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15. Wahlperiode
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   126. Sitzung

   Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

   Beginn: 9.00 Uhr

* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *

* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *

* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

(Die Anwesenden erheben sich)

   Wir sind tief betroffen vom Tod unseres Kollegen Hans Büttner, der am Samstag, dem 18. September 2004, einen Monat vor seinem 60. Geburtstag, verstarb.

   Geboren am 18. Oktober 1944 in Ingolstadt, blieb er seiner Heimat auch in seinem politischen Engagement immer eng verbunden. Beständigkeit, Aufrichtigkeit und Gerechtigkeitssinn: Diese Eigenschaften prägten seine Arbeit als Parlamentarier und Gewerkschafter.

   Als grundgütig und gerecht und als sehr menschlich haben ihn alle empfunden, die mit ihm gearbeitet haben. Zugleich setzte sich Hans Büttner seit mehr als 30 Jahren für die Interessen der Menschen in den Entwicklungsländern, für internationale Gerechtigkeit und für ein gewaltloses Zusammenleben ein. Sein besonderes Engagement galt Afrika und insbesondere den Ländern des südlichen Afrikas, die er als Entwicklungsberater von 1978 bis 1982 auch persönlich kennen gelernt hatte. Hans Büttner hat Afrika nicht nur intellektuell, sondern auch mit dem Herzen verstanden.

   Dem Deutschen Bundestag gehörte der Verstorbene seit 1990 an. Auch hier hat er als Mitglied des Auswärtigen Ausschusses, als stellvertretender Vorsitzender und als Sprecher des Unterausschusses Globalisierung und Weltwirtschaft, als Vorsitzender der Parlamentariergruppe für das südliche Afrika und als Sprecher seiner Fraktion wichtige Akzente für die Meinungsbildung des Parlaments zur Entwicklungspolitik gesetzt. Als Mitglied des Sportausschusses nahm er sich besonders der Förderung des Behindertensports und der Paralympics an.

   Gleichgültig ob sich Hans Büttner in Südafrika oder in seinem Wahlkreis engagierte: Wichtig war ihm stets die Nähe zu den Menschen und das Gespräch mit ihnen, das er als wichtige Unterstützung und als Grundpfeiler seiner Arbeit ansah. Das Wort Nein hat man von ihm nie gehört. Er war immer für jeden da. Dieses unablässige Bemühen um die Sorgen und Probleme von Mitmenschen hat Hans Büttner bisweilen angestrengt und an die Grenzen des Machbaren stoßen lassen. Bedürftigen zu helfen, ob in Botsuana oder in Bodenmais, war das Lebensmotto Hans Büttners. Er sprach nicht viel darüber, er tat es.

   Wir werden Hans Büttner in ehrender Erinnerung behalten. Unser tiefes Mitgefühl gilt seiner Ehefrau und seiner Familie.

   Sie haben sich zu seinen Ehren erhoben. Ich danke Ihnen dafür.

   Die Fraktion der FDP schlägt als Nachfolger für den verstorbenen Kollegen Dr. Rexrodt den Kollegen Hellmut Königshaus als stellvertretendes Mitglied im Kuratorium der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ vor. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist der Kollege Hellmut Königshaus als stellvertretendes Mitglied in das Kuratorium dieser Stiftung entsandt.

   Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:

1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Positive Entwicklung des Gewerbesteueraufkommens bei den Kommunen

2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP zu den Antworten der Bundesregierung auf die dringlichen Fragen auf Drucksache 15/3705

(siehe 125. Sitzung)

3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren

(Ergänzung zu TOP 23)

a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Joachim Stünker, Hermann Bachmaier, Sabine Bätzing, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Jerzy Montag, Irmingard Schewe-Gerigk, Hans-Christian Ströbele, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Rechtsbehelfe bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Anhörungsrügengesetz)

– Drucksache 15/3706 –

Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)InnenausschussAusschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Radverkehr fördern – Fortschrittsbericht vorlegen

– Drucksache 15/3708 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Günther Friedrich Nolting, Dr. Werner Hoyer, Helga Daub, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Mandat für Kabul und Kunduz/Faizabad trennen

– Drucksache 15/3712 –

Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss (f)RechtsausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und EntwicklungHaushaltsausschuss

4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache

(Ergänzung zu TOP 24)

a) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Fleischhygienegesetzes und der Fleischhygiene-Verordnung

– Drucksache 15/2772 –

(Erste Beratung 108. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (10. Ausschuss)

– Drucksache 15/3735 –

Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Wilhelm Priesmeier Uda Carmen Freia Heller Friedrich Ostendorff Dr. Christel Happach-Kasan

b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Rahmenübereinkommen der Weltgesundheitsorganisation vom 21. Mai 2003 zur Eindämmung des Tabakgebrauchs (Gesetz zu dem Tabakrahmenübereinkommen)

– Drucksache 15/3353 –

(Erste Beratung 118. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung (13. Ausschuss)

– Drucksache 15/3734 –

Berichterstattung:Abgeordneter Jens Spahn

c) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP: Für eine parlamentarische Dimension im System der Vereinten Nationen

– Drucksache 15/3711 –

5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, Veronika Bellmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Langfristig eine einheitliche Förderung der Selbständigkeit von Arbeitslosen schaffen

– Drucksache 15/3707 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)Ausschuss für Gesundheit und Soziale SicherungHaushaltsausschuss

   Von der Frist für den Beginn der Beratung soll – soweit erforderlich – abgewichen werden.

   Außerdem wurde vereinbart, den Tagesordnungspunkt 11 – dabei geht es um den Schutz der kulturellen Vielfalt – nach Tagesordnungspunkt 8 und Tagesordnungspunkt 13 bereits nach Tagesordnungspunkt 10 aufzurufen.

   Des Weiteren sollen folgende Tagesordnungspunkte abgesetzt werden: Tagesordnungspunkt 9, Tagesordnungspunkt 21 und Tagesordnungspunkt 24 b.

   Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Überweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:

   Der in der 102. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Haushaltsausschuss zur Mitberatung überwiesen werden.

Antrag der Abgeordneten Otto Fricke, Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Privatisierung und öffentlich-private Partnerschaften

– Drucksache 15/2601 –

überwiesen:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)InnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

   Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Zu guter Letzt möchte ich dem Kollegen Hartmut Schauerte, der am 13. September seinen 60. Geburtstag beging, nachträglich die besten Glückwünsche des Hauses übermitteln.

(Beifall)

   Auf der Tribüne hat soeben der Parlamentspräsident al-Majali aus Jordanien mit seiner Delegation Platz genommen. Wir begrüßen Sie alle sehr, sehr herzlich.

(Beifall)

Wir hoffen, dass Sie einen aufschlussreichen Eindruck von unserer parlamentarischen Arbeit gewinnen können. Für Ihren Aufenthalt heute hier in unserem Haus, für Ihr weiteres parlamentarisches Wirken und auch für Ihr Land wünschen wir Ihnen von Herzen alles Gute.

   Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 e auf:

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer Arnold, Reinhold Robbe, Ulrike Merten, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Alexander Bonde, Winfried Nachtwei, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Durch Transformation die Bundeswehr zukunftsfähig gestalten

– Drucksachen 15/2656, 15/3125 –

Berichterstattung:Abgeordnete Rainer ArnoldChristian Schmidt (Fürth)

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Günther Friedrich Nolting, Jürgen Koppelin, Helga Daub, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr herstellen – Wehrpflicht aussetzen

– Drucksachen 15/2662, 15/3127 –

Berichterstattung:Abgeordnete Rainer ArnoldChristian Schmidt (Fürth)

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU

Für eine moderne Bundeswehr als Pfeiler einer verlässlichen Sicherheits- und Verteidigungspolitik Deutschlands

– Drucksachen 15/2388, 15/3126 –

Berichterstattung:Abgeordnete Rainer ArnoldChristian Schmidt (Fürth)

d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Günther Friedrich Nolting, Helga Daub, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Wehrpflicht aussetzen

– Drucksachen 15/1357, 15/2963 –

Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Hans-Peter BartelsChristian Schmidt (Fürth)

e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Christian Schmidt (Fürth), Ulrich Adam, Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

Für den Erhalt sicherheitsrelevanter Strukturen in der Bundeswehr

– Drucksachen 15/2824, 15/3263 –

Berichterstattung:Abgeordnete Rolf KramerErnst-Reinhard Beck (Reutlingen)

   Über die Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Wehrpflicht aussetzen“ werden wir später namentlich abstimmen.

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist auch so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Gernot Erler.

Gernot Erler (SPD):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn im Deutschen Bundestag Debatten über die Bundeswehr stattfinden, dann kann man ein bestimmtes Ritual beobachten: Fast jeder Redner bringt irgendwann seinen Dank und seinen Respekt für die Arbeit der Soldatinnen und Soldaten zum Ausdruck. Danach geht es aber meistens sehr schnell wieder in die Tiefebenen der Tagespolitik. Diese Auseinandersetzung wird dann nicht selten auf dem Rücken derer ausgetragen, denen man gerade seinen Dank ausgesprochen hat.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): So ist das!)

   Ich möchte heute einen anderen Weg wählen. Ich möchte meinen Dank und meinen Respekt nicht direkt, sondern indirekt zum Ausdruck bringen, und zwar dadurch, dass ich auf einige Realitäten zu sprechen komme. Dabei möchte ich ein Beispiel wählen.

   Wenn wir von einer jungen Frau oder einem jungen Mann hören, der oder die einen vollen Beruf ausübt, um den Lebensunterhalt für sich selbst und vielleicht die eigene Familie zu verdienen, und daneben noch eine volle Ausbildung oder ein volles Studium absolviert, dann zollen wir ihm oder ihr häufig Respekt und Anerkennung. Manchmal haben wir auch Sorge, ob das nicht zu einer Überforderung führt.

Wenn wir hier von Realitäten sprechen, so behaupte ich: Exakt das ist schon seit langer Zeit die Realität in der Bundeswehr. Dort üben viele Tausende von Frauen und Männern in der Tat einen Full-Time-Job aus, seit dem Jahr 1990 unter ständigen Umstrukturierungen und seit dem Jahr 2000 auch in einem Prozess der vollen Transformation, der geradezu verharmlosend Bundeswehrreform genannt wird. Nebenbei müssen sie sich noch einem außerordentlich fordernden Lernprozess unterziehen, der mit einer kompletten Ausbildung oder einem kompletten Studium gleichzusetzen ist. Dabei wird auch noch ein völliges Umstellen und Umdenken auf neue Herausforderungen verlangt.

   Während diese Transformation in diesem Umfang stattfindet, haben wir eine Dauerhöchstbelastung der Bundeswehr mit aktuell 7 180 Soldaten im Dienst von schwierigen Auslandsmissionen zu verzeichnen, aber auch – das dürfen wir nicht vergessen – mit ständig doppelt so vielen, die sich auf einen solchen Einsatz vorbereiten, und ebenso vielen, die einen solchen Einsatz hinter sich haben, ihn verarbeiten müssen, die Lehren daraus zu ziehen haben und sich in der Regel auf eine Wiederholung einer solchen Herausforderung einstellen müssen.

   Ich habe das Bild von einem voll Berufstätigen gebraucht, der neben seinem Beruf einen umfangreichen Lernprozess in Form von Ausbildung oder Studium durchmacht. Das Besondere bei der Bundeswehr ist, dass es sich bei dieser Ausbildung auch noch um Neuland handelt. Was heißt das: Neuland? Ich meine damit – lassen Sie mich das hier einmal offen sagen –, dass die europäische Politik in den 90er-Jahren versagt hat, sodass es leider zu vier blutigen Kriegen auf europäischem Boden in Südosteuropa gekommen ist. Je zweimal hat es in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo militärische Interventionen gegeben. Die Akte der Terroristen in Afghanistan haben dann zu einer militärischen Intervention an einem dritten Ort gezwungen. Im Ergebnis haben wir seit 1995 in Bosnien-Herzegowina, seit 1999 im Kosovo und seit dem Jahr 2002 in Afghanistan komplizierte, fordernde und schwierigste so genannte Nation-Building-Prozesse. Bei denen müssen mehr als 30 verschiedene Nationen, internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen, die NATO, die EU und die OSZE, internationale Finanzorganisationen und andere in einer völlig neuen Form zusammenarbeiten und bei denen muss die Bewältigung völlig neuer Aufgaben unter völlig neuen Arbeitsformen erprobt werden. Das ist in der Tat Neuland.

   In diese Situation haben wir die Bundeswehr praktisch zur Bewährung hineingeworfen, weil es nach solchen Interventionen eine nicht mehr abweisbare Verantwortung für uns gibt. Wir haben ihr gesagt: Ihr übernehmt dort die Verantwortung für uns. Von eurem Erfolg hängt das Ansehen der westlichen Welt, ja auch unseres Landes ab – so ein bisschen nach dem Motto: Wir wissen zwar nicht genau, wie Nation-Building-Prozesse ablaufen; aber wir werfen euch einmal in der Hoffnung ins kalte Wasser, dass ihr das Schwimmen schon lernt. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, genau das ist es, was wir mit der Bundeswehr als politisch Verantwortliche machen. Wir tun das mit 1 150 Soldaten in Bosnien-Herzegowina, mit über 1 300 im Kosovo und mit circa 2 400 in Afghanistan und benutzen dabei solche flotten Abkürzungen wie SFOR, KFOR oder ISAF und tun so, als ob wir genau wüssten, was das ist, während wir es in Wirklichkeit nicht wissen und auch gar nicht wissen können.

   Damit bin ich bei einem sehr aktuellen Thema, nämlich bei den Vorgängen um die außerordentlich tragischen Ereignisse am 17. und 18. März im Kosovo. Da gab es Tote und Verletzte, Vertreibungen von Menschen, brennende Häuser, Kirchen und Klöster. Objektiv war das ein schwerwiegender Rückschlag bei einem dieser außerordentlich komplizierten Nation-Building-Prozesse. Es hat Untersuchungen dazu gegeben. Sie haben ergeben, dass es bei diesem Rückschlag in der Kooperation und in der Kommunikation derjenigen, die Verantwortung vor Ort trugen, ebenso wie bei der Ausrüstung Mängel gab und wahrscheinlich auch Fehler Einzelner vorgekommen sind. Es hat umfangreiche Reaktionen des Ministeriums und auch Maßnahmen zur Verbesserung der Fähigkeiten vor Ort gegeben.

   Der Bundesminister der Verteidigung Peter Struck verfolgt bei diesen Vorgängen eine Position der uneingeschränkten Transparenz und Information des Deutschen Bundestages.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Meine Fraktion unterstützt diese Politik der uneingeschränkten Information und Transparenz nachdrücklich. Wir sind der Meinung, dass dies der richtige Weg ist.

(Zuruf von der SPD: So ist es! – Volker Kauder (CDU/CSU): Das ist unglaublich!)

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben jetzt mehrere Möglichkeiten. Natürlich kann das Parlament sein Recht wahrnehmen und entsprechende Mittel einsetzen, um die Fehler Einzelner auszuleuchten und zu schauen, ob sich daraus Folgen für die politische Verantwortungsebene ergeben. Man kann aber auch etwas anderes tun: Man kann die Fülle von Informationen, die auf unseren Tischen liegen, als Chance nutzen, um einmal zu erfassen, wie die Situation bei den Nation-Building-Prozessen grundsätzlich ist und wo strukturelle Verbesserungen notwendig sind. Man kann schauen, wo eine bessere Abstimmung und eine bessere Kooperation zu organisieren ist. Auch das wäre eine Möglichkeit, unserer politischen Mitverantwortung für diese außerordentlich schwierigen Aufträge gerecht zu werden und anzuerkennen, unter welch schwierigen Umständen – hinzu kommt der Stress durch die permanente Transformation der Bundeswehr – die Soldaten die schwierigen Aufgaben, die wir ihnen gegeben haben und die Neuland bedeuten, erfüllen müssen.

   Dieser ehrliche Umgang mit der Realität, der die Bundeswehr bei ihren Einsätzen begegnet, läge einmal außerhalb des formalen Dankes. In diesem ehrlichen Umgang mit der Realität wäre nach meiner Auffassung mehr Respekt und Dank für die Soldaten enthalten als in den üblichen formalen Dankesbekundungen. Deshalb plädiere ich dafür.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Karl Lamers.

Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!

Der Schutz Deutschlands und seiner Bürgerinnen und Bürger bleibt eine wichtige Aufgabe staatlicher Sicherheitsvorsorge.

So steht es im Antrag der rot-grünen Regierungskoalition. Die Zielsetzung ist gut. Aber wie sagte schon Cicero: „Epistula non erubescit“ – Papier ist geduldig. In diesem Falle muss ich sagen: sehr geduldig.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Dieser Satz in Ihrem Antrag hat einen großen Fehler, nämlich dass er offensichtlich nicht so gemeint sein kann, wie er da steht. Es handelt sich um ein reines Lippenbekenntnis der rot-grünen Koalition. Denn faktisch haben Sie die Landesverteidigung aus dem Aufgabenkatalog der Streitkräfte gestrichen, auch wenn die Verteidigungspolitischen Richtlinien anderes besagen – und das in der heutigen Zeit, in der uns die Menschen zu Recht fragen, wie sie vor Ort geschützt werden.

   Wir fordern einen glaubhaften Schutz der Bürger vor Bedrohungen aller Art, vor Bedrohungen von außen, aber auch vor Bedrohungen durch Terroristen im Innern, am Hindukusch ebenso wie in Heidelberg oder in Weinheim an der Bergstraße.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Deutschland braucht endlich ein verteidigungspolitisches Gesamtkonzept. Dazu gehört ein stringenter Plan für den Einsatz deutscher Soldaten draußen in der Welt. Wir führen zurzeit eine aktuelle Diskussion über den Sinn und Zweck unseres Engagements auf dem Balkan, speziell im Kosovo, und auch in Afghanistan. Damit Sie mich richtig verstehen: Wir diskutieren nicht über das Ob, sondern über das Wie unseres Engagements.

(Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zum Teil schon über das Ob!)

   Wir sind es unseren Soldaten schuldig, dass wir klar und deutlich Sinn und Ziel unserer Einsätze darlegen. Der Wehrbeauftragte war vorgestern sehr nachdenklich. Wir haben hier eine politische Bringschuld. Unsere Soldaten müssen zweifelsfrei wissen, was sie im Einsatz machen dürfen und was sie machen müssen. Was im März im Kosovo geschehen ist, das darf es so nicht mehr geben.

   Wenn die parlamentarischen Gremien jetzt daran gehen, diese Vorgänge zu erhellen, dann geschieht dies zum Schutz unserer Soldaten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Durch unsere Forderung nach Klarheit ihres Auftrags, durch unsere Forderung nach einer besseren Vorbereitung und einer sachgerechteren Ausstattung stärken wir ihnen den Rücken. Hier liegt vieles im Argen. Wir werden dies aufklären. Das ist unsere parlamentarische Verantwortung und Verpflichtung. Wir dürfen unsere Soldaten nicht im Stich lassen und wir werden dies auch nicht tun.

(Beifall bei der CDU/CSU – Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sagen Sie das mal einigen Ihrer Kollegen!)

   Für die konkrete Durchführung und Einsatzgestaltung tragen Sie, Herr Minister, die Verantwortung. Für den Balkan und für Afghanistan gilt das Gleiche: Die Sinnhaftigkeit des Einsatzes ergibt sich aus der Einsehbarkeit des Auftrags. Stabilität und Frieden werden wir auch in Afghanistan nur erreichen, wenn die Weltgemeinschaft dem Terror mit einem robusten Mandat die Stirn bietet und nicht gleich beim ersten Schuss die Segel streicht. Das Gleiche gilt für den Kampf gegen die Drogenbarone, vor deren Verbrechen wir nicht die Augen verschließen dürfen.

(Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wer tut das?)

   Herr Minister, ich frage Sie: Wie viele Soldaten brauchen Sie für den Einsatz in Kunduz und in Faizabad? Wenn die bisherige Stärke nicht ausreicht, dann sollten Sie dies heute dem Parlament und der deutschen Öffentlichkeit sagen. Dafür stehen Sie in der Verantwortung.

   Deutschland braucht aber auch ein überzeugendes Konzept zur Landesverteidigung. Richtig ist, dass die Gefahr eines raumgreifenden, mit Panzern geführten Krieges im Herzen Europas so nicht mehr gegeben ist. Richtig ist aber auch, dass neue Bedrohungen und Risiken an seine Stelle getreten sind. Nach den Anschlägen in New York und Washington und nicht zuletzt im März dieses Jahres in Madrid kann keiner mehr sagen: Bei uns kann so etwas nicht passieren.

   Ich stelle Ihnen die Frage: Welche originäre Aufgabe hat die Bundeswehr bei der Verteidigung unseres Landes im Hinblick auf terroristische Bedrohungen? Offensichtlich keine bedeutende; denn ich lese nichts davon, dass die Bundeswehr künftig im Innern die Rolle spielen darf, die sie bei Auslandseinsätzen mit ihren spezifischen Fähigkeiten und ihrer speziellen Ausrüstung längst und selbstverständlich einnimmt. Die Verteidigungspolitischen Richtlinien sind nicht vom Kabinett beschlossen. Warum, Herr Minister?

   Das heutige Bedrohungsszenario verlangt neue Antworten. Der Bürger hat das Recht, geschützt zu werden. Ich meine, dies kann nur durch die Bündelung aller zur Verfügung stehenden Kräfte und Ressourcen vor Ort geschehen.

   Meine Damen und Herren, Verteidigung und Sicherheit haben ihren Preis. Verpflichtungen im Rahmen der NATO, der EU und der UNO sind nicht zum Spartarif zu haben. Ihr politischer Ansatz ist falsch. Sie fragen sich: Was kann ich mit dem wenigen Geld, das ich zur Verfügung habe, machen? Die Frage muss aber ganz anders lauten: Was brauche ich an finanziellen Mitteln und an Ausrüstung, um dem Auftrag der Bundeswehr in einer veränderten Welt mit neuen Risiken und Bedrohungen gerecht zu werden? Das ist die richtige Frage.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Meine Antwort lautet: Wir brauchen viel mehr als die 23,9 Milliarden Euro, die Sie einplanen. Die Rechnung der Bundesregierung kann nicht aufgehen: Auf der einen Seite gibt es immer mehr Einsätze deutscher Soldaten weltweit, immer mehr Verpflichtungen, immer mehr Zusagen in der Europäischen Union, in der NATO und in großen Reden unseres Außenministers vor den Vereinten Nationen.

(Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Haben Sie die letzte schon gelesen?)

Auf der anderen Seite hat die Bundeswehr immer weniger Geld zur Verfügung und gibt es immer weniger Soldaten, immer weniger Standorte und zu wenig moderne Ausrüstung.

   Als NATO-Parlamentarier bin ich es langsam leid, mir insbesondere von unseren NATO-Bündnispartnern anhören zu müssen, dass wir zu wenig in Zukunftstechnik investieren. Das berührt die Zusammenarbeit im Bündnis und die Interoperabilität der Bündniskontingente. Deshalb meine Forderung: Der Modernisierungsstau in der Bundeswehr muss aufgelöst werden. Ich fordere eine Technologieoffensive. Nur so ist unsere Bundeswehr zukunftsfähig.

   Deutschland braucht eine andere, eine bessere Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Innern und nach außen. Das Gebot der Stunde heißt handeln. Dante Alighieri hat es auf den Punkt gebracht: „Der eine wartet, bis die Zeit sich wandelt,

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Wusste der das auch schon?)

der andere packt sie kräftig an und handelt“, Herr Schmidt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ich weiß: Wir können nicht alles tun; aber wir müssen zumindest das tun, was wir können. Deutschland kann mehr als das, was wir jetzt erleben. Aber dazu brauchen wir eine andere Regierung. Dafür setze ich mich ein.

   Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das wusste der Dante auch schon? Das ist ja unglaublich!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Winfried Nachtwei.

Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor gut einem halben Jahr, am 11. März, debattierten wir zum ersten Mal die heute vorliegenden Anträge. Seitdem hat sich in Sachen militärischer Sicherheitspolitik Einschneidendes getan:

   Immer ernüchternder, ja katastrophaler sind die Resultate einer militärfixierten Art der Terrorismusbekämpfung. Wir sehen die katastrophalen Folgen im Irak.

   Die März-Unruhen in Kosovo waren nicht nur ein Gewaltausbruch ungeahnter Intensität und Organisiertheit. Sie offenbarten auch massive Defizite aufseiten von KFOR und UNMIK.

   Der bisher sehr breite Konsens bezüglich der gegenwärtigen Friedenseinsätze der Bundeswehr driftet offenkundig auseinander. In Zweifel gestellt werden zum Teil ihre Notwendigkeit, ihre Wirksamkeit und ihre Verantwortbarkeit. Einige Beispiele: Der FDP-Fraktionsvorsitzende Gerhardt sprach in der „Frankfurter Rundschau“ von „wirklich schwachen Einsätzen“ in Kunduz und Faizabad. Das ist offensichtlich ein Werturteil. – CDU-Kollege Börnsen warf ISAF und der Bundeswehr eine Begünstigung des Drogenanbaus und -handels in Afghanistan vor und forderte den Abzug von ISAF insgesamt.

(Gernot Erler (SPD): Das muss klargestellt werden!)

   Demgegenüber betone ich sehr deutlich: Der Kosovo- wie auch der Afghanistaneinsatz der Bundeswehr sind in hohem, ja in höchstem Sicherheitsinteresse der internationalen Gemeinschaft, Europas und der Bundesrepublik.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Auch die Niederlage der internationalen Gemeinschaft vom März in Kosovo schmälert in keiner Weise die jahrelangen Leistungen der dort eingesetzten Soldaten, Polizisten und Zivilexperten. Sie haben zumindest ein Mindestmaß an Stabilität gewährleistet.

   Schließlich bleibt auch die Philosophie der gegenwärtigen Friedenseinsätze richtig – trotz aller Defizite, die es gegeben hat –: ihr Ziel der Gewalteindämmung, der Stabilisierung und des Nation Building, ihre Legitimität und Glaubwürdigkeit durch UN-Mandat und völkerrechtskonformes und verhältnismäßiges Auftreten, ihre Multinationalität und ihre Multidimensionalität, also das Zusammenwirken von militärischen, polizeilichen und zivilen Säulen. Es geht nach dem März in keiner Weise darum, dass in Zukunft von der Bundeswehr schneller geschossen wird.

   Ausdrücklich zu begrüßen ist, wie schnell Bundeswehr und NATO Konsequenzen aus den März-Unruhen gezogen haben. Zugleich wird deutlich, dass die Transformation der Bundeswehr notwendiger denn je ist: Die eine Seite ist die neue Differenzierung der Streitkräfte, der Aufbau von Aufklärungs- und Führungsfähigkeit, von Mobilität über große Distanz, die entsprechende Umrüstung. Die andere Seite – über diese wird viel zu wenig gesprochen – ist, dass sich mit dem veränderten Auftrag die Dienst- und Einsatzmotivation und das Fähigkeitsprofil der Soldaten grundlegend gewandelt haben. Gefordert ist technische und soziale Kompetenz. Gefordert sind die Bereitschaft und die Fähigkeit, gegebenenfalls zu schießen, zum militärischen Kampf, zugleich aber die Fähigkeit zur Kommunikation, zur Kooperation, interkulturelle Kompetenz – und das nicht nur beim höheren Führungspersonal mit Silber oder Gold auf den Schulterklappen, sondern auch bei den Unteroffizieren, beim Unterführerkorps. Diese Anforderung ist enorm gewachsen. Es wird heutzutage eine Breite an Verhaltenssicherheit gefordert, und zwar auch von den einfachen Soldaten, wie man sich dies früher nicht vorstellen konnte.

   Grundlegend verschoben hat sich auch der Kern der Einsatzmotivation: weg von der Abwehr existenzieller sichtbarer Bedrohungen, hin zum Einsatz gegen diffuse Risiken für abstraktere Werte und Sicherheitsinteressen.

Mit dem Konzept des Staatsbürgers in Uniform sind in der Bundesrepublik Deutschland besonders gute Voraussetzungen für diesen Wandel gegeben. Eine Bundeswehr, die zur Krisenbewältigung im System der Vereinten Nationen beiträgt, braucht nicht weniger, sondern mehr solcher Staatsbürger in Uniform.

   Der Auftragswandel der letzten Jahre ging mit einem schleichenden Ausstieg aus der Wehrpflicht einher. Die zentrale Begründung und Legitimation der Wehrpflicht, nämlich Instrument der Massenmobilisierung, der Massenrekrutierung angesichts einer potenziell existenziellen Bedrohung zu sein, ist inzwischen hinfällig geworden. Um Sicherheit der Bundesrepublik und der Partner zu gewährleisten, ist sie nicht mehr zwingend notwendig. Damit aber ist auch der massive Grundrechtseingriff, der mit der Wehrpflicht einhergeht, nicht mehr zu rechtfertigen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)

   Wehrpflicht muss, so das Bundesverfassungsgericht, gleich belastende Pflicht sein. Davon kann immer weniger die Rede sein, wenn überhaupt nur noch ein Drittel eines Jahrgangs – Tendenz fallend – den Wehrdienst leistet.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie des Abg. Dr. Gerd Müller (CDU/CSU))

Deshalb treten die Grünen und erfreulicherweise inzwischen also auch die FDP

(Lachen bei der FDP)

für den Ausstieg aus der Wehrpflicht und für den verantwortungsvollen Umbau in Richtung Freiwilligenarmee ein.

(Gernot Erler (SPD): Aber noch regieren wir gemeinsam?!)

   Es ist bekannt und auch ganz normal, dass in dieser Frage Dissens in der Koalition besteht, und zwar eben nicht einfach nur zwischen Grünen und SPD, sondern zum Teil auch innerhalb der Fraktionen. Das ist, wie gesagt, etwas ganz Normales. Wir haben uns in der Koalition eindeutig darauf verständigt, diesen Dissens gemeinsam anzugehen. Wir haben vereinbart, die Überprüfung der Wehrform vor Ende der Legislaturperiode vorzunehmen.

(Ina Lenke (FDP): Ja, ja! – Jörg van Essen (FDP): Sieben Jahre in der Regierung, nichts geschafft!)

Wir halten uns an diesen gemeinsamen Fahrplan. Deshalb können wir heute dem FDP-Antrag zur Aussetzung der Wehrpflicht nicht zustimmen, auch wenn wir die Position teilen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stephan Hilsberg (SPD))

   Aber ich sage Ihnen: Viel wichtiger als ein Abstimmungsbekenntnis ist das, wofür wir arbeiten. Da bleibt das Engagement der Bündnisgrünen für die Überwindung der Wehrpflicht unzweifelhaft, beständig und sicherlich für manche in der Koalition auch nervig; aber das nehmen wir alle bestimmt in Kauf.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Immer wieder wird behauptet, die Wehrpflicht garantiere die Integration der Bundeswehr in die Gesellschaft. Abgesehen davon, dass hier ein Generalverdacht gegen Zeit- und Berufssoldaten mitschwingt, der jeder Grundlage entbehrt, sollten wir uns nichts vormachen: Die immer weniger Wehrpflichtigen sind mit dieser Integrationsaufgabe und „Zivilisierungsaufgabe“ heillos überfordert.

   Nein, hauptverantwortlich für die Streitkräfte, ihre Integration in die Gesellschaft und den zurückhaltenden Einsatz dieser Streitkräfte sind als Erstes wir – wir, das gesamte Parlament und die Bundesregierung. Dafür verantwortlich ist die gesamte Gesellschaft. Die militärische Führung und die Realität der inneren Führung, das sind die Baustellen, auf denen wir noch viel zu tun haben.

   Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Herr Fraktionsvorsitzende der FDP, Wolfgang Gerhardt.

Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es gibt gar keinen Zweifel, dass die Wehrpflicht eine große Konstituante in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland gewesen ist; darüber muss man nicht streiten. Sie hat die Verankerung einer Armee in einer Demokratie herausgebildet, sie hat die Prinzipien der inneren Führung beachtet, sie hat das Bild des Staatsbürgers in Uniform geprägt. Ohne die Wehrpflicht wäre eine solche demokratische Tradition zweifelsohne nicht zustande gekommen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Deshalb gilt auch für uns, die wir heute den Antrag gestellt haben, Respekt vor denen, die anderer Meinung sind als wir.

   Nach Überzeugung der Bundestagsfraktion der FDP war die Wehrpflicht in diesem Abschnitt der Geschichte gesellschaftspolitisch überlegen; sie war auch sicherheitspolitisch geboten. Heute aber, nach dem Ende der alten bipolaren Welt, ist sie keine überzeugende Antwort mehr.

(Beifall bei der FDP)

Denjenigen, die sie weiter vertreten, müssen wir einige Fragen stellen: Wie begründen Sie die unglaubliche Ressourcenbindung in der Bundeswehr? 10 000 Ausbilder bilden 30 000 Wehrpflichtige in neun Monaten aus, die wir in den Einsätzen, die immer wichtiger geworden sind, gar nicht einsetzen können. Dieses Ressourcenpotenzial behindert eindeutig die Modernisierung der Bundeswehr.

(Beifall bei der FDP)

   Wer die Wehrpflicht beibehalten will, muss dazu eine Budgetantwort geben. Wenn sie nicht gegeben wird, kann man die Wehrpflicht nicht mehr begründen.

(Rainer Arnold (SPD): Wer sie abschaffen will, muss auch eine Budgetantwort geben!)

– Richtig. Dann darf ich aber ein zweites Argument in die Reihen der SPD hineintragen – in ihr werden ja durchaus mehr und mehr Stimmen kenntlich, die die Wehrpflicht argumentativ nicht mehr halten können; man spürt ja die Unsicherheit –:

(Günther Friedrich Nolting (FDP): Selbst auf der Regierungsbank!)

