsame Raumordnung und Verkehrsinfrastruktur schaffen und soziale Einrichtungen sowie Sportvereine grenzüberschreitend anlegen.

   Vor 40 Jahren hat man sich im Élysée-Vertrag damals kaum für möglich gehaltene ehrgeizige Ziele gesetzt, die für uns heute selbstverständlich sind. Warum sollten wir dann nicht auch über grenzüberschreitende politische Einheiten nachdenken und für die Europawahlen zum Beispiel grenzüberschreitende Wahlkreise errichten und binationale Wahllisten erstellen?

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

   Frankreich bleibt für Deutschland und Deutschland bleibt für Frankreich der größte Nachbar, der wichtigste Handelspartner und der wichtigste Partner innerhalb der Europäischen Union. Die Grenze zwischen Frankreich und Deutschland ist die längste zwischen zwei Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Beide haben keine Alternative zu dieser strategischen Partnerschaft.

   Für uns sind die privilegierten Beziehungen zu Frankreich durch die Wiedervereinigung Deutschlands und die Einigung Europas noch existenzieller geworden. In vielen bilateralen Fragen haben wir noch große Aufgaben vor uns. Wir können unser Verhältnis noch viel enger ausgestalten. Eine aktive deutsche Außenpolitik ist nur in einer funktionsfähigen Europäischen Union denkbar. Die internationale Handlungsfähigkeit Europas ist auf das enge und gleichberechtigte Zusammenwirken Deutschlands mit Frankreich angewiesen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

   Ich schließe die Aussprache.

   Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP auf Drucksache 15/295 zum Entwurf einer gemeinsamen Erklärung der Französischen Nationalversammlung und des Deutschen Bundestages zur interparlamentarischen Zusammenarbeit. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Tagesordnungspunkte 3 c und 3 d: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/200 und 15/296 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Allerdings sollen diese Vorlagen - abweichend von den in der Tagesordnung gemachten Angaben - federführend vom Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union beraten werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

   Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:

4. Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung

Jahresbericht 2002 der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit

- Drucksache 14/9950 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)
Innenausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister Manfred Stolpe.

Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen:

   Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit ist noch kein Thema, das Begeisterungsstürme auslösen kann; denn harte Fakten fallen zuerst ins Auge: Die jüngsten Arbeitsmarktzahlen weisen im Osten eine Durchschnittsarbeitslosigkeit von 18,4 Prozent gegenüber 8,2 Prozent im Westen aus. Die Abwanderung vor allem junger Leute dauert unvermindert an. Der Wohnungsleerstand beträgt an einigen Standorten mehr als 20 Prozent und er wächst weiter. Diese Liste ließe sich fortsetzen.

   Doch ist auch wahr: Die Wertschöpfung von Unternehmen, speziell im verarbeitenden Gewerbe, ist seit 1996 um 30 Prozent gestiegen. Die Zuwachsraten liegen über denen Westdeutschlands. Große Unternehmen, zum Beispiel der Autoindustrie und der chemischen Industrie, haben mit strategischem Blick in Ostdeutschland erheblich investiert. Im Wissenschafts- und Forschungsbereich sind neue und zukunftssichere Arbeitsplätze entstanden. Die ostdeutschen Hochschulen und Institute haben weltweit einen guten Ruf. Wirtschaftliche Zentren entwickeln sich in erfreulicher Weise. Alle Länder weisen mittlerweile starke industrielle Kerne auf.

   Die Zahl der Existenzgründungen, zum Beispiel in Sachsen und Brandenburg, liegt, auf die Bevölkerung bezogen, über der in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen. Die Angebote der Kinderbetreuung sind im Osten des Landes hervorragend.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Der Kampf gegen die Flut und ihre Folgen hat einmal mehr die Tatkraft, die Belastbarkeit und die Leistungsfähigkeit der Menschen in Ostdeutschland gezeigt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Es ist eindeutig: Zwölf Jahre deutsch-deutscher Solidarität und tatkräftiger Aufbauarbeit in den neuen Bundesländern haben einen gewaltigen Fortschritt gebracht. Weitaus mehr als die Hälfte des Rückstandes ist überwunden. Die Menschen wollen die Angleichung der Lebensverhältnisse durch eigene Leistung mitgestalten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir im Osten Deutschlands wollen nicht mehr länger Bremsklotz der wirtschaftlichen Entwicklung, sondern aktive Mitgestalter eines starken und zukunftssicheren Deutschlands sein. Das muss unser gemeinsames Interesse sein.

   Noch müssen wir Überbrückungs- und Stützungsmaßnahmen insbesondere für den Arbeitsmarkt leisten. So werden wir bis auf Weiteres Arbeitsförderungsmaßnahmen, Strukturanpassungsmaßnahmen und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen finanzieren müssen; denn vorerst ist die Zahl der Arbeitswilligen weitaus größer als die Zahl der Arbeitsplätze.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Das gilt auch für Maßnahmen, die die Bundesregierung zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit ergriffen hat. In den neuen Ländern sind im Jahr 2001 rund 165 000 junge Menschen unter 25 Jahren durch gesetzliche Maßnahmen gefördert worden. Entsprechend groß muss unser Engagement auch sein, wenn es um die Schaffung von Ausbildungsplätzen geht. Trotz aller Anstrengungen sind wir weiterhin auf öffentlich finanzierte Ausbildungsplätze angewiesen. Im Jahr 2002 waren es fast 37 000. Auch das JUMP-Plus-Programm ist gegenwärtig unverzichtbar.

   All das reicht jedoch nicht. Zusätzlich werden wir uns auch alle schon beschlossenen Maßnahmen vornehmen müssen, die uns gerade in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik helfen können. Unsere Konzeption heißt, die wichtigsten Hebel entschlossen und beharrlich ansetzen. Diese Hebel kennen wir. Wir müssen sie nicht erst ratlos suchen. Mit der Umsetzung des Hartz-Konzeptes und der Neuordnung des Arbeitsmarktes haben wir einen wichtigen Schritt getan,

(Manfred Grund (CDU/CSU): Das bringt für den Osten gar nichts!)

zum Beispiel werden „Kapital für Arbeit“ sowie steuerliche Erleichterungen für Existenzgründungen und Kleinstunternehmen auch im Osten Arbeitsplätze schaffen.

(Manfred Grund (CDU/CSU): Nicht einen einzigen!)

   Ein wichtiger Hebel wird die Mittelstandsoffensive sein; denn der Mittelstand ist das Herz der ostdeutschen Wirtschaft. Die Mittelstandsoffensive schreibt die bisherigen Hilfen fest. Neue Fördermaßnahmen kommen hinzu. Wir wollen, dass sich der Mittelstand im industriellen Dienstleistungsbereich noch besser entwickelt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Gründung einer Mittelstandsbank wird für ganz neue Impulse bei Existenzgründern und investitionsbereiten mittelständischen Unternehmen sorgen. Die Mittelstandsbank wird Förderwege vereinfachen und beschleunigen. Sie wird Möglichkeiten für die Stärkung des Eigenkapitals der Unternehmen schaffen. Sie wird zusätzliche Beratungsaktivitäten entwickeln und Unternehmen unterstützen, die bisher Schwierigkeiten hatten, eine Hausbank zu finden.

   Wir wollen, dass sich der Mittelstand in den neuen Ländern vor Ort entwickelt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Aber natürlich wollen wir auch Unternehmensansiedlungen fördern.

   Denn Ostdeutschland ist ein guter Investitionsstandort.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die zentrale europäische Lage, die immer besser werdende Infrastruktur, qualifizierte Arbeitskräfte, in der Regel schnelle Verwaltungsverfahren und nicht zuletzt gute Investitionsförderung sollten wir weltweit stärker herausstellen. Wie man das macht, zeigt das Industrial Investment Council, IIC. Dieses Promotionsbüro, dessen Name im Ausland bekannter ist als hierzulande, wurde von Bund und Ländern, Wirtschaftsvertretern und der Deutschen Ausgleichsbank initiiert. Es dient der Investitionswerbung.

   Seit 1997 hat das IIC 88 Projekte mit einem Investitionsvolumen von 4,1 Milliarden Euro und rund 19 000 Arbeitsplätzen angeworben. Es soll zunächst bis Ende 2004 weitergeführt werden. Der Kollege Clement und ich werben dafür, dass eine Weiterführung auch über diesen Termin hinaus möglich wird. Ich nutze die Gelegenheit, um auch Sie um Ihre Unterstützung zu bitten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Die Bundesregierung wird die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die neuen Länder durch eine Vielzahl von Maßnahmen weiter verbessern. Dazu zählt auch der Neu- und Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, eines wichtigen Hebels der Standortentwicklung. Entsprechend haben wir die Investitionspolitik in diesem Bereich von Beginn an gestaltet. In den Jahren 1999 bis 2002 entfielen mehr als die Hälfte der Mittel des Investitionsprogramms auf die neuen Länder. So konnten dort 18 Milliarden Euro in die Verkehrswege investiert werden. Damit haben wir wichtige Projekte wie den Bau der Ostseeautobahn A 20 vorfristig gesichert. Auch in Zukunft werden die neuen Länder bei den Verkehrsinvestitionen besondere Berücksichtigung finden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie sollen einen Schwerpunkt im neuen Verkehrswegeplan bilden. Dabei wird es auch um den Neubau wichtiger Verkehrsachsen gehen. Ich nenne in diesem Zusammenhang die A 14 zwischen Magdeburg und Schwerin, die A 72 zwischen Leipzig und Chemnitz und die Hochgeschwindigkeitsstrecke der Bahn von Nürnberg über Erfurt nach Berlin.

(Beifall bei der SPD)

   Lassen Sie mich an dieser Stelle einfügen: So, wie der Aufbau Ost eine Aufgabe im Interesse von ganz Deutschland ist, werde ich mich auch für den Ausbau West einsetzen. Denn zum Beispiel sind überlastete und verstopfte Verkehrswege in westlichen Entwicklungszentren auch eine Behinderung wirtschaftlicher Entwicklung für das gesamte Land.

   In den neuen Bundesländern gibt es noch erhebliche Rückstände in der kommunalen Infrastruktur. Straßen und öffentliche Gebäude bedürfen dringend der Instandsetzung. Da gibt es noch viel Arbeit und die Attraktivität der Städte könnte erheblich verbessert werden. Doch die Finanzkraft der Kommunen ist gering. Oft sind sie nicht in der Lage, die Kofinanzierung für Bundes- oder Landesprogramme aufzubringen. Ich setze hierbei dringend auf die Kommission Kommunalfinanzen, damit hier Auswege aufgezeigt werden können. Wenn es aber keine schnellen Möglichkeiten zur Verbesserung der Finanzlage gibt, sollten Krediterleichterungen ernsthaft geprüft werden. Das ist jedoch bekanntlich nicht nur Aufgabe des Bundes. Lassen Sie es mich noch einmal betonen: In der Verbesserung der kommunalen Infrastruktur liegt ein sehr wichtiger Hebel für den Aufbau Ost.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir haben uns vorgenommen, noch in diesem Jahr Bauen in Deutschland schneller und einfacher zu machen. Auch der Vorschlag, für ostdeutsche Länder entwicklungshemmende Regelungen auszusetzen, sollte ernsthaft geprüft werden. Ich jedenfalls meine nicht, dass dieser Weg verfassungsrechtlich unmöglich ist.

   Meine Damen und Herren, Sie kennen das Programm „Stadtumbau Ost“. Dabei geht es um die Schaffung attraktiver Wohn- und Lebensräume, die von Bürgern und potenziellen Investoren gerne angenommen werden. Das ist eine direkte Standortpolitik für die neuen Länder, die wir massiv weiterführen werden.

Die dabei gewonnen Erfahrungen fließen jetzt auch in das Pilotprogramm „West“ ein.

   Meine Damen und Herren, wir wissen uns in der Pflicht, gleichwertige Lebensbedingungen in Ost und West zu schaffen. Das ist in vielen Bereichen gelungen. Auch die schrittweise Tarifangleichung hat in diesem Zusammenhang große Bedeutung. Es muss Schluss sein mit teilungsbedingten Benachteiligungen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Heute wissen wir, dass die innere Einheit bedeutet, nicht Ost und West gleichzumachen, sondern gemeinsam nach Perspektiven für unser Land zu suchen. In den 90er-Jahren überließen Ostdeutsche die großen gesellschaftlichen Diskussionen über die Rolle Deutschlands in Europa und der Welt oft dem Westen. In Ostdeutschland kümmerte man sich „um die wirklichen Probleme des Lebens“, wie es genannt wurde, nämlich Arbeitslosigkeit und Wirtschaft.

   Diese Sicht hat sich geändert; denn die Menschen in den neuen Ländern haben sich verändert. Die Ostdeutschen haben begriffen, dass sie ein Teil dieses Landes sind und Mitverantwortung tragen: ob es um das gesellschaftliche Zusammenleben in unserem Land geht - ich denke dabei zum Beispiel an das Selbstbewusstsein unserer berufstätigen Frauen - oder ob es um die großen Fragen von Globalisierung, Terrorismusbekämpfung oder Erhaltung des Friedens geht. Die Menschen in Ostdeutschland mischen sich ein und werden gehört. Dabei ist es selbstverständlich, dass auch dort die Meinungen auseinander gehen und sich mitunter überraschende Allianzen quer durch Deutschland bilden.

   Bei anderen Fragen verläuft es entgegengesetzt. Haben wir im Osten vor zehn Jahren zum Beispiel in der Bildungspolitik noch darüber gestritten, welche Westmodelle am besten zu übernehmen seien, gibt es heute ein neues Selbstbewusstsein, das durch die Suche nach gemeinsamen Perspektiven gekennzeichnet ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Cornelia Pieper (FDP): An uns hat es nicht gelegen!)

   Ostdeutschland ist auf einem guten Wege. Ich hoffe, dass die große Herausforderung, aber auch die Chance der Osterweiterung der Europäischen Union diesen Weg verstärken und nicht gefährden wird. Große Wettbewerber wachsen heran. Georg Milbradt sprach unlängst von einer möglichen Sandwichsituation des Ostens zwischen den alten Ländern und den künftigen EU-Mitgliedern. Es wird in der Tat darauf ankommen, dass wir im Osten besser, effektiver und schneller sind. Innovation, Flexibilität und Qualität müssen Merkmale ostdeutscher Wirtschaft und Gesellschaft sein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich wünsche mir, dass wir im Osten viele gute Beispiele für das ganze Deutschland hervorbringen können.

   Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich nutze die Gelegenheit, Ihnen allen für Ihre Unterstützung auf unserem schwierigen, aber hoffnungsvollen Weg zu danken, und bitte um Ihre weitere konstruktive und kritische Mitarbeit an dem großen Projekt deutsche Einheit.

   Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

   Der nächste Redner ist der Kollege Arnold Vaatz, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Zuruf von der SPD: Keine Vorschusslorbeeren!)

Arnold Vaatz (CDU/CSU):

   Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das letzte Jahr war ein besonderes Jahr. Es ist sicherlich gerechtfertigt, von diesem Pult aus darauf einzugehen, wie es im Übrigen auch der Bericht tut. Es gab eine Naturkatastrophe, wie wir sie zuvor noch nicht erlebt hatten. Dabei haben wir nicht nur festgestellt, dass die Flüsse Unmengen von Wasser und Schutt gebracht haben, sondern auch eine Botschaft vernommen: Das vereinigte Deutschland hat eine neue Belastungsprobe erfolgreich überstanden; im Gegensatz zu dem, was diejenigen meinen, die immer von der Mauer in den Köpfen reden, ist Deutschland zusammengewachsen.

(Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Das ist ein Grund zur Freude. Es ist mir als sächsischem Abgeordneten ein Bedürfnis, mich von diesem Pult aus für das Ausmaß der Hilfe zu bedanken, das uns zuteil geworden ist: 73 000 Einsatzkräfte von Bundeswehr, Technischem Hilfswerk, Bundesgrenzschutz, freiwilligen Feuerwehren usw. sowie unzählige freiwillige Helfer standen uns zur Seite. Ferner gab es eine Lawine der Hilfsbereitschaft der deutschen Öffentlichkeit. Auch viele Abgeordnete aus diesem Hause haben sich um die Organisation von Hilfsgütern verdient gemacht.

Auch die Medien haben dazu beigetragen. Ich möchte mich an dieser Stelle ganz besonders herzlich dafür bedanken.

(Beifall im ganzen Hause - Reinhard Weis [Stendal] (SPD): Bei der Bundesregierung können Sie sich auch mal bedanken!)

- Des Weiteren hat die Bundesregierung - das ist richtig - an dieser Stelle mit den betroffenen Landesregierungen erfolgreich zusammengearbeitet und im Wesentlichen, wie ich meine, richtig gehandelt. Auch dafür kann man Dank sagen.

   Herr Bundeskanzler, Sie haben uns sogar mit den Worten Mut gemacht, es werde niemandem nach der Flut schlechter gehen. Ich weiß nicht genau, ob Sie das in Kenntnis der wirklichen Sachlage gesagt haben; denn mit der Flut ist für viele Menschen weit mehr verschwunden als nur Hab und Gut. Aber wahlkampfwirksam war diese Aussage. Das muss man Ihnen sicherlich zugestehen. Etliche Zeitungen haben damals insinuiert, dass es die Flut gewesen sei, die diese Regierung gerettet habe.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] (SPD): Unsinn!)

Das ist ein Stück weit auch mein Eindruck. Es war in diesen Tagen leider so, dass die Frage nach der wirtschaftlichen und sozialen Zukunft Ostdeutschlands hinter den schrecklichen Flutbildern für kurze Zeit zurückgetreten ist. Wenn dies nicht geschehen wäre, dann wäre deutlich geworden, dass Sie auf diese Frage damals - das gilt auch heute - keine vernünftige und akzeptable Antwort gehabt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Das zeigt auch Ihr neuerlicher Bericht zum Stand der deutschen Einheit. Wir warten eigentlich seit 1998, also seitdem Sie regieren, auf eine in sich geschlossene Gesamtstrategie, die eine Perspektive eröffnet, wie und in welcher Zeit der Aufholprozess in Ostdeutschland vorangehen kann. Dieser Aufholprozess könnte ein Argument dafür liefern, dass sich Firmen wieder in Ostdeutschland ansiedeln und dass junge Menschen in Ostdeutschland bleiben. Aber auf eine solche Gesamtstrategie warten wir bis heute vergeblich. Das zeigt auch wieder der neue Bericht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das liegt nicht an uns, sondern an Ihnen! - Ludwig Stiegler (SPD): Wenn Sie so schlau sind, dann sagen Sie es doch!)

- Herr Stiegler, lassen Sie Ihre Kommentare. Hören Sie erst einmal zu! Bei Ihnen in Bayern stehen die Dinge glücklicherweise noch etwas besser.

(Ludwig Stiegler (SPD): Ja, freilich!)

Wenn Sie aber so weitermachen, dann sieht es bei Ihnen in Bayern bald genauso aus wie bei uns.

(Ludwig Stiegler (SPD): Sagen Sie uns doch Ihre Weisheit!)

Das versichere ich Ihnen. Herr Stiegler, alles, was in Berlin vergeigt wird, können die Bundesländer nicht herausreißen.

(Ludwig Stiegler (SPD): Sagen Sie das doch dem Edmund!)

   Diesmal liegen uns zum Glück zwei Schriftstücke vor, über die wir diskutieren können. Das eine ist der Bericht zum Stand der deutschen Einheit und das andere ist das Sachverständigengutachten, das ungefähr zur selben Zeit erschienen ist. Ein Unterschied ist festzustellen: Der Bericht der Bundesregierung erschien am 9. September 2002, also vor den Bundestagswahlen, und das Sachverständigengutachten erschien am 13. Dezember 2002, also nach den Wahlen. Wenn man den Bericht und das Gutachten vergleicht, dann fühlt man sich sehr stark an Herrn Gabriel erinnert, der gesagt hat: Die Wahrheit vor der Wahl - das hätten Sie wohl gern.

   Das Sachverständigengutachten, das sich sehr eingehend mit Ostdeutschland beschäftigt und das in der nüchternen Sprache der Wissenschaftler geschrieben ist, ist eigentlich - das stellt man nur fest, wenn man es genau liest - eine vernichtende Kritik erstens an der Diagnosefähigkeit der Bundesregierung, zweitens an der Fähigkeit, Bilanz zu ziehen, und drittens an der Fähigkeit, Rezepte zu entwerfen. Der Kernsatz des Sachverständigengutachtens lautet: Der Konvergenzprozess der neuen Bundesländer ist nach einem schnellen Fortschreiten in den ersten Jahren der Wiedervereinigung deutlich ins Stocken geraten. Deutlicher kann man Ihnen nicht sagen, was Chefsache Aufbau Ost für Ostdeutschland wirklich bedeutet hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Ludwig Stiegler (SPD): Die längere Zeit von den ersten Jahren haben Sie regiert, Sir!)

   Die Sachverständigen fordern als Therapie ein spezielles Wachstumsprogramm für Ostdeutschland mit teilweise einschneidenden Konsequenzen. Im Übrigen ist das derselbe Tenor, der zwar schon seit vielen Jahren von unserer Seite dieses Hauses vorgetragen wird, den Sie aber Jahr für Jahr nicht befolgen.

   Entsprechend nimmt das auch schon die Presse auf. Vor kurzer Zeit war in einer deutschen Illustrierten vorn eine Bildgeschichte abgedruckt - ich weiß nicht, ob Sie es gesehen haben -, bei der Herr Minister Stolpe Herrn Ministerpräsidenten Steinbrück offenbar etwas Lustiges erzählt. Unter der Rubrik „Prominenten in den Mund geschoben“ schrieb der „Stern“ dazu wie folgt: Herr Stolpe sagt Herrn Steinbrück, er habe dem Bundeskanzler erzählt, der Aufbau Ost komme in diesem Jahr zum Laufen. Daraufhin lacht Herr Steinbrück schallend. - Wenn diese Worte es wert sind, Prominenten in den Mund geschoben zu werden, wenn sie ein Witz sind, wenn die Leute in der Tat darüber lachen müssen, dann bedeutet das: Die Öffentlichkeit weiß schon sehr genau, was wirklich hinter den schönfärberischen Berichten steht, die, seit Sie an der Regierung sind, regelmäßig zum Stand der deutschen Einheit erstattet werden.

   Diese Berichte beinhalten seit 1999 etwa dasselbe, nur mit einem Unterschied: Sie sind etwas unehrlicher geworden. 1999 hieß es im Bericht zum Stand der deutschen Einheit noch, dass sich der gesamtwirtschaftliche Aufholprozess der neuen Länder vorerst nicht mehr fortgesetzt habe. Weiter haben Sie damals geschrieben: In den letzten beiden Jahren hat sich die Schere in der wirtschaftlichen Leistung zwischen neuen und alten Ländern sogar wieder leicht geöffnet.

   Im Bericht 2000 hatte die Bundesregierung festgestellt - ich muss auch das wieder zitieren, obwohl es eigentlich bekannt ist, weil es mir darauf ankommt, diesen beschönigenden Sprachgebrauch aufzuzeigen -:

1998 erreichte das gesamtwirtschaftliche Wachstum in den neuen Ländern 2,0 Prozent und lag damit erneut leicht unter der westdeutschen Wachstumsrate von 2,8 Prozent.

Damit ist das Wachstum im Osten um fast 30 Prozent niedriger gewesen als das im Westen. So weit hatte sich die Schere mittlerweile geöffnet. Es spricht Bände, dass das für diese Regierung kein Alarmsignal war.

   Im Jahr 2000 betrug das ostdeutsche Wirtschaftswachstum nur noch 1,1 Prozent gegenüber 3,3 Prozent im Westen. Im Jahr 2001 sind wir schließlich dahin gekommen, dass die ostdeutsche Wirtschaft geschrumpft ist: ein Wachstum von minus 0,1 Prozent.

   Herr Stolpe, Sie haben vorhin davon gesprochen, die Menschen in Ostdeutschland wollten nicht mehr länger Bremsklotz der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland sein. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Die Menschen in Ostdeutschland waren niemals der Bremsklotz der Entwicklung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn es einen Bremsklotz der Entwicklung gab, dann war er in Berlin, im Bundeskanzleramt und in den Ministerien.

   Das zu der Bilanz der letzten vier Jahre Ihrer Regierung.

(Reinhard Weis [Stendal] (SPD): Nun warten wir aber mal auf die Konzepte, die Sie vorstellen! - Wilhelm Schmidt [Salzgitter] (SPD): Der einzige Bremsklotz heißt Vaatz!)

   Während der ersten acht Jahre der deutschen Wiedervereinigung war dieser Prozess einmal anders. Da wies die Tendenz in die andere Richtung. Es ist klar, dass es nur ziemlich quälend und ziemlich langsam ging, aber es war zumindest mit einer Perspektive versehen. Nicht hinzunehmen ist, wenn sich diese Tendenz jetzt umkehrt, wenn alles darauf hinweist, dass wir es in Zukunft mit einer größeren Lücke zwischen Ost und West zu tun haben werden als heute. Das werden die Menschen mit gutem Grund nicht hinnehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Kommen wir nun zu einigen Detailproblemen. Die Sachverständigen erklären richtigerweise, das Hauptproblem in Ostdeutschland sei die unbefriedigende Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Genauso empfindet es auch die absolute Mehrzahl der Ostdeutschen. In Ihrem Bericht müssen Sie offenbaren, dass sich die Anzahl der Arbeitsplätze in Ostdeutschland durch Ihre Politik in den vergangenen vier Jahren nicht erhöht, sondern reduziert hat. Das können Sie auf der Seite 64 Ihres Berichts nachlesen. Die Beschäftigung in Ostdeutschland ist während Ihrer gesamten Regierungszeit zurückgegangen -im ersten Jahr ungefähr um 40 000, im zweiten Jahr um 110 000 und im dritten Jahr um 180 000. Das ist kein kontinuierlicher, sondern ein progressiver Rückgang. Pro Jahr ist der Rückgang der Arbeitsplätze gegenüber dem Vorjahr um 70 000 gestiegen. Stellen Sie sich diese Kurve bitte einmal weiter für die nächsten zehn Jahre vor! Dann werden wir den Punkt erreichen, dass es in Ostdeutschland überhaupt keine Arbeitsplätze mehr gibt. Das ist die Situation; sie lässt sich mit diesem Rückgang beschreiben.

(Ludwig Stiegler (SPD): Dann gibt es nur noch Sie!)

- Das ist kein Grund, Witze zu reißen. Herr Stiegler, Sie können zwar Witze reißen; aber an dieser Stelle sind sie ausnahmsweise einmal am falschen Platz.

(Beifall bei der CDU/CSU - Ludwig Stiegler (SPD): Sie sind ein Zweckpessimist, der nichts getan hat! Ein Jammerlappen!)

   Dennoch schreiben Sie in diesem Bericht, dass sich die Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern seit 1998 kaum geändert hat. Das ist, wie man diesem Bericht entnehmen kann, wieder nur die halbe Wahrheit und demzufolge eine halbe Lüge. Die Arbeitslosenquote spiegelt das Dilemma der Erwerbslosigkeit in Ostdeutschland schon längst nicht mehr adäquat wider. Das ist das Problem.

   Die Arbeitslosenquote schnellt nur deshalb nicht in die Höhe, weil altersbedingt inzwischen mehr Personen den Arbeitsmarkt verlassen als in ihn eintreten, weil die Regierung die Abwanderung gerade von jungen Leuten aus Ostdeutschland fördert - wir haben vorhin vom JUMP-Programm gehört; die Abwanderung der jungen Leute ist nämlich auch eine Folge dieses Programms -

(Zuruf von der SPD: So ein Quatsch!)

und weil Langzeitarbeitslose dann aus der Statistik fallen - das ist besonders zynisch -, wenn sie nach der Teilnahme an einem Programm der aktiven Arbeitsmarktpolitik erneut arbeitslos werden. Das ist die Realität.

   Sie müssen berücksichtigen, was gerade der letzte Fakt bedeutet. Er ist deshalb so schwerwiegend, weil unter den Arbeitslosen in Ostdeutschland die Anzahl der Langzeitarbeitslosen - Personen, die länger als ein Jahr ohne Arbeit waren - gegenüber 1996 um fast ein Viertel gestiegen ist.

   Was haben Sie denn eigentlich getan - wir haben das lange Zeit beobachten können -, um diesen Zustand zu verbessern? Ich muss Ihnen sagen: leider nahezu gar nichts. Eine Reihe von Gesetzen, die Sie in diesem Hause mit Ihrer Mehrheit gegen uns verabschiedet haben, wirken bis heute asymmetrisch zulasten Ostdeutschlands.

   Im Sachverständigengutachten liest man, dass die Arbeitslosigkeit unter den Geringqualifizierten in Ostdeutschland von 31 Prozent in 1991 auf 50 Prozent in 2001 hochgeschnellt ist. In Ihrem Bericht halten Sie es nicht einmal für nötig, wenigstens die Frage zu untersuchen, was Ihr 630-Mark-Gesetz in Bezug auf die Arbeitsplätze für Geringqualifizierte in Ostdeutschland bewirkt hat. Eine solche Untersuchung kann man doch einmal in Auftrag geben! Sie haben es nicht gemacht, weil Sie ganz genau wissen, dass dieses Gesetz besonders den Arbeitsmarkt in Ostdeutschland erheblich beschädigt hat.

   Auch auf die Frage, wie sich Ihr Scheinselbstständigengesetz und Ihr Betriebsverfassungsgesetz auf den Arbeitsmarkt in Ostdeutschland ausgewirkt haben, findet man in Ihrem Bericht keinerlei Antwort. Wo, wenn nicht in einem solchen Bericht, wollen Sie denn darauf überhaupt einmal eingehen? Ich kann daraus nur schlussfolgern, dass Sie darauf deshalb nicht eingehen, weil Sie etwas zu verbergen haben und weil Sie nicht zugeben wollen, dass diese Gesetzesinitiativen kontraproduktiv waren, dass sie die Perspektiven in Ostdeutschland weiter beschädigt und den Menschen nicht geholfen haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Die Disproportionen zwischen Ost und West haben sich in den letzten Jahren verschärft. Die Anzahl der Existenzgründungen in Ostdeutschland ist schon seit 1999 rückläufig. Im Jahr 2001 nahm die Anzahl der Neugründungen im Vergleich zum Vorjahr um mehr als 9 Prozent ab, während der Rückgang im Westen nur bei 5 Prozent lag. Die Anzahl der Unternehmensneugründungen im Handel ging im gleichen Zeitraum um 12 Prozent zurück, während der Rückgang im Westen bei 5 Prozent lag. Ganz besonders schlimm ist die Entwicklung bei den EDV-Dienstleistungen in Ostdeutschland. Dort ist die Quote von 2000 zu 2001 um 18 Prozent gefallen. Das sind die traurigen Realitäten der Wirtschaft in Ostdeutschland.

(Reinhard Weis [Stendal] (SPD): Dass es aber weltweit eine Krise in dieser Branche gibt, das haben Sie zur Kenntnis genommen, ja?)

Gerade was die Wachstumsbranchen angeht, auf die wir gesetzt haben - sie sind die einzige Hoffnung dafür, dass es tatsächlich zu einer Annäherung kommen kann -, ist das besonders traurig.