Wahr ist – jeder kann große Zeugen der Zeit anführen –, dass Wehrpflicht mit Wehrgerechtigkeit verbunden sein muss. Darüber kann es keinen Zweifel geben.

(Beifall bei der FDP)

Helmut Schmidt hat sie als „zwei Seiten einer Medaille“ bezeichnet. Der frühere Bundespräsident Roman Herzog hat in einer auch für Nichtjuristen verständlichen Sprache ein verfassungspolitisches Gebot benannt, nach dem gegenüber jeder Generation bei Einschätzung der sicherheitspolitischen Lage die Wehrpflicht eigentlich neu begründet werden muss. Sie kann nicht beibehalten werden, nur weil sie da ist und einmal beschlossen worden war; jede Generation hat Anspruch darauf, dass sie ihr gegenüber unter dem Gesichtspunkt der Wehrgerechtigkeit neu begründet wird.

(Beifall bei der FDP)

Wenn heute nur noch weniger als 40 Prozent der Wehrpflicht und dem Zivildienst nachkommen und zugleich 40 Prozent der jungen Generation – auch diejenigen, die wehrdiensttauglich sind – nicht mehr zum Pflichtdienst herangezogen werden, wie will man nur aus der gesellschaftspolitischen Überzeugung heraus, man sei für die Wehrpflicht, dem Teil der jungen Generation, der eingezogen wird, begründen, dass ein anderer Teil nicht eingezogen wird? Gerecht ist dies nicht.

(Beifall bei der FDP)

   Dies kann dann auch nicht mehr sicherheitspolitisch und gesellschaftspolitisch begründet werden. Es ist einfach wahr, dass eine Wehrpflicht nicht akzeptabel ist, wenn sie nicht mehr mit Wehrgerechtigkeit verbunden ist. Das ist die jetzige Situation. Darauf müssen auch diejenigen Rücksicht nehmen, die, wie ich, gesellschaftspolitisch lange für die Wehrpflicht eintraten und, wenn sie mit Wehrgerechtigkeit verbunden wäre, ihr auch heute immer noch den Vorzug gäben. Wir können es aber aus Gründen der Gerechtigkeit nicht mehr vertreten.

   Diese Fragen müssen Sie schon beantworten. Mein Gespür ist, dass diejenigen, die die Wehrpflicht befürworten, schwächer in der Zahl und schwächer in ihren Argumenten werden, wenn sie die Wehrpflicht vor jungen Menschen begründen sollen.

(Dr. Peter Struck, Bundesminister: Das stimmt nicht!)

   Wir haben eine 300 000 Mann starke Armee, die haushaltsmäßig schwach finanziert ist und angesichts der neuen internationalen Gegebenheiten und der weltpolitischen Unebenheiten an ihre Grenzen stößt. Die Armee ist vom Budget her nicht in ausreichendem Maße modernisierungsbereit. In dieser Gestalt der Wehrstruktur vergeuden wir ohne Ende Ressourcen.

(Beifall bei der FDP)

   Natürlich sind die Soldatinnen und Soldaten, die wir in internationale Einsätze schicken, leistungsfähig. Sie geben eine eminent gute Visitenkarte für die Bundesrepublik Deutschland ab. Aber dabei kann es bei der Bewertung, mit welcher Wehrstruktur wir in die Zukunft gehen, nicht bleiben. Viele Beobachter sagen, in Deutschland müsse alles immer bis zur Neige durchlebt werden, bevor hier Entscheidungen fallen. In Kenntnis dieser Sachlagen wäre es nun an der Zeit, die Wehrpflicht auszusetzen. Wir sollten nun eine Entscheidung treffen und den Bündnispartnern sowie der Bundeswehr selbst sagen, mit welcher Strukturform die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und mit den Bündnispartnern zusammen auch die Sicherheit vieler Menschen auf dieser Welt in Zukunft garantiert werden kann.

   Herr Nachtwei, ich kenne Koalitionen. Aber ich weiß auch, wie die gesellschaftliche und die politische Wirklichkeit aussieht.

Sie können nicht dauernd zuwarten, bis sich vielleicht auch noch die SPD entschließt, die Realitäten zur Kenntnis zu nehmen, was die Wehrgerechtigkeit und die Strukturreform betrifft. Denn wir reden über Tausende von Soldatinnen und Soldaten und über die zukünftige Generation von jungen Menschen, die dann – aber auch nur zum Teil – zur Wehrpflichtleistung herangezogen wurden. Sie müssen etwas couragierter sein. Wenn es sich so verhält, dass die Wehrgerechtigkeit nicht mehr garantiert werden kann, sind die Grünen aufgerufen, das in der namentlichen Abstimmung nachher auch zu sagen.

(Beifall bei der FDP)

Allein auf ein Gremium zu warten, das in dieser Legislaturperiode zu einer Art innerer Koalitionsstreitschlichter werden könnte, das reicht mir nicht aus.

(Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Man braucht aber auch Mehrheiten in der Demokratie! Das sollten Sie wissen!)

– Frau Sager, ich sage Ihnen nur eines voraus: Sie als Grüne werden im Wahlkampf 2006 das fordern, was wir heute hier zur Abstimmung stellen.

(Beifall bei der FDP)

Diese Strategie ist nicht glaubwürdig.

(Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das sind doch nur Lippenbekenntnisse! Mehrheiten haben Sie auch nicht!)

   Wenn man eine Überzeugung hat, dann sollte man dieser Überzeugung auch Ausdruck verleihen.

(Beifall bei der FDP)

   Unser Antrag auf Aussetzung der Wehrpflicht ist nach unserer Auffassung bei der gegenwärtigen Sicherheitslage geboten; er ist wegen des Gesichtspunkts der Wehrgerechtigkeit verfassungspolitisch geradezu zwingend. Wir können jetzt das machen, wozu die Politik ja immer aufgefordert wird, nämlich nach vorn zu blicken und zu sagen, wie wir in den nächsten Jahren hinsichtlich der Strukturreform vorangehen wollen. Heute ist der Zeitpunkt, zu dem wir dieses Signal geben sollten. Wir beantragen deshalb, die Wehrpflicht auszusetzen. Wir wollen damit der Bundeswehr sagen, wie wir ihre Struktur in Zukunft sehen; wir wollen der jungen Generation signalisieren, dass wir den Gedanken der Wehrgerechtigkeit ernst nehmen, und wir bitten um Zustimmung zu unserem Antrag.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Bundesminister der Verteidigung, Peter Struck.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dr. Peter Struck, Bundesminister der Verteidigung:

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin den Fraktionen des Deutschen Bundestages sehr dankbar dafür, dass wir einmal in einer Kernzeitdebatte über die Bundeswehr reden können.

(Beifall bei der FDP)

Ich sage das auch im Namen meiner Soldatinnen und Soldaten, die in Auslandseinsätzen in schwierigen Missionen sind.

(Günther Friedrich Nolting (FDP): Wo ist eigentlich der Bundeskanzler? – Gegenruf von der SPD: Ach, Herr Nolting, das ist flach!)

Ich will insbesondere auf einige Punkte, die von Oppositionsrednern in dieser Debatte vorgebracht wurden, eingehen.

   Zunächst zu dem Thema Kosovo. Herr Kollege Lamers hat das angesprochen. Dass es bei dem Einsatz der Soldatinnen und Soldaten des KFOR-Kontingents – das KFOR-Kontingent besteht aus 17 000 Soldatinnen und Soldaten, nicht nur aus den 3 000 Bundeswehrangehörigen –

(Jörg van Essen (FDP): Sehr richtig, darauf hinzuweisen!)

Kommunikationsprobleme mit der UNMIK, der Polizei der Vereinten Nationen, mit dem Kosovo Police Service, der eigenen kosovoalbanischen Einrichtung, gegeben hat, das ist unbestritten. Dass wir daraus Konsequenzen gezogen haben, ist ebenfalls unbestritten. Wir sagen dazu: Lessons learnt. Das gilt für die NATO-Ebene und für die bundesdeutsche Ebene. Dass es manchen Soldatinnen und Soldaten nicht im Bewusstsein war, dass ein Haus, das nicht von uns überwacht wurde, das so genannte Priesterseminar – das war eigentlich ein leer stehendes altes Gebäude, in dem sich teilweise auch Obdachlose aufgehalten haben –, mit zu unserem Kontrollbereich gehörte, das ist ein Fehler, der passiert ist und den wir aufklären werden. Ich persönlich mache aber keinem einzigen unserer Soldatinnen und Soldaten vor Ort den Vorwurf, dass er bewusst etwas falsch gemacht hat. Ich stelle mich vor die Soldatinnen und Soldaten und sage: Sie haben bei diesen Unruhen am 17. März Menschenleben gerettet. Das muss man hier doch einmal betonen.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Wir werden das im Verteidigungsausschuss ordentlich bereden; die Unterlagen dazu haben wir vorgelegt. Wir haben intern eigene Unterlagen zusammenstellen lassen, die die Grundlage für die Antworten auf die Fragen der Kollegen insbesondere der Opposition bildeten. Man muss im Verteidigungsausschuss beraten, wie man weiter damit umgeht. Ich habe gar keinen Zweifel daran, dass auch der Verteidigungsausschuss zu dem Ergebnis kommen wird: Die Konsequenzen, die gezogen worden sind, sind die richtigen. Wenn man zusätzlich noch etwas machen muss, dann machen wir es halt. Darauf haben die Soldatinnen und Soldaten auch und gerade im Kosovo einen Anspruch.

   Ferner müssen wir auch über das Thema des Statuts des Kosovo reden. Das haben wir hier schon mehrfach angesprochen, Herr Kollege Stinner.

(Beifall bei der FDP)

Ich will betonen, dass ich da keinen Gegensatz zwischen mir und dem Außenminister sehe. Die Fragen von Status und Standard müssen zusammen behandelt werden; denn ich frage mich: Wie lange sollen unsere Soldaten zum Beispiel noch im Dorf Novake Häuser aufbauen und die Menschen bewachen,

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Ja, klar! – Jörg van Essen (FDP): Völlig richtig!)

die sich nicht trauen, das Dorf zu verlassen? Wir kennen dieses Thema; aber wir müssen es unter außenpolitischer Perspektive gemeinsam mit dem Außenministerium intensiv beraten.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das tun wir doch!)

– Ja, ich weiß: im Auswärtigen Ausschuss und im Verteidigungsausschuss.

   Ich will ganz kurz etwas zu Afghanistan sagen, weil ich mich über Interviews, die Sie, Herr Kollege Gerhardt, gegeben haben, geärgert habe.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Sagen Sie es mal!)

In diesen Interviews haben Sie über Faizabad und Kunduz gesprochen, obwohl Sie noch nie dort waren.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Ja, aber das ist doch nicht der Punkt!)

Wir haben Ihnen, Herr Gerhardt, angeboten, diese Orte mit uns gemeinsam zu besuchen.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Hört! Hört!)

Würden Sie nach Kunduz fahren und mit den Menschen in Afghanistan reden, würden Sie sehen, dass es richtig ist, sich dort einzusetzen. Sehen Sie sich die Situation vor Ort doch gefälligst einmal an!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Sie müssen nur einmal mit den kleinen Kindern oder ihren Lehrerinnen reden, die zur Schule gehen können, weil wir sie aufgebaut haben und schützen.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Das ist ja alles richtig!)

Ich halte es für falsch, einfach zu sagen: Dieses Mandat bringt nichts; brechen wir unseren Einsatz also ab.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): In dieser Form bringt es nichts!)

Am kommenden Wochenende werden wir Faizabad erneut besuchen. Auch ein Kollege von der FDP, Herr Leibrecht, fährt mit. Ich hoffe, dass es Ihnen, Herr Kollege, danach gelingt, in Ihrer Fraktion mehr Sensibilität für dieses Thema zu schaffen.

   Was Afghanistan angeht, muss ich sagen: Die Mission in Faizabad ist auch von der Union infrage gestellt worden.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Das ist doch unglaublich!)

Ich bin sehr dankbar für die Aussage des Kollegen Schäuble, der in einem Interview gesagt hat, dass die Union dieses Mandat natürlich unterstützt. Was ich auch beklage, ist, dass die Beteiligung noch nicht so groß ist wie auf verschiedenen NATO-Gipfeln, zum Beispiel in Istanbul, vereinbart.

(Jörg van Essen (FDP): Ja! Das ist doch der Punkt!)

Aber das heißt doch nicht, dass wir, weil sich die anderen nicht beteiligen, wieder nach Hause gehen sollten. So kann man doch nicht arbeiten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jörg van Essen (FDP): Aber das Konzept ist doch ganz anders!)

   Das Wiederaufbauteam – wir nennen es PRT – in Faizabad ist erforderlich. Dort arbeiten zehn bis zwölf NGOs, also Hilfsorganisationen aus dem privaten Bereich, deren Verantwortliche sich darüber freuen, dass wir dort sind. Wir werden uns ansehen, was dort gemacht wird. Darüber hinaus ist es gelungen – das will ich auch noch sagen –, durchzusetzen, dass aus dem Haushalt des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung entsprechende Projekte in Faizabad finanziert werden. Dabei handelt es sich um ähnliche Projekte, wie wir sie auch in Kunduz durchgeführt haben. Deshalb rate ich dringend dazu, sich die Situation vor Ort anzusehen und unseren Einsatz nicht infrage zu stellen. Denn auch andere NATO-Staaten werden noch zusätzliche PRTs in Afghanistan installieren.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Das ist das letzte Mal schon gesagt worden!)

Die Niederlande sind in Pol-e-Khomri – das ist in der Provinz Baghlan, also in unserer Nähe – vertreten.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Wer kommt noch?)

Die Neuseeländer sind ebenso anwesend. Die Briten und wir sind mit jeweils zwei PRTs vertreten. Außerdem sind die Amerikaner dort, allerdings im Rahmen einer anderen Konstruktion.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Die Briten widmen doch nur um!)

– Nein, die Briten haben dort zwei ordentliche PRTs, die unserem Konzept entsprechen. Es macht doch keinen Sinn, nur auf die anderen zu warten. Man könnte zwar sagen: Sollen die anderen doch machen; wir beteiligen uns erst später. Aber so arbeiten wir nicht.

(Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Fahren Sie doch mal hin!)

Das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland ist durch die Arbeit der Bundeswehr in Afghanistan uneingeschränkt hoch. Man kann nicht hoch genug einschätzen, wie angesehen wir dort durch die Arbeit unserer Soldaten sind.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich möchte noch auf einen Punkt eingehen, den Kollege Lamers in seiner Rede angesprochen hat: Er hat mehr Geld für die Bundeswehr gefordert.

(Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Nein, es geht darum, wie viele Soldaten in Afghanistan sind!)

Ich wäre froh, wenn ich mehr Geld für die Bundeswehr zur Verfügung hätte. Aber Sie müssen auch einmal an die Aussagen des ehemaligen Kanzlerkandidaten der CDU/CSU, Herrn Stoiber, denken. Sie dürfen nicht so tun, als gebe es ihn nicht. Denn er wollte den Bundeshaushalt um 5 Prozent kürzen. Das würde für meinen Etat eine Kürzung um 1,2 Milliarden Euro bedeuten. So kann man nicht arbeiten. Man kann nicht auf der einen Seite mehr Geld für die Bundeswehr und auf der anderen Seite Kürzungen des Haushalts fordern.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Glos (CDU/CSU): Sie müssten eigentlich ganz andere Sorgen haben!)

– Kollege Glos, sind Sie gerade aufgewacht? Bitte sprechen Sie lauter.

(Michael Glos (CDU/CSU): Sie müssten eigentlich ganz andere Sorgen haben, als mit solchen Kinkerlitzchen daher zu kommen!)

– Ach so, Herr Stoiber ist nicht mehr ernst zu nehmen, oder was?

(Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Stoiber ist ein Kinkerlitzchen!)

Michael Glos sagt also: Herr Stoiber ist ein Kinkerlitzchen.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zur Seriosität zurückkehren und ohne Polemik Folgendes sagen: Unser Haushalt hat ein Volumen von 24 Milliarden Euro. Wenn ich unterwegs bin, sagen mir viele Soldatinnen und Soldaten: Herr Minister, ich kann Ihnen sagen, wo wir noch Geld sparen können. – Das geht Ihnen sicher auch so, wenn Sie mit Bundeswehrangehörigen sprechen. Jeder sagt: Da können wir noch sparen. Wir müssen unsere Bundeswehr tatsächlich umstellen. Wozu brauchen wir 4 000 Leopard-Panzer noch? Die kosten Geld, auch wenn sie nur in den Depots stehen. Wozu brauchen wir so viele Flugzeuge? Wir haben 80 Tornados außer Dienst gestellt; im Rahmen der Auflösung eines Marineflieger-Geschwaders. Die neuen Aufgaben, die wir haben, sind doch gar nicht strittig. Ich bin froh, dass die Union wenigstens teilweise bereit ist, den Weg der Transformation, der Reform der Bundeswehr weiter mitzugehen.

   Worüber wir uns nur „streiten“, ist die Frage: Sorgen wir für genügend Heimatschutz oder nicht? Nach der Konzeption, die wir vorgelegt haben – es gibt Eingreifkräfte, es gibt Stabilisierungskräfte und es gibt Unterstützungskräfte –, stand niemals infrage, dass die rund 145 000 Unterstützungskräfte auch für den Heimatschutz zur Verfügung stehen werden. Wer wäre ich denn, wenn ich sagen würde: Wenn wir angegriffen werden, gibt es keine Verteidigung für unsere Heimat? – Es ist doch absurd, anzunehmen, wir würden unser Land nicht verteidigen wollen. Der Streit ist also nur theoretischer Natur.

   Praktisch auswirken könnte sich dieser Streit allerdings, wenn die Union ihr Konzept jetzt durchsetzen könnte – wenn sie die Mehrheit dazu hätte –, sämtliche Standorte aufrechtzuerhalten; ich habe das in ihren Anträgen gesehen. Ich weiß ja, dass jeder Abgeordnete sich Sorgen um die Bundeswehrstandorte in seinem Wahlkreis macht. Aber wenn wir – das ist nun einmal so – 110 Standorte zu viel haben, weil wir die Bundeswehr verkleinern, müssen eben Standorte geschlossen werden; es geht doch gar nicht anders. Es sei denn, wir bekommen mehr Geld, um Standorte aus strukturellen Gründen aufrechtzuerhalten; das ist aber nicht meine Aufgabe.

   Herr Kollege Lamers hat vorhin gesagt: Sie, Herr Minister, müssen handeln. – Das hat mir noch nie jemand vorgeworfen: dass ich nicht handle. Dafür bin ich nicht bekannt – ich handle durchaus, auch kräftig und energisch.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich will jetzt noch einmal zu den internationalen Verpflichtungen kommen: Zu der schnellen Eingreiftruppe der NATO, der NATO Response Force, haben wir Anmeldungen vorgenommen. Im Jahre 2005, also im nächsten Jahr, werden auch die ersten Heereseinheiten dabei sein. Unsere diesbezüglichen internationalen Verpflichtungen können wir auch einhalten. Dann gibt es die Eingreiftruppe der Europäischen Union. Auch dafür sind die Einheiten benannt und vorbereitet. Was wir jetzt am vergangenen Wochenende in Nordwijk beschlossen haben, sind die so genannten EU-Battlegroups – darüber werden wir sicherlich im Verteidigungsausschuss noch ausführlich diskutieren –, sozusagen die schnelle Eingreiftruppe in kleinerer Zusammensetzung verschiedener NATO-Staaten. Wir bilden mit den Holländern eine Battlegroup – dazu habe ich mich vertraglich verpflichtet – und mit den Franzosen, die deutsch-französische Brigade. Andere Staaten tun das auch. Die Konzeption ist also folgende: Wenn ein Konflikt in Europa oder außerhalb von Europa auftritt, dann wollen wir schnell eine solche Battlegroup einsetzen. Deutschland wird dazu seinen Beitrag leisten und wir können diesen Beitrag auch leisten.

   Zur Wehrpflicht will ich nur sagen: Sie haben sich lange darüber ausgelassen, Herr Kollege Gerhardt. Meine Position kennen Sie. Die Position der SPD kennen Sie auch. Natürlich gibt es in ihr auch Stimmen, die sagen: Brauchen wir so nicht mehr; einige, die diese Meinung vertreten, sind hier im Saal anwesend. Die SPD wird diese Frage, wie es üblich ist, in ihren Gremien beraten und dann eine Entscheidung treffen. Ich bin ganz zuversichtlich, dass meine politische Position, bei der Wehrpflicht zu bleiben, sich durchsetzen wird. Wenn nicht, haben wir eine andere Situation; dann müssen wir damit eben anders umgehen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee, was bedeutet, dass das gesamte Parlament auch die Verantwortung für die Bundeswehr hat, wenn sie in einer schwierigen Situation ist. Wir sind in Afghanistan – in Faizabad, in Kunduz, in Kabul – in schwierigen Situationen, weil dort Wahlen bevorstehen. Am 9. Oktober wird der Präsident gewählt; erster Wahlgang, es gibt 18 Bewerber. Man muss mit Sicherheit davon ausgehen, dass es noch einen zweiten Wahlgang geben wird, wahrscheinlich im Dezember. Das bedeutet, die Gefahr von Anschlägen durch Taliban wird noch lange Zeit permanent vorhanden sein. Wir haben unsere Soldaten so ausgestattet, dass sie das haben, was sie brauchen; das sage ich auch in Bezug auf Faizabad und Kunduz. In Faizabad, wo zurzeit nur 120 Soldaten stationiert sind, ist es auch nicht so einfach. Auch da müssen wir sie schützen und sehen, welches Gerät benötigt wird. Deshalb fahren wir ja jetzt auch hin.

Sie werden im Kosovo bleiben. Sie müssen aber auch mit dafür sorgen, dass die Albaner ihre politische Verantwortung wahrnehmen – auch dort wird es im Oktober Wahlen geben –, um das zu erfüllen, wozu sie sich in Dayton verpflichtet haben und was dort vereinbart wurde.

   Ich komme zum Schluss. Mein Freund Gernot Erler hat ungefähr gesagt: Man dankt immer den Soldaten. Danach wird oft darüber geredet, dass man die vergisst, denen man vorher gedankt hat. – Ich sage aus voller Überzeugung und aus ganzem Herzen: Ich habe großes Vertrauen, dass meine 285 000 Soldatinnen und Soldaten und die 115 000 Zivilbeschäftigten der Bundeswehr die Aufgaben, die das Parlament ihnen auferlegt, gut erfüllen können. Sie können sich an uns wenden, wenn sie glauben, mit dem, was wir ihnen abverlangen, nicht zurechtzukommen. Dafür sind der Generalinspekteur und die Generale da, von denen ich annehme, dass sie mir all das sagen, was sie denken, und dass sie mir nicht nach dem Mund reden.

   Herr Kollege Gerhardt, Herr Kollege Schmidt und als Fraktionsvorsitzende Frau Kollegin Merkel und Franz Müntefering, ich glaube, wenn wir das alles zusammennehmen, dann können wir alle gemeinsam sagen: Die Bundeswehr macht einen guten Job und sie erfüllt das, was wir von ihr verlangen, also den Auftrag, den wir ihr geben. Sie mehrt das Ansehen unseres Landes in der Welt. Deshalb sollten wir ihr außerordentlich dankbar sein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Schmidt.

Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte gibt tatsächlich Gelegenheit und Anlass, den Soldaten, den Soldatinnen und auch den Zivilbediensteten zu danken. Kollege Erler, das ist keine Formalie, die man gleich wieder vergisst. Man sollte dies betonen: Menschen, die bis zum Einsatz ihres Lebens für den Auftrag unseres Landes stehen, verdienen ein Dankeschön jenseits aller Dinge, die im Operativen diskutiert werden müssen. Das empfangen und verstehen die Menschen auch so. Das sollten Sie nicht klein reden und auf die Seite stellen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Wir sind doch auch hier, um den Einsatz möglichst optimal zu gestalten. Es geht aber nicht nur darum. Natürlich möchten wir den Soldaten und Soldatinnen auch sagen können, für was und warum sie diese Beschwerlichkeit auf sich nehmen müssen, die die Einsätze und auch die Bereitschaft zu Hause in der Heimat mit sich bringen. Es ist nicht klar, welche Rolle der Bundeskanzler – ich wiederhole die Frage: Wo ist er eigentlich bei einer Debatte, bei der es insbesondere um die Menschen bei der Bundeswehr, um die wir uns kümmern wollen, geht? –

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

und der Bundesaußenminister der Bundeswehr eigentlich zubilligen.

   Herr Verteidigungsminister, was den Kosovo angeht, so bin ich nicht der Meinung, dass der Außenminister und Sie beim Thema „Standards vor Status“ die gleiche Zielsetzung verfolgen. Das hört sich bei Ihnen beiden nicht gleich an.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Nicht so ganz, da haben Sie Recht!)

Ich habe eher den Eindruck, bei Ihnen ist es so wie seinerzeit beim Kaufhaussortiment des Moskauer Kaufhauses GUM: „Gemeinschaft Unabhängiger Minister“, der eine sagt dies, der andere das. Das und nicht irgendeine Kritik an der Ausübung ihres Dienstes beschwert die Soldaten.

Es bedarf eines Weißbuches, in dem verbindlich festgeschrieben wird, wozu die Bundeswehr dienen soll. Dann erst können sich Opposition und Regierung auseinander setzen. Das wird sicherlich streitig sein, aber gegenwärtig weiß ich gar nicht so recht, mit wem in der Regierung ich mich eigentlich auseinander setzen soll, weil ich für jede Meinung einen Vertreter finde. Hier ist der Bundeskanzler gefragt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Es genügt nicht, dass er, wie gestern in einer Rede, schnell etwas zu den Auslandseinsätzen sagt. Ich habe eher das Gefühl, dass hier nach dem Motto Quodlibet eingekauft wird: Wenn es wieder so weit ist, dann sagen wir einen Einsatz zu, sofern uns gerade danach ist. – Das ist keine Linie. Eine solche muss die Bundeswehr aber bekommen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das ist das große Defizit dieser Bundesregierung. Sie haben es in sechs Jahren nicht geschafft, das zu ändern. Die Halbzeitbilanz in dieser Legislaturperiode weist deshalb einen ganz großen Fehlposten in diesem Bereich auf. Einer Diskussion darüber können Sie nicht ausweichen.

Diese Diskussion werden wir führen, und zwar streitig.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Geändert hat sich bei der Frage, wo unsere Sicherheit verteidigt werden muss, die Tatsache, dass die Sicherheit unseres Landes nicht mehr an den Landesgrenzen verteidigt werden muss, sondern dass Gefahren wie der Terror auch anderswo in der Welt bekämpft werden müssen. Geblieben sind aber die Gefahren bei uns zu Hause, weil Terrorgruppen oder bewaffnete Insurgenten auch hier zuschlagen können. Verteidigung dagegen ist schwer, aber nicht unmöglich. Eine schnelle, flexible Reaktion einerseits und eine landesweit vernetzte Sicherheitsstruktur andererseits müssen gestaltet werden.

   Sicherheit im eigenen Lande kommt nicht von selbst, darum muss man sich kümmern. Es ist deswegen falsch, die Strukturen der bisherigen Territorialverteidigung auf das Niveau von Feierabendtreffs zu reduzieren. Die Verteidigungsbezirkskommandos darf man nicht komplett abschaffen, wenn man Vorsorge für zivil-militärische Zusammenarbeit bei Großschadenslagen und Bedrohungen von außen treffen will.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Gerade hier hat sich das Regionalprinzip bewährt. Man müsste diese Kommandos vielmehr zu Regionalbasen Heimatverteidigung ausbauen und darf sie nicht auf eine bloße Funktion für hierfür nicht ausgerüstete oder ausgebildete Restposten derer, die gerade zu Hause sind, reduzieren.

   Dass Sie, Herr Verteidigungsminister, hier einen Schnitt machen, indem Sie das Messer am gesunden Körper ansetzen, ist falsch. Es kann nur mit dem Versuch, auf Kosten der Auftragserfüllung zu sparen, erklärt werden, dass eine der eigentlich zukunftsträchtigen Strukturen der Bundeswehr zerstört wird. Zudem werden dann noch die Reservisten als Landsturm der Vergangenheit karikiert, obwohl wir sie als flexible Aufwuchskräfte für solche Aufgaben brauchen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Gernot Erler (SPD): Wer macht das?)

   Das ist auch nicht mit dem Ausbruchsversuch zu beantworten: Wir haben kein Geld, daran ist auch trotz eurer Aufforderung nichts zu ändern. – Das Thema der Haushaltskonsolidierung ist eine Sache. Das Thema, Schwerpunkte zu setzen und mit den Mitteln in einer Situation, die Sie mit Ihren Haushalten selbst verschuldet haben, klug umzugehen, ist eine andere Sache. Es geht darum, die Triebe, die langsam wieder sprießen, nicht abzuschneiden. Hier findet gerade eine völlig falsche Entscheidung statt. Noch in den Verteidigungspolitischen Richtlinien des Verteidigungsministeriums liest man manches Zustimmenswerte zum Thema eines nationalen Gesamtsicherheitskonzeptes. Leider ist in der Praxis der Auftrag Heimatschutz unter die Räder geraten.

   Im Übrigen hängt dieses Thema eng mit der Zukunft der Wehrpflicht zusammen. Für Auslandseinsätze sind freiwillig länger dienende Wehrpflichtige ein wichtiges Element. Allein damit wird man aber die Wehrpflicht nicht begründen können. Es bedarf einer klaren Zuordnung von Aufgaben in einer gemischten Armee von Berufs- und Zeitsoldaten einerseits und Wehrpflichtigen mit beruflicher Erfahrung und Kenntnissen andererseits. Das relativiert allerdings, Kollege Gerhardt, Ihren Hinweis auf die Ausbildungsnotwendigkeit. Auch der spätere Berufssoldat kommt als Unausgebildeter zur Bundeswehr und bedarf der Ausbildung und Betreuung. Wir haben bereits jetzt ein gemischtes System von Berufs- und Zeitsoldaten sowie Wehrpflichtigen. Wir können schließlich nicht eine eigene Teilstreitkraft Wehrpflichtige bilden. Das wäre in der Tat das Ende der Legitimation der Bundeswehr.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Der Nutzen ist aber länger!)

– Wenn Sie sich die Zahlen und die wirklichen, nicht die politisch gefühlten Ergebnisse in den Ländern, die die Wehrpflicht gerade abschaffen oder abgeschafft haben, im Hinblick auf ihre Etatbelastung ansehen, dann werden Sie feststellen, dass mehr investiert werden muss. Das hat nicht nur mit der Nachwuchsgewinnung zu tun, sondern auch damit, dass die Attraktivität noch stärker erhöht werden muss. Deswegen geht diese Rechnung nicht auf.

   Aber nicht nur die gefühlte Sicherheit unserer Mitbürger, sondern auch die reale Sicherheitslage unseres Landes gibt guten Grund, von unseren jungen Männern einen Beitrag zur Verteidigungsleistung zu erbitten, wenn die Wehrpflicht als eine sicherheitspolitische Dienstleistung an uns allen verstanden wird und die Gebote der Wehr- und Dienstgerechtigkeit in ausreichendem Maße eingehalten werden.

   Ich stimme den Worten Roman Herzogs, den Sie zitiert haben, völlig zu, dass man die Wehrpflicht als scharfen Eingriff in die persönliche Freiheit jedes einzelnen Staatsbürgers nicht unter Verweis auf die Zeit von vor 30 oder 40 Jahren legitimieren kann, sondern dass sie mit den Veränderungen begründet werden muss. Ich bin überzeugt davon, dass sie sich auch heute durch die veränderten Strukturen und Aufgaben begründen lässt. Nur wenn das stattfindet, lässt sich die Wehrpflicht guten Gewissens weiter politisch vertreten. Dann wird man in Diskussionen mit jungen Menschen bestehen können. Darüber werden wir streiten.

   Aber eines ist – das will ich unterstreichen – notwendig, nämlich die Ausschöpfung des Verfassungsrahmens des Art. 12 a des Grundgesetzes, der, wenn man ihn genau liest, den Zivilschutz einbezieht. Es gibt vielleicht ideologische Hemmnisse bei der jetzigen Regierung, weil sie angesichts der asymmetrischen Bedrohung Probleme hat, eventuell notwendige Gesetzes- und Verfassungsänderungen zu vollziehen. Aber es findet sich da eine überzeugende Begründung für unsere Mitbürger für eine mittelfristige Notwendigkeit der Wehrpflicht. Das Problem ist, dass wir zwar nicht eine Betrachtung aus der Vergangenheit, aber auch keine Augenblicksbetrachtung machen können. Wehrpflicht kann man nicht ein- und ausschalten wie eine Glühlampe. Wer sie aussetzen will, kappt eine sicherheitspolitische Option, die uns nach meiner festen Überzeugung in den nächsten Jahren fehlen wird. Deswegen werden wir seitens der CDU/CSU gegen die Anträge der FDP stimmen, die keine Perspektive bieten, sondern die Weichen in eine falsche Richtung stellen.

   In einem Punkt aber stimme ich Ihnen, Herr Kollege Gerhardt, in diesem Zusammenhang zu. Die Volte, die die Grünen vollführen, ist schon beachtenswert. Dagegen sind unsere Begründungen für unsere Ablehnung schlüssig und überzeugend. Man sollte sich an der Union orientieren.

(Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Ziemlich selbstgerecht!)