   Die Sachverständigen weisen der Infrastruktur nach wie vor eine Schlüsselstellung im Hinblick auf die Wachstumserwartung in Ostdeutschland zu. In der Tat ist es Ihnen im Infrastrukturbereich an vielen Stellen gelungen, wenigstens die langfristigen Ansätze beizubehalten, die bereits die Vorgängerregierung geschaffen hatte. Das verdient Respekt. Nur: Eine wirkliche Weiterentwicklung des Infrastrukturprogrammes für Ostdeutschland ist leider nicht zu sehen.

Im Osten werden zwar technologische Neuerungen eingeführt, aber eben in Schanghai und nicht in Halle oder Leipzig.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Wilhelm Schmidt [Salzgitter] (SPD): Das war sehr witzig, Herr Vaatz! Der Einzige, der darüber lacht, sind Sie! - Reinhard Weis [Stendal] (SPD): Das war ein schlechter Gag! - Siegfried Scheffler (SPD): Quatsch! Blödsinn!)

- Das ist doch so.

   Während noch an den überregionalen Netzen gearbeitet wird, kristallisieren sich inzwischen ganz andere Knackpunkte bei der Infrastrukturentwicklung heraus, die Sie in Ihrem Bericht nicht genügend zur Kenntnis nehmen. Das betrifft, wie es die Sachverständigen Ihnen in ihrem Gutachten sehr deutlich sagen, das gesamte Thema der öffentlichen Infrastruktur der Kommunen. Das sieht folgendermaßen aus: Die Kommunen sind mittlerweile durch Zahlungsverpflichtungen, die sie eigentlich nicht mehr bewältigen können, durch Kosten, die auf sie zukommen, und jetzt mittlerweile auch noch durch Tarifabschlüsse, die sie nicht tragen können, an einem Punkt angelangt, wo sie ihre investiven Haushaltsanteile immer weiter zurückfahren müssen; dabei ist absehbar, dass sie nicht einmal mehr mit den Reparaturen der bestehenden Straßennetze nachkommen werden. Das ist die Realität. Sie sind in Ihrem Bericht gegenüber diesem Umstand leider völlig blind.

   Meine Damen und Herren, ich könnte noch sehr viel zu etlichen Einzelthemen sagen,

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] (SPD): Lieber nicht! - Ludwig Stiegler (SPD): Gehen Sie in den Keller und klagen Sie die Wand an!)

zum Beispiel auch dazu, dass Ihnen überhaupt nicht aufgefallen ist, dass die Themenbereiche Ärztemangel und Wegbrechen der hausärztlichen Versorgung in Ihrem Bericht überhaupt nicht erwähnt werden. Die Ärzte schlagen Alarm und beklagen, dass Sie dafür überhaupt keine Konzepte haben.

   Ich möchte mit einer kurzen Bemerkung schließen. Hier geht es nicht allein um das Thema Ostdeutschland. Vielmehr müssen wir im Kopf haben, dass wir keine für Ostdeutschland günstige Entwicklung erwarten können, solange in der gesamtdeutschen Wirtschaftspolitik grundsätzlich falsche Weichen gestellt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Hier bitte ich Sie, sich anzuschauen, was Ihnen die Sachverständigen ins Stammbuch geschrieben haben, nämlich dass Sie endlich einmal Nägel mit Köpfen machen sollten. Wenn Ihre Vorschläge sinnvoll sind, werden Sie die Unterstützung der CDU/CSU-Fraktion bekommen.

(Ludwig Stiegler (SPD): Gehen Sie lieber zur Apotheke! Ein Antidepressivum hilft Ihnen wieder auf die Beine!)

Aber machen Sie sich eines klar: Unser Land Deutschland - ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin - ist nicht mehr so stark, dass es eine beliebige Zeit lang eine völlig unfähige und neben der Mütze stehende Regierung vertragen könnte. Ostdeutschland ist noch nicht stark genug und war noch nie stark genug, als dass es ihm, wenn es dem gesamten Deutschland schlecht geht, nicht noch schlechter ginge.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] (SPD): Meinen Sie die Regierung Vogel? - Ludwig Stiegler (SPD): Die sind alle besser als Vaatz-Trauerkloß!)

Bedenken Sie, dass die Dinge, die in Westdeutschland negativ zu Buche schlagen, in Ostdeutschland eine noch viel verheerendere und möglicherweise sogar irreparable Wirkung hinterlassen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

   Nächster Redner ist der Kollege Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen.

(Ludwig Stiegler (SPD): Jetzt kommt ein bisschen Therapie!)

Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

   Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sind in den zwölf Jahren deutsche Einheit, über die wir Bilanz ziehen, trotz aller Kritik, trotz aller Unkenrufe und trotz aller Sorgen und noch bestehenden Probleme -

(Werner Kuhn [Zingst] (CDU/CSU): Noch nicht untergegangen!)

einen Teil davon hat der Herr Minister Stolpe hier vorgestellt - ein gutes Stück vorangekommen.

   Mich stört nicht, Arnold Vaatz, die schwierige Problemlage, in der wir uns befinden, sondern deren schizophrene Darstellung. Es geht nicht, wenn man in Sachsen ein Loblied auf den Aufbau Ost singt und die Aufbauleistungen des eigenen Landes darstellt, aber die Rede hier in Berlin damit nicht übereinstimmt. Das müsste sie aber, denn der Aufbau Ost ist die Summe der Leistungen der einzelnen Länder.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Wenn man dauernd von einer Erfolgsgeschichte in Sachsen hört, die mit Biedenkopf-Milbradt überschrieben wird, dann muss ein gutes Stück dieses Erfolges auch Berlin gutgeschrieben werden.

   Im Übrigen wissen das die Bürger dieses Landes selbst; die Fortschritte sind zu sehen. Wir haben nicht nur architektonische Schätze aus dem Grau geborgen, sondern man kann von Görlitz bis Usedom sehen, wie die Leute ihre Regionen aufbauen, den Eigenwert ihrer Regionen wieder entdecken und beim Standortwettbewerb mithalten. Es hat in Ostdeutschland ein einzigartiger Strukturwandel stattgefunden.

Ökonomen nennen das Transformationsprozess. Wenn Sie das mit dem Steinkohlebergbau in Westdeutschland vergleichen - der ehemalige Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens, unser Wirtschaftsminister Clement, zitiert dieses Beispiel häufig -: Dort hat vor 30 Jahren der Strukturwandel begonnen und er hält noch immer an.

(Cornelia Pieper (FDP): Eben!)

Darüber kann man kritisch diskutieren. Aber in Ostdeutschland hat man in den Bereichen Braunkohle, Textil und Chemie nur ein Zehntel der Zeit gehabt. Dort ist in der Industriegeschichte Europas ein wirklich einzigartiger Wandlungsprozess erfolgt. Möglicherweise aber haben die Lasten und die Probleme die Leistungen so verdeckt, dass den Ostdeutschen nicht richtig bewusst werden konnte, was sie Großes vollbracht haben. Das muss hier deutlich gesagt werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Arnold Vaatz, Rot-Grün ist nicht durch die Flut gerettet worden. Mir tat es manchmal Leid, wie rettungslos verloren der Spitzenkandidat der Union im Osten war.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Dieses Bild haben wir doch gesehen: ein taumelnder Mann, der nach zwölf Jahren deutscher Einheit den Osten entdeckt und sich vor Ort ein eigenes Bild macht. Ich habe immer gescherzt, dass er, wenn er bei Günther Jauch eine Ostfrage für 4 000 Euro gestellt bekäme, dann schon seine drei Joker brauchen würde, einschließlich des Telefonjokers Lothar Späth.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Das war der Stand der Union zwölf Jahre nach der deutschen Einheit: Sondergebiet Ost, neue Ostzone, obwohl man acht Jahre Zeit hatte, sich darauf einzustellen. Viele unserer Probleme hängen doch auch mit einem falschen Leitbild der Anfangsphase zusammen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Das Leitbild hieß: blühende Landschaften. Aber eine florierende Wirtschaft kommt nicht von allein, sondern muss gezielt angesteuert werden, nicht nach dem Gießkannenprinzip, um dieses floristische Bild zu bedienen. Wir haben die Förderstrategien neu ausgerichtet. Das Konzept, das hier angemahnt worden ist, gibt es ja. Das Ziel der Bundesregierung ist, Nachhaltigkeit auch beim Aufbau Ost zu erreichen. Deswegen steht Solidarität bei uns nicht nur auf dem Papier. Die Flutkatastrophe mag als eindrucksvolles Beispiel dafür dienen, wie aus der Einheit Deutschlands die Einheit der Deutschen geworden ist, wie das Zusammengehörigkeitsgefühl gewachsen ist, wie Menschen in Notsituationen geholfen haben. Aber man muss dann bitte schön auch erwähnen, dass wir in der letzten Legislaturperiode den Solidarpakt II geschaffen haben, der den ostdeutschen Ländern und Kommunen Finanzsicherheit und Planungssicherheit bis 2020 bringt. Es werden über 150 Milliarden Euro fließen. Das ist kein Pappenstiel.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Manche westdeutsche Kommune würde sich freuen, wenn sie für zwei Jahrzehnte Planungssicherheit hätte. Auch das muss erwähnt werden; denn das war ein finanzieller Kraftakt.

   Wir haben uns im Unterschied zu der Pauschalförderung, die es vorher gab, vor allen Dingen auf die industriellen Wachstumskerne konzentriert. Wir versuchen, durch Innovation, zum Beispiel durch die erfolgreichen Inno-Regio-Programme und das Pro-Inno-Programm, Wachstumsregionen zu fördern. Diese gibt es in Ostdeutschland mittlerweile, beispielsweise das Biocon Valley in Mecklenburg-Vorpommern, wo sich Biotechnikunternehmen mit Medizintechnikunternehmen zusammengetan haben, oder die Buna- und Leuna-Olefin-Region, wo wir den Wiederaufbau, die Revitalisierung der Chemieindustrie erleben. Ein weiteres Beispiel ist der Solarverbund Ost mit dem Kompetenzzentrum in Freiberg. Das alles sind hervorragende Beispiele für die Entwicklung des Ostens.

   Der wirkliche Umbauprozess wird verdeckt, wenn man sich nur die nackten Wachstumszahlen anschaut. Die Schrumpfprozesse in der Bauindustrie sind notwendig. Sie werden jetzt etwas gestreckt, weil die Bauindustrie durch die nach der Flutkatastrophe nötige Wiederaufbauleistung Aufträge bekommen hat. Dennoch haben wir in der Bauindustrie Überkapazitäten, die schrumpfen müssen. Zweistellige Wachstumsraten zu verzeichnen sind hingegen in den Zukunftsbranchen, in der Medizintechnik, Biotechnik, Elektronik, Elektrotechnik. Wir haben nach der Deindustrialisierung Ostdeutschlands eine Reindustrialisierung mit zweistelligen Wachstumsraten. Das ist der eigentliche Aufholprozess.

   Natürlich brauchen wir - das betone ich - eine Offensive gegen die Arbeitslosigkeit. Der Aufbau Ost kommt voran, aber er kann nicht alle gebrauchen, nicht alle erreichen. Es sind nicht alle eingebunden.

(Widerspruch des Abg. Jürgen Türk (FDP))

Wenn man über die Angleichung der Arbeits- und Lebensbedingungen spricht, gehört zur Wahrheit aber auch, dass die Erwerbsquote in Ostdeutschland genauso hoch ist wie in Westdeutschland und dass die Arbeitslosigkeit Ostdeutschlands auch etwas mit der Übergangsphase zu tun hat. Wenn aus einer Arbeitsgesellschaft plötzlich eine postindustrielle Gesellschaft wird, dann sind solche hohen Arbeitslosenquoten nicht so schnell zu reduzieren.

   Dennoch dürfen wir nicht nur an der technischen, sondern wir müssen auch an der sozialen Infrastruktur arbeiten. Wir müssen bessere Bildungs- und Betreuungsangebote für Kinder und Jugendliche schaffen. Von wissenschaftlichen Einrichtungen, Kultur- und Freizeitangeboten hängt es ab, ob die Regionen so attraktiv sind, dass die jungen Leute dort bleiben oder hinkommen. Deshalb haben wir den Wettbewerb „Jugend kommt und bleibt“ ausgerufen, für den immerhin 2,5 Millionen Euro im Einzelplan 17 enthalten sind. Damit machen wir bestimmte Regionen für Jugendliche attraktiv, steigern ihren Wert und stärken das Bindungsgefühl.

   Wir werden die Chancen der EU-Osterweiterung nutzen.

(Jürgen Türk (FDP): Wann denn?)

- 2004. Sie wissen doch auch, dass die EU-Osterweiterung 2004 stattfindet.

(Jürgen Türk (FDP): Gucken Sie mal in die Grenzregionen! Da passiert nichts!)

- Auch für die Grenzregionen gibt es spezielle Programme. Sie wissen, dass es dort eine höhere Investitionszulage gibt.

(Jürgen Türk (FDP): Warum hauen denn alle ab?)

- Wahrscheinlich, weil diese Menschen Sie so schreien hören.

(Jürgen Türk (FDP): Oh!)

   Auch Frau Pieper hat einen großen Anteil daran, dass die Menschen in Ostdeutschland enttäuscht sind.

(Widerspruch der Abg. Cornelia Pieper (FDP))

- Selbstverständlich. Sie waren doch diejenige, die so groß aufgetrumpft hat. Wenn man so auf die Pauke haut, indem man sagt, man sorge in Sachsen-Anhalt demnächst für den großen Aufschwung, aber im nächsten Moment, in dem die Verantwortung übernommen werden könnte, verschwindet, dann löst das Enttäuschung aus.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Es ließe sich sicherlich noch vieles auch zu dem, was Arnold Vaatz ausgeführt hat, sagen. Ich will aber zum Schluss kommen. Es lohnt sich, dass der Bericht zum Stand der deutschen Einheit angesichts der Chancen, die sich aus der Osterweiterung ergeben, in den nächsten Jahren in der vorliegenden Form fortgesetzt wird.

   Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

   Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Kollegin Pieper, FDP-Fraktion.

Cornelia Pieper (FDP):

   Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Argumentation zeigt sich die Schwäche der Regierungskoalition beim Aufbau Ost. Die Argumente, die Herr Werner Schulz angeführt hat, waren einfach unsachlich und nicht richtig.

   Ich stelle klar, dass das Engagement der FDP für den Aufbau Ost von Anfang an vorhanden gewesen ist. Wir haben zu Beginn der 90er-Jahre ein Niedrigsteuergebiet Ost eingefordert. Sie hätten diese Forderung unterstützen können. Dann wäre der Osten Deutschlands in einer ganz anderen Situation.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Aber was tun Sie? - Sie erhöhen die Steuern und Abgaben zulasten des Mittelstandes und des Handwerks.

   Ich zitiere Ihren Kollegen aus der SPD-Bundestagsfraktion, Stephan Hilsberg. Er kritisiert Ihre eigene Aufbau-Ost-Politik, indem er sagt, Sie hätten kein Konzept für den wirtschaftlichen Aufbau in Ostdeutschland, es herrsche tiefe Ratlosigkeit in Ihren Fraktionen und Ihre Kollegen aus dem Osten seien immer mehr frustriert, weil ihnen niemand mehr zuhöre, wenn sie die Probleme des Ostens erwähnen.

   Wenn Sie wirklich etwas für den Osten tun wollen, dann sollten Sie aufhören, beim Aufbau Ost, gerade bei den Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen in den neuen Ländern - Stichwort: Leibniz-Gemeinschaft -, zu kürzen. Die Hälfte der Institute liegt in den neuen Ländern. Trotz aller Versprechungen vor der Wahl kürzen Sie hier massiv. Das bringt den Osten nicht voran, sondern belastet ihn. Tun Sie etwas! Sie haben es in der Hand! Sie regieren. Wir leider noch nicht.

   Danke.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Ludwig Stiegler (SPD): Das wird so schnell auch nicht eintreten!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

   Herr Kollege Schulz, Sie haben die Möglichkeit zu antworten.

Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

   Frau Pieper, Sie haben sich mit Ihrem Zettel gut für diese Kurzintervention präpariert. Da Sie von Wahrheit gesprochen haben, will ich Ihrem Wahrheitsverständnis etwas nachhelfen.

   Wahr ist zum Beispiel, dass Sie 1990 mit Ihrer Forderung nach einem Niedrigsteuergebiet Ost die Unterstützung von Bündnis 90/Die Grünen gefunden haben. Wahr ist aber auch, dass Sie damals mit Graf Lambsdorff und Hans-Dietrich Genscher regiert haben. Sie hatten acht Jahre Zeit, ein Niedrigsteuergebiet Ostdeutschland einzuführen. Das ist die Wahrheit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Wahr ist, dass Sie in Sachsen-Anhalt angetreten sind, um ähnliche Versprechungen einzulösen. Wahr ist auch, dass Sie aus diesem Land geflohen sind,

(Cornelia Pieper (FDP): Ich bin nicht geflohen!)

weil Sie sich nicht getraut haben, die Verantwortung für die Bildungspolitik zu übernehmen. Das ist genauso wahr.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Ich finde es haarsträubend, wie Sie auf der einen Seite diese Show „Wir helfen dem Osten“ abziehen und auf der anderen Seite die anderen kritisieren. Sie sagen: Wir müssen erst einmal an die Regierung kommen.

(Cornelia Pieper (FDP): Sie lenken ab!)

Wahr ist aber, dass Sie den Soli, der Ostdeutschland zugute kommt, abschaffen wollten. Das sind die Forderungen der FDP.

   Insofern ist es unverständlich, dass Sie ein so gutes Ergebnis in Sachsen-Anhalt erzielen konnten. Aber das wurde zwischenzeitlich ins rechte Lot gerückt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Cornelia Pieper (FDP): Was ist denn Ihr Konzept?)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

   Nächster Redner ist der Kollege Joachim Günther, FDP-Fraktion.

(Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Pieper darf offensichtlich gar nicht reden! Deshalb musste sie eine Kurzintervention machen!)

Joachim Günther (Plauen) (FDP):

   Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zum wiederholten Male und richtigerweise behandeln wir heute den Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit. Und zum wiederholten Male stelle ich verblüfft fest, dass dieser Bericht überwiegend Positives darstellt, obwohl die Schere zwischen Ost und West ständig weiter auseinander geht.

(Beifall bei der FDP - Klaus Brähmig (CDU/CSU): So ist das! Das ist die Wahrheit!)

Das ist etwas unfair gegenüber den Bürgern in den neuen Bundesländern, denn sie haben wesentlich schlechtere wirtschaftliche Verhältnisse und fühlen sich durch solche Berichte im Endeffekt verschaukelt.

   Natürlich ist es legitim, positive Beispiele herauszustellen, aber obwohl der Osten Chefsache gewesen ist, sind 18,4 Prozent Arbeitslosigkeit Realität. Die Arbeitslosigkeit ist doppelt so hoch wie in den alten Bundesländern und die Prognosen verheißen eindeutig eine Erhöhung der Arbeitslosigkeit im Osten Deutschlands.

(Klaus Brähmig (CDU/CSU): So wird es kommen!)

   Wie toll Sie das in Ihrem Bericht zum Ausdruck bringen, möchte ich mit einem Zitat beweisen:

Damit hat sich auch im Jahr 2001 die seit Beginn dieser Legislaturperiode zu verzeichnende positive Entwicklung auf dem Frauenarbeitsmarkt in den neuen Ländern fortgesetzt. Die Arbeitslosenquote der Frauen verringerte sich zwischen 1998 (20,8 Prozent) und 2001 (18,6 Prozent) kontinuierlich und näherte sich der niedrigeren Arbeitslosenquote der Männer an.

Das hört sich toll an und man denkt, die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern geht zurück. Die Zahl sagt eindeutig etwas anderes; Kollege Vaatz hat es in Jahresscheiben dargestellt. 1998 gab es im Osten 5 133 000 Beschäftigungsverhältnisse, nach drei Jahren Rot-Grün haben wir noch 4 810 000. Das heißt, die Zahl der Arbeitsplätze nimmt ständig ab.

   Und was tun die Menschen? Sie wandern ab. Im Jahr 2001 verließen nach Angaben des Statistischen Landesamtes Sachsen 63 000 Bürger den Freistaat; das entspricht einer mittleren Kleinstadt. Davon waren 53 Prozent jünger als 30 Jahre und 44 Prozent verfügten über Fachhochschul- oder Hochschulabschluss. Genau diese Leute brauchen wir aber in ein paar Jahren. Sie sind einfach notwendig, um die Infrastruktur im Lande aufrechtzuerhalten.

(Beifall bei der FDP)

Ich empfehle Ihnen, diese Wanderungsanalyse sehr genau zu betrachten. Das sind nicht nur die bösen schwarzen Zahlen, das ist die Realität, mit der man sich auseinander setzen muss und die zum Handeln mahnt.

   Herr Minister, Sie haben heute das Job-AQTIV-Gesetz und das JUMP-Programm angesprochen. Bisher wurden über 1 Milliarde DM - das Programm läuft ja seit 1990 - in dieses Programm eingebracht. In Ihrem Bericht heißt es, es seien Erfolge erreicht worden. Sie wollen das JUMP-Plus-Programm für den Osten auflegen. Ich frage mich, wer dieses Programm überhaupt noch in Anspruch nehmen kann, wenn die Abwanderung so weitergeht. Die Jugendlichen wandern aus Ostdeutschland ab. Wenn es nicht gelingt, Arbeitsplätze zu schaffen, werden wir in Ostdeutschland auch keine Ausbildungsplätze haben. Das ist das Grundproblem, an dem wir kranken.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Sie wissen alle sehr genau, dass ohne Wirtschaftswachstum keine neuen Arbeitsplätze entstehen. Um dieses Ziel zu erreichen, brauchen wir eine durchgreifende Steuerreform mit einer Senkung der Tarife und eine Reform der Sozialsysteme mit einer Reduzierung der Beitragslast. Hierzu gibt es viele Ansatzpunkte. Besonders wichtig wäre für den Osten gewesen, das Gesetz gegen Scheinselbstständigkeit zurückzunehmen. Das haben Sie aber nicht getan. Wenn Sie den Willen zu Reformen haben, fangen Sie doch bei Kleinigkeiten an, die auf dem Tisch liegen. Hier kann man sofort etwas umsetzen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Was tut die Bundesregierung stattdessen? Sie erschwert den Menschen das Leben durch steigende Steuer- und Abgabenlasten, um ihren hoch verschuldeten Haushalt zu konsolidieren. Von neuen Arbeitsplätzen weit und breit keine Spur.

   Ich bin der festen Überzeugung, dass für die neuen Länder für eine Übergangszeit - ich finde es gut, Herr Stolpe, dass Sie das angesprochen haben - neue Regelungen und Sonderregelungen erforderlich sind. Mit seinen „Paukenschlägen für den Osten“ hat Altkanzler Schmidt das bereits einmal eingefordert. Das war nichts anderes als ein Paragraphenbeseitigungsprogramm.

Lange hat man nichts gehört. Jetzt kommt wieder so etwas wie eine Sonderförderung Ost. Die Überlegungen, die von Herrn Clement kommen, sind zu begrüßen.

   Dazu kann man noch mehr Vorschläge unterbreiten. Damit es im Osten vorangeht, müssen die vom Westen im Verhältnis 1 : 1 übernommenen und fest zementierten Strukturen auf dem Arbeitsmarkt aufgebrochen werden. Die starren bundeseinheitlichen Regelungen im Arbeits- und im Baurecht erschweren den Aufholprozess aller wirtschaftsschwachen Regionen. Hier ist es Zeit zu handeln.

   Wir als FDP treten für Experimentierklauseln in den Ländern ein. Konkret wollen wir, dass der Landesgesetzgeber im Arbeitsrecht und bei Planungsverfahren im Baurecht sehr schnell mehr und umfassende Spielräume erhält. Das kürzlich vom sächsischen Wirtschaftsminister Gillo propagierte Modellprojekt Ost entspricht im Wesentlichen den Positionen der FDP. Wir werden es dementsprechend unterstützen.

   Herrn Clement - auch wenn er nicht anwesend ist - bitte ich, dass er die Auseinandersetzungen mit den Gewerkschaften und Verbänden nicht scheut. Denn wir wollen nicht gegen die Arbeitnehmer, sondern gegen die Arbeitslosigkeit kämpfen. Das muss das Grundanliegen sein.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Die Schaffung von Experimentierklauseln ermöglicht einen föderalen Wettbewerb im Sinne von Millionen Arbeitslosen. Dann kommt wieder Bewegung in den Reformstau. Dann kann sich zeigen, wo mehr Arbeitsdynamik entsteht und welcher Weg im Endeffekt erfolgversprechend ist.

   Dem von der Bundesregierung angekündigten Masterplan Bürokratieabbau sehen wir mit großer Spannung entgegen. Ich hoffe, dass den Ankündigungen nun auch Taten folgen.

(Carl-Ludwig Thiele (FDP): Schön wäre es!)

Wie ernst es die Bundesregierung grundsätzlich mit dem Bürokratieabbau nimmt, das können wir feststellen, wenn der FDP-Antrag „Abbau von Bürokratie sofort einleiten“ im Bundestag zur Abstimmung steht.

(Klaus Haupt (FDP): Der wird stürmisch begrüßt!)

   Was mich im Zusammenhang mit der Entwicklung in den neuen Ländern besonders beschäftigt, das ist die Rolle der Kommunen, die meines Erachtens bei der Bundesregierung viel zu kurz kommt. Die Kommunen haben es in ganz Deutschland schwer; das wissen wir. Aber im Osten Deutschlands stehen die meisten vor einem Kollaps. Dabei geht es nicht nur um die Orts- und Kreisstraßen, die Sie, Herr Stolpe, vorhin angesprochen haben. Grund dafür sind die ständig steigenden Soziallasten, die die Kommunen aufgrund Ihrer Arbeitsmarktpolitik zu verkraften haben, und die sinkenden Einnahmen bei der Gewerbesteuer, weil der Mittelstand vor dem Ruin steht. Die Kommunen können die Möglichkeiten der bestehenden Förderprogramme nicht mehr ausschöpfen, weil der dazu notwendige Eigenkapitalanteil nicht mehr vorhanden ist. Ein weiterer Grund ist nicht zuletzt der Tarifabschluss, der im Endeffekt eine Kündigungswelle nach sich ziehen wird. Herr Stolpe, die Bürgermeister im Osten Deutschlands wachen morgens mit Kopfschmerzen auf, weil sie nicht mehr wissen, wie sie am nächsten Tag ihre Kommunen weiterführen können.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Ich könnte viele Einzelbeispiele nennen, die den miserablen Zustand in den Kommunen verdeutlichen würden; aber dazu ist meine Redezeit zu kurz. Die Ursachen dafür sehe ich nach wie vor darin, dass es beim Bund und in den Ländern an einem konsequenten Abbau der überzogenen Bürokratie fehlt und dass eine Gemeindefinanzreform dringend erforderlich ist.

   Die Kommunen werden gegenwärtig kaum entlastet, aber ständig mit neuen Anforderungen konfrontiert.

(Cornelia Pieper (FDP): Genau!)

Die rot-grüne Regierung hat eine Reihe von Lasten des Bundes auf die Länder und die Kommunen verschoben. Hierzu gehören zum Beispiel die von den Kommunen zu erbringende Leistung für die Strukturanpassungsmaßnahme Ost, die Übernahme der Sozialversicherungsbeiträge von Arbeitslosen oder die zu erbringenden Leistungen im Rahmen des Langzeitarbeitslosenprogramms. Die damit auf die Kommunen zugekommenen Pflichtaufgaben strangulieren diese so, dass sie aufgrund ihrer leeren Kassen keinerlei andere Aufgaben mehr übernehmen können.

   Nicht nur Deutschland ist Schlusslicht in Europa. Auch die Kommunen werden bald als Bittsteller am Ende stehen. Trotzdem handeln Sie weiter nach dem Motto: Lieber die rote Laterne als gar kein Licht in Deutschland!

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Ludwig Stiegler (SPD): Sie haben die rote Laterne!)

   Nach vier Jahren Stillstand der Chefsache Ost und seines dafür Beauftragten setzen wir unsere Hoffnungen nun auf Sie, Herr Minister Stolpe.

(Manfred Grund (CDU/CSU): Was?)

Unsere konkreten Vorschläge im Hinblick auf einen Bürokratieabbau, auf Steuerreformen und Sozialprogramme liegen vor. Handeln Sie, Herr Minister, bevor Sie stolpern! Handeln Sie, bevor im Osten Deutschlands der Letzte das Licht ausmacht!

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

   Nächster Redner ist der Kollege Siegfried Scheffler, SPD-Fraktion.

Siegfried Scheffler (SPD):

   Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über Ihre Rede, lieber Kollege Günther, kann man meiner Meinung nach nur den Kopf schütteln. Sie wie auch Kollege Vaatz müssen doch, wenn Sie durch die neuen Länder oder in Ihre Wahlkreise fahren, reinste Bretterwände vor dem Kopf haben. Ich halte es nicht für angemessen, den Menschen in Ost und West angesichts der Aufbauleistungen in den neuen Ländern und der Solidarität klarmachen zu wollen, dass in diesen zwölf Jahren nichts passiert sei. Sie haben ja acht Jahre in Sachsen regiert, Herr Vaatz. Das, was Sie heute hier vorgetragen haben, ist dem wirklich nicht angemessen. Sie sprachen von vier Jahren Stillstand. Kollege Günther, Sie dürften teilweise Einreiseverbot bekommen, wenn Sie in Regionen von Mecklenburg-Vorpommern bis nach Sachsen kommen, die durch innovative Arbeitsplätze nicht nur zarte Blüten getrieben, sondern sich wirklich hervorragend zu Technologie- und Hightechstandorten entwickelt haben.

   Minister Stolpe hat vorhin die Programme Stadtumbau Ost bzw. Soziale Stadt angesprochen. Es kann doch nicht sein, dass einerseits die von Ihren Parteien gestellten Bürgermeister und Landräte und auch Ihre Länderminister mit diesen Programmen arbeiten, hierzu Wettbewerbe ausloben, tolle Veranstaltungen inszenieren und sich selber an die Brust klopfen, während andererseits Sie als Bundestagsabgeordnete hier alles in Bausch und Bogen verdammen. Das ist dieser Modernisierung und insbesondere dem Aufbauwillen und der Leistungskraft der Menschen in den neuen Ländern wirklich nicht angemessen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Offensichtlich wollen Sie nicht sehen oder sehen Sie nicht, dass wirklich Millionen wettbewerbsfähige Arbeitsplätze entstanden sind. Es ist das Problem von Statistiken, dass ihre Zahlen nichts darüber aussagen, in welcher Weise Arbeitsplätze umgewandelt wurden. Natürlich sind Arbeitsplätze verloren gegangen, aber dies waren keine zukunftsfähigen Arbeitsplätze. Das erfahre ich nicht nur in meinem Wahlkreis hier in Berlin oder in Brandenburg; das müssen Sie doch auch feststellen. Hier sind Millionen innovativer neuer Arbeitsplätze bei kleinen und mittleren Unternehmen entstanden. Nur diese haben eine tragfähige Substanz und sind letztendlich zukunftsfähig.

   Hinzu kommt, dass im Technologiebereich 80 Prozent aller betrieblichen Anlagen in diesen Unternehmen neuwertig sind. Das ist doch eine enorme Leistung, die sich sowohl in den Haushalten der Kohl-Regierung, aber insbesondere seit 1998 in den Haushalten der rot-grünen Regierung niedergeschlagen hat und die Wirtschaftskraft von Hightechregionen in den neuen Ländern von Nord nach Süd widerspiegelt. Besonders erfreulich ist - das haben Sie überhaupt nicht erwähnt -, dass das verarbeitende Gewerbe hier doppelt so schnell gewachsen ist wie in den alten Bundesländern und teilweise wie in vergleichbaren Ländern in der Europäischen Union. Weiterhin ist erfreulich - auch das haben Sie nicht erwähnt -, dass die Exportquote sich dabei mehr als verdoppelt hat.

(Arnold Vaatz (CDU/CSU): Von welchem Ausgangspunkt denn?)

Hiervon konnten wir zu Ihren Zeiten doch nur träumen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie können doch erwähnen, dass wir mittlerweile die modernste technische Infrastruktur der Welt haben und dass wir technische Infrastruktur und Technologie weltweit exportieren.

(Arnold Vaatz (CDU/CSU): Nach Shanghai!)

Auch das war Ihnen hier keine Silbe wert.

   Mehr als die Hälfte des vorhandenen Wohnungsbestandes wurde modernisiert; Verbesserungen im Wohnumfeld schlossen sich an. Das waren Maßnahmen, die die Bürgerinnen und Bürger zum Bleiben bewegt haben. Zudem hat sich die Wohneigentumsquote deutlich erhöht. Sie sollten auch einmal darauf eingehen, dass sich der wesentlich höhere Stellenwert der natürlichen Lebensgrundlagen im Abbau von Umweltbelastungen manifestiert. Auch das ist in den neuen Ländern festzustellen.

   Es ist bitter und wir beschönigen es überhaupt nicht - deshalb spreche ich es an -, dass aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit auch unter den Jugendlichen Wanderungsbewegungen stattgefunden haben und weiter stattfinden. Aber wenn Sie seriös analysieren, dann können Sie daneben auch ein Nord-Süd-Gefälle bzw. Wanderungsbewegungen in den alten Bundesländern und Wanderungsbewegungen von den alten in die neuen Bundesländer feststellen. Auch das gehört zur Wahrheit, die Sie darstellen müssen, wenn Sie hier redlich argumentieren wollen. Anderenfalls könnte ich Ihnen detaillierte Zahlen aus Bayern vortragen, der Region, die Sie als beispielhaft anführen.

(Ludwig Stiegler (SPD): Sehr wahr!)

   Mehrere konkrete Ziele lassen sich aus der Problemanalyse herauskristallisieren und werden von der Bundesregierung und den sie tragenden Fraktionen prioritär verfolgt. Dazu gehören natürlich die Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze und die Angleichung der Einkommen, die aber nur - das sage ich ganz deutlich - in Abhängigkeit von der wirtschaftlichen Entwicklung stattfinden kann. Dazu gehören auch der Abbau der Transferabhängigkeit - darauf ist Kollege Schulz schon eingegangen - und die Stärkung der Wirtschaftskraft sowie die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ostdeutschland an das Westniveau. Das ist ein Prozess, den wir seit Jahren fordern. Er stand natürlich schon zu Ihren Zeiten immer wieder auf der Agenda, aber mit den jetzigen Tarifabschlüssen wird Licht am Ende des Tunnels sichtbar.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

   Herr Kollege Scheffler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kretschmer?

Siegfried Scheffler (SPD):

   Nein, ich möchte im Zusammenhang vortragen.

   Schon mit der Bundestagswahl wurden neue, in die Zukunft gerichtete Impulse gesetzt; auch das hat Kollege Schulz bereits angesprochen. Wir setzen nicht auf kurzfristige Effekte - das haben Sie zu Ihrer Zeit mit der kurzfristigen Ausweitung der ABM getan -, uns geht es um Nachhaltigkeit. Darauf sind die Programme der Bundesregierung ausgerichtet. Wir haben ein umfassendes Programm für den Aufbau und den Ausbau der neuen Bundesländer aufgelegt.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wo denn?)

- Sie können das zusammen durcharbeiten.

(Lachen bei der CDU/CSU)

Ich komme darauf noch detailliert zu sprechen, wenn ich mich dem Bereich Bildung und Forschung zuwende, dessen Haushalt Ihr Superminister Rüttgers bis 1998 - ich will es locker formulieren - in den Keller gefahren hat. Ihnen müssten jeden Tag die Ohren klingen.

   Heute reden wir über innovative Arbeitsplätze und Hightechstandorte für Technologien. Wir müssen Sie daran erinnern, dass Sie seit Beginn der deutschen Einheit acht Jahre lang - bis 1998 - für diesen Prozess verantwortlich waren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sie könnten Ihre Reden hier halten, wenn wir 1998 am Beginn der deutschen Einheit gestanden hätten. Aber Ihre verkorkste Politik hat dazu geführt, dass Millionen von Ausbildungsplätzen gefehlt haben. Selbst Ihr Kanzler Kohl hat diese nicht schaffen können. Erst mit der rot-grünen Bundesregierung 1998

(Lachen bei der CDU/CSU)

wurden entsprechende Programme zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit aufgelegt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das JUMP- und das JUMP-Plus-Programm wurden bereits angesprochen.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

   Herr Kollege Scheffler, der Kollege Kolbe würde gern eine Zwischenfrage stellen.

Siegfried Scheffler (SPD):

   Nein, die Kollegen hatten schon Gelegenheit, ihre Standpunkte vorzutragen. Sie können ja nachher ein paar Kurzinterventionen machen.

   1998 waren die Jugendarbeitslosigkeit und die Situation der Ausbildungsplätze in den neuen Ländern katastrophal. Ich möchte Ihnen einige Programme, die wir zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit aufgelegt haben, nennen: Förderung überbetrieblicher Berufsbildungsstätten, Zukunftsinitiative für Berufliche Schulen, das Projekt „Schulen ans Netz“ und die Ausbildungsförderung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“. Wir hätten zu Oppositionszeiten davon geträumt, dass diese Programme aufgelegt und die Mittel im Haushalt für die Beseitigung der Jugendarbeitslosigkeit und die Verbesserung der Ausbildungssituation der jungen Leute in den neuen Ländern bereit gestellt würden.

   Nichts von dem haben Sie vorgetragen und das ist das Problem. Ich finde es perfide, dass Sie so tun, als hätte 1998 jeder Jugendliche einen Ausbildungsplatz gehabt. Genau das Gegenteil war der Fall.

   Wenn ich von einem Modernisierungsprozess spreche, der eingeleitet wurde, muss ich auch die Programme Inno-Regio und EXIST für Existenzgründer nennen. Wir haben in den letzten Jahren Umgestaltungen vorgenommen, damit der Mittelstand durch die Förderprogramme finanzielle Unterstützung erhält und die Innovation auch in den neuen Ländern greifen kann.

   Vom Minister bzw. vom Kollegen Schulz wurden hier schon einige Standorte angesprochen. Ich kann Ihnen aber noch einige nennen, so zum Beispiel den Bereich Jena. Hier hat sich aufgrund einer enormen Gründungsdynamik bei der Biotechnologie eine regelrechte Bioregion entwickelt.

(Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU): Wann?)

Wenn Sie einmal nach Jena und zu Herrn Späth kommen und Sie vor den Menschen und den Arbeitskräften dort diese Jammerarie, die Sie hier vor dem Deutschen Bundestag halten, von sich geben würden,

(Ludwig Stiegler (SPD): Das sind alles schwarze Jammerlappen!)

würden Sie dort kein weiteres Mal Zugang bekommen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Oder schauen Sie in die Region Leipzig/Halle/Bitterfeld: Hier hat sich eines der international führenden Zentren für Umwelttechnik etabliert. Gleiches gilt für die Region Thüringen/Sachsen in Bezug auf die Elektronik. Sachsen-Anhalt und Sachsen machen sich zurzeit als Zulieferer für die Automobilindustrie unentbehrlich. In Mecklenburg-Vorpommern bilden sich Allianzen für eine innovative maritime Wirtschaft heraus.

   Es kann doch nicht sein, dass uns auf der einen Seite vor Ort - da ich hier den lieben Kollegen Werner Kuhn sehe: zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern -,

(Werner Kuhn (Zingst) (CDU/CSU): Du kannst dich gleich auf etwas gefasst machen!)

die wunderbaren Aufbauleistungen vorgeführt werden, die durch Programme der jetzigen Bundesregierung seit 1998 finanziert werden, man aber auf der anderen Seite hier ein Zerrbild schafft und so tut,

(Cornelia Pieper (FDP): Aber die Arbeitslosigkeit steigt doch!)

als habe es diese Entwicklung in den neuen Bundesländern und Berlin überhaupt nicht gegeben.

   Genau diese Innovationsnetzwerke müssen wir verstärkt fördern und finanzieren. Ich denke, mit dem Programm Inno-Regio, mit dem Programm Innovationskompetenz mittelständiger Unternehmen oder mit dem Programm Inno-Net ist dies bereits jetzt erfolgreich eingeleitet. Ich behaupte gar nicht, dass dies alles vollkommen sei; ich denke, wir sind uns alle darüber einig, - auch der Herr Minister hat es vorgetragen -, dass wir erst die Hälfte der Wegstrecke geschafft haben.

   Wir können uns alle hier hinstellen und darüber lamentieren, ob das Glas halb leer oder halb voll ist. Ich sage: Seit 1990 haben wir gemeinsam mit den Menschen Gewaltiges vollbracht. Insofern ist das Glas halb voll.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Klaus Brähmig (CDU/CSU): Vorher war es halb leer! Das ist eine seltsame Wandlung!)

Wir sind auch mit dem Kraftakt Solidarpakt II, den Sie überhaupt nicht erwähnt haben und wahrscheinlich am liebsten verschweigen würden, auf einem guten Weg. Ihre Länderministerpräsidenten sind doch glücklich und zufrieden darüber, dass im Rahmen des Solidarpaktes II die kommunalen Infrastrukturen, insbesondere die verkehrlichen Infrastrukturen, verbessert werden.

   Ich freue mich jetzt schon darauf, mit Ihnen über den Bundesverkehrswegeplan zu diskutieren, wo Sie alle wieder die Wünsche aus Ihrem Wahlkreis vortragen, sei es eine Ortsumgehung, eine Kommunalstraße, eine Bundesfernstraße oder eine Autobahn. Dann werden Sie nach Hause kommen, sich hinstellen und sagen, Sie hätten dies hier geschafft und mit Unterstützung des Bundes bei der Finanzierung und der Sicherung im Haushalt würden Sie dazu beitragen, dass vor Ort alles besser und schöner wird.

   Zu DDR-Zeiten gab es den Wettbewerb „Schöner unsere Städte und Gemeinden“. Nach diesem Slogan verfahren Sie vor Ort. Aber hier im Deutschen Bundestag und für die Menschen vor den Bildschirmen tun Sie so, als wenn alles grau in grau wäre. Ich denke, Sie werden der Wirklichkeit damit überhaupt nicht gerecht.

(Beifall bei der SPD)

   Ich könnte noch weitere Programme vortragen. Von Ihnen, Frau Pieper, obwohl Sie ja im Bildungs- und Forschungsausschuss sind,

(Cornelia Pieper (FDP): Richtig!)

kam zum Beispiel kein Wort zum Programm EXIST, wodurch sich 430 Unternehmen aus Hochschulen - was bis 1998 überhaupt nicht der Fall war - ausgegründet haben und das dazu beigetragen hat, dass sich die Zahl der Spin-offs auf einem Niveau von über 150 pro Jahr stabil etabliert hat.

(Abg. Cornelia Pieper (FDP) meldet sich zu einer Zwischenfrage)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

   Herr Kollege Scheffler, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pieper?

Siegfried Scheffler (SPD):

   Nein. - Dazu kam von Ihnen kein Wort. Dies gilt auch für das Programm „Zentrum für Innovationskompetenz“, das versucht, universitäres Wissen in die Wirtschaft zu transferieren.

   Auch ich möchte mich noch einmal an den Minister wenden: Es steht jetzt in der Öffentlichkeit und hier im Raume, dass für die neuen Bundesländer Bundesgesetze teilweise außer Kraft gesetzt werden, damit wir gerade im öffentlichen Bereich, bei PPP, beim Hochbau und in der Verkehrsinfrastruktur, schneller vorankommen. Gepaart mit der Entbürokratisierung sollte dies der Dynamik beim Zurücklegen der nächsten Hälfte des Weges dienlich sein.

   Ich denke, auch das sinnvolle Instrument des Bundesverkehrswegeplans, das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz, wäre eine gute Möglichkeit, um deutschlandweit ein Zeichen zu setzen.

(Horst Friedrich [Bayreuth] (FDP): Das habt ihr doch abgelehnt!)

- Mein lieber Kollege Friedrich, das ist weder in den alten noch in den neuen Bundesländern abgelehnt worden. - Wir werden uns darüber im Rahmen der Diskussion um den Bundesverkehrswegeplan unterhalten. Mit diesem Instrument werden wir, wie ich denke, in der Zukunft weiter vorankommen.

   Wir sollten aufhören, hier nur herumzujammern; vielmehr sollten wir, vor allem hinsichtlich der EU-Osterweiterung, einmal zur Kenntnis nehmen, was erfolgreich entstanden ist. Herr Minister, Sie sprachen gerade von „Sandwich“. Das Beste bei einem Sandwich ist die Mitte. Es sind die neuen Länder, die in der Mitte Europas liegen. Von den neuen Ländern werden positive Signale ausgehen. Ich denke, dass wir in einigen Jahren von starken Wachstumsregionen in den neuen Ländern sprechen können.

   Vielen herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

   Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kollegen Kretschmer, CDU/CSU-Fraktion.

Michael Kretschmer (CDU/CSU):

   Herr Kollege, Ihre Rede passt in der Tat in die Zeit von „Schöner unsere Städte und Gemeinden“. Es ist schofelig, die Abwanderung aus den neuen Bundesländern mit Abwanderungsbewegungen in anderen Teilen Deutschlands zu vergleichen. Ich weiß, wie die Leute darunter zu leiden haben, wie es bei uns in Görlitz und in Dresden aussieht. Es steht außer Frage, dass wir beim Aufbau Ost und bei der wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Bundesländern Fortschritte gemacht haben. Aber das, was erreicht worden ist, sind höchstens kleine Pflänzchen.

   Was wir heute kritisiert haben, ist, dass Sie keinen Weg aufgezeigt haben. Ich hätte von Ihnen heute ein Konzept erwartet: Wie schaffen wir den Anschluss an die alten Bundesländer? Was ist Ihr Weg? Die Jugendarbeitslosigkeit steigt. Die Unternehmensdichte und die Forschungsintensität sind wesentlich geringer als in den alten Ländern. Beim Projekt Inno-Regio wie bei anderen Projekten zur Wachstumsförderung wird gekürzt. Die Kaufkraft ist geringer und sinkt. Die Frage ist, wie Ihr Konzept aussieht. Aussagen hierzu fehlen uns. Diese hätten wir von Ihnen erwartet. Darauf haben Sie keine Antwort gegeben. Es ist vollkommen richtig: Der Bericht, der vorliegt, ist nicht das Papier wert, auf dem er steht. Er ist eine Beleidigung für die Menschen in den neuen Bundesländern.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

   Herr Kollege Scheffler, Sie haben die Möglichkeit zu antworten.

Siegfried Scheffler (SPD):

   Ja, ich möchte darauf antworten. Ich habe davon gesprochen, dass die Abwanderungsbewegungen sehr differenziert betrachtet werden müssen und nicht pauschalisiert werden dürfen.

(Cornelia Pieper (FDP): Drastisch ist sie!)

Ich habe kritisch angesprochen, dass wir die Abwanderungsbewegung insbesondere der jungen Menschen stoppen müssen.