   Eines muss der SPD klar sein: Wer nicht einmal in der Lage ist, die sowieso bedürftige Einbindung der Wehrpflicht von heute in das Zahlenwerk der neuen Bundeswehrkonzeption vorzunehmen, der wird nicht durchhalten. Die Konzeption, die der Generalinspekteur entwickelt hat, hat einige durchaus interessante Ansätze, und zwar im Bereich der Neugliederung der Truppe in Eingreif-, Stabilisierungs- und Unterstützungskräfte. Wer aber schon jetzt mangels Mittel höchstens 80 Prozent der eigentlich vorgesehenen Wehrpflichtigenstellen besetzt, der fährt in den roten Bereich. Was soll eigentlich ein Bundeswehrplan, der schon jetzt nicht durchgehalten werden kann? Nicht die Verwendungsmöglichkeit der Wehrpflichtigen, sondern die Nutzung dieser Möglichkeit ist das große gefährliche Fehl in der jetzigen Regierungspolitik. Wir sind bereit, im konstruktiven Gespräch über die Wehrpflicht zu bleiben. Vorher erwarten wir von Rot-Grün dazu aber ein faktisch ehrliches und kein politisches Lippenbekenntnis. Wir werden hierüber diskutieren und streiten müssen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Transformation ist ein schöner Begriff. Reform sagt man nicht mehr, weil Transformation so schön klingt, dass jeder den Begriff in den Mund nimmt, obwohl keiner weiß, was damit gemeint ist. Der Verteidigungsminister hat Standortschließungen angesprochen, die wir hier nicht im Einzelnen diskutieren. Es ist in der Tat so, dass das Heimatschutzkonzept, das wir vorgelegt haben, den Erhalt einiger Standorte bedeuten könnte.

(Rainer Arnold (SPD): Deswegen brauchen wir es!)

Wenn wir am 1. oder 2. November die entsprechenden Informationen bekommen, dann müssen wir über dieses Thema noch einmal ins Gespräch kommen. Ich bin nicht derjenige, der sich hier hinstellt und sagt: Jeder Standort kann die nächsten 100 Jahre so bleiben, wie er ist. – Seit 1990 haben sich einige Veränderungen ergeben. Wo aber strukturell Möglichkeiten zum Erhalt bestehen, müssen wir über dieses Thema reden. Wir sind der Meinung, es gibt gute Gründe, gerade auch wegen der Differenzierung der Truppe, die auch mit der Wehrpflicht zusammenhängt, Standorte zu erhalten oder umzuwidmen.

   Man kann sagen: Wenn schon zu Hause bei der Bundeswehr General Mangel und Oberst Fehl das Kommando führen, dann könnte das wenigstens bei den vielen Auslandseinsätzen der Bundeswehr anders sein. Die Vorkommnisse im Kosovo belehren uns leider eines Besseren.

Die Informationen, die wir gestern erhalten haben, zeigen – soweit wir sie bisher auswerten konnten – kein überzeugendes Bild von Führung, Ausrüstung und Krisenbeherrschung. Das geht nicht gegen die Hauptfeldwebel, die hervorragende Leistungen erbracht haben; es geht vielmehr gegen die politische Führungsebene. Darüber muss geredet werden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Wir wissen gar nicht, ob wir alle Informationen erhalten haben. Denn die schlampige Informationspraxis innerhalb Ihres Hauses, Herr Minister,

(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   – schon gegenüber ihm selbst! – und uns gegenüber gibt Anlass zur Sorge.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Ob dem mit Nachfragen oder Nacharbeiten alleine begegnet werden kann –

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Herr Kollege Schmidt, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU):

– oder ob eine Art parlamentarische Fallstudie über die schwierigen Seiten der Auslandseinsätze am Beispiel KFOR notwendig ist, wird sich in den nächsten Tagen zeigen. Wir werden das sehr genau beobachten und dann entscheiden.

   Ein letztes Wort zu der Frage Faizabad – –

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Nein, Herr Kollege Schmidt, Ihre Redezeit ist überschritten. Das geht auf Kosten Ihrer Kollegen.

Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU):

Die Kollegen werden mir das verzeihen.

(Lachen bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP – Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Sauber!)

   Ich weiß, dass Ihnen die Frage, die ich Ihnen jetzt stellen werde, unangenehm ist, meine Damen und Herren von der Koalition. Der Verteidigungsminister ist vom Kollegen Lamers aufgefordert worden, klarzustellen, was er hinsichtlich der Struktur des Mandats Faizabad beabsichtigt. Im ZDF hat er am 14. September im „Heute-Journal“ gesagt, er wisse zwar, dass es zurzeit keine Mehrheit gebe, um die Zahl der deutschen Soldaten aufzustocken, möglich sei jedoch, dass sich andere Nationen beteiligen. Das heißt, die anderen Nationen kommen nicht.

(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die kommen wohl! Haben Sie gestern nicht zugehört?)

– Möglichkeit heißt nicht Wirklichkeit.

   Ich halte es für eine Zumutung, dass der Verteidigungsminister die Parlamentarier beschimpft, sie würden ihm nicht mehr Soldaten bewilligen, obwohl er dies nie gefordert hat. Gestern hat die Bundesregierung den Beschluss gefasst, die Zahl der Soldaten nicht aufzustocken. Das muss aus der Welt geschafft werden. Reicht die Zahl der Soldaten aus oder nicht?

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Herr Kollege Schmidt, jetzt muss ich Ihre Rede abbrechen, es sei denn, die Geschäftsführer sagen etwas anderes.

Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU):

Alle, die meinen, dieses Thema abtun zu können, werden sich wundern. Wir werden nächste Woche intensiv über dieses Thema reden.

   Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Werner Hoyer (FDP) – Gernot Erler (SPD): Das war ein sehr schlechter Auftakt, Herr Kollege!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Marianne Tritz.

Marianne Tritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den letzten Jahren haben wir es in der Sicherheitspolitik mit völlig neuen Herausforderungen zu tun gehabt. Mit dem Zerfall der Sowjetunion, der Erweiterung der Europäischen Union und der NATO konnte und kann niemand mehr eine existentielle Bedrohung unseres Landes erkennen. Niemand glaubt ernsthaft, dass wir in naher oder ferner Zukunft einen Angriff mit konventionellen Streitkräften auf deutschem Territorium zu erwarten haben.

   Wer die Bundesrepublik Deutschland angreifen will, wird sich dafür die weichen Ziele der Zivilgesellschaft suchen und dafür andere Mittel wählen als eine Panzerdivision. Die Bedrohung ist subtiler und perfider geworden. Sie ist weniger fassbar. Sie richtet sich gegen die Menschen in unserem Land, unsere Interessen, unsere Werte und Normen. Sie gefährdet unsere offene Zivilgesellschaft und die unserer Bündnispartner. Unsere Informationsgesellschaft in ihrer Komplexität und mit ihren vielen Abhängigkeiten benötigt eine andere Art von Sicherheit und Verteidigung, als wir es bisher kannten.

   Das ist eine der Lehren, die wir aus dem 11. September ziehen mussten. Eine andere ist, dass wir Krisen, Konflikten und Verteilungskämpfen möglichst im Ursprungsland begegnen müssen, wenn wir sie frühzeitig eindämmen wollen.

   Wir haben mittlerweile einen erweiterten Sicherheitsbegriff formuliert, der sich mit internationalen Konflikten, asymmetrischen Bedrohungen und dem Kampf gegen den internationalen Terrorismus auf verschiedenen Ebenen auseinander setzt. Wir setzen dabei auf einen ganzheitlichen Ansatz, auf wirtschaftliche, politische, entwicklungspolitische, finanzielle und humanitäre Maßnahmen, um derartige Bedrohungen abzuwehren.

   Unsere Stärken, die Stärken der Bundesrepublik Deutschland, liegen eindeutig im Bereich der Konfliktlösung. Dementsprechend werden Krisenbewältigung und Konfliktvorsorge bis hin zu Frieden schaffenden Maßnahmen mehr denn je auch zentrale Aufgaben der Bundeswehr sein. Auf diesen Gebieten engagiert sich die Bundeswehr bereits jetzt auf vielfältige Weise.

   Unsere internationalen Verpflichtungen, die wir zu erfüllen haben, und die Verantwortung, die wir eingegangen sind, haben dazu geführt, dass Anzahl, Intensität, Umfang und Dauer der Einsätze der Bundeswehr stetig zugenommen haben.

Das war und ist mit der Bundeswehr alten Zuschnitts nicht mehr zu machen. Deshalb begrüßt meine Fraktion ausdrücklich den Transformationsprozess der Bundeswehr.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Mit der Aufteilung in drei Kategorien kann die Bundeswehr die anstehenden Aufgaben besser bewältigen. Sie wird damit den neuen Herausforderungen angepasst. Die erste Kategorie sind die Eingreifkräfte für zeitlich begrenzte, friedenserzwingende Einsätze und Evakuierungen in Kriegs- und Krisengebieten. Die zweite sind die Stabilisierungskräfte für längerfristige, friedenserhaltende Einsätze. Dazu gehören die Überwachung der Einhaltung von Waffenstillstandsvereinbarungen genauso wie der Schutz der Bevölkerung und das Absichern der staatlichen Autorität im Einsatzland. Die dritte Kategorie sind die Unterstützungskräfte für die logistische Arbeit. In Verbindung mit anderen Maßnahmen ist damit die Bundeswehr auf dem Weg zu mehr Effektivität.

   Was wir nicht wollen – das unterscheidet uns von der Opposition –, sind Einsätze der Bundeswehr im Innern. Beim Katastrophenschutz ist eine weit gehende Kooperation mit der Bundeswehr bereits jetzt möglich. Für alle anderen Fälle haben wir die Polizei und den Bundesgrenzschutz.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Jörg van Essen (FDP): So ist es!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU – ich spreche insbesondere Sie, Herr Schmidt, an –, wenn Sie ständig den Einsatz der Bundeswehr zur Territorialverteidigung fordern, dann müssen Sie auch einmal sagen, wie das gehen soll. Wie, glauben Sie, kann uns die Bundeswehr schützen, wenn die weichen Ziele der Zivilgesellschaft bedroht sind? Es ist doch zweifelhaft, ob zum Beispiel ein Giftgasanschlag wie in der U-Bahn von Tokio oder die Geiselnahme von Kindern in einer Schule durch das Aufmarschieren einer Armee zu verhindern gewesen wären. Herr Schmidt, die Idee, 19-jährige Wehrpflichtige im Rahmen von Heimatschutz zur Terrorismusbekämpfung einzusetzen, lässt mir eher das Blut in den Adern gefrieren. Das ist wirklich eine gruselige Vorstellung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Dazu bedarf es anderer Instrumente, über die wir einmal an anderer Stelle konstruktiv reden müssen.

   Des Weiteren möchte ich von Ihnen endlich etwas Konstruktives zu Afghanistan hören. Ihre Dauerbehauptung, für Afghanistan liege kein Gesamtkonzept vor, wird durch ständiges Wiederholen auch nicht wahr.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Ich kann mir ja lebhaft vorstellen, dass es auf der Oppositionsbank manchmal richtig langweilig ist und dass man dabei manchmal einschläft.

(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Das entschuldigt Sie irgendwie, aber auch nur irgendwie. Denn während Ihrer Tiefschlafphasen scheint Ihnen entgangen zu sein, dass zwei Afghanistankonferenzen stattgefunden haben

(Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Drei sogar!)

– wunderbar! Sie haben doch etwas gelernt –, auf denen ein Gesamtkonzept definiert wurde, das auch noch in eine Sicherheitsresolution umgesetzt wurde. Das bedeutet, dass wir nicht im luftleeren Raum agieren, sondern dass wir unseren Beitrag zu dem leisten, was die internationale Staatengemeinschaft gemeinsam beschlossen hat. Ich hoffe sehr, dass Sie demnächst der Mandatsverlängerung für Afghanistan zustimmen werden. Alles andere würde nämlich die Vorbereitung und die Unterstützung der Präsidentschafts- und der Parlamentswahlen unmöglich machen und alles, was die Bundeswehr und die zahlreichen Hilfsorganisationen bisher in Afghanistan geleistet haben, infrage stellen. Ich möchte Sie dann einmal sehen, wie Sie das vor diesen, vor Präsident Karzai und vor der internationalen Staatengemeinschaft rechtfertigen würden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Ein bisschen mehr Sensibilität in bestimmten Fragen stünde Ihnen gut zu Gesicht. Die Art und Weise, wie Sie politische Konflikte auf dem Rücken der Soldaten austragen wollen, ist nicht in Ordnung. Ich finde es richtig, wenn man im Zusammenhang mit den Kosovo-Unruhen im März dieses Jahres auf einer lückenlosen Aufklärung der Ereignisse besteht. Dann muss man auch anerkennen, wenn der Minister und die Bundeswehr dem nachkommen. Dann aber, wenn die Aufklärung erfolgt ist und die Verantwortlichen selbst die Mängel benannt haben, einen Untersuchungsausschuss zu fordern ist schon ziemlich dreist. Da liegt der Verdacht nahe, dass bei Ihnen nicht der Wunsch nach Aufklärung im Vordergrund steht, sondern dass Sie bereit wären, die Soldaten vor Ort zu demontieren, nur um der Regierung eins auswischen zu können. Das finde ich billig und durchsichtig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU): Es geht uns um den Schutz der Soldaten!)

– Ja, ja.

   An jenem Tag im Kosovo ist sicherlich vieles schief gelaufen, aus dem man lernen muss. Das hat auch der Minister zugegeben.

(Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU): Das wollen wir aufklären!)

Dennoch können wir davon ausgehen, dass die Soldaten damals in der aufgeheizten Stimmung alles getan haben, um den Konflikt in den Griff zu bekommen.

   In den letzten Jahren hat sich die Art und Weise der Einsätze der Bundeswehr verändert. Jetzt wird es Zeit, die Struktur und die Ausrüstung der Bundeswehr an die veränderten Erfordernisse anzupassen. Wir alle wissen, was der Minister der Bundeswehr abverlangt und dass er einige schmerzhafte Wahrheiten verkünden muss. Aber im Gegensatz zur Opposition, die ständig und in allen Bereichen immer nur fordert, kritisiert und stets ein Konzept oder eine Antwort schuldig bleibt, hat der Minister mit dem Transformationsprozess einen wirklich mutigen Schritt getan, den man einmal ausdrücklich loben muss.

   Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Günther Nolting.

(Gernot Erler (SPD): Mal sehen, wie er diese Charmeoffensive beantwortet!)

Günther Friedrich Nolting (FDP):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Tritz, ich glaube, Sie haben mit Ihren Vorwürfen hier die falschen Fraktionen angesprochen. Wir wissen, welche Verantwortung wir gegenüber unseren Soldatinnen und Soldaten und den zivilen Mitarbeitern der Bundeswehr zu tragen haben.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir tragen diese Verantwortung seit vielen Jahrzehnten, im Gegensatz zu RotGrün, vor allen Dingen im Gegensatz zu den Grünen, aus deren Reihen Sie kommen. Wir stellen unsere Soldatinnen und Soldaten, die Angehörigen der Bundeswehr nicht unter Generalverdacht, wie Sie es 1998 getan haben, als Sie einen Untersuchungsausschuss bezüglich eines vermeintlichen Rechtsextremismus in der Bundeswehr gefordert haben. Sie waren es, die die Bundeswehrangehörigen unter Generalverdacht gestellt haben. Daran sollten Sie sich erinnern.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Was ist eigentlich von dem ehrgeizigen Anspruch aus dem Jahre 1998 geblieben, die größte Reform in der Geschichte der Bundeswehr einzuleiten? Nicht viel! Seit sechs Jahren regiert RotGrün. Was ist passiert? Seit sechs Jahren doktern Sie an der Bundeswehr herum. Ich sage Ihnen: RotGrün bringt nicht einmal einen Strukturentwurf für die Streitkräfte zustande, der dieses Jahrzehnt überlebt. Ich bedauere alle Angehörigen der Bundeswehr in Uniform wie in Zivil: Sie wissen über Jahre nicht, ob ihr Arbeitsplatz sicher ist oder ob ihr Wohnort beibehalten werden kann. Ihnen ist jede Planungssicherheit seit 1998, seitdem RotGrün an der Regierung ist, abhanden gekommen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Natürlich muss die Bundeswehr reformiert werden. Ihre Struktur und ihr Umfang entsprachen in keiner Beziehung mehr den Erfordernissen der neuen Zeit. Die FDPBundestagsfraktion hat als einzige Fraktion bereits vor Jahren ein eigenes Konzept vorgelegt. Vieles davon finden Sie im Bericht der WeizsäckerKommission wieder. Wenn der damalige Verteidigungsminister diesen Vorschlägen doch nur gefolgt wäre, dann hätte er der Bundeswehr etliche Irritationen erspart und dann wäre die neue Struktur jetzt weitgehend Realität.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Herr Minister, Ihre Verteidigungspolitischen Richtlinien gehen in die richtige Richtung. Wir unterstützen viele Aussagen. Aber wir erwarten, dass endlich ein Weißbuch vorgelegt wird. Das letzte Weißbuch gab es 1994. Seit dem Jahr 2000 versprechen Sie uns solch ein Weißbuch. Wir wollen wissen, wie die gesamte Bundesregierung die sicherheitspolitische, die verteidigungspolitische Lage einschätzt und welche Konsequenzen die gesamte Bundesregierung – nicht nur der Verteidigungsminister – daraus zieht.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Lassen Sie mich noch etwas zur allgemeinen Wehrpflicht sagen. Der Kollege Gerhardt hat sich dazu für die FDPBundestagsfraktion geäußert. Herr Minister, schauen Sie sich selbst Ihre Verteidigungspolitischen Richtlinien noch einmal an! Sie selbst schreiben, dass der Hauptauftrag nicht mehr Bündnis- und Landesverteidigung sind, sondern im Wesentlichen die internationalen Einsätze. Keiner hier im Hause – vielleicht bis auf wenige Ausnahmen – will Grundwehrdienstleistende in solche internationalen Einsätze schicken. Das können wir aufgrund fehlender Ausbildungszeiten nicht verantworten. Wir können es aber auch grundsätzlich politisch nicht verantworten.

   Ich will auch hier noch einmal sagen: Wehrpflicht ist kein ewig währendes Prinzip. Wehrpflicht muss ständig überprüft werden: auf die Länge, auf die Kürze oder dahin gehend, ob sie insgesamt beibehalten werden muss. Sie muss vor allen Dingen sicherheitspolitisch begründet werden. Alle anderen Gründe sind zwar wichtig und müssen berücksichtigt werden, aber sie sind Sekundärgründe und dürfen nicht zur Legitimation der Wehrpflicht herangezogen werden.

(Beifall bei der FDP)

   Die sicherheitspolitische Lage im konventionellen Bereich hat sich in den letzten Jahren doch verbessert; sonst säßen wir doch nicht hier, in Berlin.

Die NATO hat Staaten aufgenommen, die dem ehemaligen Warschauer Pakt angehört haben, die zur ehemaligen Sowjetunion gehört haben. Die NATO ist heute jedem potenziellen Gegner um ein Vielfaches überlegen. Auch deswegen brauchen wir die Wehrpflicht nicht mehr.

   Herr Kollege Schmidt, ich will noch einmal das Thema Wehrgerechtigkeit ansprechen. Wenn heute keine 20 Prozent der jungen Männer eines Jahrgangs mehr Wehrdienst ableisten, dann frage ich mich, woher die Legitimation kommen soll. Ich kenne einige, die mittlerweile den Zivildienst, den Ersatzdienst, zur Legitimation der Wehrpflicht anführen. Das kann nicht richtig sein. Auch darüber werden wir in den nächsten Monaten noch streiten.

(Beifall bei der FDP)

   Herr Minister, Sie haben das Thema Afghanistan angesprochen. Eine Vielzahl der Kollegen aus der FDP-Bundestagsfraktion ist vor Ort in Afghanistan gewesen. Auch insofern haben wir keinen Nachholbedarf. Was hat sich in den letzten zwölf Monaten in Kunduz, in Faizabad verändert? Es gibt immer noch kein mit den Partnern abgestimmtes Gesamtkonzept für die Region.

(Beifall bei der FDP)

   Ich darf an Folgendes erinnern – damit komme ich zum Schluss, Frau Präsidentin –: Es war General Riechmann, der letztes Jahr mit einem Vorauskommando vor Ort war und nach seiner Rückkehr gesagt hat: Ich brauche für ein PRT mindestens 230 Soldatinnen und Soldaten. – Jetzt sind in Faizabad keine 100. Wie sieht es da eigentlich mit dem Selbstschutz aus?

(Beifall bei der FDP)

Auch dafür tragen wir eine Verantwortung. Dass wir ihr nachkommen, kann ich leider nicht erkennen. Wir haben auch für den Schutz unserer Soldaten zu sorgen.

   Was den Kosovo angeht, so gibt es keine Vorwürfe gegenüber den Soldaten vor Ort, überhaupt nicht. Frau Kollegin Tritz, die Soldaten leisten gute Arbeit vor Ort, aber ich mache der rot-grünen Bundesregierung Vorwürfe, weil sie ihrer Informationspflicht nur mangelhaft nachkommt. Das haben wir gerade in den letzten Tagen wieder erlebt. Wenn es nicht Druck aus der Opposition gegeben hätte, hätten wir bis heute nicht die Informationen, die wir benötigen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das ist unsinnig!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Herr Kollege Nolting!

Günther Friedrich Nolting (FDP):

Ich komme zum Schluss.

   Wir sprechen von einer Parlamentsarmee. Von daher muss das Parlament auch die Informationen erhalten, die es benötigt, um urteilen zu können. Wir müssen uns darauf verlassen können, dass das, was uns im Ausschuss vorgetragen wird, auch richtig ist und der Wahrheit entspricht.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, bitte ich allgemein darum, dass die Schlusssätze nicht noch eineinhalb Minuten über das Ende der Redezeit hinausgehen.

   Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainer Arnold.

Rainer Arnold (SPD):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich ist es schade, dass bei einer Debatte, die die Menschen stärker berührt als viele Themen, die wir hier sonst bereden – weil es nämlich um die Frage der Sicherheit jedes Einzelnen geht –, die Opposition in die üblichen Rituale verfällt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Damit wird eine Chance verspielt, was den größten Personalkörper angeht, für den der öffentliche Bereich Verantwortung trägt, mit Personal, das wir mit ganz besonders schwierigen Aufgaben ins Ausland schicken. Das Personal hätte es verdient, dass wir uns seriös mit dem auseinander setzen,

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Was war denn an dem Beitrag unseriös?)

was im Augenblick an Transformation, an Wandel zu bewältigen ist, und dass wir uns seriös und wahrheitsgemäß mit dem auseinander setzen, was die Soldatinnen und Soldaten in den Einsatzgebieten erleben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Besonders schade ist das deshalb, weil wir uns in der Analyse eigentlich einig sind. Die Sicherheitslage in Europa hat sich verändert. Wir haben einen euroatlantischen Stabilitätsraum und erkennen, dass wir gleichzeitig mit neuen, nicht so genau definierbaren Risiken fertig werden müssen, also andere Antworten brauchen. Herr Schmidt, bei Ihrer Rede habe ich den Eindruck gewonnen: Sie erkennen in der Analyse zwar die Veränderungen richtig, aber an den Antworten, die Sie geben, zum Beispiel zur Heimatschutzkomponente – Standorte sollen nur wegen dieser Komponente weitergeführt werden –,

(Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU): Wichtig, sehr wichtig!)

merken wir, dass Sie in der Union diesen Wandel mental gar nicht wirklich vollzogen haben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Um es klar zu sagen, Herr Lamers: Die Soldatinnen und Soldaten gestalten diese Reform nicht auf dem Papier, sondern sie sind in ihrer täglichen Praxis mitten in dem Wandel. Die Reform ist Realität. Wir sind in der Umsetzung. Die Soldatinnen und Soldaten sind in den Köpfen viel, viel weiter als die Politik auf Ihrer Seite.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

   Herr Schmidt – ich kann Ihnen wirklich nicht ersparen, Herr Schmidt, dass ich das sage –, die Union zeigt mit dem Finger auf die Regierung

(Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU): Womit sonst?)

und unterstellt vermeintliche Unterschiede in der Bewertung der Aufgaben. Ich habe mit Interesse gelesen, was Sie, Kollege Schmidt, in den letzten Wochen gesagt haben. An einem Tag ziehen Sie das PRT in Faizabad in Zweifel.

Am nächsten Tag erklärt der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Dr. Schäuble, dass die Regierung selbstverständlich bei dieser richtigen Maßnahme auf die Unterstützung der Opposition bauen kann. Am darauf folgenden Tag erklären Sie, Herr Schmidt, eigentlich bräuchten wir dort viel mehr Soldaten.

(Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU): Wie viele Soldaten brauchen wir denn?)

Ich glaube, Sie reagieren deshalb so gereizt, weil Sie ganz genau spüren, dass Sie in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik nicht vernünftig aufgestellt sind und nicht konsistent argumentieren. Das ganze Themenfeld stellt eine richtig offene Flanke der Opposition dar.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU): Wie viele Soldaten brauchen wir denn?)

   Sie haben vor allen Dingen eines nicht verinnerlicht, nämlich dass Sicherheit mehr leisten muss als abschreckende Verteidigung. Sicherheit kann doch nur in einem erweiterten Verständnis erreicht werden: Sie hat doch ökonomische, ökologische, soziale und kulturelle Dimensionen. Die Streitkräfte spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige, aber eben nur eine Rolle unter vielen. Zu all diesen Punkten steht in Ihren Anträgen keine Zeile.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schmidt?

Rainer Arnold (SPD):

Gerne.

(Gernot Erler (SPD): Der hat doch schon überzogen!)

Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU):

Meine Zwischenfrage gibt doch dem Kollegen die Möglichkeit, sich noch einmal zur Sache zu äußern, nachdem er dafür bisher nicht viel Zeit aufgewendet hat.

   Herr Kollege Arnold, wie verhält es sich nun mit dem PRT in Faizabad? Wie groß soll es sein? Welche Anzahl wäre nötig?

(Gernot Erler (SPD): Da lenkt er ab! – Zuruf des Abg. Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Ist es so, dass der Verteidigungsminister aufgrund von Aussagen aus Ihrer Fraktion bzw. von solchen aus der Koalitionsfraktion Bündnis 90/Die Grünen den Eindruck gewinnen konnte, die Anzahl der Soldaten für Faizabad orientiere sich nicht an der Sicherheit und am Team, sondern sei aufgrund von Begehrlichkeiten der rot-grünen Koalitionsparteien begrenzt worden?

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Dämliche Frage! – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Quatsch!)

Rainer Arnold (SPD):

Zunächst einmal übersehen Sie, dass die Konzeption der PRTs nicht auf nationaler deutscher Vorliebe beruht, sondern die Staatengemeinschaft insgesamt diesen Weg gewählt hat. Natürlich beruht dieses Vorgehen auf einem Kompromiss zwischen den beiden Polen, entweder 70 000 bis 80 000 Mann nach Afghanistan zu schicken. Ich sehe niemanden, der das will bzw. leisten kann – oder allein den Weg über Nation-Building zu wählen und ganz herauszugehen. Dieses fordert ja die FDP. Das ist aber unverantwortbar gegenüber den Menschen in Afghanistan.

(Zuruf von der FDP: Was?)

Deshalb stellt das jetzige Vorgehen einen Kompromiss dar, für den sich die NATO mit unserer Unterstützung entschieden hat.

(Zurufe von der CDU/CSU)

– Ich beantworte Ihre Frage schon konkret, Herr Schmidt. – Die zweite Frage ist, wie viele Soldaten für ein PRT nötig sind.

(Thomas Kossendey (CDU/CSU): Diese Frage sollten Sie beantworten!)

Diese lässt sich erst dann beantworten, wenn zuvor die Frage geklärt wird, was ein PRT tun soll.

(Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Tolle Antwort! Selber eine Frage stellen!)

Wenn ein PRT auch Frieden schaffende Maßnahmen in einer Großstadt durchsetzen soll, dann braucht man viele Hundert Soldaten. Dies soll es aber nicht. Wenn ein PRT einzelne Objekte und Menschen in der Stadt schützen, kommunikativ Staatsgewalt aus Kabul auch in die Regionen tragen, Menschen zusammenbringen und mit den Akteuren reden und verhandeln soll, zugleich dabei aber ein Gewehr im Hintergrund hat, damit man in dieser Gesellschaft als Verhandlungspartner respektiert wird, wenn das die Aufgabe des PRT ist – und das ist sie –, dann ist die Größe, die wir gewählt haben, angemessen. Wir machen dabei manchmal den Fehler, dass wir von den Soldaten dann, wenn etwas schief läuft, plötzlich verlangen, dass sie Aufgaben erfüllen sollen, für die wir gar kein Mandat erteilt haben. So sollte man mit den Soldaten nicht umgehen, sondern die Aktionen präzise an der vorliegenden Aufgabenbeschreibung messen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Die Bundeswehr – das hat sich an dem PRT gezeigt – wird dieser Aufgabenstellung längst gerecht. Ich will gar nicht drum herumreden: Die Ausschreitungen im Kosovo haben gezeigt, dass Fehler gemacht wurden. Es ist notwendig, die nationalen und internationalen Kommunikationsketten zu überprüfen. Es wurden strukturell falsche Einschätzungen vorgenommen. Die Schwachstellen wurden nicht richtig erkannt, insbesondere nicht in ihrer politischen Brisanz. Das alles liegt auf dem Tisch. Jetzt kommt aber der entscheidende Punkt: Sie tun so, als ob es, um dies zu erkennen, der Medienberichte im August bedurft hätte. Das ist falsch. Der dicke Ordner, den der Verteidigungsminister gestern den Obleuten übergeben hat – ich bin froh, dass wir ihn haben; da steht nämlich überhaupt nichts Spektakuläres drin –, bietet eine saubere Aufarbeitung der Versäumnisse und Fehleinschätzungen im Kosovo, die bereits im April und Mai aufgestellt wurde und aufgrund derer der Generalinspekteur bereits im Mai klare Schlussfolgerungen gezogen und in Anweisungen umgesetzt hat.

   Das heißt im Klartext: Durch die Informationen in diesem Ordner werden keine Fragen aufgeworfen, sondern sie wurden zu einem viel früheren Zeitpunkt, als sie sie gestellt haben und versucht haben, einen Skandal daraus zu machen, klar beantwortet. Ich bin froh und beruhigt über diese Informationen;

(Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Sie haben gerade gesagt, dass Sie nie aufgeregt gewesen seien!)

denn ich konnte erkennen, dass die Bundeswehr eine lernfähige Organisation ist. Der Verteidigungsminister stellt sich in dieser Frage – das ist ganz klar – zu Recht vor seine Soldaten.

   Ein altes Sprichwort sagt: Erfahrung hat man nicht dann, wenn man sie braucht, sondern erst danach. Deshalb würde ich es für gut finden, wenn wir Politiker in Berlin nicht anfangen, aus unseren warmen Büros heraus operative Entscheidungen, die Soldaten treffen und verantworten müssen, zu kritisieren. Und wir sollten nicht meinen, wir alle könnten kleine Feldherren sein.

(Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU): Man muss es aber richtig machen!)

Das ist nicht unsere Aufgabe.

   Verstehen Sie mich nicht falsch: Selbstverständlich muss die Politik die Auslandseinsätze unserer Streitkräfte verantwortungsvoll begleiten. Selbstverständlich ist die Bundeswehr ein Parlamentsheer und die politische Führung hat gegenüber dem Parlament die Pflicht, uneingeschränkt Bericht zu erstatten. Das hat sie auch in diesem Fall getan. Der Generalinspekteur hat uns bereits im Mai erklärt, welche Handlungsoptionen es gibt und wie die Entscheidungen aussehen. Es liegt also alles auf dem Tisch.

   Es darf nicht passieren, dass die Politik, wenn Soldaten Fehler machen – das wird angesichts der schwierigen Aufgaben immer wieder vorkommen –, einen Kompaniechef oder einen Bataillonskommandeur in den Verteidigungsausschuss nach Berlin zitiert – solche Überlegungen stellen Sie an –, damit er Rede und Antwort steht. Eine solche Entscheidung hätte eine völlig falsche Signalwirkung für die Truppe. Sie würde die Motivation und die Verantwortungsbereitschaft mindern. Es kommt aber darauf an, dass unsere jungen Soldaten die Bereitschaft zeigen, in schwierigen Situationen selbst zu entscheiden und Verantwortung zu übernehmen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Soldaten werden dies nur tun können, wenn sie wissen, dass die Politik auch dann hinter ihnen steht, wenn sie in schwierigen Situationen entscheiden müssen. Das bedeutet ganz klar: Wir alle sollten darauf bedacht sein, den jungen Truppenführern die richtigen Signale zu geben.

   Ich sage sehr deutlich: Ihr Versuch, dieses Thema am Kochen zu halten – zumindest manche in Ihren Fraktionen spielen mit dem „Kampfinstrument“ Untersuchungsausschuss –, zerstört die Bereitschaft in der Truppe, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Über die Soldaten würde im Grunde genommen Gericht gehalten werden. So würde es jeder Soldat letztlich empfinden. Dies können wir nicht wollen. Wir brauchen Soldaten, die sich ihrer Verantwortung stellen.

   Ich füge noch hinzu: Ich habe überhaupt keinen Grund und keinen Anlass, daran zu zweifeln, dass die Soldaten die taktische Spielräume – wie es militärisch heißt –, die wir ihnen zur Erfüllung ihres Mandates geben müssen, verantwortungsvoll ausfüllen. Unsere Aufgabe ist, politische Vorgaben zu machen. Darüber können wir streiten und diskutieren. Wenn Fehler passieren, dann reden wir darüber mit dem Verteidigungsminister und mit den Inspekteuren. Aber wir sollten bitte nicht kleine Operationen, die die Soldaten jeden Tag durchführen müssen, zum Anlass nehmen, ein Spektakel im Verteidigungsausschuss zu inszenieren; denn das schadet der Truppe insgesamt.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Herr Kollege Arnold, auch Sie bitte ich, zum Schluss zu kommen.

Rainer Arnold (SPD):

Ich komme zum Ende.

   Alles in allem: Die Reform der Bundeswehr ist viel weiter, als Sie denken. Am Ende dieses Prozesses wird die Bundeswehr eine Streitmacht sein, die zusammen mit ihren Partnern – nicht allein – mehr Fähigkeiten hat und im Hinblick auf die möglichen Aufgaben, die sie zu erfüllen hat, noch besser ausgebildet ist. Sie wird am Ende besseres und moderneres Gerät haben, als dies im Augenblick der Fall ist. Dieser Prozess steht nicht am Anfang; wir befinden uns mittendrin.

   Herzlichen Dank für Ihre Geduld.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder (CDU/CSU): Diese Geduld muss man wirklich haben!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ursula Lietz.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ursula Lietz (CDU/CSU):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor 14 Tagen haben die Außen- und Verteidigungspolitiker dieses Hauses ein Gespräch mit einem führenden NATO-Diplomaten gehabt. Zwei Sätze aus diesem Gespräch sind mir in Erinnerung geblieben. Der erste Satz hieß: Ich hoffe, dass das transatlantische Bündnis den Irakkrieg überlebt.

Man sollte sich einmal überlegen, was das bedeutet. Der zweite Satz lautete: Es gibt mittlerweile in der NATO zwei Gruppen: die eine Gruppe, die ihren finanziellen Verpflichtungen nachkommt, und die andere, die das nicht tut und für die die erste mit einstehen muss.

   Wir alle wissen: Wir gehören zur zweiten Gruppe. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Ich habe mich anlässlich solcher Sätze für diejenigen, die für unsere Bundeswehr verantwortlich sind – nicht für die Soldaten; das muss ich hier ausdrücklich sagen und das werde ich an anderer Stelle noch einmal betonen –, geschämt. Denn dies wirft ein bestimmtes Licht auf unsere Außen- und unsere Verteidigungspolitik und beeinträchtigt das Vertrauen, das wir eigentlich haben sollten. Mit unserer Politik riskieren wir, an Glaubwürdigkeit zu verlieren.

   Sie, Herr Verteidigungsminister, haben heute wiederholt, dass Sie davon ausgehen, dass die Opposition die Reformpläne im Großen und Ganzen billigt. Das ist so nicht richtig; denn wir stellen Bedingungen. Diese Bedingungen lauten, dass die Reform der Bundeswehr und die Umwandlung in eine Einsatzarmee nur dann durchgeführt werden können, wenn wir zusätzliche Investitionen in neue Techniken und in Schutzausrüstungen der Truppe, aber auch – darauf möchte ich mich konzentrieren – in Fürsorgemaßnahmen für unsere Soldaten tätigen. Anderenfalls erleiden wir einen Vertrauensverlust; die Vorkommnisse der letzten Tage weisen sehr deutlich darauf hin. Wir brauchen eine umfangreichere Versorgung unserer Soldaten, wenn wir sie in schnelle Einsätze schicken. Wir brauchen mehr, um ihnen da wieder herauszuhelfen.

   Herr Verteidigungsminister, seit über einem Jahr sagen Sie uns – und leider auch den Mitarbeitern von acht Bundeswehrkrankenhäusern –, dass Sie etliche Krankenhäuser schließen werden. Jede Woche höre ich aus demselben Munde unterschiedliche Pläne. Sie vergrätzen und verunsichern damit das Personal in den Bundeswehrkrankenhäusern. Nach all dem, was wir jetzt gehört haben, reduzieren Sie circa 35 bis 40 Prozent der in diesen Krankenhäusern bestehenden Kapazitäten und somit auch Ausbildungskapazitäten. Im Sanitätswesen wird Personal in der Anästhesie, in der Kopf- und Kieferchirurgie und in vielen anderen einsatzrelevanten Disziplinen wie etwa der Neurochirurgie reduziert, deren Kenntnisse wir in den zivilen Krankenhäusern nicht kompensieren können. Interessante Modelle, die dazu in einigen Städten erarbeitet worden sind, finden in Ihren Verhandlungen keinen Platz.

   Am 21. September dieses Jahres hat der Inspekteur des Sanitätswesens von einem gigantischen Mangel an Medizinern für den Einsatz gesprochen. Er hat Recht; denn wir werden in Zukunft weltweit eingesetzte Truppen nicht mehr ausreichend medizinisch versorgen können.

   Wenn Sie glauben, Krankenhäuser in den nächsten Jahren auslaufend schließen zu können, dann wird Ihnen das nicht gelingen. Denn sobald die Schließungen bekannt werden, werden die guten Leute gehen und mit denjenigen, die bleiben müssen, können Sie den laufenden Betrieb nicht mehr aufrechterhalten. Schon jetzt erlassen Sie Einstellungsstopps in den verbleibenden Krankenhäusern. Das führt zu Problemen und Engpässen. Wir stellen immer wieder fest, dass der Vertrauensverlust in den entsprechenden Einrichtungen groß ist, auch wenn man Ihnen das vielleicht nicht sagt.

   Wir haben das alles in den letzten Jahren bei Schließungen von Standortverwaltungen miterlebt. Wir erleben das jetzt wieder. Sie werden die medizinische Versorgung unserer Soldaten im Einsatz und den guten Ruf der Bundeswehr als Medical Lead Nation – und dies bezieht sich nicht nur auf das Sanitätswesen – nicht aufrechterhalten können.

   Hinzu kommt, dass Reservisten im Sanitätswesen von 50 000 auf 14 000 reduziert werden sollen. Diese empfinden dies so, als ob wir gegenüber denjenigen, die jahrelang an unserer Seite gestanden haben, plötzlich kein Vertrauen mehr haben. Sie ziehen dabei nicht in Betracht, dass wir sie als Verstärkungsgruppe für Kliniken in Einsatzgebieten und bei der Rückführung verletzter Soldaten, aber auch im Katastrophenfall dringend brauchen. Sie werden feststellen, dass die Schließung von Reservelazaretten bei der zukünftigen Heimatverteidigung Probleme macht; wir haben darüber gesprochen.

   Dann wollen Sie noch in den nächsten fünf bis sechs Jahren zivile Mitarbeiter in einem hohen Ausmaß in den vorzeitigen Ruhestand schicken oder auf andere Stellen versetzen. Sie wollen so die Zahl der zivilen Mitarbeiter um 40 000 reduzieren. Wenn Sie sagen, dass Sie das sozialverträglich und ohne betriebsbedingte Kündigungen machen werden, dann werden Sie erneut erleben, dass die Menschen in der Bundeswehr Ihnen nicht mehr glauben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ich denke, dass wir uns auf eine neue Bedrohungslage einstellen müssen. Wir haben in diesem Land noch immer nicht begriffen, worum es eigentlich geht. Wir erinnern uns zu wenig daran, dass wir uns verpflichtet haben, an der Seite unserer NATO-Partner im internationalen Kampf gegen den Terrorismus zu stehen. Ich erinnere an das Wort des Kanzlers von der uneingeschränkten Solidarität, die wir so von ihm gar nicht verlangt haben.

   Wir sind an vielen Einsatzorten in der Welt. Unsere Soldaten erwarten von uns, dass wir hinter ihnen stehen. In einem Interview haben Sie, Herr Verteidigungsminister, sogar einen Einsatz im Sudan nicht ausgeschlossen.

   Ich denke, wir müssen dafür sorgen, dass unsere Bündnispartner, aber auch unsere Soldaten wieder Vertrauen in uns haben. Wegen der Vorkommnisse im Kosovo brauchen Sie den Soldaten keinen Vorwurf zu machen, Herr Verteidigungsminister; denn es hat sich gezeigt, dass die Vorkommnisse im Kosovo Führungsprobleme sind. Führungsprobleme löst man aber nicht mit Maulkorberlassen. Sie löst man mit Vertrauen in die Soldaten und mit deren Stärkung, durch ausgezeichnete Ausrichtung, Ausbildung und Ausstattung. All das fehlt. Vor diesem Hintergrund können wir dieser Reform nicht zustimmen.

   Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste, ich bin Abgeordnete der PDS.

   Im Antrag der Regierungsfraktionen zur Transformation der Bundeswehr findet sich folgende Passage, die ich nur unterstützen kann:

Der grundlegend veränderte Auftrag und die Transformation der Bundeswehr müssen von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragen werden. Dieser bedarf einer breiten sicherheits- und friedenspolitischen Debatte in Politik und Gesellschaft.

Das ist völlig richtig. Wo aber wird diese breite sicherheits- und friedenspolitische Debatte in Politik und Gesellschaft geführt? In welcher Frage haben Sie in der Gesellschaft einen Konsens in der Sicherheits- und Friedenspolitik erreicht? Sie wissen, dass eine Mehrheit der Bundesbürger den militärischen Einsatz der Bundeswehr in Ex-Jugoslawien und in Afghanistan abgelehnt hat und noch immer ablehnt.

(Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das stimmt nicht!)

Es gibt auch eine Mehrheit in der Bevölkerung, die keine Auslandseinsätze der Bundeswehr will, sondern Konfliktprävention und verstärkte Bekämpfung der Ursachen von Terror und Gewalt.

   Die Bundesregierung regt diese Diskussion nicht an. Sie verweigert sich dieser Diskussion sogar hartnäckig.

(Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wie bitte?)

Sie schickt die Bundeswehrsoldaten von einem Krisenherd zum nächsten und setzt das Leben der Soldaten leichtfertig aufs Spiel. Aus der Bundeswehr selbst ist zu hören, dass diese Art der Sicherheitspolitik als „Gefechtsfeldtourismus“ bezeichnet wird.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das ist völliger Unsinn!)

   Die Bundesregierung hat kein sicherheitspolitisches Konzept. Das letzte Weißbuch, das eine Konzeption der Bundeswehr enthielt, wurde 1994 von der Regierung Kohl vorgelegt, also vor zehn Jahren. Bekanntlich hat sich seitdem einiges in der Welt grundsätzlich verändert. Der ehemalige Bundesminister der Verteidigung, Herr Scharping, hatte bereits für 2001 ein Weißbuch angekündigt. Nun soll es, dem Antrag der Koalition entsprechend, im Jahre 2005 kommen. Der Kollege Schmidt von der CDU/CSU ist darauf schon kritisch eingegangen.

   Auch das bestätigt unseren Eindruck, dass Sie die Bundeswehr in Krisengebiete dieser Welt schicken, ohne die Folgen zu bedenken. Das ist gefährlicher Aktionismus.

(Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wissen Sie eigentlich, welche Rolle die Vereinten Nationen spielen?)

Dies wird besonders deutlich, wenn man sich die fehlende Strategie der Bundesregierung in Afghanistan anschaut: Niemand weiß, wo sich Bin Laden aufhält, die alten Herrschaftsstrukturen in den Regionen sind bestehen geblieben, der Drogenhandel blüht und die Bundeswehr schaut weg. Afghanistan lebt nicht in Frieden und ist weit von einer funktionierenden Demokratie entfernt.

   Die Bundesrepublik läuft Gefahr, in Afghanistan in einen lang andauernden, blutigen und extrem kostspieligen Konflikt verwickelt zu werden.

(Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kennen Sie die Realität der drei Jahre des Einsatzes? – Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Wo bleibt Ihre humanitäre Einstellung?)

Der derzeitige Präsident der USA, Herr Bush, hat bereits erklärt, dass er kein Ende des Krieges den Terrorismus sieht. Ich glaube, in diesem Punkt stimmt er mit Bin Laden überein. Herr Verteidigungsminister Struck erklärt gern, dass die deutschen Interessen am Hindukusch verteidigt werden müssen. Aber warum definiert niemand öffentlich, worin die deutschen Interessen dort bestehen? Was Afghanistan betrifft, so sehe ich vor allem die Interessen der USA und der afghanischen Warlords und Drogenschmuggler.

   Die Bundesregierung glaubt augenscheinlich, sich bei den USA für die Nichtbeteiligung am Irakkrieg rechtfertigen zu müssen, und verkauft den USA den Afghanistaneinsatz als Kompensationsgeschäft. Wir müssen uns aber nicht für die Nichtteilnahme am Irakkrieg bei den USA entschuldigen oder rechtfertigen. Der Krieg gegen den Irak ist illegal, wie Kofi Annan festgestellt hat. Also bedarf es auch keiner Kompensationsgeschäfte.

Ich will noch zu einem anderen Punkt Ihres Antrags kommen. Sie fordern in Punkt 5, dass Standortentscheidungen nach militärischen und betriebswirtschaftlichen Kriterien getroffen werden. In diesem Zusammenhang habe ich durchaus Fragen an die Grünen: Müssten nicht auch ökologische Kriterien bei Standortentscheidungen eine Rolle spielen? Wie stellen Sie sich einen transparenten Entscheidungsprozess unter Einbeziehung der Betroffenen vor?

   An dieser Stelle erinnere ich an das Bombodrom bei Wittstock. Die Grünen und die lokale SPD haben sich vor den Wahlen in Brandenburg gegen das Bombodrom ausgesprochen. Jetzt sind die Wahlen vorbei und die Bürger fragen sich natürlich, was aus dem Engagement der Politiker geworden ist. Für die PDS kann ich allen Bürgern, die sich für eine freie Heide engagieren, versichern, dass wir uns nach der Wahl genauso wie vor der Wahl gemeinsam mit den Bürgern gegen das Bombodrom einsetzen werden.

(Reinhold Robbe (SPD): Das hilft aber nicht!)

   Abschließend will ich die Position der PDS zusammenfassen: Erstens. Wir lehnen weltweite Einsätze der Bundeswehr ab.

(Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Auch Einsätze der Vereinten Nationen?)

Die Bundeswehr ist für die Landesverteidigung da; wir halten auch gar nichts von Bundeswehreinsätzen im Inneren.

   Zweitens. Die Zahl der Berufs- und Zeitsoldaten kann auf 100 000 reduziert werden.

   Drittens. Wir sind gegen jede Art von Zwangsdiensten und dazu gehören Wehrpflicht und Zivildienst.

   Viertens. Bei Standortschließungen muss die Bundesregierung ein Konversionsprogramm für die betroffenen Regionen vorlegen und es aus dem Rüstungsetat finanzieren.

(Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Erde ist eine Scheibe!)

   Fünftens. Natürlich fordern wir den Verzicht auf Rüstungsprojekte, die weltweiten Militäreinsätzen dienen, bzw. deren Abbruch.

   Meine Damen und Herren, das wäre die richtige Richtung für die Transformation der Bundeswehr.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhold Robbe.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Reinhold Robbe (SPD):

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im nächsten Jahr kann unsere Bundeswehr auf ihre 50-jährige Geschichte – ich füge hinzu: auf eine 50-jährige erfolgreiche Geschichte – zurückblicken. Im nächsten Jahr wird Anlass für eine umfassende Würdigung all dessen sein, was mit unserer Armee verbunden wird. Vor allen Dingen werden wir im nächsten Jahr viele und hoffentlich auch schöne Gelegenheiten haben, unseren Soldatinnen und Soldaten Dank zu sagen.

   Es führte an dieser Stelle ein wenig zu weit und würde unserer Debatte heute auch nicht ganz gerecht, wollte man das vorwegnehmen, was im nächsten Jahr in vielfältiger und interessanter Weise stattfinden wird. Hierbei richten sich an den Deutschen Bundestag – damit meine ich ausdrücklich nicht nur den Fachausschuss, also den Verteidigungsausschuss – recht hohe Erwartungen. Ich glaube, ich spreche im Namen aller, wenn ich sage, dass unsere Soldatinnen und Soldaten es wirklich verdient haben, wenn im 50. Jahr ihres Bestehens sehr deutlich wird, dass unsere Bundeswehr den besonderen Anspruch hat, eine Parlamentsarmee zu sein.

   Für uns als Gesetzgeber und für die Bundesregierung bietet sich eine hervorragende Möglichkeit, das Jubiläum zu nutzen, um einerseits den verantwortungsvollen Auftrag der Bundeswehr herauszustellen und um andererseits eine breite Diskussion in unserem Lande mit dem Ziel anzuregen, die Sicherheits- und Verteidigungspolitik als gesamtstaatliche und gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu verstehen.

   Meine Damen und Herren, es ist kein Geheimnis, dass die Sicherheitspolitik und damit auch unsere Bundeswehr in der deutschen Öffentlichkeit leider nicht so stark wahrgenommen wird, wie dies eigentlich wünschenswert wäre. Dieses mangelnde Interesse ist aber kein deutsches Phänomen, sondern überall in Europa in unterschiedlichen Ausprägungen anzutreffen.

   Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Es liegt nun einmal in der Natur des Menschen, dass er sich lieber mit weniger komplizierten Dingen beschäftigt und deshalb entsprechend geringes Interesse für Dinge zeigt, die nicht so einfach zu durchdringen sind. Die breiten Bevölkerungsschichten verlangen zwar von den politisch Verantwortlichen eine allumfassende Sicherheit, wobei nicht groß zwischen innerer und äußerer Sicherheit, zwischen Bundeswehr und Polizei oder zwischen Bundesgrenzschutz und Verfassungsschutz unterschieden wird. Richtig intensiv möchte sich damit aber kaum jemand in unserer Gesellschaft beschäftigen.

   Andererseits ist das Vertrauen in unsere Sicherheitsorgane außerordentlich groß, was uns alle zusammen vor dem Hintergrund der geschichtlichen Erfahrungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch stolz machen darf.

Derzeit befinden wir uns national und international in einer Phase des Umbruchs. Die Sicherheitslage in der Welt hat sich im Laufe der zurückliegenden Jahre vollkommen verändert. Der Kalte Krieg ist seit 15 Jahren Geschichte. Seit etwa zehn Jahren steht die Bundeswehr praktisch überall in der Welt in der Verantwortung. Seit der ersten echten Auslandsmission im Jahre 1995 haben wir uns daran gewöhnt, dass Verteidigungspolitik heute anders als zu jenen Zeiten buchstabiert wird, in denen unser Land ausschließlich auf die Sicherung der nationalen Außengrenzen fixiert war.

   Der Umbruch in der Sicherheitspolitik macht sich aber natürlich auch am Datum 11. September 2001 fest. Der internationale Terror zwingt uns alle zum Umdenken. Selbst bei Clausewitz finden wir keine Antwort auf die Frage, wie der Staat auf die Herausforderungen der asymmetrischen Bedrohungen reagieren soll. Es gibt keine Patentlösungen für die komplizierten Fragestellungen mit Blick auf Selbstmordattentate, auf Geiselnahmen oder auf entführte Flugzeuge durch Terroristen.

   Die freie westliche Welt hat jedoch auf diese neuen Herausforderungen politisch und militärisch reagiert. Die UNO als wichtigste Trägerin des Völkerrechts hat nie ihre Bedeutung verloren. Daran hat auch die Entwicklung des Irakkrieges nichts geändert. Die NATO und alle Mitglieder haben mit der notwendigen Transformation begonnen, die dazu dient, sowohl die NATO insgesamt als auch die Bündnispartner in die Lage zu versetzen, mit den neuen Herausforderungen besser als in der Vergangenheit klarzukommen.

   Wenn wir uns anschauen, mit welchen Problemen wir es aktuell in der Welt zu tun haben, so werden unsere eigenen sicherheitspolitischen Themen, die naturgemäß von den Bundeswehrauslandseinsätzen bestimmt sind, vom Irakkonflikt, von der äußerst labilen Lage im Kaukasus, dem nach wie vor ungelösten Nahostkonflikt und zahlreichen Krisenherden von Afrika bis Südostasien überschattet.

   Diese zugegebenermaßen verkürzte Situationsbeschreibung wird von einem Thema begleitet, das alle Politikfelder belastet, nämlich von der Tatsache, dass für die vielen Notwendigkeiten zu wenig Geld zur Verfügung steht. Auch dies ist natürlich kein typisch deutsches Problem, macht sich jedoch vor dem Hintergrund unserer besonderen Situation – ich nenne das Stichwort Aufbau Ost – besonders stark bemerkbar. Aus dieser Situationsbeschreibung ergeben sich meines Erachtens folgende Konklusionen:

   Erstens. Gerade weil sich überhaupt nicht abzuzeichnen scheint, dass sich die aufgrund unterschiedlichster Ursachen labile Sicherheitslage in absehbarer Zeit positiv verändert, brauchen wir mehr Anteilnahme, mehr Interesse und mehr Bereitschaft für die brennenden Fragen der Sicherheitspolitik. Dies gilt ganz allgemein für unsere Gesellschaft. Dies gilt im Übrigen aber in besonderer Weise für unser Parlament. Unsere im Prinzip vernünftige und bewährte Form der Fachbereiche und Expertenfelder darf nicht dazu führen, dass die Sicherheitspolitik ausschließlich jenen überlassen wird, die im Verteidigungsausschuss oder im Auswärtigen Ausschuss tätig sind. Nur wenn es gelingt, der Sicherheitspolitik einen höheren Stellenwert einzuräumen, werden wir für die Notwendigkeiten Akzeptanz finden, und zwar sowohl in politischer als auch in finanzieller Hinsicht. Deshalb sind wir allesamt gut beraten, das 50-jährige Jubiläum der Bundeswehr für eine breit angelegte öffentliche Diskussion innerhalb und außerhalb der politischen Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, Universitäten und Schulen zu nutzen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Zweitens. Innerhalb des Parlaments und der im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen muss nach meiner Auffassung stärker als bisher über die Frage nachgedacht werden, wie wir es schaffen, Sicherheitspolitik nicht isoliert, sondern eingebunden in die vielen sonstigen Politikfelder zu behandeln. Spätestens seit unserem Engagement auf dem Balkan und in Afghanistan ist jedem klar geworden, dass Sicherheit und Verteidigung auf keinen Fall losgelöst von der Außenpolitik, der Entwicklungshilfe, der Innenpolitik und weiteren Politikschwerpunkten betrachtet werden können.

   Meine Damen und Herren, auch wenn ich nicht unbedingt denen Recht gebe, die für eine Zusammenlegung beispielsweise der Bundestagsausschüsse für Verteidigung, Auswärtiges und wirtschaftliche Zusammenarbeit plädieren, so halte ich eine wesentlich stärkere Kohärenz auf diesem Feld für absolut notwendig.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Die komplexen und umfänglichen Fragestellungen und Notwendigkeiten in der Sicherheitspolitik sollten nicht von formalen Argumenten oder von Geschäftsordnungsfragen blockiert werden.

   Drittens. Wer mit mir hinsichtlich einer besseren Verankerung der Sicherheitspolitik im öffentlichen Bewusstsein übereinstimmen kann, kann nach meiner festen und ehrlich gemeinten Überzeugung nicht für die Abschaffung der Wehrpflicht sein.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Unabhängig von der Tatsache, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass eine Berufsarmee zurzeit gar nicht finanzierbar wäre, trägt die Wehrpflicht ganz wesentlich dazu bei, den nachfolgenden Generationen ein Bewusstsein für den Auftrag der Bundeswehr und damit gleichzeitig auch für die sich ständig verändernden politischen Vorgaben und Rahmenbedingungen zu vermitteln.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)

   Vor diesem Hintergrund mutet es schon ein wenig sonderbar an – wenn ich das sagen darf –, wenn gerade eine so große und wichtige Institution wie der Bundesverband der Deutschen Industrie in einer Denkschrift die Abschaffung der Wehrpflicht fordert – in der, wie ich finde, naiven Erwartungshaltung, dass bei einer Abschaffung mehr Finanzmittel für den investiven Bereich zur Verfügung stehen würden.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Zeit.

Reinhold Robbe (SPD):

Gerne. Ich komme sofort zum Ende, Frau Präsidentin.

   Es wäre aus meiner Sicht ein gutes Signal – das sage ich besonders an die Adresse der Kritiker der Wehrpflicht in allen Fraktionen –, wenn im Jubiläumsjahr der Bundeswehr das eigentliche Markenzeichen unserer Bundeswehr, nämlich die Wehrpflicht, langfristig festgeschrieben werden könnte.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner ist der Kollege Ernst-Reinhard Beck, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Robbe, ich darf am Anfang sagen, dass ich persönlich den von Ihnen genannten drei Punkten, in denen sehr präzise eine Position zusammengefasst wird, inhaltlich voll zustimme und Sie auch dabei unterstütze.

   Lieber Kollege Erler, Sie haben am Beginn Ihrer Rede davor gewarnt – und es auch ein bisschen angeprangert –, den Soldatinnen und Soldaten einen wohlfeilen Dank abzustatten. Ich gebe Ihnen darin Recht. Was unsere Soldatinnen und Soldaten brauchen, sind nicht schöne Worte, sondern Respekt und Wertschätzung für ihre wichtige und oft auch gefährliche Arbeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Zu dieser Arbeit – der Kollege Nachtwei ist gerade nicht im Saal; er hat es vorhin bemerkenswerterweise angesprochen –, zum Wesen des Soldaten zählt auch die Fähigkeit zum Kampf. Gerade in kritischen Situationen, wie wir sie im Kosovo hatten, verdienen sie unseren Rückhalt. Dies scheint mir das eigentliche Problem zu sein, nämlich dass die Bundeswehr nicht genügend Rückhalt in dieser Bundesregierung findet. Nicht nur bei den Verteidigungspolitischen Richtlinien lässt das Kabinett den Bundesminister der Verteidigung allein, sondern auch bei den riskanten Auslandseinsätzen unserer Soldaten fehlt vielfach der Rückhalt durch den Außenminister, durch die Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Von der vor allem!)

Vom Finanzminister und vom Bundeskanzler möchte ich erst gar nicht reden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Streitkräfte sind Instrumente der Politik und für alle Mängel, die dieses Instrument im Kosovo gezeigt hat, trägt die politische Führung die Verantwortung. Ich darf hier vielleicht noch einmal die „Tagesschau“ vom 22. September in Erinnerung rufen: Da war von gravierenden Mängeln im Kosovo die Rede. So hätten Krisenpläne für eine solche Situation gefehlt; die Soldaten seien unsicher in der Anwendung der Schusswaffen gewesen, ihre Englischkenntnisse ungenügend und ihre Schutzausrüstung unzureichend. Ich wiederhole: Dafür trägt nicht der Soldat, dafür trägt nicht die Bundeswehr, dafür trägt die politische Führung die Verantwortung. Wenn Kritik angebracht ist, dann ist sie zu kritisieren und nicht die Soldaten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Sehr geehrter Herr Minister Struck, Sie schulden uns noch, wie ich meine, eine Antwort auf die Frage:

(Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Ja!)

Wie stark muss das Kontingent für die PRTs in Afghanistan sein?

Ich zitiere eine Aussage von Ihnen: Der Minister wisse zwar, dass es zurzeit keine Mehrheit gebe, um die Zahl der deutschen Soldaten aufzustocken.

(Günther Friedrich Nolting (FDP): Da kann er uns nicht gemeint haben!)

– Richtig.

Man muss hier doch fragen: Wie viele Soldaten brauchen Sie? Reichen die 450 oder brauchen Sie mehr, Herr Minister? Wenn es so ist, dann müssen Sie es dem Deutschen Bundestag vorher sagen. Folgende Frage ist ebenfalls wichtig: Was sollen die PRTs machen? Davon hängt es ab. Nachdem sie schon eine ganze Reihe von Monaten im Einsatz sind, kommt diese Frage etwas spät. Dies kann doch nicht der Punkt sein. Es kann ebenfalls nicht angehen, dass man sagt: Wir würden gern mehr tun, aber dieses Parlament gibt uns nicht die nötigen Mittel. Herr Minister, ich fordere Sie auf: Sagen Sie uns, was Sie brauchen! Diese Frage muss beantwortet sein, bevor wir in verantwortlicher Weise über die Verlängerung des Mandats entscheiden können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Notwendige Strukturveränderungen sind immer ein schmerzlicher Prozess. Deshalb begleiten wir die Transformation mit großer Anteilnahme, aber auch mit Kritik. Ich stehe nicht an zu sagen, dass in den Verteidigungspolitischen Richtlinien nicht viel Richtiges steht und dass von der Bundesregierung und vom Bundesminister der Verteidigung nicht viel Notwendiges in Angriff genommen wird. Ich konzentriere mich auf zwei Punkte, bei denen ich tatsächlich erheblichen Klärungsbedarf sehe und wo ich meine, dass die Weichen falsch gestellt sind.

   Sie haben zu Recht gesagt, dass die eigentlichen Fragen lauten: Wie wichtig und notwendig ist die Vorsorge für den Heimatschutz? Tun wir wirklich das Notwendige für den Schutz der Bürgerinnen und Bürger? Wie sieht die Sicherheitsvorsorge unter den Bedingungen eines erweiterten Sicherheitsbegriffs aus? Sind wir wirklich in ausreichendem Maße auf potenzielle Gefahren vorbereitet?

   Ich meine, dass wir die Weichen in zwei Bereichen falsch gestellt haben. Der erste Bereich betrifft die territorialen Wehrstrukturen. Hier hat Kollege Schmidt völlig Recht: Die VBKs sind nicht abzuschaffen, sondern als Zentren für Heimatschutz und Landesverteidigung auszubauen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Den zweiten Bereich habe ich schon mehrfach angesprochen: Ich warne davor, alle nicht aktiven Truppenteile ersatzlos aufzulösen. Wenn 220 000 Reservisten den Bescheid bekommen, dass sie nicht mehr gebraucht werden, ist dies ein fatales Signal für die Wehrpflicht. Das sollte man bedenken.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Wie ich sehe, ist meine Redezeit bereits fortgeschritten. Daher komme ich zum Schluss. Die künftige Bedeutung der Reservisten allein am operationellen und quantifizierbaren Auftrag zu messen greift zu kurz. Überhaupt meine ich, dass von der politischen Führung überlegt werden sollte, ob man den Aspekten der Verteidigungsbereitschaft und der Motivation genügend Rechnung trägt. Die Erfahrungen und das Engagement von Soldaten lassen sich nicht mittels der Expertisen von Unternehmensberatungen darstellen. Hier geht es, wie auch bei der Wehrpflicht, um nicht weniger als die Verankerung der Streitkräfte in unserer Gesellschaft.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner ist der Kollege Hans-Peter Bartels, SPD-Fraktion.

Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Transformation der Bundeswehr wird – das ist heute schon mehrfach gesagt worden – vieles in unseren Streitkräften sehr grundsätzlich ändern. Wir machen 15 Jahre nach der Implosion der Bedrohung aus dem Osten Ernst damit, die Bundeswehr in einem permanenten Prozess auf ihre neuen Aufgaben auszurichten. Denn die neuen Bedrohungen und Aufgaben wechseln heute häufiger als die Generalsekretäre der KPdSU in der Zeit des Kalten Krieges.

   Während bis zum Ende der Blockkonfrontation das am wenigsten wahrscheinliche Szenario ein tatsächlicher Einsatz der Bundeswehr war, sind Einsätze weit außerhalb unserer Grenzen heutzutage ständige Realität, ja beinahe Normalität. Die Antwort auf diese neue Wirklichkeit ist die Transformation der Bundeswehr. Alle bisher gültigen Strukturen und Konzepte kommen auf den Prüfstand. Sie müssen sich daran messen lassen, welchen Beitrag sie zur Aufgabenerfüllung der Bundeswehr leisten. Darüber ist heute Morgen schon gesprochen worden.

Lassen Sie mich auf einen Aspekt der aktuellen Diskussion eingehen, der besonders große öffentliche Aufmerksamkeit verdient: die Zukunft der Wehrpflicht in diesem veränderten Umfeld. Einige Stimmen in diesem Hause sind immer sehr schnell mit ihrer Forderung nach dem Ende der Wehrpflicht zur Stelle. Sie passe nicht mehr in unsere Zeit, hören wir dann. Die Argumente wechseln: Einmal wird die angeblich mangelnde Wehrgerechtigkeit beklagt, dann heißt es wieder, die Wehrpflicht sei sicherheitspolitisch nicht mehr begründbar. Manchmal wird auch empirisch argumentiert: Die große Mehrheit der NATO-Mitgliedstaaten – so die FDP in einem ihrer Anträge – habe die Wehrpflicht ausgesetzt oder plane, dies zu tun. Deshalb müssten wir nun ebenso handeln.

   Mich überzeugt keine dieser Begründungen. Im Gegenteil: An der Wehrpflicht festzuhalten, wie der Verteidigungsminister das will, ist richtig. Ich glaube, dass die Entscheidung für die Wehrpflicht, solange wir eigene, deutsche Streitkräfte unterhalten, solange es noch keine Europaarmee gibt, richtig bleibt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Streitkräfte ohne Wehrpflichtige wären eine Armee, die nach und nach nicht mehr zur Alltagserfahrung der Menschen in Deutschland gehören würde. Das wäre eine Bundeswehr, die viele dann nur noch aus der „Tagesschau“ kennen. Man soll die Zahlen nicht gering schätzen: 8 Millionen junge Männer haben in den vergangenen fünf Jahrzehnten in der Bundeswehr gedient. Im Jahr 2003 haben 120 000 Rekruten – W9er, FWDLer, Zeit- und Berufssoldaten – ihren Dienst in der Bundeswehr angetreten und etwa genauso viele, 120 000, sind ausgeschieden. Diese Fluktuation, dieser ständige Austausch ist eines der wichtigsten Bindemittel zwischen Bundeswehr und Gesellschaft. Das wollen wir erhalten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

   Die Wehrpflicht ist aber auch deshalb so wertvoll, weil wir nicht wollen, dass die Bundeswehr zu einem beliebigen Dienstleister in Sachen Sicherheit wird. Gerade in Zeiten, in denen unsere Soldaten in Einsätzen weit außerhalb unserer Grenzen ihren Dienst tun, ist es wichtig, dass das Militärische dem Zivilen nicht fremd wird. Zusammen mit dem Prinzip der Parlamentsarmee gehört die Wehrpflicht zu den Sicherungsmechanismen, die uns davor bewahren, das Militär leichtfertig einzusetzen.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke?

Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):

Aber gerne.

Ina Lenke (FDP):

Herr Kollege, Sie verteidigen so vehement die Wehrpflicht. Ich möchte gern Ihre Definition von Einberufungsgerechtigkeit hören. Wir haben ja keine Wehrgerechtigkeit mehr. Wir haben eine eklatante Wehrungerechtigkeit, weil fast jeder Zweite nicht mehr zum Wehrdienst oder Zivildienst einberufen wird. Das heißt, die einen jungen Leute dienen und haben in unserer Republik Nachteile, andere, die sich davon freimachen können und wegen Ihrer niedrigschwelligen Einberufungskriterien nicht gezogen werden, haben zum Beispiel die Möglichkeit, ein Jahr eher in den Beruf zu gehen.

   Sie haben von Einberufungsgerechtigkeit gesprochen. Meinen Sie, dass jetzt, im Jahr 2004, Einberufungsgerechtigkeit gegeben ist? Diese Frage möchte ich gerne von Ihnen beantwortet haben.

Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):

Frau Kollegin, um auf den Mythos Wehrungerechtigkeit einzugehen: 100 Prozent haben wir nie gehabt, auch in Zeiten des Kalten Krieges nicht. Ich habe es gesagt: Wir haben im Jahr 2003 120 000 Wehrpflichtige zur Bundeswehr eingezogen; das sind die Zahlen, die uns vorliegen. Darüber hinaus leisten 20 000 bis 30 000 in den Bereichen Bundesgrenzschutz, Polizei und Katastrophenschutz ihren Dienst für die Sicherheit unseres Landes und werden deshalb nicht zur Bundeswehr einberufen. Darüber hinaus haben wir die Kriegsdienstverweigerer, die Zivildienst leisten. Weit über die Hälfte der Angehörigen eines Jahrgangs leistet ihren Dienst – nicht nur Wehrdienst – für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und darüber hinaus. Ich finde das gut. Es enthebt uns aber nicht der Verpflichtung, uns vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung, aber auch geringerer Personalstärke der Bundeswehr Gedanken über die Ausgestaltung der Wehrpflicht zu machen und sie anzupassen. Aber wir haben heute nicht das Problem einer eklatanten Wehrungerechtigkeit. Wenn Sie die Zahlen zur Kenntnis nehmen, die das Verteidigungsministerium veröffentlicht, werden Sie sehen: Weit über die Hälfte tut ihren Dienst.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

   Ich will zu einem anderen Argument, das von Gegnern der Wehrpflicht verwendet wird, Stellung nehmen. Das ist die sicherheitspolitische Legitimation, die zu Zeiten des Kalten Krieges da war und heute angeblich fehlt. Seit die Militärblöcke entfallen sind, so heißt es, gebe es keine Legitimation mehr für die Wehrpflicht. Da frage ich mich: Für die Bundeswehr auch nicht mehr?

(Günther Friedrich Nolting (FDP): Das ist doch dummes Zeug! Quatsch!)

– Ich sehe das ganz anders. Herr Nolting, ich gebe Ihnen zu diesem „Quatsch“ jetzt einmal eine Erklärung. Ich hoffe, Sie können sie nachvollziehen.

(Günther Friedrich Nolting (FDP): Wer hat das aufgeschrieben?)

   Nach Art. 87 a unseres Grundgesetzes stellt der Bund Streitkräfte auf. Sie dienen der Verteidigung und jenen Zwecken, die das Grundgesetz ausdrücklich zulässt. Diese Zwecke sind in Art. 24 unter anderem beschrieben. Ich zitiere:

Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen;

Gemeinsame Sicherheit, das ist nicht Landesverteidigung allein. Ein solches Bündnis muss dazu dienen,

eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbei[zu]führen und [zu] sichern.

Wir sind Mitglied solcher Bündnisse. Sie heißen UNO, NATO und EU. Auf Beschluss dieses Parlaments stellen wir ihnen zur Wahrung des Friedens deutsche Streitkräfte zur Verfügung. Das ist zwar etwas anderes als Landesverteidigung, es ist aber einer der verfassungsmäßigen Daseinszwecke der Bundeswehr.

(Günther Friedrich Nolting (FDP): Das stellt doch keiner infrage!)

Das wird oft vergessen oder unterschlagen. Deshalb sprechen wir heute im Übrigen von der Transformation der Bundeswehr. Wenn es nur um Landesverteidigung ginge, gäbe es nicht viel zu transformieren.

   Die Bundeswehr ist laut Grundgesetz ein Instrument zur Erfüllung unserer Verpflichtung, dazu beizutragen, den Frieden in der Welt zu sichern oder wiederherzustellen. So ist es selbst in unserem Grundgesetz vorgesehen.

   Um diese Bundeswehr optimal aufzustellen, haben wir nach Art. 12 a des Grundgesetzes in Deutschland das Instrument der allgemeinen Wehrpflicht. Wir müssen nicht krampfhaft nach originellen Legitimationen für die Wehrpflicht suchen.

(Günther Friedrich Nolting (FDP): Sie sind gerade dabei!)

Hier ist sie. Sie steht im Grundgesetz. Dies ist die wichtigste sicherheitspolitische Legitimation der Wehrpflicht heute: Unser Beitrag zur gemeinsamen Sicherheit, der wir uns verpflichtet haben und die wir mitgestalten.

(Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, dafür müssen wir übrigens nicht extra 25 neue Heimatschutzbrigaden aufstellen, damit der kritische Bürger sagt: Oh, Heimatschutz, das hört sich nach Landesverteidigung an, also bleibt es bei der Wehrpflicht. Für mich als Norddeutschen hört sich das eher ein bisschen nach bayerischem Tüdelkram an. Unsere Verfassungsprinzipien, unsere Idee von einer friedlichen Welt, unser Recht, ohne Terror zu leben, wird nicht nur in Hindelang verteidigt, sondern – wo Struck Recht hat, hat er Recht – auch am Hindukusch. So ist die sicherheitspolitische Lage heute.

   In diesem Zusammenhang lohnt sich ein Blick auf die Lage in jenen NATO-Staaten, deren Abschaffung der Wehrpflicht uns ein Vorbild sein soll. Weder gewinnen die Streitkräfte in diesen Ländern den besseren Nachwuchs – eher das Gegenteil ist der Fall – noch sind die dortigen Berufsarmeen kostengünstiger.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck?

Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):

Ja.

Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU):

Lieber Herr Kollege Bartels, Sie haben gerade von der Aufstellung von Heimatschutzbrigaden gesprochen. Teilen Sie meine Auffassung, dass die vorhandenen Heimatschutzbataillone – möglicherweise umgestaltet für neue Aufgaben – diese Aufgabe auch wahrnehmen könnten?

Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):

Sie meinen die Reservebataillone?

Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU):

Ich meine die gekaderten Heimatschutzbataillone, die nicht aktiven Truppenteile, plus 200 andere nicht aktive Truppenteile der Bundeswehr.

Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):

Darüber wird man reden können, wenn es um die Reservistenkonzeption der Bundeswehr geht. Ich bin jedenfalls dagegen, neue Einheiten aufzustellen, um damit die Wehrpflicht zu rechtfertigen, die wir selbstverständlich auch ganz anders rechtfertigen können, nämlich mit den heutigen Aufgaben der Bundeswehr. Dafür brauchen wir keine neuen aktiven Truppenteile.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der SPD: Es gibt bessere Aufgaben für die Reservisten!)

   Das Argument, andere NATO-Staaten schaffen auch die Wehrpflicht ab und sind damit ein Vorbild, kann für uns, wenn wir genau hinschauen, nicht gelten. Das ist nicht kostengünstiger und nicht besser. Die Wahrheit ist, dass selbst im Umfang reduzierte Berufsarmeen höhere Kosten verursachen, etwa durch erheblich höhere Investitionen in Nachwuchsgewinnung und Personalbindung.

   Schwierigkeiten gibt es auch bei der Gewinnung von Mannschaften und Unteroffizieren. Weil die Haushaltsmöglichkeiten, junge Menschen über finanzielle Anreize zum Dienst in der Armee zu bewegen, auch bei unseren Nachbarn nicht unbegrenzt sind, kommt oft die zweite Option zum Zuge, um die Reihen zu füllen: die Senkung der Einstellungskriterien. Das ist nicht gerade der Königsweg zur Professionalisierung der Streitkräfte.

   Im Übrigen sind die FWDLer, die freiwillig länger dienenden Wehrpflichtigen, ganz professionell an Auslandseinsätzen der Bundeswehr beteiligt. Sie haben ihren Anteil am guten Ruf unserer Soldaten in den Einsatzgebieten.

   Die Kontinuität liegt im Wandel. Die Wehrpflicht ist kein Dinosaurier aus den Zeiten des Ost-West-Konflikts. Sie bleibt notwendig und wird im Sinne des Transformationsgedankens ständig den neuen Erfordernissen angepasst. Wir unterstützen den Bundesminister der Verteidigung auf diesem Weg.

   Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD – Günther Friedrich Nolting (FDP): Keine Drohungen!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Herrmann, CDU/CSU-Fraktion.

Jürgen Herrmann (CDU/CSU):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Am heutigen Tag debattieren wir über verteidigungspolitische Themen, die für die zukünftige Gestaltung der Bundeswehr und deren Auftrag von elementarer Bedeutung sind.

Festzustellen ist, dass sich die Situation in den zurückliegenden Jahren für die betroffenen Soldatinnen und Soldaten, aber auch für die „Organisation Bundeswehr“ vollkommen verändert hat. Nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes, der Grenzöffnung und der Wiedervereinigung erlebte das starre System der Bundeswehr, früher zielgerichtet auf den ausschließlichen Auftrag der Landesverteidigung, einen erheblichen Wandel. Wie schwierig dieser Umbruch war, zeigt die Debatte über die Vorkommnisse bei den Märzunruhen im Kosovo oder die Diskussion um eine Mandatsverlängerung in Afghanistan. Aber gerade die heutige Diskussion über Fehler und Defizite ist sicherlich Anlass genug, auch über die notwendigen Veränderungen und Korrekturen im Inland zu sprechen.

(Beifall des Abg. Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU))

   Um nochmals auf die veränderten Vorzeichen und Anforderungen nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes zurückzukommen, muss ich feststellen, dass viele zum damaligen oder späteren Zeitpunkt getroffene Entscheidungen richtig waren, aus heutiger Sicht jedoch fatal sind. Der Abbau von sicherheitsrelevanten Strukturen beim Bevölkerungsschutz, angefangen von der Demontage von Sirenen bis hin zur deutlichen Verringerung von Dienstposten im Bereich der Bundeswehr, war Folge der sich radikal verändernden Sicherheitslage. Niemand konnte sich damals vorstellen, welche Aufgaben, Gefahren und Herausforderungen auf die internationale Staatengemeinschaft und somit auf die Bevölkerung in Deutschland zukommen würden.

   Ein Agendaschwerpunkt internationaler sicherheits- und verteidigungspolitischer Aufgaben stellt sicherlich die Bekämpfung des internationalen Terrorismus sowie die Stabilisierung der so genannten Failed States dar. So richtig es ist, Sicherheitskrisen weltweit präventiv zu bekämpfen – von der Entwicklungshilfe bis zum UNO-Mandat –, so wichtig ist es, die eigentliche verfassungsrechtliche Grundlage der Bundeswehreinsätze – Landesverteidigung – nicht aus den Augen zu verlieren und sie anlassbezogen den heutigen Erfordernissen anzupassen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Terroranschläge von New York, Washington, Istanbul, Madrid und Beslan mahnen uns, heute zu handeln, damit wir weitere Terroranschläge verhindern können und bei der Bewältigung möglicher Anschläge zumindest ausreichend gewappnet sind.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege, ich darf Sie einen Augenblick unterbrechen.

   Ich möchte den lieben Kolleginnen und Kollegen, die noch Gespräche zu führen haben, raten, dies außerhalb des Plenarsaales in der Lobby zu tun. Die beiden letzten Redner haben noch zehn Minuten Redezeit und es ist unfair, wenn man sie nicht mehr verstehen kann.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Vielen Dank.

Jürgen Herrmann (CDU/CSU):

Herzlichen Dank, Frau Präsidentin.

   Wir dürfen somit nicht auf die Erhaltung sicherheitsrelevanter, umfassender Strukturen in der Heimat verzichten, sondern müssen sie stärken und ausbauen. Leider zeichnet sich jedoch in diesem Bereich eine bedauerliche Entwicklung ab, die durch die Mitte Mai 2003 veröffentlichten Verteidigungspolitischen Richtlinien unterstützt wird. Zwar wird in dem Papier auch auf die Landesverteidigung Bezug genommen, jedoch werden andere Schwerpunkte deutlich herausgehoben und deren Umsetzung forciert.

   Wie ernst die Regierungskoalition das Thema Landesverteidigung nimmt, zeigt ein Beispiel im Zusammenhang mit der heute geführten Diskussion um die Wehrpflicht. Ich zitiere aus den Verteidigungspolitischen Richtlinien: „Aufgaben der Bundeswehr“ – hier wird auf die besondere Bedeutung der Wehrpflicht hingewiesen –:

Angesichts der sicherheitspolitischen und strategischen Lage können die hierfür erforderlichen zusätzlichen Kräfte zeitgerecht wieder aufgestellt werden. Diese Rekonstitution wird vor allem durch die allgemeine Wehrpflicht sichergestellt.

Fakt ist jedoch, dass die Zahl der Wehrpflichtigen bis zum Jahr 2010 weiter sinken soll. Ab dem 1. Januar 2005 werden die mit T3 gemusterten Männer nicht mehr zum Wehrdienst herangezogen.

   Dieser Weg, Herr Minister, ist falsch. Anstatt sich für eine gerechte und effiziente Wehrpflicht stark zu machen, höhlen Sie sie immer weiter aus, bis sie auf kaltem Wege abgeschafft wird. Herr Minister Struck, geben Sie den Gegnern der Wehrpflicht nicht noch mehr Argumente für die Abschaffung der Wehrpflicht, sondern stellen Sie sie auf ein starkes Fundament!

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Herr Gerhardt und Herr Nolting, aufgrund der zuvor genannten Gründe und der von Ihnen gemachten Aussagen zur Wehrpflicht habe ich Verständnis für einen wachsenden Diskussionsbedarf in dieser Frage. Aber – das muss deutlich gesagt werden – wer die Wehrpflicht aussetzen will, will sie abschaffen. Herr Gerhardt hat eben von den Grünen die Courage gefordert, heute dem FDP-Antrag zuzustimmen.

(Günther Friedrich Nolting (FDP): Sehr gut!)

Ich hätte mir von Ihnen die Courage gewünscht, dass Sie Ihre Ziele klar formulieren und nicht die Aussetzung der Wehrpflicht fordern, sondern ganz klar sagen, dass es Ihnen um die Abschaffung der Wehrpflicht geht.

(Günther Friedrich Nolting (FDP): Nein, darum geht es gar nicht!)

Bereits im März dieses Jahres haben wir als Union die Schaffung eines Organisationsbereiches „Landesverteidigung und Heimatschutz“ in der Bundeswehr und ein flächendeckendes Netz von bis zu 50 „Regionalbasen Heimatschutz“ gefordert. Diese Regionalbasen sollen miteinander vernetzt und jeweils bis zu 500 Soldatinnen und Soldaten stark sein. Dafür können bis zu 80 Prozent Wehrpflichtige vorgesehen werden, die von Zeit- und Berufssoldaten geführt werden. Die Verwendung von Reservisten soll im Falle eines Einsatzes einen umfassenden Aufwuchs ermöglichen. Die Ausbildung dieser Truppe soll katastrophenschutznah erfolgen. Die Soldaten sollen nach ihrer Grundausbildung besondere Fähigkeiten in Objektsicherung, Fernmeldewesen, ABC-Abwehr, Pionier- und Sanitätswesen erwerben.

   Eine flächendeckende Verteilung der Regionalbasen gewährleistet die schon angesprochene Zusammenarbeit mit zivilen Behörden des Katastrophenschutzes. Daher ist es besonders wichtig, die Diskussion über unsinnige Standortschließungen sowie die Auflösung von VBKs zu beenden; denn gerade der Verbleib der Bundeswehr in der Fläche erlaubt es, ohne Zeit- und Reibungsverluste eine erforderliche zivil-militärische Abstimmung vorzunehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss (SPD): Galt das auch vor 1998?)

– Ich habe Ihnen eben gesagt: Wir haben damals auch Fehler gemacht. Da gebe ich Ihnen vollkommen Recht.

(Jörg Tauss (SPD): Wenn Sie „auch“ streichen, ist das okay!)

   Bei den vorliegenden Vorschlägen geht es darum, unter Einbindung aller Kräfte ein Gesamtverteidigungs- und Heimatschutzkonzept zu verwirklichen, das den bestmöglichen Schutz unserer Bevölkerung gewährleistet. Hierbei sollen die Kräfte für innere und äußere Sicherheit eng miteinander verschränkt werden, die zivil-militärische Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Gemeinden gestärkt und Hilfsorganisationen wie THW und Rotes Kreuz stärker in den Katastrophenschutz eingebunden werden. Dafür brauchen wir Strukturen, Ansprechpartner und eine verlässliche Zeitplanung.

   Die Bundeswehr muss endlich in die Lage versetzt werden, Aufgaben jenseits der Kriminalitätsbekämpfung optimal wahrnehmen zu können, und zwar dort, wo Polizei, Technisches Hilfswerk und Rotes Kreuz allein nicht mehr weiterkommen. Die hierfür erforderliche Grundgesetzänderung würde von uns getragen und ist im Übrigen in diesem Jahr durch einen Gesetzentwurf unserer Fraktion zur Diskussion gestellt worden.

   Sicherheitspolitik muss sich an den aktuellen Ereignissen orientieren und nicht an Haushaltsfragen. Ich kann uns nur den guten Rat geben, jetzt vorzusorgen, damit wir in Zukunft Situationen, auf die wir keinen Einfluss haben, meistern können.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Letzter Redner ist der Kollege Hans Raidel, CDU/CSU-Fraktion.

Hans Raidel (CDU/CSU):

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir erleben zum wiederholten Male die Aufführung des Theaterstücks „Die heile Welt von Rot-Grün in der Außen- und Sicherheitspolitik“.

(Zuruf von der FDP: Leider!)

Das einzige, was hieran wirklich stimmt, ist, dass unsere Soldaten eine hervorragende Arbeit daheim und im Ausland leisten und wir ihnen dafür Dank schulden, den wir von der CDU/CSU-Fraktion auch heute wieder abstatten wollen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Alles andere ist Wunschdenken, ist Traum von Rot-Grün auf Wolke sieben und stimmt mit der Wirklichkeit nicht überein.

   Wer genau hinschaut und hinterfragt, stellt fest, dass es in der Truppe immer mehr Frust gibt, weil Defizite immer sichtbarer werden. Wo moderne Ausrüstung sein sollte, herrscht Mangel. Der Bundeswehrplan des Herrn Generalinspekteurs ist lesenswert. Er hat keine Perspektive, er hat keinen Optimismus, sondern er weist eher die Fassung eines Mängelberichts auf.

   Die Modernisierung der Ausrüstung klemmt an allen Ecken und Enden. Mühsam gestaltet sich die notwendige Transformation der Streitkräfte. Der dringend notwendige Heimatschutz wird zugunsten der Auslandseinsätze zurückgefahren und auch bei den Auslandseinsätzen stellen sich immer mehr Fragezeichen.

(Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Sehr wahr!)

Die Regierung übernimmt immer mehr internationale Aufträge, die die Bundeswehr erfüllen muss. Gleichzeitig schrumpft die Bundeswehr, die Armee wird verkleinert, Standorte werden aufgelöst, Rüstungsprogramme werden gestrichen oder gestreckt, die Reservisten an den Rand gedrängt und die Wehrpflicht infrage gestellt. Der Katalog ließe sich fortsetzen.

(Gernot Erler (SPD): Sie sollten auswandern!)

Wo aufgrund einer seriösen Sicherheitsanalyse eine stabile Armee geformt werden müsste, wird gestutzt. Wo Geld für Forschung, Entwicklung, Beschaffung und Rationalisierung gegeben werden müsste, um die Attraktivität der Bundeswehr zu erhöhen, wird gekürzt.

   Eines ist klar: Deutschland braucht eine tragende und klar definierte Sicherheitsstrategie dringender denn je. Wo stehen wir und wohin wollen wir? Unsere Interessen müssen eindeutig formuliert werden. Dazu müssen eigene Beiträge geleistet werden.

   Deutschland muss seinen politischen Willen zur Durchsetzung dieser Ziele unter Beweis stellen. Dafür brauchen wir eine verlässliche Finanzplanung für die Bundeswehr, eine Anschubfinanzierung für Investitionen und Planungssicherheit. Darüber hinaus ist ein integriertes Gesamtverteidigungskonzept notwendig, in dem auch die Aufgaben der Bundeswehr im Heimatschutz definiert werden.

   Unsere Bundeswehr hat Anspruch auf die bestmögliche Ausrüstung. Deshalb brauchen wir auch eine hervorragend aufgestellte wehrtechnische Industrie. Wir begrüßen in diesem Zusammenhang die Schaffung der Europäischen Rüstungsagentur, weil wir der Auffassung sind, dass Europa eigenständige und gemeinsame rüstungstechnologische und -industrielle Fähigkeiten braucht. Das setzt aber den politischen Willen zum Erhalt der Schlüsseltechnologien und Kernfähigkeiten der deutschen wehrtechnischen Industrie voraus. Hier bestehen meiner Meinung nach bei der Regierung Defizite.

   Wir müssen die Rüstungsindustrie wieder werthaltig machen, damit sie beispielsweise mit Frankreich oder England mithalten kann, sodass Fähigkeitslücken zwischen uns und der NATO bzw. den USA verkleinert werden können.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Wenn wir nicht umfassend investieren und rationalisieren, dann wird sich nichts ändern und wir werden die militärische Transformation nicht zum Erfolg führen können. Wenn wir nicht bereit sind, umzudenken und die notwendigen Mittel in einem mittel- und langfristigen Zeitrahmen zur Verfügung zu stellen, dann wird Deutschland in sicherheitspolitischer Hinsicht in die zweite Liga absteigen. Das können wir alle nicht wollen.

   Der von Rot-Grün eingeschlagene Weg ist nicht konsequent. Wort und Tat stimmen, wie so häufig, nicht überein.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Ich schließe die Aussprache.

   Tagesordnungspunkt 3 a: Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses auf Drucksache 15/3125 zu dem Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Durch Transformation die Bundeswehr zukunftsfähig gestalten“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/2656 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der CDU/CSU, der FDP und der beiden PDS-Abgeordneten angenommen.

   Tagesordnungspunkt 3 b: Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses auf Drucksache 15/3127 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr herstellen – Wehrpflicht aussetzen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/2662 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der CDU/CSU und der beiden PDS-Abgeordneten gegen die Stimmen der FDP angenommen.

   Tagesordnungspunkt 3 c: Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses auf Drucksache 15/3126 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Für eine moderne Bundeswehr als Pfeiler einer verlässlichen Sicherheits- und Verteidigungspolitik Deutschlands“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/2388 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und der beiden PDS-Abgeordneten gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen.

   Tagesordnungspunkt 3 d: Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses auf Drucksache 15/2963 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Wehrpflicht aussetzen“. Dazu liegen mir etliche Erklärungen nach § 31 der Geschäftsordnung vor, und zwar von der Kollegin Anna Lührmann, den Kollegen Alexander Bonde, Winfried Hermann, Hans-Josef Fell und weiteren Abgeordneten der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen sowie von der Kollegin Petra Pau und dem Kollegen Jens Spahn.

   Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/1357 abzulehnen. Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.

   Sind die Plätze an den Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung.

   Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimmkarte noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.

   Wir setzen die Abstimmungen fort. Deshalb bitte ich alle Kolleginnen und Kollegen, ihre Plätze einzunehmen. – Ich bitte insbesondere die Kolleginnen und Kollegen im Mittelgang, sich zu ihren Plätzen zu begeben. Sonst können wir nicht weiter abstimmen.

   Tagesordnungspunkt 3 e: Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses auf Drucksache 15/3263 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Für den Erhalt sicherheitsrelevanter Strukturen in der Bundeswehr“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/2824 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition und der FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen.

   Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Johannes Singhammer, Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

Arbeitsmarktstatistik aussagekräftig gestalten – Ausmaß der Unterbeschäftigung verdeutlichen

– Drucksache 15/3451 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)Rechtsausschuss

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Johannes Singhammer, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Johannes Singhammer (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eine korrekte Politik braucht korrekte Arbeitsmarktzahlen. Falsche Zahlen führen zwangsläufig zu einer fehlerhaften Politik und zu fehlerhaften Entscheidungen. Jedermann in Deutschland weiß,

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was ist mit den Frauen?)

dass es keine krummeren, keine falscheren, keine unsinnigeren, keine kritikwürdigeren Zahlen gibt als die in der Arbeitslosenstatistik, die uns derzeit vorliegt.

   Wir haben es mit folgender bizarrer Situation zu tun: Die Bundesregierung preist Monat für Monat Erfolge in der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Als Beleg führt sie diesen Zahlensalat an. Gleichzeitig sehen wir, dass sich die Menschen – vor allem in den neuen Bundesländern – Tag für Tag schwerer tun, einen Job zu bekommen. Nirgendwo wird so geschönt, geföhnt, frisiert, gefärbt wie bei der Arbeitsmarktstatistik. Das beste Beispiel sind die 80 000 Arbeitslosen, die zu Jahresbeginn in Trainingsmaßnahmen waren. Man hat sie im Januar mit einem Federstrich aus der Statistik entfernt. Allerdings ist keiner der 80 000 Menschen, die aus der Statistik entfernt worden sind, zu einem Job gekommen; das Statistikwunder hat nicht zu einem Jobwunder geführt.

   Diese Manipulationen, dieses Schönreden der Statistik hat Tradition: 400 000 arbeitsfähige ältere Arbeitslose über 58 Jahre sind nach § 428 SGB III aus der Statistik entfernt worden, weil man sagt: Na ja, die haben eh kaum noch Chancen, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Sie sind zwar aus der Statistik herausgenommen worden, aber sie haben keinen Job. 670 000 arbeitsfähige Rentner, die ihr Altersgeld nicht aufgrund des Erreichens der Altersgrenze, sondern wegen Arbeitslosigkeit bereits vor dem 65. Lebensjahr erhalten, sind ebenfalls aus der Statistik gestrichen worden. Einen Job hat von diesen Menschen kein Einziger gefunden.

   Von den Teilnehmern an längerfristigen Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik – Sie preisen sie immer an –, wie JUMP, JUMP plus, aber auch ABM, taucht niemand in der Statistik auf, obwohl es sich gerade bei ihnen um klassische Arbeitslose handelt. Warum sind solche Menschen denn in einer Fortbildungsmaßnahme? Gerade weil sie keine Arbeit haben. Dennoch tauchen sie in der Statistik nicht auf.

   Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung – wenn Sie uns schon nicht glauben, dann glauben Sie zumindest diesem von Ihnen eingesetzten Gremium – schätzt deshalb zu Recht, dass die verdeckte Arbeitslosigkeit bei rund 1,7 Millionen Menschen liegt. Das heißt, nicht die offizielle Zahl von 4,3 Millionen Arbeitslosen, sondern die Zahl von 6 Millionen arbeitslosen Menschen gibt ein realistisches Bild.

Hinzu kommt – auch das will ich an dieser Stelle erwähnen – die so genannte stille Reserve. Darüber, wie hoch die ist, herrscht Streit. Die einzelnen wissenschaftlichen Institute beziffern die Zahl derer, die in dieser stillen Reserve sind, auf 1 Million bis 2 Millionen. Das sind Menschen, die sich gar nicht bemühen, sich bei der Arbeitsagentur zu melden, weil sie von vornherein glauben, sie hätten ohnehin wenig Chancen. Ein Beispiel ist eine Mutter, die nach einer Erziehungspause wieder in den Erwerbsprozess zurück will, aber sieht, dass in ihrer Umgebung ohnehin kaum Jobs frei sind. Sie meldet sich gar nicht. Sie will arbeiten, aber sie unterlässt es, sich arbeitslos zu melden, weil sie glaubt, ohnehin wenig Chancen zu haben.

   Wenn man dies alles zusammennimmt – jetzt folgt die eigentlich Schrecken erregende Zahl, die aber realistisch ist –, dann kommt man unter dem Strich auf rund 7 Millionen Menschen, die in unserem Land keine Beschäftigung haben, aber gern arbeiten würden.

   Es gibt natürlich einen engen und unlösbaren Zusammenhang zwischen dem Verlust an Vertrauen in die Politik, den wir über die Parteigrenzen hinweg immer wieder beklagen, und der sicheren Erkenntnis der Menschen in unserem Land, dass die offizielle Arbeitslosenstatistik keine seriöse und realistische Beurteilung der Lage auf dem Arbeitsmarkt ermöglicht. Die Arbeitslosenstatistik ist zum Symbol für die Unkorrektheit und für die Unübersichtlichkeit geworden sowie für die Unfähigkeit der Politik und gerade der rot-grünen Bundesregierung, die klaren Tatsachen auf den Tisch zu legen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   An die Bundesregierung gerichtet sage ich – Herr Staatssekretär Andres, geben Sie es dem Herrn Wirtschaftsminister Clement weiter –: Wer sich bei dieser Statistik etwas in die Tasche lügt und Deutschland etwas vorlügt, zerstört Vertrauen und gewinnt kein Vertrauen zurück.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Dirk Niebel (FDP))

   Der Vorgänger von Minister Clement, Herr Bundesminister Riester, hat kurz vor der Bundestagswahl in diesem Hohen Hause erklärt, er wolle eine klare und transparente Statistik. Herr Staatssekretär Andres, wir nehmen die Bundesregierung gern beim Wort. Wir haben mit unserem Antrag einen Vorschlag vorgelegt, der Klarheit schaffen kann. Er wird Klarheit schaffen, wenn Sie ihn übernehmen.

   Das geht nicht nach dem Ritual, das viele kennen und das den Bürgern schon unerträglich erscheint, nämlich dass die Opposition die Zahlen grundsätzlich als zu niedrig ansieht und die Regierung die Zahlen gern etwas schönredet, sondern wir schlagen Ihnen vor, zukünftig ein ganz klares Zahlenpaar zu verwenden, ein Zahlenpaar, das exakt über den Zustand unserer Wirtschaft Auskunft gibt und das die Schicksalszahlen der Nation – das sind die Arbeitslosenzahlen – ganz klar und auch nachvollziehbar dokumentiert.

   Wir beginnen mit einer positiven Zahl. Die positive Zahl ist in dem Fall die Zahl der Erwerbstätigen, also derjenigen, die einen Job haben, sei es abhängig beschäftigt, sei es selbstständig. Sie liegt derzeit bei 38 Millionen. Sie wissen, dass es dazu noch eine andere Zahl gibt, nämlich die der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Diese Zahl ist niedriger. Sie liegt bei 26 Millionen und ist in den letzten Jahren stark gesunken. Also zunächst die positive Zahl! Wir wollen die Situation nicht ständig schlechtreden, sondern wir beginnen mit der positiven Zahl, der der Erwerbstätigen.

Dem stellen wir die Zahl der Beschäftigungslosen gegenüber, also nicht mehr die Zahl der Arbeitslosen, die Sie in der Vergangenheit so verunstaltet haben. Dazu bedarf es einer entsprechenden Änderung im Sozialgesetzbuch III; dort brauchen wir eine andere Definition, die ein realistisches Bild ermöglicht. Mit dieser klaren und eindeutigen Definition, nämlich dass derjenige, der arbeiten will und arbeiten kann, dann, wenn er keine Arbeit findet, als beschäftigungslos gezählt wird, wird ein realistisches Bild der Situation in unserem Land gezeichnet. Damit wird auch wieder eine Vergleichsmöglichkeit zum Vormonat, aber auch zum Vorjahr geschaffen. Durch die ständigen Veränderungen der Statistik, die Sie vorgenommen haben, ist ein Vergleich mit den Vorjahresdaten und den Vormonatsdaten immer weniger möglich und sinnvoll, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Die Statistik ist das eine; die tatsächliche wirtschaftliche Entwicklung ist das andere. Wir wollen neben einer realistischeren Statistik auch bessere Zahlen, damit den 7 Millionen Beschäftigungslosen in unserem Land und den vielen anderen, die nicht wissen, ob sie von diesem Schicksal betroffen werden, endlich wieder eine Perspektive geboten wird. Wenn Sie also wirklich eine bessere Statistik vorlegen wollen, müssen Sie auf Wirtschaftswachstum setzen. Wir brauchen ein Wirtschaftswachstum, das deutlich höher liegt als die 2 Prozent, die Sie ansteuern und mit viel Glück vielleicht erreichen. Wir brauchen ein Wirtschaftswachstum, das bei 3 Prozent oder höher liegt. Nur dann wird es zu spürbaren Bewegungen auf dem Arbeitsmarkt kommen. Solange wir, wie auch in diesem September, noch jeden Tag 1 000 Arbeitsplätze verlieren, wird sich trotz aller Änderungen, die Sie in der Statistik noch vorhaben, real überhaupt nichts bewegen. Wir brauchen eine Wirtschaftspolitik, die zu einem Aufwuchs von Arbeitsplätzen führt, die statt einem Verlust von 1 000 Arbeitsplätzen pro Tag jeden Tag 1 000 Arbeitsplätze neu schafft. Damit wären wir auf einem guten Weg. Dann könnten Sie auch in der Statistik bessere Werte erzielen.

   Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Das Wort hat der Kollege Klaus Brandner, SPD-Fraktion.

(Dirk Niebel (FDP): Jetzt kommt wieder eine rückwärts gewandte Rede!)

Klaus Brandner (SPD):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Aussagekräftig soll die Statistik gestaltet werden; Unterbeschäftigung soll verdeutlicht werden. Richtig ist: Die Statistik ist aussagekräftig und wir verdeutlichen die Unterbeschäftigung. Wir verdeutlichen sie nicht nur, sondern wir tun auch etwas dagegen, dass die Unterbeschäftigung in diesem Land zurückgeführt wird.

(Dirk Niebel (FDP): Das stimmt! Dagegen tun Sie etwas!)

– Also, um es klarzustellen: Wir tun etwas dafür, dass die Unterbeschäftigung in diesem Land zurückgeführt wird. Das unterscheidet uns von der Arbeit der Opposition in den vergangenen Jahren.

   Der Antrag der CDU/CSU – ich glaube, meine Damen und Herren, das ist gerade sehr deutlich geworden – will nichts anderes als Verunsicherung schaffen. Das ist aus meiner Sicht bedauerlich, ja, das ist sogar scheinheilig.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Nein! Das nehmen Sie sofort zurück!)

– Das nehme ich nicht zurück, weil ich es auch belegen kann, lieber Herr Hinsken.

   Bedauerlich ist es, weil wir für das Gelingen der Arbeitsmarktreformen Vertrauen brauchen. Auch die Damen und Herren von der Union sind im Übrigen besser beraten, ihre Energie darauf zu verwenden, dass genau dieses Vertrauen hergestellt wird, denn die Wahlen am letzten Sonntag sollten uns alle eine Lehre sein und deutlich machen, dass solch ein Populismus, wie ihn gerade Herr Singhammer wieder vorgelebt hat, nicht dazu führt, dass die demokratischen Kräfte in diesem Land gestärkt werden.

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Das nämlich, was Sie gesagt haben, heißt nichts anderes, als dass Sie die Manipulationen, die Sie in der Vergangenheit vorgenommen haben, jetzt gesundreden wollen.

   Scheinheilig an Ihrem Antrag, meine Damen und Herren, ist, dass Sie uns auffordern, Regelungen zurückzunehmen, die Sie einst selbst vorgenommen haben. Sie fordern, Teilnehmer in Maßnahmen sollen in die Arbeitslosenquote eingehen. Sie zählen hier ein buntes Allerlei an Maßnahmen auf: Trainingsmaßnahmen, Personal-Service-Agenturen, JUMP-Programm, ABM, also alle arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, die man sich vorstellen kann.

(Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Das gab es zu unserer Zeit alles gar nicht!)

Dabei wissen Sie genau, dass all diese Personen in der monatlichen Statistik der Bundesagentur für Arbeit auftauchen.

(Walter Hoffmann (Darmstadt) (SPD): Haben die noch nie gelesen!)

Die monatlich erscheinende Arbeitslosenquote bezieht sich auf diejenigen, die dem Arbeitsmarkt auch tatsächlich zur Verfügung stehen. Personen in Maßnahmen werden gesondert erfasst.

   Ich will Ihnen dazu nur noch sagen: Alle Abgeordneten bekommen jeden Monat ein riesiges Kompendium von der Bundesagentur für Arbeit geliefert. Sie lesen es offenbar nur bis zur Seite 4.

(Walter Hoffmann (Darmstadt) (SPD): Noch nicht einmal so weit!)

Wenn Sie darüber hinaus weiterlesen würden, würden Sie genau diese differenzierte Auflistung all dieser Maßnahmen finden. Wir könnten uns diese Debatte hier sparen. Es handelt sich um nichts anderes als heiße Luft, was Sie hier losgelassen haben, Herr Singhammer. Es ist bedauerlich, dass ich Ihnen das so deutlich sagen muss.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Johannes Singhammer (CDU/CSU): Es ist schon klar, dass Ihnen das nicht passt!)

– Es passt uns nicht, weil die Fakten anders sind.

   Sie fordern zum Beispiel: Die Zahlen von älteren Arbeitslosen aus der so genannten 58er-Regelung sollen in die Arbeitslosenquote eingehen. Das ist schon bemerkenswert. Nur zu Ihrer Erinnerung: Norbert Blüm hat in den 80er-Jahren bestimmt, dass dieser Personenkreis eben nicht zu den Arbeitslosen gezählt wird.

(Zuruf von der SPD: Kurzzeitgedächtnis! – Dirk Niebel (FDP): Da hat er einen Fehler gemacht!)

– Ja, er hat einen Fehler gemacht. Aber die FDP hat dabei mitgeholfen. Heute lehnen Sie die Verantwortung dafür ab. Aber genau das ist Ihre Politik gewesen.

(Beifall bei der SPD – Dirk Niebel (FDP): Sogar der Kanzler hat schon Fehler zugegeben!)

   Ganz abgesehen davon führen wir diesen Personenkreis in der Statistik auf. Ich sage ganz deutlich und drastisch: Was von Herrn Singhammer vorgetragen worden ist, ist in der Sache gelogen. Er hat behauptet, dass genau die Maßnahmen, die ich gerade vorgetragen habe, nicht in der Statistik auftauchen. Herr Singhammer, ich muss Ihnen sagen: Sie tauchen auf. Entweder haben Sie es nicht gewusst oder Sie hier haben bewusst gelogen. Das muss in diesem Hohen Hause einmal gesagt werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Sie werfen uns Schönfärberei der Statistik vor.

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Aber natürlich!)

Dabei schließen Sie von sich – das haben wir gerade erlebt – auf andere. Das muss deutlich festgestellt werden.

   Ausgerechnet Sie fordern zum Beispiel, dass ältere Personen, die eine Altersrente wegen Arbeitslosigkeit beziehen, künftig als Arbeitslose in die amtliche Statistik aufgenommen werden sollen. Ausgerechnet Sie! Ich muss Ihnen sagen, dass diese Forderung an Populismus kaum zu überbieten ist. Denn in den 90er-Jahren haben Sie nichts anderes getan, als Menschen mit 58 oder 59 Jahren in die Arbeitslosigkeit und mit 60 Jahren in die Rente abzuschieben. Damit haben Sie Folgendes bewirkt: Erstens haben Sie die Statistik geschönt. Zweitens haben Sie diese Menschen aus dem Arbeitsmarkt gedrängt. Drittens haben Sie die Rentenkassen geplündert. Viertens sind Sie mitverantwortlich dafür, dass ältere Arbeitnehmer in dieser Gesellschaft schlechtere Chancen haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Herr Singhammer hat ein Beispiel für Populismus geliefert. Er hat gesagt, Manipulation und Schönreden hätten Tradition in dieser Regierung. Hier ist der Beleg: Manipulation und Schönreden haben Tradition in der CDU/CSU.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU): So ein Quatsch!)

   Ich will mich an diesem Punkt nicht in Ihren Fehlern verlieren, sondern nur kurz an eine Sache erinnern. Im Wahljahr 1998 haben Sie kurzfristig die Zahl der ABM-Stellen – Sie wissen es – um fast 400 000 erhöht. Sie haben damit versucht, die Wählerinnen und Wähler zu täuschen. Diese Irreführung ist Ihnen zum Glück nicht gelungen. Der rot-grünen Koalition und mir ist es ein Anliegen, dass eine ehrliche und transparente Arbeitslosenstatistik vorgehalten wird.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Singhammer?

Klaus Brandner (SPD):

Nein, jetzt nicht.

   Arbeitslosenzahlen sind keine wahltaktische Manövriermasse. Es ist unsere tiefe Überzeugung, dass hinter jeder einzelnen Zahl in der Statistik ein menschliches Einzelschicksal steckt. Dessen sind wir uns bewusst und deshalb handeln wir auch so konkret.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir wollen in der Statistik alle arbeitssuchenden Personen erfassen. Das haben wir in der Vergangenheit getan und das werden wir auch in Zukunft tun. Wir waren es, die mit den Programmen JUMP und JUMP plus vielen Jugendlichen, die nicht in der Statistik erfasst waren, erstmals eine berufliche Perspektive gegeben haben.

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Wie viele waren es denn?)

Herr Singhammer, natürlich wissen wir, dass 20 Prozent nicht in der Statistik erfasst waren. Das bedeutet, dass wir die Menschen sozusagen aus der Versenkung geholt haben. Aber Sie werfen uns heute vor, wir würden sie verstecken. Wir haben ihnen geholfen. Diesen Erfolg haben Sie kleingeredet. Herr Schäuble hat davon gesprochen, dass es um nichts anderes gehe, als die Menschen aufzubewahren. Wir haben den Menschen Perspektiven gegeben und haben ihnen weitergeholfen. Das war notwendig, weil die Arbeitslosigkeit in diesem Land größere Ausmaße hatte, als wir es 1998 bei Übernahme Ihrer Zahlen erwarten mussten.

   Die Erfassung der Arbeitslosen ist wichtig. Denn nur wenn die entsprechenden Zahlen vorliegen, können wir das tatsächliche Ausmaß der Arbeitslosigkeit erkennen und entsprechend gegensteuern. Uns sind konkrete Hilfen und Engagement wichtiger als vorteilhafte Zahlen und Politikgerangel.

Mit der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe wird die Arbeitslosenstatistik zum 1. Januar ebenfalls ein ganzes Stück ehrlicher: Bislang waren viele der erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger eben nicht bei der Arbeitsagentur gemeldet. Es handelt sich schätzungsweise um 300 000 bis 400 000 Personen, die jetzt ohne Arbeit sind, aber – wie gesagt – nicht in der Statistik erfasst sind. Dieser Personenkreis wird dann der Arbeitsagentur gemeldet werden. Trotz der medialen Ausschlachtung – es wird von einem starken Anstieg der Arbeitslosenzahlen gesprochen werden –, die wir zum 1. Januar 2005 erwarten, wird deutlich werden, dass dies ein richtiger Schritt ist. Dabei ist nichts anderes gefragt, als dass wir die Kraft und den Mut haben, den Umfang der Arbeitslosigkeit in diesem Lande ehrlich darzustellen.

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Also muss doch etwas getan werden!)

Das sollten Sie loben und nicht scheinheilig zerreden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ehrlichkeit zahlt sich langfristig aus, und zwar nicht nur für uns als Regierungspartei, sondern auch – darum geht es mir in erster Linie – für die Arbeitslosen, für diejenigen Menschen, die ohne eine Arbeitsperspektive sind.

   Lassen Sie mich noch auf einen letzten Punkt in Ihrem Antrag eingehen. Sie von der Union fordern in Ihrem Antrag, die stille Reserve der Arbeitssuchenden besser zu erfassen. Das ist ein wichtiger Punkt; allerdings ist er, so wie er formuliert wurde, populistisch. Die monatliche Arbeitslosenstatistik der Bundesagentur für Arbeit kann natürlich nur diejenigen erfassen, die sich arbeitslos melden. Eine stille Reserve zeichnet sich jedoch genau dadurch aus, dass sie „still“ ist.

   Zur stillen Reserve gehören in großem Umfang Frauen, die sich nach der Erziehungsphase nicht wieder bei der Bundesagentur gemeldet haben. Uns ist dieser Personenkreis wichtig. Deshalb haben wir gehandelt. Mit Beginn des neuen Jahres veröffentlicht das Statistische Bundesamt monatlich ergänzende Arbeitslosenzahlen. Das geschieht parallel zur üblichen Statistik, von der ich schon gesprochen habe und die an Deutlichkeit und Transparenz nichts zu wünschen übrig lässt.

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Glauben Sie das wirklich?)

Das Statistische Bundesamt wird, wie Sie wissen, mit Befragungen arbeiten und nicht wie die Bundesagentur von der Registrierung ausgehen.

   Warum machen wir das eigentlich? Erstens. Wir können dadurch die stille Reserve besser erfassen und uns so ein Bild davon machen, wie viele Personen tatsächlich Arbeit suchen. Zweitens. Unsere Arbeitsmarktzahlen werden mit dieser Ergänzung international vergleichbar – und das, denke ich, fordern doch auch Sie. Deshalb sollten Sie diesen weiteren Präzisierungsschritt in der Statistik im Kern begrüßen.

   Für uns steht fest: Eine ehrliche Statistik, eine Statistik ohne Manipulation ist nicht nur irgendein Ziel. Die Erstellung einer solchen Statistik werden wir vielmehr auch leisten und eine solche Statistik werden wir auch vorhalten. Bei allen Diskussionen um die Richtigkeit und Wichtigkeit von Statistiken dürfen wir aber am Ende nicht aus dem Auge verlieren, was wirklich zählt: Wir wollen und müssen die Zahl der Arbeitslosen senken, ganz gleich ob und in welcher Form sie in der Statistik auftauchen.

   Arbeitslosigkeit ist unser aller Problem. Wenn ich „alle“ sage, meine ich nicht nur die rot-grüne Bundesregierung, sondern auch Sie, meine Damen und Herren von der Opposition. Ich meine Unternehmen und Arbeitgeber ebenso wie die Gewerkschaften und all diejenigen, die in irgendeiner Form an der Umsetzung der Arbeitsmarktreformen mitwirken.

   Wir sollten uns gemeinsam an einem Leitgedanken orientieren, den uns die Hartz-Kommission mit auf den Weg gegeben hat, nämlich dass wir einen Baustein stärker gemeinsam bearbeiten müssen: Es darf keinen Nachschub für Nürnberg geben. Ich meine damit ganz konkret, dass eine Facette der Politik sein muss, viel dafür zu tun, dass neue Arbeitsplätze entstehen. Diesen Prozess müssen wir unterstützen und begleiten. Die andere Facette ist: Wir müssen alles dafür tun, dass die derzeitigen Arbeitsplätze in diesem Land erhalten bleiben. Wir müssen die handelnden Parteien dazu auffordern, dies in das Zentrum ihres Handelns zu rücken und den Personalabbau nicht leichtfertig und leichtsinnig hinzunehmen.

   Wir alle müssen uns darum bemühen, Vertrauen zurückzugewinnen. Das gilt nach den Wahlen in Sachsen und in Brandenburg ganz besonders für die etablierten Parteien. Darum sollten wir uns solche Beiträge, wie sie heute von der Opposition kamen und die allgemeine Verunsicherung schaffen, lieber versagen. Wir sollten stattdessen konkrete Sachpolitik betreiben.

(Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Warum machen Sie es dann nicht?)

Damit helfen wir den Arbeitslosen in diesem Land mehr. Wir sorgen damit auch dafür, dass die Demokratie stabilisiert wird und nicht an den rechten und teilweise auch an den linken Rändern ausgefranst wird.

   Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Ich komme zu Tagesordnungspunkt 3 d zurück und gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Wehrpflicht aussetzen“ – das sind die Drucksachen 15/1357 und 15/2963 – bekannt. Abgegebene Stimmen 573. Mit Ja haben gestimmt 528, mit Nein haben gestimmt 44, Enthaltungen eine. Die Beschlussempfehlung des Ausschusses ist damit angenommen.

   Nächster Redner in der jetzigen Debatte ist der Kollege Dirk Niebel, FDP-Fraktion.

Dirk Niebel (FDP):

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vertrauen ist der Schmierstoff der Demokratie, schreibt Hans-Ulrich Jörges diese Woche im „Stern“. Die Spiegelfechtereien der beiden immer kleiner werdenden so genannten Volksparteien beweisen immer wieder: Egal wer regiert, die Arbeitslosenstatistik war schon immer ein politisches Kampfmittel.

(Brigitte Schulte (Hameln) (SPD): Sie waren doch immer dabei!)

Wir sollten uns einmal Gedanken darüber machen, ob wir nicht neue Wege gehen sollten: hin zu einem System, welches das tatsächliche Ausmaß der Unterbeschäftigung aufzeigt.

(Klaus Brandner (SPD): Mitmachen und anschließend nicht verantworten!)

– Herr Brandner, Sie sollten sich nachher einmal den Versprecher in Ihrer Rede im Protokoll ansehen. Es handelt sich vermutlich nur um einen freudschen Versprecher. Aber Sie haben gesagt, dass Sie alles dafür tun, das Ausmaß der Unterbeschäftigung nicht zurückzuführen. Lesen Sie das einmal nach! Ich hoffe, Sie haben das nicht ernst gemeint. Halten Sie sich aber einmal ganz bedeckt!

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

   Wir sollten das tatsächliche Ausmaß der Unterbeschäftigung deshalb aufzeigen, weil es das notwendige Kriterium ist, um den Einsatz finanzieller Mittel und politische Entscheidungen richtig steuern zu können.

   Natürlich hat Herr Brandner Recht, wenn er sagt, dass in dem dicken Wälzer der Bundesagentur für Arbeit über die Arbeitslosenstatistik die einzelnen Personengruppen ausgewiesen werden. Sie tauchen aber nicht in der Arbeitslosenquote auf. Die Arbeitslosenquote aber ist es, die jeden Abend in der „Tagesschau“ und im „Heute-Journal“ gezeigt wird und auch in den Zeitungen steht. Wir haben 4,3 Millionen registrierte Arbeitslose. Zudem befinden sich 82 000 Menschen in Eignungsfeststellungs- und Trainingsmaßnahmen, 140 000 in beruflicher Weiterbildung und 90 000 in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, 79 000 sind Überbrückungsgeldempfänger, 157 000 bekommen Existenzgründungszuschüsse und 400 000 Ältere fallen unter die Regelung nach § 428 SGB III. Wenn Sie diese Gruppen hinzurechnen, kommen Sie auf eine Arbeitslosenzahl, die weit über 1 Million höher liegt als die aktuelle Arbeitslosenzahl. Dies sind unstreitig Menschen, die arbeiten wollen und auch arbeiten können. Sie gehören in diese Statistik.

(Beifall bei der FDP)

   Wenn Sie jetzt Herrn Blüm anführen, sage ich Ihnen mit der Gnade des Spätgewählten, der 1998 in den Bundestag eingezogen ist, klipp und klar: Das war schon damals falsch. Wenn man diese Erkenntnis gewonnen hat, muss man es nicht weiterhin falsch machen. Deswegen darf man das heute korrigieren.

(Beifall bei der FDP)

   Auf der anderen Seite werden Menschen in der Arbeitslosenstatistik aufgeführt, die nachweislich gar nicht arbeiten wollen oder können. Es geht gar nicht mal um diejenigen, die nicht arbeiten wollen, weil sie sich mit den Transferleistungen gut eingerichtet haben; das ist der deutlich kleinere Teil der Arbeitslosen. Es geht um diejenigen, die sich arbeitslos melden müssen, um andere Transferleistungen beziehen zu können. So muss sich zum Beispiel der so genannte Kindergeldarbeitslose zwischen Schule und Bundeswehr bzw. Zivildienst beim Arbeitsamt arbeitslos melden, damit seine Eltern weiterhin Kindergeld bekommen. Es gibt die Gruppe derer, die keine Leistungsansprüche haben

(Klaus Brandner (SPD): Das sind doch Dinge, die schon erledigt sind!)

und sich bei der Bundesagentur nur deshalb arbeitssuchend melden, weil dann die Ausfallzeiten bei der Rente angerechnet werden. Es gibt diejenigen, die einen Arbeitsplatz haben, diesen aber vielleicht erst in zwei Wochen antreten und für die Zwischenzeit keinen anderen Arbeitsplatz annehmen werden. Sie müssen sich in dieser Zeit arbeitslos melden, um den Leistungsbezug sicherzustellen. Das sind keine Unterbeschäftigten. Es handelt es sich um eine normale Friktionsarbeitslosigkeit aufgrund des Wechsels des Arbeitsplatzes, die sogar teilweise wünschenswert ist. Diese Menschen müssen in der Statistik nicht aufgeführt werden.

   Warum nehmen Sie nicht den Vorschlag des Kollegen Singhammer auf und vergleichen die Zahl der tatsächlich Beschäftigten, und zwar nicht nur die Erwerbstätigen, sondern auch das geleistete Arbeitsvolumen als Hauptkriterium für ein mögliches Wirtschaftswachstum in Deutschland, mit der Zahl der Nichtbeschäftigten, die in Arbeit kommen wollen? Das wäre der richtige Weg und würde ein Stück weit wieder zu Vertrauen auch in die etablierten Parteien führen. Das wäre eine große Chance.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Was das Vertrauen nicht fördern wird, ist das vom Kabinett beschlossene System der parallel geführten ILO-Statistik. Man kann Statistiken natürlich auf zweierlei Art manipulieren: einmal, indem man bestimmt, wer erfasst wird, und einmal, indem man bestimmt, wie erfasst wird. Aufgrund der ILO-Kriterien gilt jemand, der eine Stunde in der Woche arbeitet, nicht als arbeitslos. Ich hätte gerne einen Stundenlohn, von dem ich mir durch eine Stunde Arbeit in der Woche mein Existenzminimum finanzieren könnte.

(Hans-Michael Goldmann (FDP): Das ist nicht einmal bei Politikern so!)

Es ist doch für jeden, der einigermaßen gerade denken kann, völlig klar, dass jemand mit einer Stunde wöchentlicher Arbeitszeit unterbeschäftigt ist. Das kann also nicht das Kriterium sein, nach dem wir arbeiten.

   Natürlich wird jetzt die Regierung behaupten – das stimmt auch zu Beginn –, sie lasse die ILO-Statistik nur parallel erheben. Wir wissen aber aus der Vergangenheit – das mag es auch in Zeiten, in denen ich noch nicht im Parlament war, gegeben haben –, dass parallel geführte Statistiken irgendwann die erste Statistik ablösen, zumindest teilweise. Hier wird ein riesengroßer Betrugsversuch gestartet, der dazu führen soll, Ihre vermurkste Wirtschaftspolitik hinterher als glorreichen Erfolg darzustellen. Das machen wir mit Sicherheit nicht mit.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Entscheidend in diesem Land ist es, überhaupt erst einmal Beschäftigungsmöglichkeiten für die Menschen zu schaffen.

(Zuruf von der SPD: Sehr witzig!)

Eigentlich ist der große Skandal doch gar nicht, wie die Arbeitslosenstatistik aufgebaut oder erhoben wird; vielmehr besteht der große Skandal in diesem Land doch darin, dass wir überhaupt eine Arbeitslosenstatistik brauchen. Also brauchen wir, um diesen Skandal zu bekämpfen und um den Menschen, die arbeiten können und wollen, eine Chance dazu zu geben, eine andere Steuer-, Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsmarktpolitik, als sie in den letzten sechs Jahren durchgeführt worden ist.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

   Damit Betriebe und Private Geld zum Investieren und zum Konsumieren haben, brauchen wir eine klare, einfache, gerechte und transparente Steuerreform, die den Menschen und den Betrieben mehr Geld in der Tasche lässt.

(Hans-Michael Goldmann (FDP): That’s the key!)

   Damit die Wirtschaft atmen kann, brauchen wir eine Veränderung des Arbeitsrechts. Wir brauchen einen größeren Spielraum, um all das flexibel handhaben zu können, was Entlassung und Einstellung betrifft. Wir brauchen mehr Flexibilität bei der Lohnfindung in unterschiedlichen Regionen. Wir brauchen weniger starre Vorgaben. Wir müssen zu einem System kommen, in dem Bürokratie ab- und nicht aufgebaut wird, wie es in der gesamten Zeit der rot-grünen Bundesregierung stattgefunden hat. Da wird groß geredet und von einem Masterplan Bürokratieabbau getönt; passiert ist nichts. Im Endeffekt sind die kleinen Betriebe diejenigen, die – für den Staat kostenfrei – Statistik und Verwaltungsarbeiten zu erbringen haben. Das geht zulasten von Arbeitsplätzen und das haben Sie zu verantworten.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Wenn Sie, die beiden immer kleiner werdenden Volksparteien,

(Lachen bei der SPD)

sich darauf einigen könnten, dass wir diesen Weg gehen sollten, dann sollten wir das möglichst schnell tun; denn allein Transparenz hinsichtlich der Frage, wie viel Arbeitsvolumen in Deutschland erbracht wird und wie viel Unterbeschäftigung es in Deutschland gibt, wird das Vertrauen der Bevölkerung in die deutsche Arbeitsmarktpolitik zurückbringen. Dann haben wir auch die Möglichkeit, mithilfe der anderen Vorschlägen, die ich hier angesprochen habe, Chancen zu eröffnen, damit die Rattenfänger in der Bundesrepublik nicht mehr den Zugriff auf andere Menschen haben.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Das Wort hat der Kollege Fritz Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen.

Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Singhammer, ich war doch etwas erstaunt, wie wenig Sie bei Ihrer Rede zur Einbringung des Antrags rot geworden sind, denn so etwas, wie Sie es hier heute veranstaltet haben, habe ich noch nicht erlebt:

(Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Lieber Gott!)

Sie sagen hier, wir sollten systematisch all diejenigen zusammenrechnen, die keine Arbeit haben, inklusive der stillen Reserve, die man übrigens nie genau bestimmen kann. Damit wollen Sie den Eindruck erwecken, die Arbeitslosigkeit – im Volk draußen wird das Wort weiter verwendet werden – läge bei 7 Millionen. Sie glauben, wir seien so blöd, dieses Spiel mitzumachen. Sie greifen das dann im Wahlkampf auf und plakatieren: Arbeitslosigkeit um 2 Millionen gestiegen. So einfach machen Sie es sich; das haben wir in vielen Wahlkämpfen gesehen. Das hat keinen Sinn.

(Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Das ist doch so!)

   Jetzt einmal ganz praktisch, Herr Singhammer: Die Arbeitslosenquote wird anhand derjenigen Menschen errechnet, die keine Arbeit haben, bereit sind zu arbeiten und dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. So war es in der Vergangenheit. Deswegen sind die stille Reserve und diejenigen Menschen, die in Maßnahmen beschäftigt sind, nicht in die Quote eingerechnet. Im Übrigen ist die Statistik der Bundesagentur viel restriktiver als etwa die der ILO auf der europäischen Ebene; Kollege Niebel hat es gesagt.

   Wir rechnen als arbeitslos auch Menschen ein, die bis zu 15 Stunden pro Woche arbeiten, aber mehr arbeiten wollen; für sie haben wir eine andere Regelung als die EU. Daran können Sie schon sehen, dass in Nürnberg nicht, wie Sie unterstellt haben, versucht wird, so wenig Leute wie möglich als arbeitslos zu erfassen.

   Aber ich will Ihre Methode einmal ins Absurde treiben. Sie sagen: Weil Sie ein realistisches Nettobild wollen, rechneten Sie alle, die keine Arbeit haben, dazu. Wie gehen Sie eigentlich mit der Schwarzarbeit um? Das geschätzte Volumen von Schwarzarbeit in Deutschland beträgt 5 Millionen Erwerbsarbeitsplätze. Sollen wir diese Arbeitsplätze von Ihren 7 Millionen Arbeitslosen wieder abziehen?

(Walter Hoffmann (Darmstadt) (SPD): Die müssen abgezogen werden!)

Dann wären wir bei 2 Millionen Arbeitslosen. An diesem Beispiel können Sie doch sehen, wie absurd Ihr Anliegen ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Wenn wir auf dieser Schiene noch etwas kreativer würden, rechneten wir Ihnen die Zahl der Arbeitslosen auf Null.

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Das glaube ich! Im Manipulieren seid ihr großartig!)

Sie sehen also, dass das, was Sie hier vorgeschlagen haben, eine Absurdität ist.

   Wer wie die Union 1998 systematische Manipulationen betrieben hat, etwa mit den 150 000 Wahl-ABM, die Sie damals kreiert haben

(Gerd Andres, Parl. Staatssekretär: Zusammen mit der FDP!)

– zusammen mit der FDP; bitte der lieben Ordnung halber keine Zwischenrufe von der Regierungsbank, Herr Staatssekretär, obwohl der Zwischenruf gut war –, der sollte doch insgesamt mit solchen Anträgen vorsichtiger und zurückhaltender sein.

   Hinsichtlich der Fragestellung, was wir eigentlich tun können, damit die Arbeitslosigkeit in Deutschland ganz aktuell stärker abgebaut wird – wir alle wissen, dass wir zusehen müssen, dass auf dem Binnenmarkt mehr investiert wird und die Leute mehr Geld ausgeben,

(Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Wir haben doch genau das Gegenteil!)

weil wir uns beim Export an der äußersten Grenze befinden –, möchte ich zwei Punkte in den Vordergrund rücken, die mich mehr interessieren als der singhammersche Schnickschnack, den wir jetzt verhandelt haben.

   Erstens. Die Preistreiberei, die uns von den Energiekonzernen in den letzten Wochen angekündigt worden ist, darf nicht stattfinden. Es geht nicht an, dass man den Energiepreis weit oberhalb der realen Kostensituation in einer Größenordnung zwischen 3 und 4 Prozent anheben will. Wer dies tut, setzt ein klares Signal gegen die Binnenmarktentwicklung und droht, die tatsächliche Wirkung der Steuersenkung, die wir zum 1. Januar 2005 vornehmen werden, kaputtzumachen. Wer Arbeitslosigkeit bekämpfen will – dies richte ich an das ganze Haus –, der muss schauen, dass diese Preiserhöhungen unterbleiben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Zweitens. Auch die angekündigten Preiserhöhungen bei der Bahn wirken nicht anders als Kosten treibend und damit den Binnenmarkt schwächend. Ich gehe davon aus, dass nach unseren gestrigen Beschlüssen, die zum Inhalt hatten, dass der Börsengang nicht in dem Zeitraster kommen wird, wie es Herr Mehdorn vorgesehen hat, die Preiserhöhungen noch einmal überdacht werden.

(Dirk Niebel (FDP): Vielleicht sollten Sie den Vorstandsvorsitzenden mal überdenken!)

Die Preiserhöhungen sind von der Seite der Energiepreise her höchstens in einer Größenordnung von 0,4 bis 0,5 Prozent vertretbar. Der Rest war eine Preiserhöhung, die allein wegen des Börsengangs vorgesehen wurde, um schnell zu einer stabilen schwarzen Null zu kommen. Meine Fraktion fordert also die DB AG konkret auf, nicht nur den Börsengang zu verschieben, sondern auch auf diese Preiserhöhung zu verzichten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wenn wir die neuen Instrumente von Hartz I bis IV wirklich effektiv umsetzen, dann werden wir auch einen positiven Impuls für den Arbeitsmarkt bekommen. Dabei ist mir ein Punkt wichtig, den ich hier auch an die Adresse der Bundesregierung anmerken will, Herr Staatssekretär: Bei der Umsetzung von Hartz IV und bei der Einrichtung der Jobcenter kommt es entscheidend darauf an, dass so dezentral gearbeitet werden kann, wie wir es in den Hartz-Reformen vorgesehen haben. Es soll also das regional jeweils Beste gemacht werden und nicht das, was sonst wo entschieden wird. In diesem Zusammenhang stelle ich Ihnen ein Beispiel vor, angesichts dessen ich mir wirklich Sorgen mache, ob das, was wir vorgesehen haben, funktionieren wird. Ich rufe in Erinnerung: Je dezentraler wir vorgehen, desto mehr Arbeitslose können wir in Jobs unterbringen.

   Heute schreibt der „Tagesspiegel“, dass man in Berlin immer noch Probleme mit den Gebäuden für die neuen Jobcenter hat.

(Dirk Niebel (FDP): Dafür gibt es ein Pflichtenheft der Bundesagentur!)

Im Bezirk Charlottenburg/Wilmersdorf wurde für das neue Jobcenter ein Gebäude zur Verfügung gestellt, das nun von Nürnberg mit der Begründung abgelehnt wird, „die Verteilung der Steckdosen, die Türklinken, die Oberlichter in den Räumen und die Fliesenhöhen in den Toilettenräumen“ entsprächen nicht dem Pflichtenheft der Nürnberger Zentrale.

(Dirk Niebel (FDP): Richtig! Genau! Habe ich es nicht immer gesagt?)

   An diesem Beispiel, Herr Staatssekretär, können Sie sehen, was sich manche in Nürnberg unter Dezentralisierung vorstellen. Hier handelt es sich um ein groteskes Beispiel, weil es die Räumlichkeiten betrifft;

(Dirk Niebel (FDP): Nein, das ist die Wirklichkeit!)

aber es ist auch ein symbolisches Beispiel für eine Denkweise, die wir überwinden müssen, wenn wir eine dezentrale Arbeitsorganisation wollen. Dies betrifft auch die Regeln, was in den Jobcentern gemacht wird, wie gefördert wird, welche Beschäftigungsverhältnisse eingegangen werden, wie die 1-Euro-Jobs ausgestaltet werden und wie dies in der Region abgestimmt und mit den Unternehmern und Gewerkschaften besprochen wird.

   Im Klartext: Wir werden die positiven Instrumente Hartz I bis IV nur praxiswirksam nutzen können, wenn es gelingt, eine echte Dezentralisierung zu praktizieren. Um dies zu erreichen, müssen wir den Mist verhindern, der sich in dem von mir vorgelesenen Zitat widerspiegelt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dirk Niebel (FDP): Erinnern Sie sich, dass wir die Agentur auflösen wollen?)