   Was Sie überhaupt nicht beachten, ist Folgendes: Sehen Sie sich einmal den Forschungs- und Bildungshaushalt seit 1998 an. Jedes Jahr haben wir draufgesattelt. Die Mittel weisen ungeahnte Höhen auf. Noch nie war der Haushalt der Bundesrepublik Deutschland in diesem Bereich so groß wie im Jahr 2002 und er wird es auch im Jahre 2003 sein.

(Cornelia Pieper (FDP): Sie kürzen doch bei den Forschungseinrichtungen!)

Noch nie war er so hoch, wie heute obwohl Sie für die Bildung einen so genannten Superminister, nämlich Herrn Rüttgers, hatten.

   Sehen Sie sich einmal die Zahlen bei der Erstausbildung, beim Studium und bei der Weiterbildung, beim erwähnten BAföG und beim Meister-BAföG an! Sie alle weisen ungeahnte Höhen auf. Zu Ihren Zeiten war das Image von BAföG derart negativ, dass Sie davon nur träumen konnten. In den letzten beiden Jahren haben wir bei der Zahl der Studienbeginner richtige Sprünge zu verzeichnen. Das Gleiche trifft übrigens auch auf das Meister-BAföG zu.

   Sehen Sie sich einmal den Verkehrshaushalt an! Wir sprachen von Verkehrsinfrastruktur als Voraussetzung für die wirtschaftliche Entwicklung. Die Verkehrsinfrastruktur wird in den neuen Ländern seit 1998 so berücksichtigt wie noch nie. Auch dieser Einzelplan war in den Jahren 2000, 2001 und 2002 so hoch wie nie zuvor seit der Wiedervereinigung.

Auch das müssen Sie anerkennen. Das ist das Programm der Bundesregierung.

(Zuruf von der CDU/CSU: Da sieht die Wirklichkeit aber anders aus!)

   Ich frage mich, wo Sie bis 1998 waren. Dabei denke ich gerade an diese zwei wichtigen Komplexe für die neuen Länder: Bildung und Forschung sowie Auf- und Ausbau der Verkehrsinfrastruktur als grundsätzliche Voraussetzung für Ansiedlungen des Gewerbes und für regionales, aber auch bundesweites Wachstum. Ihre Länderminister sind offensichtlich schon viel weiter; denn sie loben die Bundesregierung immer wieder für die aufgelegten Programme

(Lachen bei der CDU/CSU)

und deren Finanzierung. Sie bitten händeringend darum, die Finanzierung so, wie wir sie mit dem Haushalt 2003 angedacht haben, zu sichern.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Zuruf von der (CDU/CSU): Wo leben Sie denn?)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

   Der nächste Redner ist der Kollege Werner Kuhn, CDU/CSU-Fraktion.

Werner Kuhn (Zingst) (CDU/CSU):

   Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich halte es nach wie vor für richtig und wichtig, dass sich die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in diesem Hohen Hause alljährlich zu einer Generaldebatte über den Stand der deutschen Einheit versammeln.

   Der diesbezügliche Bericht der Bundesregierung liegt uns vor. Wir müssen gemeinsam um einen vernünftigen Weg ringen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die jetzigen Koalitionsparteien dürfen dabei nicht behaupten, dass der Aufbau Ost erst seit 1998 richtig in Angriff genommen wurde.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Zuerst gab es die Chefsache Ost, dann gab es die ruhige Hand und jetzt gibt es Herrn Stolpe, der alles regeln soll. Verehrter Herr Kollege Stolpe, ich muss Ihnen sagen, dass die Botschaften, die Sie uns vermitteln wollten, doch sehr dürftig waren. Es reicht einfach nicht aus, dem Mittelstand nur mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Hier müssen konkrete Konzepte her.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   In den neuen Bundesländern gibt es die schwierigste Arbeitsmarktsituation seit der Wiedervereinigung. Die Arbeitslosigkeit liegt im Jahresdurchschnitt bei 20 Prozent, wobei die verdeckte Arbeitslosigkeit noch gar nicht berücksichtigt wurde. In strukturschwachen Gebieten liegt sie bei 30, 40 oder gar 50 Prozent.

   Ich komme zur Infrastrukturlücke. Ich finde es in Ordnung, dass die jetzige Bundesregierung um einen lückenlosen Übergang im Bereich der Infrastruktur, so wie wir ihn im Bundesverkehrswegeplan mit den Verkehrsprojekten „Deutsche Einheit“ seinerzeit angelegt haben, bemüht ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es gibt aber immer noch eine Infrastrukturlücke in einer Größenordnung von 150 Milliarden Euro. Dabei geht es nicht nur um Schienen, Straßen und Wasserstraßen, sondern da müssen auch die weichen Standortfaktoren berücksichtigt werden.

   Der Städteumbau ist dabei ein ganz wichtiger Aspekt. Durch den Städteumbau sollen unsere Städte und Gemeinden, die zu DDR-Zeiten mit einer völlig verfehlten Wohnungsbaupolitik verschandelt worden sind, neu geordnet werden. Dazu gehört auch der Abriss der leer stehenden Wohnungen. Es gibt einen Wohnungsleerstand von 1 Million Wohnungen. Verehrter Herr Minister Stolpe, diese müssen abgerissen werden und es muss zu einer Entschuldung kommen. Es kann nicht sein, dass wirtschaftlich einigermaßen intakte Wohnungsbauunternehmen keine Entschuldung erhalten, während dies bei denjenigen, die in Insolvenz geraten sind, der Fall ist. Ich bitte Sie: Das ist doch der völlig falsche Weg.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es könnte passieren, dass eine gesunde Wohnungsbaugenossenschaft Wohnungen nicht abreißt, sodass es sozusagen zu einem nicht vertretbaren Lückengefüge kommt.

(Siegfried Scheffler (SPD): Herr Waigel hat das Altschuldenhilfe-Gesetz doch durchgesetzt! Das ist die Ursache davon! Es kann doch nicht sein, dass hier solch ein Blödsinn erzählt wird!)

Vonseiten der Bundesregierung muss hierzu unbedingt ein vernünftiges Konzept vorgelegt werden.

   Ich komme zur Unternehmens- und Unternehmerlücke. Wir haben gehört, dass die Zahl der Unternehmensgründungen in Ostdeutschland vergleichbar mit der in Baden-Württemberg sei. Die allgemeine wirtschaftliche Situation zeigt etwas anderes. Wenn Sie den Ausführungen des Statistischen Bundesamtes heute richtig zugehört haben, dann wissen Sie, dass das Wirtschaftswachstum im Jahre 2002 in ganz Deutschland nur 0,2 Prozent betrug. Das heißt, dass die Wirtschaft in Ostdeutschland geschrumpft ist.

   Im ersten Halbjahr 2002 gab es 5 500 Unternehmenspleiten in Ostdeutschland. Damit gingen 30 Prozent der Unternehmenszusammenbrüche auf des Konto der neuen Bundesländer. Das sind die wahren Zahlen! Das ist die wahre Situation! Das ist die wahre Beschreibung der Wirtschaft in Ostdeutschland!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Obwohl dies nach meiner Auffassung das zentrale Thema ist, enthält dieser Bericht gerade einmal eineinhalb Seiten dazu, wie es mit der Wirtschaft weitergehen soll.

   Ich komme nun zum Thema Schulen ans Netz. Herr Kollege Scheffler, dies ist sicherlich eine interessante periphere Erscheinung für bessere Bildungsprogramme. Wir müssen unsere Leute aber in Arbeit bringen, damit sie wieder Zuversicht haben und die deutsche Einheit positiv sehen. Diese Zuversicht haben die Menschen durch diese Bundesregierung verloren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das zeigen auch die Abwanderungszahlen. Im letzten Jahr sind 2,5 Prozent der 15- bis 30-Jährigen aus Mecklenburg-Vorpommern weggezogen und haben sich in den Ballungsgebieten eine neue Existenz gesucht.

Sagen Sie mir: Mit wem wollen wir den Aufbau Ost realisieren? Wir brauchen die gut ausgebildeten und hoch qualifizierten Facharbeiter. Diese werden am Markt gesucht, aber sie ziehen aus Ostdeutschland weg. Zurück bleibt eine Bevölkerung mit einer demographischen Verwerfung. Diesem Problem müssen wir uns stellen. Dafür müssen Konzepte her.

   Die Wirtschaft in Ostdeutschland muss wieder in Gang gebracht werden. Existenzgründerinitiativen, Small Business Act, Mittelstandsbank - all das haben wir von Herrn Minister Stolpe gehört. Übrigens vermisse ich den Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Er hat gesagt: Der Aufbau Ost ist Chefsache, ich will der Kanzler aller Deutschen sein. - Er ist heute bei der Debatte nicht dabei. Das muss man einmal knallhart sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Siegfried Scheffler (SPD): Wo ist denn Ihre Fraktionsvorsitzende?)

Wir leben im wiedervereinigten Deutschland, zu dem wir alle stehen.

   Viel wichtiger ist, die Bestandspflege der noch bestehenden Unternehmen in Angriff zu nehmen.

(Klaus Brähmig (CDU/CSU): Genau!)

Das heißt, dass wir potenzielle Auftraggeber finanziell in die Lage versetzen müssen, einen Auftrag an ein Unternehmen zu vergeben, um zum Beispiel im Investitionsgüterbereich Maschinen und Anlagen zu bestellen. Dadurch würde die Binnenkonjunktur verbessert und die Auftragslage günstiger. Aber von all dem ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt überhaupt nichts zu spüren.

   Die Privathaushalte sind mit Ökosteuerreform, Abgaben und Steuern derart stranguliert, dass sie beim Konsum sehr zurückhaltend geworden sind. Der Einzelhandel dokumentiert das ebenfalls. Dort sind die Umsätze massiv zurückgegangen. Hier würde eine Steuerentlastung helfen. Die Flutkatastrophe - das haben wir gehört - war ein schlimmes Ereignis. Sie hat einen Schaden von insgesamt 9,2 Milliarden Euro angerichtet, der finanziert werden musste. Die Versicherungen übernehmen - bei denjenigen, die gegen Elementarschäden versichert sind - 2 Milliarden Euro. Der Bundeskanzler hat angekündigt, dass wir für den Wiederaufbau in Ostdeutschland von der Europäischen Union 2,5 Milliarden Euro erhalten. Jetzt bleiben noch etwa 4,5 Milliarden Euro übrig. Das sind, über drei Jahre verteilt, jeweils 1,5 Milliarden Euro; denn mehr kann man in einem Jahr kaum verbauen. Dafür haben Sie die Steuerreform verschoben! In Wirklichkeit war das nur das Stopfen von Finanzlöchern, weil Sie weder ein noch aus wussten und vor der Bundestagswahl die wahren Zahlen verschleiert haben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Die Binnenkonjunktur hätte auch in Ostdeutschland schon längst angekurbelt werden können: Wenn die Menschen mehr Geld zwischen den Fingern hätten und damit mehr einkaufen würden; hätte der Unternehmer Aufträge und von diesen Investitionen würde dann auch die Industrie profitieren, sodass das Schwungrad der Wirtschaft wieder in Gang käme. Es reicht nicht, Herr Schulz, in feuilletonistischer Art eine Ist-Beschreibung vornehmen, sondern wir müssen dafür sorgen, dass die Auftraggeber wieder Geld in der Kasse haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Dazu gehören auch die Städte und Gemeinden. Ich will, dass die Bürgermeister und Landräte im Osten endlich wieder eine kommunale Investitionspauschale bekommen, damit sie sich um ihre Schulen, Kindertagesstätten und Krankenhäuser kümmern können, die streckenweise in einem noch sehr jämmerlichen Zustand sind. Dabei muss die Vergabepraxis - das hat damals schon Lothar Späth gesagt - so funktionieren, dass die örtlichen Handwerksbetriebe davon profitieren; denn nur so werden sie vor der Pleite bewahrt. Das ist für die kommunale Infrastruktur ein ganz wichtiger Punkt.

   Herr Minister Stolpe, Sie haben einen Punkt angesprochen, in dem ich Ihnen Recht gebe - wir wollen schließlich konstruktiv zusammenarbeiten -: Teilung kann nur durch Teilen überwunden werden. Über dieses große Wort wird immer wieder gesprochen. Aber schauen wir uns einmal die öffentliche Auftragslage des Bundes bei der Wehrtechnik an. Dort ist es zu großen Verwerfungen gekommen, die wir einfach nicht hinnehmen dürfen.

   Ich erinnere an die Korvette K130 mit einem Investitionsvolumen von 1,2 Milliarden Euro. Es ist Usus gewesen, dass sich die fünf norddeutschen Küstenländer diesen Auftrag mit allen Unteraufträgen so aufteilen, dass alle gleichmäßig partizipieren: Jeder bekommt 20 Prozent. Mecklenburg-Vorpommern - ich frage mich: Wo sind die Kämpfer für Mecklenburg-Vorpommern auf der Bundesratsbank? - hat nur einen Anteil von 10 Prozent erhalten. Dies kann ich weiterrechnen.

   Eine weitere Anschaffung ist der große Transportflieger A400M mit einem Auftragsvolumen von 9 Milliarden Euro. Welches Unternehmen in Ostdeutschland, zum Beispiel ein Metall verarbeitender Betrieb, ein GFK-Betrieb oder ein Elektrobetrieb, ist überhaupt in der Lage, dort als Zulieferer gelistet zu werden? Sie sind luftfahrttechnisch überhaupt nicht zertifiziert. Herr Minister Stolpe, ich mache Ihnen einen Vorschlag. Nehmen Sie Geld in die Hand - diese Zertifizierung kostet vielleicht 60 000 Euro - und legen Sie ein Programm auf, damit unsere Unternehmen in Ostdeutschland an diesem Projekt partizipieren können. Das ist ein ganz konkreter Vorschlag.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Das Gleiche wird beim Schienenfahrzeugbau deutlich. Es gibt nicht nur Bombardier in Halle, das kurz vor einer Bundestagswahl sozusagen durch die schützende Hand des Bundeskanzlers gerettet wurde, sondern in Pankow zum Beispiel gibt es ein Unternehmen, das sich wie viele andere Unternehmen auch um die Aufträge bewirbt. Wir können durchaus alle Unternehmen, bei denen wir hundertprozentige Gesellschafter sind, fit machen, sodass eine gleichmäßige Verteilung gewährleistet wird. Dann gäbe es erst einmal eine Grundauslastung.

   Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen. Ich freue mich sehr, Herr Minister Stolpe, dass Sie wieder Ihr Herz für die Magnetschwebebahn zwischen Hamburg und Berlin entdeckt haben. Ich hätte mich aber noch viel mehr gefreut, wenn wir beide gemeinsam in zwei Jahren in Perleberg das Wagenumlaufwerk für die Magnetschwebetechnik in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern hätten eröffnen und damit in dieser extrem strukturschwachen Gegend 400 Menschen Arbeit hätten bieten können. Sie aber haben die vier Jahre verstreichen lassen und einen Stillstand produziert. Damit werden wir uns als Opposition nicht abfinden!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Die Aufgabenverteilung zwischen Opposition und Regierungskoalition darf nicht einseitig erfolgen. Wir sind durchaus bereit, unsere Ideen einzubringen - das ist auch vonseiten der FDP eindeutig signalisiert worden - und Lösungen und Strategien für die Umsetzung zu entwickeln. Es kann aber nicht sein, dass wir die Arbeit machen, während für den Verkauf die Bundesregierung zuständig ist, die sich darüber freut, dass sie eine Idee kopieren kann.

   Zum Beispiel erscheint mir die Idee, die Ministerien für Wirtschaft und Arbeit in einem großen Ministerium zusammenzufassen, vernünftig. Das haben wir im Wahlkampf immer wieder bestätigt; denn diese Ressorts gehören nun einmal zusammen. Über die Minijobs haben wir im Vermittlungsausschuss vernünftig verhandelt. Das sind erste Ansätze, die deutlich machen, dass wir Deutschland gemeinsam fit machen können, wenn wir das wollen. Aber es handelt sich dabei um unsere Ideen und Aktivitäten, die wir als Oppositionspartei entwickelt haben.