– Herr Niebel, mit Ihrem – wie soll ich es nennen? – liberalen Chaotenanarchismus kommen wir natürlich nicht weiter. Sie sagen einfach: Weg mit dem Mist, auflösen, abschaffen! Aber Sie haben überhaupt keine konkreten Vorschläge gemacht, wie stattdessen die schwierige Arbeit geleistet werden soll, die vielen Arbeitslosen in Jobs zu bringen und auch die Dauerarbeitslosen zu aktivieren. Da können wir nicht einfach liberal oder pseudoliberal mit den Schultern zucken und sagen: Da machen wir den Laden dicht.

   Ich komme zum Schluss.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Kollege Kuhn, der Herr Kollege Niebel würde Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen.

Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Nein, das machen wir jetzt nicht. Ich hatte genügend Redezeit. Herr Niebel, das wäre nicht nötig gewesen. Vielen Dank!

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das kann er zu Hause im Wahlkreis machen!)

   Herr Singhammer, das, was Sie heute veranstaltet haben, ist, glaube ich, in die Hosen gegangen. Ich hoffe, dass Sie beim nächsten Mal wieder mit mehr Intelligenz, mehr Faktenwissen und mehr Kreativität die Debatte bereichern können.

   Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Johannes Singhammer (CDU/CSU): Glauben Sie denn, dass das mit den 4,3 Millionen Arbeitslosen stimmt? Das glauben Sie doch selber nicht!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kollegen Niebel.

Dirk Niebel (FDP):

Sehr geehrter Kollege Kuhn, nur mit grünem Gebläse können Sie die Fakten natürlich nicht vom Tisch wehen. Sie wissen ganz genau, dass ein Antrag der FDP-Bundestagsfraktion, in dem die Neuordnung der Bundesagentur durch Auflösung konkret dargestellt wird, in diesem Hause vorliegt. Auch wenn Sie die Mär verbreiten, dass es dann hinterher keine Betreuung der Arbeitslosen gäbe – das ist trotzdem falsch.

   Die Auflösung der Bundesagentur für Arbeit, die in ihrer jetzigen Form schlicht nicht reformierbar ist, ist ein Terminus technicus. Durch die Auflösung besteht die Behörde eine juristische Sekunde lang nicht mehr. Das heißt, Sie können effektive Strukturen, übrigens auch die von Ihnen geforderten dezentralen Strukturen, einziehen, weil Sie die Vorschriften der Behörde nicht mehr berücksichtigen müssen, weil der Verwaltungsrat mit Frau Engelen-Kefer nicht mehr da ist, weil die Beamten versetzt werden können, weil Angestellte mit Änderungskündigungen neue Strukturen einnehmen können. Damit kann man ein Drei-Säulen-System aufbauen, mit dem man den Arbeitsmarkt ordentlich ausgleichen und den Menschen helfen kann.

   Das wäre eine schmale Versicherungsagentur, die nichts anderes als die Lohnersatzleistungen bearbeitet, bei denen der Arbeitgeberanteil ausgezahlt wird, um Anreize für Wahltarife zu schaffen. Es wäre eine kleine Arbeitsmarktagentur mit ungefähr 200 Mitarbeitern, in der das überregional Notwendige gemacht wird, in der man sich insbesondere um die Transparenz der offenen Stellen und die bundesweite Vermittlung, aber auch um Werkvertragsabkommen mit osteuropäischen Staaten kümmert und in der entscheidungskompetente Ansprechpartner für Landesprojekte zur Verfügung stehen. Vor Ort, in kommunaler Trägerschaft, würde, steuerfinanziert und im Grundgesetz abgesichert, die aktive Arbeitsmarktpolitik betrieben, weil die Menschen, die die Arbeitsmarktpolitik brauchen, vor Ort sind und weil die Arbeitsplätze in aller Regel ebenfalls einem konkreten Ort zuzuordnen sind.

   Von daher: Tun Sie nicht so, als hätten wir kein Konzept! Wir haben jede einzelne Aufgabe der heutigen Bundesagentur kleinklein unter der Fragestellung durchdekliniert: Muss sie überhaupt noch gemacht werden? Wenn sie gemacht werden muss: Von wem muss sie gemacht werden? Das liegt hier in diesem Hause vor. Wenn Sie die Bundestagsdrucksachen nicht lesen, dann sollten Sie gegenüber der Bevölkerung nicht so tun, als gäbe es sie nicht, nur weil Sie Ihre Arbeit offenkundig nicht richtig machen.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege Kuhn, Sie haben das Wort.

Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Auf die Frage, wer was liest, will ich hier nicht eingehen. Das ist mir zu albern. Natürlich kennen wir Ihre Vorstellungen. Ich will einmal ernsthaft darauf antworten: Wir haben eine andere Grundannahme.

(Dirk Niebel (FDP): Sie haben doch gesagt, wir hätten nichts!)

Deswegen haben wir die Hartz-Gesetze gemacht und die vielen Reformen eingeleitet. Wir sind der Überzeugung, dass auch diese Behörde mit 90 000 Beschäftigten, die Bundesagentur für Arbeit, reformierbar ist. Wir sind ferner der Überzeugung, dass das am besten in der Konstruktion, wie wir sie heute haben, geschehen kann. Diese sieht ja übrigens auch die Beteiligung von Unternehmen und Gewerkschaften vor. Da haben wir einfach eine andere Grundüberzeugung; es ist letztlich eine andere ordnungspolitische Auffassung.

   Ich habe darauf hingewiesen, dass diese Reform nur dann funktionieren kann, wenn in Zukunft wirklich dezentral vorgegangen wird und wenn sich die Nürnberger Zentrale auf das absolut notwendige Kerngeschäft der Vereinheitlichung beschränkt und nicht vor Ort sagt, was im Einzelnen gemacht werden muss. Das ist eine absolut andere Konzeption, als Sie sie haben. Ich bin sehr skeptisch, ob Ihre Konzeption in der Praxis wirklich funktionieren würde, weil die ideelle Sekunde, mit der Sie argumentieren, eine Art Zerschlagung der bestehenden Struktur bedeutet. Diese Zerschlagung hätte die einzelnen Mitarbeiter verunsichert und nicht die Möglichkeit geschaffen, die neuen Reformen jetzt wirklich umzusetzen. Deswegen gehen wir einen anderen Weg.

   Ich bin nicht überzeugt, dass es hilfreich ist, wenn Sie jetzt immer von der Zerschlagung der Bundesagentur sprechen.

(Dirk Niebel (FDP): Auflösung, nicht Zerschlagung!)

– Auflösung der Bundesagentur. Sie kommen ja aus dem Laden.

(Dirk Niebel (FDP): Deswegen kenne ich mich auch aus!)

Deswegen erstaunt mich auch Ihr Frohsinn bei dem Thema. Sie müssen sich vorstellen, dass da jetzt 90 000 Leute sitzen – dazu kommt noch die schwierige Konstruktion, dass man in den Ländern nicht einen Wasserkopf belassen hat –, die die neue Konzeption umsetzen müssen. Da hilft es überhaupt nichts, wenn wir hier in Berlin von Auflösung oder Zerschlagung sprechen. Vielmehr müssen wir einen Umbau in Richtung einer schnellen, dezentralen Reform anstreben. Für den Weg haben wir uns entschieden. Dieser Weg wird auch gegangen, ganz egal, wie lange Sie noch von der Auflösung der Bundesagentur reden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Das Wort hat der Kollege Dr. Michael Fuchs, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU):

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Kuhn, eigentlich müsste man eine Rede halten, die ausschließlich an Ihre Adresse gerichtet ist; denn es ist enorm, wie viel Falsches Sie in so kurzer Zeit vorgetragen haben. Wenn Sie davon sprechen, dass wir hier Wahlkampf machen, muss ich Ihnen sagen: Das, was Sie hier getan haben, war nichts anderes. Es macht keinen Sinn, so unredlich miteinander umzugehen, wie Sie es getan haben.

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dann machen Sie bessere Anträge!)

Sie sagen, den kleinen Leuten soll mehr Geld gegeben werden. Warum bitte schön tun Sie das denn nicht?

   Der Strompreis in Deutschland besteht mittlerweile zu 40 Prozent aus staatlich ordinierten Kosten.

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das hat aber nichts mit den Erhöhungen zu tun!)

Das haben Sie zu verantworten. Im Wesentlichen war es die Politik der Grünen, die dazu geführt hat,

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

dass jetzt dafür gesorgt werden muss, dass die Leute mehr Geld in der Tasche haben. Durch Ihre Politik bekommen sie aber nicht mehr Geld. Deswegen sollten Sie Ihre Politik ändern.

   Nun ein Wort zu Ihnen, Herr Niebel. Aus meiner Sicht sollte die Bundesagentur für Arbeit nicht aufgelöst werden. Aber ebenso man darf sie nicht mit zusätzlichen Aufgaben befrachten, wie es jetzt durch Hartz IV getan wird. Deswegen haben wir immer dafür plädiert, dass seine Umsetzung auf kommunaler Ebene durchgeführt werden soll. Herr Kuhn, von diesem Standpunkt waren Sie gar nicht weit entfernt, als Sie gesagt haben, dass diese Arbeit auf lokaler Ebene geleistet werden muss, weil dort die entsprechenden Kenntnisse vorhanden sind und man näher bei den betroffenen Menschen ist. Es tut mir Leid, dass Sie das, was Sie in Ihrer Rede im Prinzip selbst gefordert haben, nicht umgesetzt haben. Nichtsdestotrotz brauchen wir eine Bundesagentur, die das Ganze regelt, die aber nicht als Moloch mit zusätzlichen Aufgaben befrachtet werden darf.

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie kennen die Reform offenbar nicht!)

   Nun will ich auf die Statistik zu sprechen kommen. Auf dem Papier steht, dass derzeit 4,35 Millionen Menschen arbeitslos sind. Das ist wirklich nur die halbe Wahrheit; Kollege Singhammer hat das eben erklärt. Denn wenn man die stille Reserve berücksichtigt – dem Frankfurter Institut zufolge liegt sie bei 1,7 Millionen –, sind in Wirklichkeit über 6 Millionen Menschen arbeitslos. Diese Statistik zu manipulieren, halte ich für verantwortungslos. Früher nannte man ein solches Vorgehen „Weimarer Verhältnisse“. Bei diesen Verhältnissen sind wir in sehr kurzer Zeit wieder angekommen. Sie sind die Folge rot-grüner Politik.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Walter Hoffmann (Darmstadt) (SPD): Weimarer Verhältnisse? So ein Unsinn!)

   Lassen Sie mich Ihnen zwei Zitate ins Gedächtnis rufen: „Ziel des Masterplanes ist es, die Zahl der Arbeitslosen in drei Jahren um 2 Millionen zu reduzieren.“ So äußerte sich Peter Hartz am 16. August 2002. Der Kanzler sagte in seiner nebulösen Art: „Wir müssen aus dem großen Wurf ... eine neue Wirklichkeit für Deutschland machen.“

(Klaus Brandner (SPD): Sagen Sie auch etwas zur Statistik, Herr Fuchs?)

Diese großen Ziele haben Sie verkündet; das ist genau 769 Tage her. Seitdem ist die Zahl der Arbeitslosen pro Tag um durchschnittlich 460 gestiegen, Herr Brandner, und 1 550 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze sind pro Tag verloren gegangen.

(Klaus Brandner (SPD): Sie werden ja auch nicht versteckt!)

Das sind die Folgen Ihrer Politik.

(Klaus Brandner (SPD): Es geht um Statistik! Sagen Sie etwas zur Statistik!)

Wenn wir das, was Herr Hartz verkündet hat, noch schaffen wollen, dann müssten ab jetzt pro Tag 6 415 neue Jobs geschaffen werden, damit die Zahl der Arbeitslosen bis Ende dieses Jahres um 2 Millionen zurückgeht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Sie reden von „saisonbereinigter“ und „witterungsbedingter“ Arbeitslosigkeit. Wir müssten Ihre Politik von ideologischen Vorstellungen bereinigen; denn dadurch wird den Arbeitslosen kein bisschen geholfen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Sie arbeiten mit Tricks. Herr Clement kommt mir manchmal vor wie ein Zauberer. Während allerdings ein Zauberer immer nur eine einzige Dame in einer Kiste verschwinden lassen kann, hat Herr Clement einmal in nur einer Nacht 81 000 Menschen aus der Statistik verschwinden lassen. Das waren diejenigen, die sich in Trainingsmaßnahmen befunden haben. Diese Art der Manipulation der Statistik kann nicht richtig sein; denn dadurch wird kein einziger Arbeitsloser wieder in Lohn und Brot gebracht. Das müsste aber unsere Aufgabe sein.

Herr Brandner, wir müssen uns Gedanken darüber machen, dass wir Wachstumszahlen in einer Größenordnung von 2 Prozent brauchen, um überhaupt neue Arbeitsplätze schaffen zu können. Warum das in anderen Ländern schon bei einem Wachstum von nur 0,5 Prozent möglich ist, ist mir bis jetzt verborgen geblieben. Daran sollten wir arbeiten. Wir sollten uns aber nicht damit beschäftigen, die Arbeitslosenzahlen zu manipulieren. Und nichts anderes tun Sie.

   Das wahre Ausmaß der strukturellen Krise, die wir in Deutschland haben, kommt doch durch eine andere Zahl viel besser zum Ausdruck – deswegen ist es richtig, was der Kollege Singhammer gesagt hat, und deswegen gehört diese Zahl für mich in die Statistik rein –, nämlich durch die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Im Juni hatten wir gerade noch 26,4 Millionen.

(Klaus Brandner (SPD): Ein Ahnungsloser!)

Leider bekommen wir diese Zahl nicht zeitnäher, Herr Brandner. Das wissen Sie. Durch Ihre Politik sind in den letzten zwei Jahren 1,2 Millionen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze verloren gegangen.

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Haben Sie die Zahlen aus der Statistik?)

Das sind pro Monat 46 000 Arbeitsplätze. Frau Dückert, das müssen Sie zur Kenntnis nehmen. Das ist der Beweis für das Scheitern Ihrer Politik.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

1,2 Millionen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze sind verloren gegangen. Nichts belegt die strukturelle Krise, in der sich unser Land befindet, so sehr.

   Daran zeigt sich für mich auch, dass wir das System der Sozialversicherungen, das circa 70 Millionen Menschen umfasst, so mit ziemlicher Sicherheit nicht sanieren können. Deswegen sind die gesamten Versuche, die Sozialsysteme auf diesem Weg zu sanieren, nicht gelungen und werden auch nicht gelingen.

   Ich möchte noch einen Aspekt hinzufügen, der aus diesen ganzen Statistiken auch nicht hervorgeht, aber dennoch ein Beweis für Ihre gescheiterte Politik ist: Pro Jahr scheiden mittlerweile circa 200 000 bis 250 000 Personen mehr aus dem Erwerbsleben aus, als eintreten. Dieser demographische Effekt hätte in den sechs Jahren Ihrer Regierung ja eigentlich zu einer Reduzierung der Zahl der Arbeitslosen um circa 1,2 Millionen Menschen führen müssen. Nichts ist davon zu spüren: Die Arbeitslosigkeit steigt permanent. Das kann einem hier schon ganz gewaltig die Laune verderben.

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ist das eine Aufforderung, diese aus der Statistik herauszunehmen?)

   Wie verhält sich dabei Ihr Bundeswirtschaftsminister? Er ist ja heute bei einer so wichtigen Debatte, in der es um Arbeitslosigkeit, um die Schicksale der Menschen geht, nicht einmal im Parlament und schickt Herrn Andres vor, von dem wir ja gleich noch einiges hören werden. Er lässt sich von solchen Zahlen nicht einmal die Laune verderben. Die Manipulationen an der Arbeitsmarktstatistik bezeichnet er als „notwendige Klarstellung“. Wenn man 81 000 Menschen in der Trickkiste verschwinden lässt, ist das also eine „notwendige Klarstellung“. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dafür fehlen mir die Worte! Dann sagt er in demselben Statement weiter, dass er hoffe, dass sich die Konjunkturerholung aufgrund der von der Bundesregierung eingeleiteten Reformen spürbar auf den Arbeitsmarkt auswirken werde. Er hofft also. Gut, lassen wir ihn einmal hoffen, aber mir wäre es lieber, hier würde gehandelt, damit etwas passiert.

   Dazu muss die Arbeitsmarktpolitik verändert werden. Die Lohnnebenkosten müssen gesenkt werden. Eine Möglichkeit besteht zum Beispiel bei der Arbeitslosenversicherung. Wir müssen nur den Mut haben, in dem Bereich ABM – der sowieso nichts bringt – endlich wirksame Maßnahmen zu ergreifen und die Dinge, die über Steuern zu finanzieren sind, auch über Steuern zu finanzieren.

   Können Sie mir einmal erklären, warum wir jetzt auch noch Sprachkurse für Asylbewerber finanzieren? 180 Millionen Euro sind dafür in dem neuesten Etatentwurf der Bundesagentur vorgesehen. Sprachkurse für Asylbewerber, also nicht etwa für Asylanten, die hier berechtigt bleiben dürfen, werden mit 180 Millionen Euro gefördert. Dafür habe ich kein Verständnis.

   Wenn Sie all diese Dinge verändern und den Arbeitsmarkt deregulieren sowie endlich betriebliche Bündnisse für Arbeit zulassen würden, würden die Arbeitslosenzahlen positiv beeinflusst. Das Gleiche gilt, wenn Sie auf dem Sektor Bürokratieabbau – der Kollege Niebel hat das völlig zu Recht angesprochen – endlich etwas tun würden, was den Namen verdient. Nehmen Sie doch nur das Kleinunternehmerförderungsgesetz: Was Sie da an Statistik verlangen, an Fragebögen, die diese Unternehmer ausfüllen sollen, ist ein Beschäftigungsprogramm für Steuerberater, aber doch keine vernünftige Arbeit.

(Klaus Brandner (SPD): Herr Fuchs, der letzte Sonntag hat Sie verunsichert! Wir sind von Ihnen klarere Reden gewohnt!)

– Schauen Sie sich das bitte einmal selbst an, Herr Brandner, dann werden Sie es auch kapieren.

   Ich sage Ihnen noch eines voraus: Demnächst kommt die nächste Manipulation. Im Oktober sollen 100 000 Langzeitarbeitslose mit Sprachkursen beschäftigt werden. Die werden wir dann auch nicht mehr in der Statistik finden.

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): So ist es!)

Demnächst wird auch noch jeder, der einen 1-Euro-Job hat, aus der Statistik verschwinden; dann haben wir gleich 600 000 Arbeitslose weniger.

(Klaus Brandner (SPD): Ihre Regierung hat genau das eingeführt!)

Das kann doch nicht die Lösung unserer Arbeitsmarktprobleme sein. Gehen Sie bitte hin und suchen Sie den richtigen Weg.

Es war nicht in Ordnung – lieber Herr Brandner, ich kann lauter schreien als Sie; und ich habe ein Mikrofon –, dass sich der Bundeskanzler am letzten Wochenende hingestellt und den Menschen Mitnahmementalität vorgeworfen hat. Wer verursacht denn diese Mitnahmeeffekte? Wer schafft denn überhaupt die Möglichkeit dazu? Das sind doch Sie als Gesetzgeber. Sie können es doch verhindern. Beschimpfen Sie nicht die Leute, die die Gesetze so anwenden, wie Sie sie gemacht haben, sondern machen Sie die Gesetze so, dass sie vernünftig und sauber angewendet werden können! Alles andere ist doch unsauber.

(Klaus Brandner (SPD): Sie verhindern das doch! Sie verhindern den Subventionsabbau an allen Ecken und Enden!)

   Ich darf Ihnen vielleicht die Antwort der Bundesregierung auf unsere kleine Anfrage zur Wahrheit und Klarheit der Arbeitsmarktstatistik vorlesen: Die einzig wahre Arbeitslosenzahl kann es angesichts unterschiedlicher Erkenntnisinteressen nicht geben. So hat die Bundesregierung auf unsere Anfrage geantwortet. Es ist eine Unverschämtheit, uns so zu antworten. Einen besseren Beweis als diesen kann es nun wirklich nicht geben. Wir sollten hier wirklich dafür sorgen, dass vernünftige Politik gemacht wird, anstatt mit Nebelkerzen zu werfen.

   Sie sollten Ihre Kräfte auf die Arbeitsmarktpolitik konzentrieren. Tun Sie endlich das Richtige! Bekämpfen Sie die Arbeitslosigkeit und verschönern Sie nicht die Statistik!

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Klaus Brandner (SPD): Herr Fuchs, von Ihnen habe ich schon bessere Reden gehört! Das war kein Fuchs! – Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das war ein Murmeltier!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär für Wirtschaft und Arbeit, Gerd Andres.

(Klaus Brandner (SPD): Die Redezeit müsste verlängert werden, um so viel Unsinn geradezurücken!)

Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit:

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Während ich hier die ganze Zeit zugehört habe, ist mir durch den Kopf gegangen, dass das wahrscheinlich meine dreißigste oder vierzigste Debatte über Arbeitsmarktstatistik hier im Bundestag ist.

(Dirk Niebel (FDP): Dann haben Sie ja gar nichts Neues zu erzählen!)

   Ich muss Ihnen einmal sagen, was mich langsam richtig anödet, nämlich dass in diesen Debatten nie die Wahrheit gesagt, sondern je nach Interessenlage argumentiert wird. Man gaukelt sich etwas in einer Art und Weise vor, dass es überhaupt nicht mehr auszuhalten ist.

(Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Das bekommen wir jetzt von Ihnen zu hören!)

   Herr Fuchs, Sie waren ein beredtes Beispiel dafür.

(Dirk Niebel (FDP): Kommt jetzt die reine Wahrheit?)

Das, was Sie Herrn Kuhn vorgeworfen haben, kann ich Ihnen gleich zurückgeben. Bei Asylbewerbern angefangen haben Sie in Ihre Rede alles hineingepackt, was Sie hier gerne einmal loswerden wollten. Einen Teil der Positionen, die Sie hier genannt haben, finde ich außerordentlich bedenklich. Das will ich Ihnen einmal sagen.

   Die Sprachkenntnis ist eine Schlüsselfunktion, um Zugang zum Arbeitsmarkt zu erhalten.

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Das muss aber doch nicht durch die Versicherung bezahlt werden! – Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Was hat das mit der Arbeitslosenversicherung zu tun?)

Sie können das bewerten, wie Sie wollen. Ich empfehle Ihnen nur, in Ihrer Rede nachzulesen.

   Sie sagen, die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten müssten in die Arbeitslosenstatistik aufgenommen werden. Ich empfehle Ihnen, sich ein einziges Mal eine solche Statistik anzuschauen.

(Klaus Brandner (SPD): Man muss sie aber auch lesen können!)

Ich habe eine dabei. Die offizielle Statistik der Bundesagentur für Arbeit beginnt mit dem geschätzten Sachstand am Ende eines jeden Monats bezogen auf sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Für Juni stehen dort 26 440 800. Herr Fuchs, das, was Sie hier beklagen, ist also längst Wirklichkeit.

   Damit haben Sie ein schönes Beispiel dafür geliefert, dass die Statistikdebatten häufig sehr verlogen sind. Ich sage Ihnen ganz offen: Ich kenne das selbst, da ich lang genug in der Opposition war. Ein Interesse der Opposition ist es immer, der Regierung ständig vorzuwerfen, dass die Statistik manipuliert wird. Es werde alles herausgerechnet, was nicht hineingehöre, und

(Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Wir haben gut von Ihnen gelernt!)

es sei alles ganz schlimm. Die Arbeitslosenzahl wird dann auf 5 Millionen, 6 Millionen oder 7 Millionen aufgeblasen. Wer hat noch mehr zu bieten? Ich habe mich gewundert, dass hier noch niemand 8 Millionen gesagt hat.

(Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Das schaffen Sie auch noch!)

   Herr Singhammer, eines kann ich Ihnen sagen: Lesen Sie in Ihrer Rede nach! Alles, was Sie darin aufgelistet haben, würde ich daraufhin überprüfen, ob das nicht zufälligerweise Herr Blüm eingeführt hat.

(Dirk Niebel (FDP): Dann war das damals schon falsch! – Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Lass mir den „Nobbi“ in Ruhe, das war noch ein Minister!)

   Um das hier abzuschließen: Ich streite sehr gerne darüber, ob die Teilnehmer an Trainingsmaßnahmen in die Arbeitslosenstatistik gehören oder nicht. Für meine Begriffe sind das keine Arbeitslosen. Deswegen sind sie dort nicht hineinzurechnen. Darüber kann man aber sach- und fachgerecht diskutieren. Das Schöne ist: Wenn man unter Fachleuten außerhalb der Öffentlichkeit, also intern diskutiert – Karl-Josef Laumann nickt –, dann geben sich alle gegenseitig Recht. Die Debatte hier wird aber zu einer Schauveranstaltung genutzt. Dass die Menschen, die hier zuhören oder das an den Fernsehgeräten mitbekommen, dadurch ein Stück weit Vertrauen in die Politik verlieren, kann ich sehr gut verstehen.

(Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Die jetzige Statistik stimmt nun einmal nicht! – Johannes Singhammer (CDU/CSU): Glauben Sie wirklich, dass die jetzige Statistik stimmt?)

   Die Arbeitslosenzahlen der Bundesagentur für Arbeit sind ein wichtiger Indikator zur Beobachtung des Arbeitsmarktes. Wir alle sind es gewohnt, Monat für Monat auf diese Zahlen zu warten und der überwiegende Teil der Öffentlichkeit nimmt diese Arbeitslosenzahlen als alleinigen Indikator zur Beurteilung der Arbeitsmarktentwicklung. Dabei sollte zumindest der überwiegende Teil derjenigen, die hier sitzen, wissen, dass die Vorgänge am Arbeitsmarkt viel zu vielschichtig und komplex sind, um sie mit einer einzigen Zahl beschreiben zu können. Daher ist es natürlich unverzichtbar, weitere Statistiken heranzuziehen. Dies gilt zum Beispiel für die Teilnehmer an Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik und Personen im Vorruhestand, aber auch für Zu- und Abgänge in und aus Arbeitslosigkeit sowie die offenen Stellen und die Ausbildungsplatzsituation.

   Ich sage noch einmal ausdrücklich: Wir haben uns angewöhnt, monatlich immer nur eine Zahl zu erfahren, nämlich die der Arbeitslosen von zurzeit 4,35 Millionen. Wer einmal genauer hinschaut, der weiß, dass diese monatlich veröffentlichte Zahl ganz wenig aussagt. Nur dann, wenn man weiß, dass sich im vergangenen Jahr 7,7 Millionen Menschen neu arbeitslos gemeldet haben und knapp 150 000 weniger aus der Arbeitslosigkeit herausfanden, sieht man, wie viel Bewegung auf dem Arbeitsmarkt ist. Solche Zahlen beschreiben viel mehr als die Bestandszahl am Monatsanfang.

   Um die Datenlage zum Arbeitsmarkt weiter zu verbessern, hat die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates im Frühjahr dafür gesorgt, dass das Statistische Bundesamt demnächst monatliche Arbeitslosenzahlen nach dem international vergleichbaren ILO-Standard erheben wird. Hierzu werden pro Monat 30 000 Bürger per Telefon befragt. Die Umfrage hat am 10. September dieses Jahres begonnen. Die ersten veröffentlichungsfähigen Ergebnisse wird das Statistische Bundesamt voraussichtlich im Februar 2005 für den Monat Januar 2005 veröffentlichen.

   Mit dieser neuen monatlichen Statistik werden wir neue Einsichten über Umfang und Struktur der Arbeitslosigkeit gewinnen. Das Statistische Bundesamt will die neue Umfrage außerdem dazu nutzen – sehr gut zuhören, Herr Fuchs –, aktuelle Erwerbstätigenzahlen ohne Wartezeit zu veröffentlichen. Die bisherige Wartezeit von zwei Monaten entfällt. Damit steht dieser wichtige Konjunkturindikator künftig unmittelbar und zeitnah zur Verfügung.

   Von einer Änderung der Definition der Arbeitslosigkeit der Bundesagentur für Arbeit ist dagegen abzuraten; das sage ich ganz ausdrücklich. Diese Definition folgt zwangsläufig dem Leistungsrecht des Sozialgesetzbuches III; denn grundsätzlich kann nur derjenige Lohnersatzleistungen erhalten, der als arbeitslos registriert ist. Nach unserer Definition ist arbeitslos, wer zur sofortigen Arbeitsaufnahme verfügbar ist, sich bei einer Agentur für Arbeit gemeldet hat und gleichzeitig keiner Erwerbstätigkeit nachgeht oder aber weniger als 15 Stunden pro Woche arbeitet.

   Die im CDU/CSU-Antrag aufgeführten Personengruppen, die zu den bisherigen Arbeitslosen addiert werden sollen, sind aber nicht regelmäßig verfügbar, weil sie verrentet, im Vorruhestand oder in Weiterbildungsmaßnahmen sind. Möglich ist auch, dass sie einer anderen Erwerbstätigkeit nachgehen wie zum Beispiel Gründer einer Ich-AG oder Teilnehmer an Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Eine solche Abgrenzung der Maßnahmeteilnehmer von den Arbeitslosen entspricht übrigens auch dem EU-Standard, den Eurostat gemeinsam mit den Mitgliedstaaten erarbeitet hat.

   Für die Einbeziehung der so genannten stillen Reserve gilt, dass dieser Personenkreis in keiner Statistik valid erfasst wird und die geschätzten Daten zwangsläufig nicht die Qualität der anderen Statistik erreichen. Die stille Reserve zeichnet sich vielmehr dadurch aus, dass sie sich gerade nicht beim Arbeitsamt meldet oder auf andere Weise aktiv Arbeit sucht. Daher kann man sie nicht einfach zu den registergeschützten Arbeitslosenzahlen addieren.

Dass die Erwerbstätigen im Zentrum der Arbeitsmarktberichterstattung bleiben müssen, ist für die Bundesregierung klar. Zwar ist die Entwicklung der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten für die Entwicklung der Finanzen der Sozialversicherungen von großer Bedeutung, doch umfasst die Zahl der Erwerbstätigen neben der der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten auch die Minijobber, die Beamten und die Selbstständigen, die zur Beurteilung der Entwicklung am Arbeitsmarkt ebenso wichtig sind. Außerdem ist die Erwerbstätigenzahl neben der Zahl der Arbeitslosen internationaler Standardindikator zur Beurteilung der Arbeitsmarktentwicklung.

   Die Bundesregierung wird insbesondere vor dem Hintergrund der Einführung einer neuen monatlichen Arbeitsmarktstatistik nach ILO-Standard ihren Teil dazu beitragen, um für mehr Klarheit in der Arbeitsmarktstatistik zu sorgen.

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Also sollte man doch etwas tun!)

Sie hat dies mit ihrer ausführlichen Antwort auf die Kleine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion zur Wahrheit und Klarheit der Arbeitsmarktstatistik Ende März dieses Jahres schon getan. Daraus stammt das Zitat, das Sie, Herr Fuchs, benutzt haben. Ich sage Ihnen ganz ausdrücklich: Dieses Zitat ist richtig und die Bundesregierung hat damit Recht. Die Standardzahl zur Beschreibung der Arbeitslosigkeit gibt es nicht. Es benutzt jeder die Zahl, die er gerade gebrauchen kann. Dafür waren Sie in dieser Debatte ein leuchtendes Beispiel.

(Beifall bei der CDU/CSU – Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Natürlich steht die Bundesregierung auch mit dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung – auch das ist angesprochen worden, Herr Singhammer – und den führenden Wirtschaftsforschungsinstituten in Kontakt. Zur Vorbereitung der Herbstprognosen wird die Bundesregierung mit ihnen in der nächsten Woche unter anderem die Arbeitsmarktentwicklung und mögliche Indikatoren und Veränderungen der Arbeitsmarktstatistik diskutieren.

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Immerhin!)

Zu Ihrer Aufforderung, wir sollten doch wenigstens dem Sachverständigenrat glauben, dann sage ich Ihnen: Herzlichen Glückwunsch, Herr Singhammer, aufgewacht. Vielleicht haben Sie das auch schon begriffen. Das hat übrigens auch die alte Bundesregierung jedes Jahr gemacht. Sie hat jedes Jahr über den Arbeitsmarkt und über die Statistik diskutiert. Eine Ihrer Forderungen ist also erledigt. Die können Sie abhaken.

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Sie werden richtig gut!)

   Eine Diskussion der Arbeitslosigkeitsdefinition des SGB III führt allerdings nicht weiter, da sich diese Definition auch weiterhin am Leistungsrecht des SGB III orientieren muss. Ich sage ganz deutlich: Letztendlich müssen wir damit leben, dass es die eine wahre Zahl der Arbeitslosen nicht gibt, sich die Öffentlichkeit dennoch gern an eine einzige Zahl klammert. Die neue Statistik nach ILO-Standard bietet die Chance, dies zu ändern. Die Bundesregierung wird diese Chance gemeinsam mit dem Statistischen Bundesamt und der Bundesagentur für Arbeit nutzen.

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Wie viel niedriger ist denn die Zahl? – Gegenruf des Abg. Dirk Niebel (FDP): 500 000!)

   Die Bundesregierung lehnt den Antrag der CDU/CSU-Fraktion aus den genannten Gründen ab. Was Ihren Zwischenruf betrifft, Herr Singhammer, so lesen Sie doch die Antwort auf die Kleine Anfrage.

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Ich hätte es gern von Ihnen noch einmal gehört!)

– Sie wissen es doch. Das ist ein großer Packen.

(Ludwig Stiegler (SPD): Er kann doch nicht lesen! Lesen schadet doch nur!)

– Das glaube ich auch.

   Ich habe für die Bundesregierung geantwortet. Eine freundliche Diskussion über Statistik hilft überhaupt nicht weiter. Das zeigt das Beispiel von heute Morgen auch wieder. Wir werden so weitermachen, wie wir begonnen haben. Das halten wir für richtig.