   Diese Ansätze können Sie weiterverfolgen. Unserer Mitarbeit können Sie sich dabei sicher sein. Ich bin aber nicht damit einverstanden, dass Sie immer weiter dazu neigen, Investoren durch Regulierungen, Gesetze und Durchführungsbestimmungen abzuschrecken. Was soll ich einem potenziellen Investor aus Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg oder Berlin antworten, der sich bei mir meldet und sagt: Sie haben im Bundestag eine interessante Rede gehalten, Herr Kuhn, ich möchte bei Ihnen investieren?

(Beifall bei der CDU/CSU - Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn er mich fragt, wie denn die Investitionsförderung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, wie denn die Investitionszulage, der Mittelstandskredit und das Programm Kapital für Arbeit funktionieren, muss ich ihm antworten: Kommen Sie her; ich habe alle Fragebögen dabei - bis hin zum Formblatt zur Offenlegung Ihrer persönlichen Verhältnisse, zu der Sie verpflichtet sind. Sie haben 135 Formulare auszufüllen. Der potenzielle Investor erwidert dann sicherlich: Verehrter Herr Abgeordneter, ich wollte nicht zum Ausfüllen von Fragebögen kommen,

(Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dann macht das Herr Kuhn!)

sondern um mein Kerngeschäft zu erledigen, Leute einzustellen, mein Produkt zu verkaufen und Geld zu verdienen. - Dem müssen wir uns wieder annähern!

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

   Herr Kollege, denken Sie an Ihre Redezeit?

Werner Kuhn (Zingst) (CDU/CSU):

   Es geht nicht an, dass die Bundesregierung letztendlich dazu neigt, jedem, der Geld verdienen will, im Prinzip nur die Aufgabe in unserer Gesellschaft zuzuweisen, einen Solidarbeitrag zu leisten. Wir müssen vielmehr dazu kommen, dass diejenigen, die Leistungen bringen, auch selber etwas davon haben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit Deutschland wird es wirtschaftlich und gesamtgesellschaftlich nur dann wieder aufwärts gehen, wenn der Osten auf die Beine kommt. Das ist nicht nur die Überzeugung der CDU/CSU-Fraktion, sondern das sind Tatsachen. Der Osten hat eine zu schwache Lobby und zu wenig Fürsprache in der Bundesregierung. Viele Menschen in Ostdeutschland wünschen sich wieder einen Kanzler aller Deutschen wie den, mit dem dieser Sessel bis 1998 besetzt war.

(Beifall bei der CDU/CSU - Lachen bei der SPD - Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Helmut lebt!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

   Herr Kollege Kuhn, ich darf Sie noch einmal eindringlich an Ihre Redezeit erinnern.

Werner Kuhn (Zingst) (CDU/CSU):

   Erlauben Sie mir einen letzten Satz. Wenn es in wenigen Wochen um die Entscheidung für die Olympiabewerbung Deutschlands geht, dann hätte die Stadt Leipzig, von der 1989 der Funke der Freiheit auf ganz Deutschland übergesprungen ist, einen prominenten Fürsprecher.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

   Herr Kollege Kuhn!

Werner Kuhn (Zingst) (CDU/CSU):

   Das wäre der Altbundeskanzler!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Helmut lebt!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

   Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Peter Hettlich, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

   Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Trotz aller Redebeiträge, die ich heute von der Opposition gehört habe, kann es sich sehen lassen, was Rot-Grün in den vergangenen vier Jahren für die ostdeutschen Bundesländer geleistet hat; darauf können wir stolz sein. Die Kollegen Scheffler und Schulz haben dies eindeutig klargestellt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   An diese Erfolge werden wir anknüpfen. Wir kämpfen für eine Angleichung der Lebensbedingungen der Menschen in Ost und West. Deswegen sehe ich auch im jüngsten Tarifabschluss für den öffentlichen Dienst ein deutliches Signal in diese Richtung.

(Jürgen Türk (FDP): Was?!)

Wir begrüßen es ausdrücklich, dass die unteren Einkommensgruppen in den neuen Ländern bis 2007 an das Westniveau angeglichen werden - so haben wir es auch im Koalitionsvertrag festgeschrieben -, denn nach so vielen Jahren der deutschen Einheit ist gleicher Lohn für gleiche Arbeit ein Gebot der Fairness.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

   Verehrte Kolleginnen und Kollegen, unter den Punkten, die Kollege Kuhn eben angesprochen hat, waren auch das Programm Stadtumbau Ost und die Altschuldenhilfe für die Wohnungsunternehmen. Ich frage mich, ob er gestern nicht im Ausschuss gewesen ist. Wir haben gestern über diese Themen gesprochen.

   Das Erfolgsprogramm Stadtumbau Ost, das in den letzten vier Jahren auf den Weg gebracht worden ist, kann sich doch sehen lassen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Werner Kuhn [Zingst] (CDU/CSU): 15 Millionen im vorletzten Jahr und 8 Millionen im letzten Jahr! Das ist doch kein Erfolg!)

- 1,1 Milliarden Euro stellt allein der Bund bis 2009 dafür zur Verfügung. Zusammen mit den Finanzmitteln von Ländern und Kommunen summiert sich dies auf 2,7 Milliarden Euro. Diese riesige Summe beruht maßgeblich auf den Initiativen der letzten Wahlperiode. Dass das Programm erfolgreich ist, zeigt sich auch daran, dass sich über 250 ostdeutsche Kommunen an diesem Wettbewerb beteiligt haben. Das Engagement ist deutlich höher, als wir alle es erwartet haben.

   Das Thema Altschuldenhilfe haben wir ebenfalls angepackt. Hier hat der Bund seine Mittel um fast 50 Prozent aufgestockt; wir stellen dafür fast 700 Millionen Euro zur Verfügung. Das kann man nicht einfach unter den Tisch reden. Hier tun wir etwas, um das verfehlte Förderprogramm der ersten acht Jahre zu korrigieren und die großen Leerstände zu beseitigen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Die Wohnungsunternehmen im Osten brauchen unsere Unterstützung. Sie brauchen Bewegungsfreiheit; denn die leer stehenden Wohnungen kosten nur Geld und bringen keine Mieteinnahmen. Dadurch bedrohen sie letztendlich die wirtschaftliche Existenz der Unternehmen.

   Besonders stolz können wir auf das sein, was wir in der Forschung geschafft haben. Ich freue mich sehr, dass Kollege Scheffler dies noch einmal ausdrücklich aufgezeigt hat. Wir haben hier über 660 Millionen Euro in die institutionelle Förderung gesteckt. Das ist zukunftsträchtig, das bezeichnen wir Grüne als nachhaltige Politik. Mit diesen Forschungsstandorten schaffen wir die Arbeitsplätze von morgen. Diese attraktiven Standorte tragen dazu bei, dass junge Leute im Osten bleiben bzw. wieder in den Osten zurückkehren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Ich weise hier nur auf die Schiene Thüringen - Sachsen hin, wo mittlerweile einer der führenden Elektronikstandorte entstanden ist. Auch dies ist ein Resultat unserer Arbeit.

   Ich stimme mit Ihnen überein, dass die Arbeitslosigkeit das größte und belastendste Problem ist. Ich bin vor zwölf Jahren nach Sachsen gezogen. Sie können mir glauben, es belastet mich genauso wie jemanden, der dort geboren ist. Allerdings ist es nicht sinnvoll, jetzt wieder mit der Gießkanne über das Land zu gehen. Vielmehr müssen unsere Programme den Unternehmen gezielt Rahmenbedingungen und Anreize bieten, Arbeitsplätze zu schaffen. Es ist besser ein Licht anzuzünden, als über die Dunkelheit zu klagen.

   Neben der Beseitigung der Flutschäden, die immer noch im Gang ist, stehen drei wichtige Punkte auf der politischen Tagesordnung. Das eine ist der Bundesverkehrswegeplan. Ich halte es für sehr wichtig, dass die Infrastruktur in den neuen Bundesländern noch einmal sehr stark gefördert wird. Wir werden von unserer Seite darauf achten, dass der Nachhaltigkeitsaspekt berücksichtigt wird und darüber nachgedacht wird, welches Verkehrs- und Infrastruktursystem geeignet ist. Wir bemühen uns intensiv darum, dass auf diesem Gebiet der Osten nicht hinten herunterfällt.

   Ganz wichtig ist für mich der Mittelstand. Im Osten gibt es kaum noch große Unternehmen. Daher müssen die kleinen und mittelständischen Unternehmen gefördert werden. Ich stimme dem Kollegen Kuhn zu, dass es wichtiger, einfacher und mit geringeren finanziellen Mitteln möglich ist, bestehende Arbeitsplätze zu sichern. In der Bauindustrie wurde schon 1994/95 damit begonnen, die Überkapazitäten abzubauen, die durch eine verfehlte Förderpolitik entstanden sind.

(Ludwig Stiegler (SPD): Steuern sparen!)

- Richtig, das war Steuersparpolitik. - Diese Konsequenzen müssen wir heute leider ausbaden.

   Die neue Mittelstandsoffensive der Bundesregierung ist hier der richtige Weg und gibt die richtigen Ziele vor. So können neue Arbeitsplätze entstehen. Intelligente Wirtschaftsförderung hilft auch, die Größennachteile der ostdeutschen Unternehmen auszugleichen. Wir wollen die Bildung von regionalen Netzwerken unterstützen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

   Herr Kollege Hettlich, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

   Ja, Frau Präsidentin. - Ich möchte zu guter Letzt nur noch ganz kurz auf die Gemeindefinanzreform eingehen. Sie ist ein ganz wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur Gesundung der Finanzlage der ostdeutschen Kommunen. Sie wissen, dass die ostdeutschen Kommunen seit 1999 einen größeren Anteil für Zinsen und Tilgung ausgeben als die westdeutschen. Dieses Dilemma soll der Vergangenheit angehören. Dafür werden wir uns unter besonderer Berücksichtigung der ostdeutschen Kommunen in starkem Maße einsetzen.

   Wir reklamieren als Politiker gern den Erfolg für uns. Aber ich sage ganz deutlich - Werner Schulz und der Minister haben das bereits in ihren Reden getan -: Den großen Fortschritt, den die neuen Bundesländer in den letzten Jahren erreicht haben, haben wir den dort lebenden Menschen zu verdanken. Das sollte man an dieser Stelle ganz ausdrücklich sagen. Den Transformationsprozess müssen wir über alle Fraktionsgrenzen hinweg mit aller Kraft unterstützen.

   Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

   Nächste Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Petra Pau, fraktionslos.

Petra Pau (fraktionslos):

   Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über die Lage in den so genannten neuen Bundesländern. Dazu liegt ein über 100-seitiger Bericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit vor. Ich möchte zwei Sätze aus diesem Bericht zitieren. Das erste Zitat:

Die nach der Wiedervereinigung weit verbreitete Annahme eines schnellen Aufbaus in den neuen Ländern hatte sich als Illusion erwiesen.

Das stimmt. Noch schlimmer: Wie zur Auszeit der DDR suchen viel zu viele Jugendliche ihre Zukunft in der Ferne. Sie verlassen also die neuen Bundesländer. Der Berliner Schriftsteller Wolfgang Engler fasste seinen Befund so zusammen:

Weil der Hoffnung die Arbeit fehlte, kam die Arbeit an der Hoffnung (in den neuen Ländern) zum Erliegen.

   Die Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern ist längst mehr als ein massenhaftes Schicksal. Sie führt zum nachhaltigen Aderlass.

   Vor diesem Hintergrund komme ich zum zweiten angekündigten Zitat aus dem Bericht der Bundesregierung:

Als eine weitere Fehlorientierung erwies sich die Vorstellung, der Aufbau Ost sei durch das bloße Übertragen westdeutscher Erfolgsmuster zu bewältigen.

Natürlich ist dieser Satz ein Seitenhieb auf die Kohl-Ära. Aber er stimmt, zumal nicht nur die Erfolgsmuster, sondern auch die Misserfolgsmuster übertragen wurden, und zwar koste es, was es wolle.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Wir könnten das jetzt im Bildungs- und im Gesundheitswesen, im Steuerrecht sowie in der Umwelt- und in der Verkehrspolitik durchgehen. Allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, wer ein Hartz-Konzept heiligt und dieses ohne Rücksicht auf Verluste auch noch 1 : 1 auf die neuen Bundesländer überträgt, der ist kein Deut klüger und auch kein Deut besser, der betreibt vielmehr die Fortsetzung einer falschen Politik mit neuen Mitteln.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Zwei weitere aktuelle Beispiele: Sie verweigern die Wiedereinführung einer Vermögensteuer und befürworten stattdessen einen Ablasshandel für Steuerflüchtlinge.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)

Das ist fatal, und zwar nicht nur, weil schon Luther, übrigens ein Ossi,

(Lachen des Abg. Werner Schulz [Berlin] (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

den erkauften Ablass als unmoralisch geächtet hat. Vor allem verweigern Sie damit jenen Entlastung, die finanziell am meisten gebeutelt sind, nämlich den Ländern und Kommunen im Osten.

   Ähnlich verhält es sich mit den jüngsten Tarifvereinbarungen im öffentlichen Dienst.

Man mag ja das Ergebnis so oder so bewerten. Nur, eines ist auffällig: Hintenherum wurde die Angleichung der Einkommen im Osten an die im Westen um zwei weitere Jahre verschoben. Das halte ich nicht nur Innenminister Schily vor; das ist offensichtlich auch Verdi-Politik. Ich sage, es ist falsche Gewerkschaftspolitik.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Es straft aber auch die rot-grüne Regierung Lügen; denn Sie haben im Wahlkampf und in der Koalitionsvereinbarung anderes versprochen.

   Nun wurde ich in dieser Woche von Journalisten gefragt, warum ich zu Ihnen, Herr Minister Stolpe, so garstig sei. Das bin ich mitnichten. Ich bin kritisch und auch skeptisch. Ganz persönlich gesagt: Als Hoffnungsminister sind Sie nicht gestartet. Ich will nicht, weder für Sie persönlich noch für die neuen Länder, dass aus dem roten Adler irgendwann eine graue Maus wird.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) - Ludwig Stiegler (SPD): Der rote Adler wird die grauen Mäuse der PDS fressen!)

   Es war der Kollege Schulz vom Bündnis 90/Die Grünen, der jüngst öffentlich bedauert hat, dass drängende Ostthemen im Bundestag kaum noch eine Rolle spielen, seit es die PDS hier nicht mehr als Fraktion gibt.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das glauben Sie doch selber nicht!)

Das bedaure natürlich auch ich. Nur, Kollege Schulz - damit wende ich mich auch an den Kollegen Hilsberg -, es gibt zuweilen so etwas wie eine Delegierungskultur. Ich kenne das auch aus meiner eigenen Partei. Das Thema „neue Bundesländer“ können Sie aber nicht delegieren. Rot-Grün steht in der Verantwortung.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] (SPD): Das ist wahr und das ist gut so!)

Sie können diese Verantwortung nur teilen, wenn Sie nicht von oben, sondern mit den Betroffenen regieren.

   Deshalb möchte ich Ihnen von Rot-Grün zum Abschluss auch noch einen Tipp geben. Bisher war der Osten der Osten und für viele, für viele von Ihnen hier im Hause, gar der ferne Osten. Mit der EU-Osterweiterung verschieben sich nun die Koordinaten. Die neuen Bundesländer werden zur neuen Mitte. Wenigstens das sollte doch die SPD anspornen, den Osten Deutschlands endlich neu zu begreifen und auch ernster zu nehmen.

   Danke schön.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

   Als nächste Rednerin hat die Kollegin Angelika Krüger-Leißner von der SPD-Fraktion das Wort.