(Dirk Niebel (FDP): Das haben wir befürchtet! – Johannes Singhammer (CDU/CSU): Ist das eine Drohung?)

   Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dirk Niebel (FDP): Die Regierung bleibt also beratungsresistent! Das ist tragisch!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Meckelburg, CDU/CSU-Fraktion.

Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Andres, auch Ihre Rede trägt nicht unbedingt dazu bei, dass man weiterkommt.

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Jetzt haben Sie eine große Chance, Herr Meckelburg!)

Sie wirken immer ziemlich rechthaberisch und erwecken den Eindruck, als ob alles außer dem, was Sie sagen, keinen Sinn habe. So einfach geht das nicht, Herr Andres.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ich will an den Anfang stellen – ich hoffe, dass zumindest darin Übereinstimmung besteht –: Wer Arbeitslosigkeit bekämpfen will, muss Arbeitsplätze schaffen und darf nicht die Statistik nach oben oder unten bereinigen. Darin sollten wir uns einig sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Walter Hoffmann (Darmstadt) (SPD))

Diese Diskussion ist wirklich so alt, wie es die Arbeitsmarktstatistiken gibt. Ich will eine Äußerung des Bundeskanzlers aus dem Jahr 1998 zitieren. Damals hat er gesagt, die Bundesregierung sei sich völlig im Klaren darüber, dass sie ihre Wahl wesentlich der Erwartung verdanke, die Arbeitslosigkeit wirksam zurückdrängen zu können. Genau dieser Herausforderung werde sie sich stellen. Er hat auch einmal gesagt, eine Regierung würde nicht wieder gewählt, wenn sie das nicht schaffte. 2002 sah es so aus, als ob nichts passiere. Damals wurde die Zahl von 3,5 Millionen Arbeitslosen genannt. Davon sind wir weit entfernt geblieben.

   Es sah wirklich so aus, als ob es zu einem Regierungswechsel hätte kommen können. Aber dann kam die Flut. Die Flut ist wieder gegangen, aber Schröder und die Arbeitslosigkeit sind geblieben, und das auf einem verstetigten Niveau. Das ist das Problem.

(Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Wenn die so weiter machen, müssen die ganz Deutschland unter Wasser setzen!)

Ich will auf den demographischen Effekt hinweisen. Seit dem Antritt der Regierung Schröder scheiden jährlich etwa 200 000 bis 250 000 Menschen mehr aus dem Arbeitsmarkt aus, als junge Menschen nachrücken. Das hat jedoch keinen Effekt. Die Zahl der Arbeitslosen liegt – bei steigender Tendenz – nach wie vor bei über 4 Millionen.

   Es ist in der Tat richtig, dass die Arbeitslosenstatistik ständig frisiert wird. Es ist auch richtig, das Zusammenbringen der einzelnen Gruppierungen zu diskutieren und in den Blick zu nehmen, wer wirklich arbeitslos ist. Dabei ist insbesondere darauf zu achten, wer von den Arbeitslosen im ersten Arbeitsmarkt unterkommt.

   Es gibt in der Tat viele längerfristige Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Der Kollege Niebel hat sie eben aufgezählt; ich möchte nur einige Beispiele nennen. Wer beispielsweise an einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme teilnimmt, wird in der Statistik nicht mehr geführt. Hinzu gekommen sind auch JUMP und JUMP plus. Diese Programme gab es noch nicht, als wir an der Regierung waren.

(Klaus Brandner (SPD): Die habt ihr doch herausgenommen! Das wissen Sie auch! Wir haben die ABM deutlich gekürzt! Auch das wissen Sie!)

– Ja, aber es kommen ständig neue Maßnahmen hinzu und die Betroffenen fallen aus der Arbeitslosenstatistik heraus. Wir sollten uns in dieser Hinsicht nichts vormachen, sondern die Frage beantworten, wie groß die Lücke zwischen der Zahl der Menschen, die im ersten Arbeitsmarkt tätig sind, und der Zahl derjenigen ist, die wirklich arbeitslos sind. Ich habe den Eindruck, dass die Statistik dazu tendiert, diese Lücke ständig zu verringern.

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kohls Wahl-ABM sind doch das beste Beispiel dafür!)

Sie haben diese Tendenz fortgesetzt.

   Das schlagendste Beispiel dafür sind die Eignungsfeststellungs- und Trainingsmaßnahmen – das ist ein schöner Name –, die am 1. Januar neu hinzugekommen sind. Das sind doch klassische Maßnahmen, an denen man teilnimmt, damit man eine Stelle bekommt. Mithilfe der Statistik wird aber so getan, als hätten die 80 000 Teilnehmer bereits einen Job.

(Klaus Brandner (SPD): Überhaupt nicht! Ganz im Gegenteil! Das wird doch genau ausgewiesen!)

Sie nehmen jedoch deshalb an diesen Maßnahmen teil, weil sie einen Job suchen und dabei Hilfe benötigen.

   Statistisch nimmt die Zahl der Teilnehmer an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen ständig zu. Das wird auch aus der Antwort auf die Kleine Anfrage deutlich. Die Statistik weist inzwischen 1,4 Millionen Menschen aus, die an längerfristigen Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik teilnehmen. Nimmt man die anderen Kategorien noch hinzu, ist die Zahl derjenigen, die aus der Statistik wegretuschiert wurden, unwahrscheinlich hoch. In diesem Punkt ist eine größere Klarheit notwendig, weil sonst in den nächsten Wochen und Monaten sicherlich noch ganz andere Zahlen diskutiert werden.

   Die Zahl der Arbeitslosen ist sehr wichtig. Die Frage, wie hoch diese Zahl ist bzw. ob sie bei 4 Millionen, 4,3 Millionen oder 4,5 Millionen liegt, interessiert die Menschen. Insofern ist es durchaus entscheidend, ob die Zahl über Nacht um 80 000 gesunken ist, weil die betroffenen Personen statistisch nicht mehr als arbeitsuchend gelten, sondern an den Eignungsfeststellungs- und Trainingsmaßnahmen teilnehmen.

   Wir dürfen uns nichts vormachen: Das alles sind Menschen, die letztlich noch arbeitslos sind und nicht im ersten Arbeitsmarkt angekommen sind. Das ist der entscheidende Punkt.

   Wozu brauchen wir die Statistik? Wir brauchen sie, um deutlich zu machen, dass es den Arbeitsmarkt gibt, der die Arbeitslosen aufnehmen soll, und wie hoch die Zahl derjenigen ist, die noch Arbeit suchen. Dafür liefert uns die Statistik sicherlich falsche Zahlen.

   Ich will noch auf einige Punkte eingehen, mit denen wir uns vielleicht in den nächsten Wochen beschäftigen werden. Das ist zum einen die ILO-Statistik, die bekanntlich – Sie haben das eben bereits dargestellt, Herr Staatssekretär – auf anderen Berechnungsgrundlagen beruht als unsere Statistik. Das wird dazu führen, dass die Zahl der Arbeitslosen nach der ILO-Statistik um etwa 600 000 unter der in der BA-Statistik angegebenen Zahl liegen wird.

   Sie können die Statistiken gerne parallel führen, aber mit der Einführung der ILO-Statistik darf nicht das Ziel verfolgt werden, dass wir künftig nur noch über die niedrigere Zahl reden. Denn eigentlich ist diese Zahl uninteressant. Bei der ILO handelt es sich um eine Organisation, in der Menschen und Politiker

(Bernd Scheelen (SPD): Menschen und Politiker! Das ist eine interessante Kombination!)

aus aller Herren Länder zusammenkommen. Möglicherweise gibt es Länder, in denen es entscheidend ist, ob man eine Stunde in Arbeit ist. Aber in Deutschland kann es doch für die Beurteilung, ob jemand nicht mehr als arbeitslos gilt, nicht ausschlaggebend sein, ob er mehr als eine Stunde gearbeitet hat. Was die Erwartungen des Einzelnen an den Arbeitsmarkt angeht, sollten wir unsere Standards beibehalten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Lassen Sie mich noch etwas zu den Hartz-Gesetzen und ihren Auswirkungen anmerken. Wir alle wissen inzwischen, dass die Hartz-Gesetze für den Arbeitsmarkt nicht sehr viel bringen. Es ist alles groß angekündigt worden. So sollten die Personal-Service-Agenturen jährlich 350 000 sozialversicherungspflichtige Jobs bringen. Sie bringen aber real – selbst an dieser Stelle stellt sich die Frage, ob das tatsächlich der Fall ist – im ersten Arbeitsmarkt nur 15 600 dieser Jobs. Das ist doch kein großer Erfolg.

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das geht doch erst am 1. Januar 2005 richtig los! Wo leben Sie denn!)

– Darauf komme ich gleich noch zu sprechen.

   Des Weiteren wurde angekündigt, dass es durch Existenzgründungen im Rahmen der Ich-AGs jährlich 500 000 Arbeitslose weniger geben werde. Bis jetzt gibt es aber nur 180 300, wobei noch abzuwarten ist, wie viele von diesen das zweite und dritte Jahr überstehen werden. Außerdem wurde versprochen, dass durch das Programm „Kapital für Arbeit“ jährlich 120 000 neue Jobs entstünden. Entstanden sind bis jetzt gerade einmal 12 862. Das, was von den Hartz-Gesetzen bisher wirksam ist, hat also für den ersten Arbeitsmarkt relativ wenig gebracht. Aber was hat das für die Statistik gebracht? Aus der Statistik sind viele Menschen herausgefallen. Es wird so getan, als ob die Arbeitslosigkeit zurückgegangen wäre. Das kann man eigentlich nicht sagen.

   An das, was von Hartz IV noch zu erwarten sein wird, sollten wir mit Spannung herangehen.

(Klaus Brandner (SPD): Ihr geht alles mit Spannung an!)

   Erstes Beispiel: Zu den 1-Euro- und 2-Euro-Jobs – derjenige, der diesen Begriff erfunden hat, muss schlecht geträumt haben; denn welche Wirkung hat wohl die Vorstellung auf Menschen, für 1 oder 2 Euro zu arbeiten? –: Vor allem die Kommunen sollen Jobs einrichten, in denen man 1 oder 2 Euro stündlich verdienen kann.

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Plus!)

– Es ist völlig klar, dass es sich hier um eine Hinzuverdienstmöglichkeit handelt. – Wir wollen uns aber nichts vormachen. Die Menschen, die solche Jobs haben, sind doch nicht auf dem ersten Arbeitsmarkt untergekommen. Wenn die Inhaber von 1-Euro- bzw. 2-Euro-Jobs im nächsten Jahr aus der Statistik herausfallen, dann sinkt die Zahl der Arbeitslosen auf einen Schlag um 600 000. So stellt sich Minister Clement das vor. Aber wollen wir uns wirklich vormachen, dass diese Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt untergekommen sind? Doch wohl nicht! Die Statistik wird aber dann vortäuschen, dass die Zahl der Arbeitslosen um 600 000 gesunken ist.

   Zweites Beispiel für die mögliche Wirkung von Hartz IV – das ist schon angesprochen worden –: Ein Teil derjenigen, die bisher nicht als arbeitslos registriert sind, wird sich sicherlich arbeitslos melden, weil sie hoffen, dadurch etwas mehr zu bekommen. Das führt möglicherweise dazu, dass die Zahl der Arbeitslosen steigt.

   Drittes Beispiel – das hat noch niemand angesprochen –: Wie viele Menschen werden die 15 Seiten umfassenden ALG-II-Formulare nicht ausfüllen? Einige werden es sicherlich nicht rechtzeitig schaffen oder nicht in der Lage sein, diese Formulare auszufüllen. Die Zahl dieser Menschen wird wahrscheinlich nicht sehr hoch sein. Andere wiederum werden sich sagen: Ich gebe dieses Formular nicht ab, weil ich dort so viel angeben muss, obwohl ich letztendlich nichts zu erwarten habe. Auch dadurch wird sich in der Statistik einiges verändern.

   Ich glaube, es kommt für uns darauf an, das alles im Blick zu behalten. Wir müssen aufpassen, dass die Statistik nicht dauernd frisiert wird und dass nicht ständig neue Gruppen aus der Statistik herausfallen. Wir dürfen uns nicht vormachen, dass die Zahl der Arbeitslosen bei 4,3 Millionen liegt. Die tatsächliche Zahl liegt wesentlich höher; das wissen wir alle. Das Einzige, was im Hinblick auf den Abbau der Arbeitslosigkeit wirklich hilft – das ist genau das, was bisher fehlt –, ist, eine Wirtschaftspolitik zu machen, die dafür sorgt, dass Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt entstehen. Sie arbeiten nur an der Statistik, bringen aber die Menschen nicht in Arbeit, weil Sie eine falsche Wirtschaftspolitik machen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Walter Hoffmann, SPD-Fraktion.

Walter Hoffmann (Darmstadt) (SPD):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte ebenfalls einen Ausflug zu den Wahlen in Sachsen und Brandenburg am letzten Sonntag machen. Wir alle wissen, dass die großen demokratischen Parteien dort alles andere als einen Sieg errungen haben. Das Wahlergebnis der Rechten ist eine weitere Niederlage für unsere Demokratie. Das hat sicherlich verschiedene Ursachen. Ich denke, eine Ursache besteht auch in dem Stil der öffentlichen Auseinandersetzung, wie man ihn häufig auf allen Ebenen beobachten kann. Ich möchte hier gerne einen Bogen zu unserer Debatte schlagen.

   Nach meiner Meinung gab es ein paar Ausfälle, die man nicht unkommentiert stehen lassen kann. Herr Niebel, bei allen Unterschieden im Detail sollten Sie vorsichtig sein. Sie haben gesagt – ich habe mir das mitgeschrieben –: Der Aufbau einer zweiten Statistik nach ILO-Standards ist Betrug. Herr Niebel, wir ersetzen die erste, die klassische Statistik nicht.

(Dirk Niebel (FDP): Noch nicht!)

Vielmehr werden beide Statistiken parallel geführt.

Es gibt nun sowohl die Möglichkeit, aus der einen Statistik Erkenntnisse zu gewinnen, als auch die Möglichkeit, aus der anderen Erkenntnisse zu gewinnen. Mit beiden Statistiken sind Vorteile, aber auch gravierende Nachteile verbunden. Ich finde es gut, dass es beide Statistiken gibt und dass man die klassische Statistik nicht einfach ersetzt. Das Vorhandensein zweier Statistiken ist aber kein Betrug, sondern eine Ausweitung des Erkenntnisinteresses in diesem Bereich. Bitte, seien Sie bei dem, was Sie da sagen, ein bisschen vorsichtig.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)

   Herr Fuchs, ich schätze Sie als einen Kollegen, der, was die Zustandsbeschreibung angeht, häufig der gleichen Meinung ist wie ich. Aber die ganze Statistikdiskussion hat mit den Zuständen in der Weimarer Republik wirklich nichts zu tun. Das ist absoluter Unsinn. Einen solchen Eindruck sollte man noch nicht einmal im Spaß erwecken.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Der Redlichkeit halber muss hier noch einmal erwähnt werden, dass Sie die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen des Begriffs „Arbeitsloser“ in den 80er- und in den 90er-Jahren zehnmal geändert haben. Die Ergebnisse waren immer wieder die gleichen:

   Erstens. Wer nicht verfügbar war, wurde aus der Statistik herausgenommen.

   Zweitens. Ganze Gruppen des Arbeitsmarktes wurden mithilfe gesetzlicher Änderungen schrittweise aus der Statistik herausgenommen.

   Jetzt machen Sie auf einmal eine Wendung um 180 Grad, also eine Kehrtwendung. Das ist vielleicht eine Neuorientierung Ihrer Politik; aber glaubwürdig, meine Damen, meine Herren der Opposition, ist das in der Tat nicht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Klaus Brandner (SPD): Ventilatorprinzip: viel Wind machen, aber nichts erreichen!)

   Staatssekretär Andres hat gesagt – ich will das einmal ein bisschen flapsig formulieren –: Die einen wollen eine große Zahl, die anderen wollen eine kleine Zahl. Ich denke, darauf kommt es im Prinzip nicht an. Wir alle wissen: Hinter der Statistik stehen individuelle Schicksale und Lebenssituationen. Genau deshalb ist so eine Vergröberung und Vereinfachung der Statistik, wie Sie sie fordern, von der Sache her unsinnig und bringt überhaupt keine weiteren Erkenntnisse.

   Sowohl ältere Menschen, die dem Arbeitsmarkt vielleicht nicht mehr voll zur Verfügung stehen wollen, als auch junge Menschen, die gerade versuchen, zum Beispiel durch eine Trainingsmaßnahme den Wiedereinstieg in den regulären Arbeitsmarkt zu finden, haben ein Erwerbsproblem. Daher ist es wichtig, die entsprechenden Arbeitsverhältnisse und die damit verbundenen Probleme differenziert zu betrachten. Darauf kommt es letztlich an. Da der Arbeitsmarkt komplex ist, brauchen wir unterschiedliche Modelle zur Lösung des Problems der Arbeitslosigkeit. Es hilft nichts, alles in einen Topf zu werfen, umzurühren und dann in die Welt hinauszugehen und über die hohen Arbeitslosenzahlen zu klagen. Das führt uns in der Tat nicht weiter.

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Aber zu hoch sind sie, die Arbeitslosenzahlen!)

   Übrigens, es ist auch international üblich – auch das muss hier deutlich gesagt werden –, Personen, die an einer Fortbildung teilnehmen, für die Dauer dieser Maßnahme aus der Statistik herauszunehmen. Sie müssen sich im Grunde genommen entscheiden, was Sie wollen: Wollen Sie Zahlen, die einen internationalen Vergleich ermöglichen, oder wollen Sie Zahlen, die den Eindruck vermitteln, dass Deutschland im internationalen Vergleich möglichst schlecht abschneidet, weil im Grunde genommen alle Gruppen völlig undifferenziert in die Statistik hineingepresst werden?

   Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, der in den bisherigen Reden nicht thematisiert wurde. Mir ist dieser Punkt wichtig, auch wenn er keinen rechtlichen und keinen politischen Aspekt enthält. Was ich meine, möchte ich an einem Beispiel verdeutlichen: Jemand nimmt einen Job in einem gemeinnützigen Betrieb an. Er arbeitet in einem Pflegeheim und bekommt dort 1 oder 2 Euro pro Stunde. Das heißt nichts anderes, als dass diese Person zwar zu einem großen Teil von der Bundesagentur für Arbeit finanziert wird, aber einen Vollzeitjob ausübt und, wenn man so will, auch ein Stück Verantwortung trägt, da sie jeden Tag mit viel Geduld und Fingerspitzengefühl ihre Arbeit erledigt. Eine solche Person ist auf dem besten Weg, aus der Arbeitslosenstatistik herauszufallen. Nun wollen Sie, dass solche Personen – ich habe nur einen Fall beschrieben – wieder in die Arbeitslosenstatistik aufgenommen werden. Sie sagen: Das sind Arbeitslose.

(Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Ja, das ist wohl ganz sicher! – Johannes Singhammer (CDU/CSU): Ja, natürlich!)

   Meine persönliche Auffassung ist, dass Sie diese Personengruppe mit einer solchen Maßnahme auch in der Öffentlichkeit stigmatisieren. Sie stigmatisieren diese Personen, die gerade aktiv geworden sind und auf einem guten Weg sind, ihre Probleme selbstständig zu lösen. Wenn Sie Menschen, die in solchen Beschäftigungsverhältnissen tätig sind, fragen, ob sie sich als arbeitslos empfinden, dann werden Sie im psychologischen Bereich gewaltige Sperren feststellen.

Ich denke, wir müssen auch aus psychologischen Gründen – ich sage noch einmal, dass das weder ein rechtliches noch ein politisches Argument ist, sondern ein sehr persönliches – bedenken, dass das Umsetzen Ihrer Forderung Millionen von Menschen dauerhaft, also über eine lange Zeit, stigmatisiert und bei den Betroffenen auch einen Demotivierungsprozess herbeiführt. Wir sollten den Menschen eher sagen, dass sie auf einem guten Weg sind und dass sie sich anstrengen müssen. Das ist nach meiner Auffassung der richtige Weg.

   Ich bin ein Anhänger unserer Statistik – bei allen Mängeln, bei allen Kritikpunkten und bei allen Notwendigkeiten, sie zu verbessern. Diese Einschätzung fußt im Wesentlichen auf drei Aspekten:

   Der erste Aspekt. Sie wissen, dass die Basis für unsere Arbeitsmarktzahlen die Registerdateien sind. Diese Registerdateien werden jeden Monat mit Zahlen aus den regionalen Arbeitsagenturen gefüllt. Das heißt, wir bekommen relativ zeitnah die aktuellen Zahlen, die zu einem realistischen Bild unserer Arbeitsmarktsituation zusammengeführt werden. Das ist übrigens der Unterschied zur Erhebungsstatistik, die auf Stichproben aufbaut und die ab 1. Januar für uns relevant wird.

   Der zweite – positive – Aspekt ist die so genannte regionale Tiefe. Meine Damen und Herren, wenn Sie sich einmal die Statistiken anderer Länder anschauen, dann werden Sie feststellen, dass man dort nicht ermitteln kann, wie die Arbeitslosigkeit zum Beispiel in einer kleineren Kommune aussieht. Das funktioniert nicht. Das ging auch bei uns bis in die 70er-Jahre nicht. Wir haben mit der Bundesagentur heftige Kämpfe ausgefochten, bis das endlich auch technisch umgesetzt wurde. Nun ist es möglich, die Daten von der Gemeindeebene über die Kreisebene und die Landesebene – alle Regionen, bis auf die kleinste Einheit – nach Einzelaspekten zu erfassen. So können wir genaue Analysen durchführen und genaue Aussagen treffen.

   Der dritte Aspekt ist die enorme Dynamik des Arbeitsmarkts. Die Zahlen verschleiern im Grunde in der Diskussion. Es gibt eine enorme Bewegung in diesen Prozessen. Bei 5 Prozent Arbeitslosigkeit heute und 5 Prozent Arbeitslosigkeit in drei Monaten – theoretisch die gleiche Zahl – werden die Personen komplett ausgewechselt sein. Diese Dynamik statistisch zu erfassen ist sehr schwierig. Wenn Sie alles das in einen Topf werfen und umrühren, kommt dabei nichts heraus.

   Unser Ziel muss es sein, die vorhandenen Daten besser zu differenzieren. Die ILO-Statistik ab Januar gibt uns die Chance, Veränderungen von Erwerbsverhältnissen endlich ein bisschen genauer zu erfassen. Das ist sehr schwierig. Deswegen ist die Ergänzung eine sinnvolle und richtige Sache.

   Wir haben in den letzten Wochen, Monaten und Jahren schon eine ganze Menge gemacht. Herr Niebel, noch ein Hinweis: Sie wissen – vielleicht haben Sie es aber auch übersehen –, dass seit dem Jahr 2003 für Eltern, die Kindergeld in Anspruch nehmen, eine Meldung bei der Bundesagentur ausreicht. Das kommt nicht mehr in die Statistik hinein. Das haben wir im Jahr 2003 Gott sei Dank geändert. Es war viel zu umständlich und gab auch in der Sache ein völlig falsches Bild.

   Wir haben eine ganze Reihe von Änderungen durchgezogen. Ich habe leider nicht mehr die Zeit, das alles hier darzustellen. Wir haben eine neue Statistik zur Teilzeitarbeit, zu Minijobs, zu sozialversicherungsfreien Jobs usw. Wir können uns bei dieser Debatte sicherlich auf die Aussage verständigen, dass nicht die Statistik das Entscheidende ist, sondern eine aktive, offensive Arbeitsmarktpolitik. Wir sind gerade mittendrin. Dabei können Sie uns weiterhin helfen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Ich schließe die Aussprache.

   Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/3451 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

   Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 g sowie die Zusatzpunkte 3 a bis 3 c auf:

23 a) Beratung des Antrags der Bundesregierung

Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolutionen 1386 (2001) vom 20. Dezember 2001, 1413 (2002) vom 23. Mai 2002, 1444 (2002) vom 27. November 2002, 1510 (2003) vom 13. Oktober 2003 und 1563 (2004) vom 17. September 2004 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen

– Drucksache 15/3710 –

Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss (f)RechtsausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und EntwicklungHaushaltsausschuss gemäß § 96 GO

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Einundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (21. BAföGÄndG)

– Drucksache 15/3655 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)InnenausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung von Verjährungsvorschriften an das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts

– Drucksache 15/3653 –

Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss

d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Transfusionsgesetzes und arzneimittelrechtlicher Vorschriften

– Drucksache 15/3593 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung

e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2002/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2002 (Finanzkonglomeraterichtlinie – Umsetzungsgesetz)

– Drucksache 15/3641 –

Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss

f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Patentgesetzes und anderer Vorschriften des gewerblichen Rechtsschutzes

– Drucksache 15/3658 –

Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und LandwirtschaftAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

g) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (17. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung

Technikfolgenabschätzung hier: Monitoring „Maßnahmen für eine nachhaltige Energieversorgung im Bereich Mobilität“

– Drucksache 15/851 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)Ausschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

ZP 3 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Joachim Stünker, Hermann Bachmaier, Sabine Bätzing, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Jerzy Montag, Irmingard Schewe-Gerigk, Hans-Christian Ströbele, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Rechtsbehelfe bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Anhörungsrügengesetz)

– Drucksache 15/3706 –

Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)InnenausschussAusschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

Radverkehr fördern – Fortschrittsbericht vorlegen

– Drucksache 15/3708 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Günther Friedrich Nolting, Dr. Werner Hoyer, Helga Daub, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Mandat für Kabul und Kunduz/Faizabad trennen

– Drucksache 15/3712 –

Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss (f)RechtsausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und EntwicklungHaushaltsausschuss

   Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.

   Die Kollegin Petra Pau hat zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte in Afghanistan auf Drucksache 15/3710, für den eine Überweisung im vereinfachten Verfahren vorgesehen ist, gemäß § 80 Abs. 4 der Geschäftsordnung eine Aussprache beantragt, mittlerweile aber auf die Wortmeldung dazu verzichtet.

(Petra Pau (fraktionslos): Ich erhalte den Antrag aber aufrecht!)

– Ja.

   Ich lasse zunächst über den Antrag auf Aussprache abstimmen. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist der Antrag abgelehnt.

   Somit können die Vorlagen, wie interfraktionell vorgeschlagen, an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

   Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a und 24 c bis 24 m sowie die Zusatzpunkte 4 a bis 4 c auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.

   Tagesordnungspunkt 24 a:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europäischen Übereinkommen vom 19. August 1985 über Gewalttätigkeit und Fehlverhalten von Zuschauern bei Sportveranstaltungen und insbesondere bei Fußballspielen

– Drucksache 15/3354 –(Erste Beratung 118. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuss)

– Drucksache 15/3736 –

Berichterstattung:Abgeordnete Tobias MarholdDorothee MantelSilke Stokar von NeufornGisela Piltz

   Der Innenausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/3736, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.

   Tagesordnungspunkt 24 c:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (14. Ausschuss) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Verwendung von Frontschutzbügeln an Fahrzeugen und zur Änderung der Richtlinie 70/156/EWG des Rates

KOM (2003) 586 endg.; Ratsdok. 13693/03

– Drucksachen 15/2028 Nr. 2.16, 15/3540 –

Berichterstattung:Abgeordnete Heidi Wright

   Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundesregierung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.

   Tagesordnungspunkt 24 d:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (14. Ausschuss)

– zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung

Vorschlag für einen Beschluss des Rates über die Unterzeichnung und vorläufige Anwendung eines Abkommens in Form eines Briefwechsels zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Republik Slowenien über das vorläufige Punktesystem für Lastkraftwagen im Transit durch Österreich vom 1. Januar 2004 bis zum 30. April 2004

Vorschlag für einen Beschluss des Rates über den Abschluss eines Abkommens in Form eines Briefwechsels zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Republik Slowenien über das vorläufige Punktesystem für Lastkraftwagen im Transit durch Österreich vom1. Januar 2004 bis zum 30. April 2004

KOM (2003) 835 endg.; Ratsdok. 5100/04

– zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung

Vorschlag für einen Beschluss des Rates über die Unterzeichnung und vorläufige Anwendung einer Verwaltungsvereinbarung in Form eines Briefwechsels zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über das vorläufige Punktesystem für Lastkraftwagen im Transit durch Österreich

Vorschlag für einen Beschluss des Rates über den Abschluss einer Verwaltungsvereinbarung in Form eines Briefwechsels zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über das vorläufige Punktesystem für Lastkraftwagen im Transit durch Österreich

KOM (2003) 836 endg.; Ratsdok. 5102/04

– zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung

Vorschlag für einen Beschluss des Rates über die Unterzeichnung und vorläufige Anwendung eines Abkommens in Form eines Briefwechsels zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Republik Kroatien über das vorläufige Punktesystem für Lastkraftwagen im Transit durch Österreich

Vorschlag für einen Beschluss des Rates über den Abschluss eines Abkommens in Form eines Briefwechsels zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Republik Kroatien über das vorläufige Punktesystem für Lastkraftwagen im Transit durch Österreich

KOM (2003) 833 endg.; Ratsdok. 5103/04

– zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung

Vorschlag für einen Beschluss des Rates über die Unterzeichnung und vorläufige Anwendung eines Abkommens in Form eines Briefwechsels zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien über das vorläufige Punktesystem für Lastkraftwagen im Transit durch Österreich

Vorschlag für einen Beschluss des Rates über den Abschluss eines Abkommens in Form eines Briefwechsels zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien über das vorläufige Punktesystem für Lastkraftwagen im Transit durch Österreich

KOM (2003) 837 endg.; Ratsdok. 5104/04

– Drucksachen 15/2519 Nrn. 2.18, 2.19, 2.20, 2.21, 15/3579 –

Berichterstattung:Abgeordnete Georg Brunnhuber

   Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundesregierung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.

   Tagesordnungspunkt 24 e:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit (9. Ausschuss) zu der Verordnung der Bundesregierung

Einhundertdritte Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste – Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung –

– Drucksachen 15/3282, 15/3393 Nr. 2.1, 15/3733 –

Berichterstattung:Abgeordneter Erich G. Fritz

   Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verordnung nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.

   Tagesordnungspunkt 24 f:

Beratung des Zweiten Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (1. Ausschuss) zu den Überprüfungsverfahren nach § 44 b Abgeordnetengesetz (AbgG)

(Überprüfung auf Tätigkeit oder politische Verantwortung für das Ministerium für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik)

– Drucksache 15/3608 –

Berichterstattung:Abgeordnete Erika Simm

   Ich gehe davon aus, dass Sie den Bericht zur Kenntnis genommen haben. – Das ist der Fall.

   Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Das sind die Tagesordnungspunkte 24 g bis 24 m.

   Tagesordnungspunkt 24 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 138 zu Petitionen

– Drucksache 15/3685 –

   Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Sammelübersicht 138 ist einstimmig angenommen.

   Tagesordnungspunkt 24 h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 139 zu Petitionen

– Drucksache 15/3686 –

   Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Sammelübersicht 139 ist ebenfalls einstimmig angenommen.

   Tagesordnungspunkt 24 i:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 140 zu Petitionen

– Drucksache 15/3687 –

   Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Sammelübersicht 140 ist einstimmig angenommen.

   Tagesordnungspunkt 24 j:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 141 zu Petitionen

– Drucksache 15/3688 –

   Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Sammelübersicht 141 ist ebenfalls einstimmig angenommen.

   Tagesordnungspunkt 24 k:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 142 zu Petitionen

– Drucksache 15/3689 –

   Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Sammelübersicht 142 ist bei Enthaltung der FDP-Fraktion und Zustimmung aller anderen Fraktionen angenommen.

   Tagesordnungspunkt 24 l:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 143 zu Petitionen

– Drucksache 15/3690 –

   Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Sammelübersicht 143 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU- und FDP-Fraktion angenommen.

   Tagesordnungspunkt 24 m:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 144 zu Petitionen

– Drucksache 15/3691 –

   Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Sammelübersicht 144 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU-Fraktion gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen.

   Zusatzpunkt 4 a:

Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Fleischhygienegesetzes und der Fleischhygiene-Verordnung

– Drucksache 15/2772 –(Erste Beratung 108. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (10. Ausschuss)

– Drucksache 15/3735 –

Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Wilhelm Priesmeier Abg. Uda Carmen Freia Heller Abg. Friedrich Ostendorff Abg. Dr. Christel Happach-Kasan

   Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3735, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion angenommen.

   Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion angenommen.

   Zusatzpunkt 4 b:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Rahmenübereinkommen der Weltgesundheitsorganisation vom 21. Mai 2003 zur Eindämmung des Tabakgebrauchs (Gesetz zu dem Tabakrahmenübereinkommen)

– Drucksache 15/3353 –(Erste Beratung 118. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung (13. Ausschuss)

– Drucksache 15/3734 –

Berichterstattung:Abgeordneter Jens Spahn

   Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung empfiehlt auf Drucksache 15/3734, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU-Fraktion gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen.

   Zusatzpunkt 4 c:

Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP

Für eine parlamentarische Dimension im System der Vereinten Nationen

– Drucksache 15/3711 –

   Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist einstimmig angenommen.

   Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:

Aktuelle Stunde

auf Verlangen der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Positive Entwicklung des Gewerbesteueraufkommens bei den Kommunen

   Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Parlamentarischen Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks das Wort.

[Der folgende Berichtsteil – und damit der gesamte Stenografische Bericht der 126. Sitzung – wird morgen,
Freitag, den 24. September 2004,
an dieser Stelle veröffentlicht.]
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/plenarprotokolle/15126
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