Angelika Krüger-Leißner (SPD):

   Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Diskussion um den Jahresbericht 2002 zeigt wieder einmal ganz deutlich, wie die Opposition mit dem erreichten Stand der deutschen Einheit umgeht. Es werden wieder Vorurteile bedient. Leistungen werden mies gemacht oder sogar ignoriert. Sie merken gar nicht, dass Sie den Handelnden in den neuen Ländern damit unrecht tun und dass Sie durch Ihre Miesmacherei auch das Ansehen Ostdeutschlands schädigen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Dabei möchte ich der Bundesregierung gerade für diesen aussagekräftigen Bericht danken.

(Lachen des Abg. Arnold Vaatz (CDU/CSU))

Sie finden in diesem Bericht alle Maßnahmen. Sie können sie klar erkennen. Sie können sie bewerten. Sie finden dort unsere Zielrichtung und auch unsere Schwerpunktsetzung für den Aufbau Ost.

   Zwei Ereignisse haben die Bemühungen der Regierungskoalition im letzten Jahr deutlich gehemmt und dazu geführt, dass viele Programme, die aufgelegt worden waren, noch nicht richtig greifen konnten. Das eine - das ist auch schon erwähnt worden - war die Hochwasserkatastrophe. Eine Reihe von Fortschritten bei der Infrastruktur und beim Wirtschaftsaufbau in den neuen Ländern wurde durch diese Naturkatastrophe zunichte gemacht. Das hat uns tief getroffen. Die Bundesregierung hat schnell und auch politisch richtig gehandelt. Die Wiederaufbauhilfen wurden durch die Verschiebung der Steuerreform um ein Jahr finanziert. Ich möchte noch einmal betonen: Das war der richtige Weg.

(Jürgen Türk (FDP): Woher wissen Sie denn das?)

Die von der Opposition damals geforderte Finanzierung über Schulden hätte katastrophale Folgen für unser Ziel der Konsolidierung des Haushalts, aber letztlich auch für den Aufbau Ost bedeutet.

   Es war imponierend und mitreißend, zu beobachten, wie durch solidarisches Helfen bei der Flutkatastrophe eine große Einigkeit der Bürgerinnen und Bürger gezeigt wurde. Bei all den schlimmen Folgen für die Städte, für die Gemeinden, aber auch für die einzelnen betroffenen Menschen gab es doch eine gute Seite. Wir konnten nämlich erleben, dass es um die innere Einheit gar nicht so schlecht bestellt ist.

   Das zweite Ereignis war die Krise der Weltwirtschaft, die die neuen Länder besonders trifft. Es ist eine Binsenwahrheit, aber es ist so: In einer Marktwirtschaft hat die Politik nur begrenzt Einfluss auf die Konjunktur.

Wir können Rahmenbedingungen schaffen, wir können sie verändern; den Hauptanteil an der konjunkturellen Entwicklung hat die Wirtschaft aber selbst zu erbringen.

   Was unsere Aufgabe angeht, so haben wir - das können Sie nachlesen - einiges auf den Weg gebracht. Der Solidarpakt II gibt uns Planungssicherheit für 15 Jahre. Die Programme zur Verbesserung der Infrastruktur vom Stadtumbau bis hin zu den Verkehrsprojekten - Minister Stolpe hat sie erwähnt - bringen uns voran.

   Dennoch klaffen strukturelle Unterschiede in der Wirtschafts- und Infrastruktur zu den alten Bundesländern. Das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes in Ostdeutschland liegt weiter hinter dem im Westen zurück. Angesichts der Tatsache, dass das Wohlstandsniveau bei nur 60 Prozent des Westniveaus liegt, erscheint dies dramatisch.

   Wenn wir genauer hinschauen, dann stellen wir auch fest, dass ein Hauptgrund für diese Tatsache die Krise der Bauindustrie ist. Rechnet man die die Bauindustrie betreffenden Daten heraus, so zeigt sich, dass die Wachstumsraten des Bruttoinlandsproduktes in den neuen Ländern immer noch doppelt so hoch wie im Westen sind.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Hört! Hört!)

Das beste Beispiel ist - das haben wir gehört - das verarbeitende Gewerbe. Zur Wahrheit gehört auch: Die Produktivität in den neuen Ländern wächst kontinuierlich. Sie liegt jetzt bei 70 Prozent des Westniveaus. Auch die Exportquote hat sich seit 1995 verdoppelt.

   Die Krise der Bauindustrie macht aber diese - an sich positiven - Werte zunichte. Gerade die Kollegen der Opposition müssten eigentlich wissen, dass dieses Problem hausgemacht ist. Die einseitige Förderung der Bauindustrie durch die Regierung Kohl hat auf diesem Gebiet enorme Überkapazitäten geschaffen. Meine Damen und Herren auf der rechten Seite dieses Hauses, das geht auf Ihr Konto.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Ludwig Stiegler (SPD): So ist es! Schwarze Steuergeschenkpolitik!)

   Wie stark diese Auswirkung ist, belegen auch einige Zahlen. Die Bruttowertschöpfung im ostdeutschen Baugewerbe sinkt seit 1996 jährlich um 8,5 Prozent. Auch die Beschäftigungszahlen sind seit 1996 halbiert. Genau diese Zahlen hat Herr Vaatz erwähnt, als er über die verlorenen Arbeitsplätze sprach. Die Auswirkungen auf die Wirtschaftsentwicklung und auf den Arbeitsmarkt sind deutlich sichtbar. Eines ist aber auch klar: Die Umstellung der Förderung durch die Bundesregierung seit 1998 war richtig und notwendig.

   Abgesehen von den mit diesen Daten zum wirtschaftlichen Aufholprozess verbundenen Schwierigkeiten gibt es ein ganz großes Problem im Osten, das wir angehen müssen: den dramatischen Mangel an produktiven Arbeitsplätzen und die hohe Arbeitslosigkeit. Gerade in diesem Bereich ist das Erreichen des Westniveaus wichtiger als irgendwo sonst. Nichts trägt zur Verwirklichung der inneren Einheit mehr bei als Arbeitsplätze.

   Das von der Opposition immer wieder gescholtene Hartz-Konzept geht hierbei in die richtige Richtung. Durch die Gesetze zur Umsetzung des Hartz-Konzeptes und die Mittelstandsoffensive der Bundesregierung eröffnen sich in der Tat viele Chancen, die Arbeitslosigkeit zu verringern. Ich denke dabei an die Kompetenzcenter, die den Arbeitsmarkt und die Wirtschaftspolitik vernetzen werden. Wir werden regional intelligente Strategien umsetzen können, um Arbeit und Beschäftigung zu schaffen. Ich denke auch an den Aufbau von Clustern in strukturschwachen Regionen in Ostdeutschland.

   Aber wir werden auch die Förderung von Existenzgründungen verstärken und damit neue Unternehmen schaffen. Die Ich-AGs bieten Raum für Kleinstunternehmen und das Programm „Kapital für Arbeit“ verbindet Investitionsförderung mit Beschäftigungswirksamkeit. Das wird auch in den neuen Ländern angenommen.

   Darüber hinaus hat die Hartz-Kommission die eigentliche Misere des Ostens erkannt und auf ein kommunales Infrastrukturprogramm gesetzt. Das schafft wichtige Voraussetzungen für die Ansiedlung von Unternehmen und fördert gezielt die Wirtschaft. Es wird auch in beschäftigungsintensiven Bereichen neue Arbeitsplätze bringen.

   Die vorgeschlagene Finanzierung über Betreibermodelle und langfristige Kommunaldarlehen werden die kommunalen Haushalte entlasten. Diese Vorschläge werden wir prüfen und deren Umsetzung werden wir ermöglichen.

   Ich könnte noch eine Reihe anderer Punkte nennen. Klar ist: Das Hartz-Konzept stellt auch einen wichtigen Beitrag zum Aufbau Ost dar. Es schafft mittelfristig die richtigen Impulse für den Arbeitsmarkt. Wir werden es vollständig umsetzen.

   Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, der Prozess des Aufbaus Ost schreitet weiter voran. Der Bericht hat es deutlich belegt. Wir haben die richtigen Instrumente und wir haben die Weichen in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik richtig gestellt.

(Jürgen Türk (FDP): Die Sachverständigen sehen das ganz anders!)

Wie weit wir damit schon der Einheit von Ost und West, der alten und neuen Bundesländer

(Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Entfernt sind!)

nahe gekommen sind, weiß wohl keiner so genau zu sagen. Aber ich sehe Ähnlichkeiten mit einem Marathonlauf: Wir haben das Ziel vor Augen. Auch ein Läufer muss in der zweiten Hälfte hart mit sich kämpfen und durchhalten.

(Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Vor allem muss er wissen, wo er ist!)

Wir sind auf der zweiten Wegstrecke und wir alle müssen mitziehen.

   Danke.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

   Das Wort hat der Kollege Volkmar Uwe Vogel von der CDU/CSU-Fraktion.

Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU):

   Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung hat ihren Jahresbericht 2002 vorgelegt. Richtigerweise hat sie in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass eine belastbare Infrastruktur die Grundlage für einen zukunftsfähigen Wirtschaftsstandort Deutschland ist. Die Grundlage jedoch, meine sehr verehrten Damen und Herren, auf der Sie aufbauen, ist der Bundesverkehrswegeplan, den die Regierung Helmut Kohl erarbeitet hat. Bei Berichten und bei Ankündigungspolitik allein darf es nicht bleiben. Wir brauchen keine Berichte. Wir brauchen Taten!

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Siegfried Scheffler (SPD): Wo 100 Milliarden gefehlt haben!)

   Dass der Aufbau Ost wegen Ihrer Wirtschaftspolitik ins Stocken geraten ist, erwähnen Sie in Ihrem Bericht nicht. Das erfahren wir von den Sachverständigen. Es ist dabei eine Zumutung, dass die Bedingungen für eine vitale Infrastruktur der neuen Länder und dringend notwendige Verbesserungen insgesamt auf nur zwei - ich wiederhole: auf nur zwei - Seiten beschrieben worden sind. Für die Landwirtschaft - das kam an dieser Stelle überhaupt noch nicht zur Sprache - hatte man auch nur gerade vier Seiten übrig. Hinweise auf die bestehenden Infrastrukturlücken fehlen in Ihrem Bericht ganz. Der Vorrang der neuen Länder beim Ausbau der Verkehrsinfrastruktur scheint Ihnen allein durch die prozentuale Zuordnung von Haushaltsmitteln sichergestellt zu sein. Ob diese Mittel aber auch tatsächlich zur Verfügung stehen,

(Siegfried Scheffler (SPD): Schauen Sie in unser Investitionsprogramm!)

bleibt wie vieles in Ihrem Bericht unklar.

   Meine sehr verehrten Damen und Herren, Straßen, Schienen, Leitungsnetze, also unsere gesamte Infrastruktur, machen nicht vor Verwaltungsgrenzen Halt. Mobilität für alle Bürger ist notwendiger denn je, und das ganz besonders im Osten unseres Landes. Mobilität ist auch immer ein Ausdruck von Freiheit - Freiheit, die den Menschen in 40 Jahren DDR verwehrt wurde. Durch Beschränkung der Mobilität und Kontrolle der Kommunikation wurde die Freiheit der Menschen bewusst begrenzt.

   Wer zwölf Jahre nach der Einheit ehrlichen Herzens die Angleichung der Lebens- und Lohnverhältnisse zwischen den alten und neuen Bundesländern erreichen will, muss Entscheidendes auch bei der Infrastruktur tun. Gerade hier gibt es noch die größten Unterschiede zwischen Ost und West. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass die Menschen in meiner Heimat genauso fleißig wie in anderen Teilen unseres Landes arbeiten. Die Unterschiede in der Produktivität, die es ja leider immer noch gibt

(Reinhard Weis [Stendal] (SPD): Die Thüringer brauchen sich über Infrastruktur nicht zu beklagen! - Siegfried Scheffler (SPD): Sie müssen mit Minister Schuster sprechen!)

- ich spreche hier nicht über Thüringen, sondern über den gesamten Osten; aber auch in Thüringen besteht natürlich noch ein enormer Nachholbedarf -,

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

sind vor allem auf schlechtere Standort- und natürlich Infrastrukturbedingungen in den neuen Ländern zurückzuführen. Diese Defizite führen zu erheblichen Zeit- und Produktivitätsverlusten im Osten.

(Jürgen Türk (FDP): Schlechtere Rahmenbedingungen werden immer weiter verschlechtert!)

   Das Gebiet zwischen Halle/Leipzig, Gera, Jena und Chemnitz bezeichnet man als den mitteldeutschen Wirtschaftsraum, der vor dem Zweiten Weltkrieg zu den stärksten Wirtschaftsregionen in Deutschland und in ganz Europa zählte. Was Krieg und Sozialismus zerstörten, gilt es wieder zu aktivieren und dabei in die gesamteuropäische Entwicklung einzubetten. Effektive, aber auch attraktive und moderne Verkehrsanbindungen sind standortentscheidend für Investoren und damit für Arbeitsplätze in unserem Land.

Daher plädiere ich für die Durchführung aller wichtigen Verkehrsprojekte, so das Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“ 8.1 und 8.2,

(Reinhard Weis [Stendal] (SPD): Das hat der Minister genannt!)

das Sie fortführen wollen. Allerdings fehlt jeglicher Hinweis, ob die gesamte Finanzierung gesichert ist und in welchem Umfang die Deutsche Bahn an dieser Stelle Verantwortung übernehmen will und auch wirklich kann.

   Ebenso wichtig ist es, die Vollendung der Mitte-Deutschland-Schienenverbindung in Angriff zu nehmen, damit diese Strecke bis spätestens 2015 zweigleisig und elektrifiziert zur Verfügung steht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Ein weiteres wichtiges Verkehrsprojekt ist der Ausbau der A 72, die wichtige Oberzentren in Mitteldeutschland miteinander verbindet. Der Nutzen wird die Kosten um das Elffache übersteigen. Im Hinblick auf die Fußball-WM 2006 in Leipzig, die Bundesgartenschau 2007, die in Gera und Ronneburg stattfinden wird, und Leipzigs Olympiabewerbung für 2012 - Kollege Kuhn hat das eindrucksvoll beschrieben - ist es dringend erforderlich, dieses Projekt rasch in die Tat umzusetzen und in den vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplan aufzunehmen.

   Dies sind nur unvollständige Beispiele für wichtige überregionale Projekte, die in den letzten vier Jahren nicht vorankamen. Fatal ist, dass damit die begleitende kommunale Infrastruktur ins Stocken kam.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

   Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU):

   Ja, ich bin gleich fertig. - Brücken, Autobahnanschlüsse, Umgehungsstraßen und Erschließungen blieben liegen. Jetzt fehlt den Kommunen das Geld für deren Realisierung. Über den Ausbau der Bundesstraßen darf die Ertüchtigung der kommunalen Infrastruktur in den nächsten Jahren auf keinen Fall vergessen werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Meine Damen und Herren, beleben Sie den stockenden Ausbau der Infrastruktur im Osten unseres Landes! Machen Sie den Osten wirklich zur Chefsache - auch wenn der Chef heute wieder nicht da ist! Bei allen finanziellen Schwierigkeiten: Bedenken Sie die Langzeitfolgen! Sehen Sie diese Investitionen als Teil eines Generationenvertrages, als Investition auch für unsere Nachkommen, so wie wir heute von vielen weitsichtigen Verkehrsplanungen früherer Zeiten profitieren.

   Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Herr Kollege Vogel, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Ich habe deshalb bei der Redezeit beide Augen zugedrückt.

(Beifall)

   Ich schließe die Aussprache.

   Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/9950 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Zusätzlich soll sie aufgrund einer interfraktionellen Vereinbarung an den Tourismusausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 19. Sitzung - wird morgen,
Freitag, den 17. Januar 2003,
an dieser Stelle veröffentlicht.]
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/plenarprotokolle/15019
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