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15. Wahlperiode
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   148. Sitzung

   Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004

   Beginn: 9.00 Uhr

   * * * * * * * * V O R A B – V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *

   * * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *

   * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * * * *

Präsident Wolfgang Thierse:

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

Zunächst möchte ich dem Kollegen Ulrich Heinrich, der am 11. Dezember seinen 65. Geburtstag feierte, und dem Kollegen Michael Glos, der am 14. Dezember seinen 60. Geburtstag beging, nachträglich die besten Glückwünsche aussprechen.

(Beifall)

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU: Neuverteilung der Sitze des Deutschen Bundestages im Ausschuss nach Art. 77 Abs. 2 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) vor dem Hintergrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Dezember 2004

– Drucksache 15/4494 –

(siehe 147. Sitzung)

ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: zu den Antworten der Bundesregierung auf die Fragen 14 bis 23 in Drucksache 15/4476

(siehe 147. Sitzung)

ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren

(Ergänzung zu TOP 25)

Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP: Deutsch-russischen Jugendaustausch ausweiten und stärken

– Drucksache 15/4530 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss

ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache

(Ergänzung zu TOP 26)

a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 30. September 2003 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Bulgarien über die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der organisierten und der schweren Kriminalität

– Drucksache 15/3880 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuss)

– Drucksache 15/4525 –

Berichterstattung:Abgeordnete Tobias Marhold Erwin Marschewski (Recklinghausen)Silke Stokar von Neuforn Dr. Max Stadler

b) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes

– Drucksache 15/2252 –

(Erste Beratung 102. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)

– Drucksache 15/4537 –

Berichterstattung:Abgeordnete Erika Simm Siegfried Kauder (Bad Dürrheim)Jerzy Montag Jörg van Essen

c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 173 zu Petitionen

– Drucksache 15/4509 –

d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 174 zu Petitionen

– Drucksache 15/4510 –

e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 175 zu Petitionen

– Drucksache 15/4511 –

f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 176 zu Petitionen

– Drucksache 15/4512 –

ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Zwischenbilanz des nationalen Paktes für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs in Deutschland

ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hermann Scheer, Rolf Hempelmann, Dr. Axel Berg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Michaele Hustedt, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Nationales Energieforschungsprogramm vorlegen

– Drucksache 15/4514 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach, Cornelia Pieper, Hellmut Königshaus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Rechtssicherheit für die Einwerbung von Drittmitteln an Hochschulen und Universitätskliniken für Forschung und Lehre

– Drucksache 15/4513 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)Rechtsausschuss

ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich (Bayreuth), Dr. Karl Addicks, Daniel Bahr (Münster), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Flughafenkonzept für Deutschland

– Drucksache 15/4517 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss

ZP 9 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (1. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Angela Merkel, Michael Glos, Siegfried Kauder (Bad Dürrheim), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Einsetzung eines Untersuchungsausschusses

– Drucksachen 15/4285, 15/…. –

Berichterstattung: Abg. .....

ZP 10 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Für eine Selbstverpflichtung öffentlich-rechtlicher und privater Rundfunksender zur Förderung von Vielfalt im Bereich von Pop- und Rockmusik in Deutschland

– Drucksache 15/4521 –

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffen Kampeter, Günter Nooke, Bernd Neumann (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Musik aus Deutschland fördern – Für eine freiwillige Selbstverpflichtung der Hörfunksender zugunsten deutschsprachiger Musik

– Drucksache 15/4495 –

ZP 11 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bernhard Brinkmann (Hildesheim), Ernst Bahr (Neuruppin), Lothar Binding (Heidelberg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Anja Hajduk, Volker Beck (Köln), Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Bewältigung der Konversionslasten durch gemeinsame Anstrengungen von Bund, Ländern und Kommunen

– Drucksache 15/4520 –

Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss (f)InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und Arbeit VerteidigungsausschussAusschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dietrich Austermann, Steffen Kampeter, Ilse Aigner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Konversionsregionen stärken – Verbilligte Abgabe von zu Verteidigungszwecken nicht mehr benötigten Liegenschaften ermöglichen

– Drucksache 15/4531 –

Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss (f)InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und Arbeit VerteidigungsausschussAusschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

ZP 12 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes und weiterer Gesetze

– Drucksache 15/4491 –

Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f)FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

ZP 13 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU: altung der Bundesregierung zu Berichten über eine drohende Unterfinanzierung der Rentenkassen in 2005

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll – soweit erforderlich – abgewichen werden.

Ferner soll am Freitag Tagesordnungspunkt 21 mit Tagesordnungspunkt 20 getauscht werden.

Außerdem mache ich auf nachträgliche Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:

Der in der 142. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft zur Mitberatung überwiesen werden.

Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Vereinfachung der Verwaltungsverfahren im Sozialrecht (Verwaltungsvereinfachungsgesetz)

– Drucksache 15/4228 –

überwiesen:Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f)InnenausschussRechtsausschuss FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und Arbeit

Der in der 138. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung zur Mitberatung überwiesen werden.

Gesetzentwurf der Bundesregierung über die Verwendung elektronischer Kommunikationsformen in der Justiz (Justizkommunikationsgesetz – JKomG)

– Drucksache 15/4067 –

überwiesen:Rechtsausschuss

Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf:

3. a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang Schäuble, Dr. Friedbert Pflüger, Peter Hintze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

Für ein glaubwürdiges Angebot der EU an die Türkei

– Drucksachen 15/3949, 15/4522 –

Berichterstattung:Abgeordnete Uta Zapf Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Ludger Volmer Dr. Werner Hoyer

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Die Türkeipolitik der EU verlässlich fortsetzen und den Weg für Beitrittsverhandlungen mit der Türkei frei machen

– Drucksachen 15/4031, 15/4523 –

Berichterstattung:Abgeordnete Uta Zapf Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Ludger Volmer Dr. Werner Hoyer

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang Gerhardt, Dr. Guido Westerwelle, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Zu der Empfehlung der EU-Kommission über Beitrittsverhandlungen der Europäischen Union mit der Türkei

– Drucksachen 15/4064, 15/4524 –

Berichterstattung:Abgeordnete Uta Zapf Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Ludger Volmer Dr. Werner Hoyer

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eindreiviertel Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Angela Merkel, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Angela Merkel (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich sage es gleich zu Beginn und ohne jede Umschweife: Die Union hat diese heutige Debatte nicht deshalb beantragt, weil wir uns der Hoffnung hingeben, wir als Opposition könnten die Bundesregierung, Herr Bundeskanzler und Herr Bundesaußenminister, noch von ihrer Haltung zum EU-Beitritt der Türkei abbringen. Wir wissen, dass wir sie nicht umstimmen werden. Wir machen uns da keine Illusionen. Der EU-Rat der Staats- und Regierungschefs – dazu gehören, das sage ich ganz klar, auch Staats- und Regierungschefs der Parteienfamilie der Europäischen Volkspartei – wird heute oder morgen aller Voraussicht nach die Aufnahme von Verhandlungen mit der Türkei über den Beitritt zur Europäischen Union beschließen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Wir haben die Debatte heute hier in diesem Hause aus einem anderen Grund gewollt. Wir haben sie gewollt, um mit den Menschen über die Folgen dieser Entscheidung zu sprechen. Ich glaube, darauf haben die Menschen am Vorabend einer für Europa historischen Entscheidung wirklich einen Anspruch.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich frage Sie: Wer, wenn nicht dieser Deutscher Bundestag, sollte diesen Anspruch einlösen? Deshalb haben wir als Opposition beantragt, darüber zu debattieren, weil wir aus vielen Umfragen und Gesprächen wissen, wie sehr dieses Thema die Gemüter in Deutschland bewegt.

   Ich glaube, wir alle sind uns darüber einig, dass wir ein solches Thema nicht Rattenfängern und Hetzern überlassen dürfen,

(Zuruf von der SPD: So ist es!)

sondern diese Debatte verantwortlich führen müssen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Meine Damen und Herren, wer denen, die diese Debatte führen, Begriffe wie „Brandstifter“ entgegenhält, wer von „zynischem Spiel“ oder von „politischer Hetze – hysterisch und schamlos“ redet, der will keine offene, ehrliche Debatte über diese wichtige Frage,

(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe des Abg. Gernot Erler (SPD) und des Abg. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

der will anderen den Mund verbieten und nicht Argumente austauschen. Dieses Verhalten und diese Herangehensweise sprechen für mich dafür, dass man ein unerwünschtes Thema tabuisieren will, vielleicht weil man glaubt, seiner eigenen Klientel irgendetwas schuldig zu sein.

(Gernot Erler (SPD): Ach je!)

   Aber, meine Damen und Herren, das ist ein Thema, das die Menschen bewegt und das mit allergrößten Folgen für die deutsche und die europäische Politik verbunden ist. Deshalb, glaube ich, werden sich die Deutschen auch ein eigenes Urteil darüber bilden, dass der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland in einer solchen Debatte nicht das Wort ergreift oder uns sogar, wie man es erwarten müsste, in einer Regierungserklärung heute hier seine Haltung darlegt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Gernot Erler (SPD): Wir haben noch andere redefähige Personen bei uns!)

   Sie werden die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beschließen und Sie werden unseren Vorschlag eines dritten Weges, einer privilegierten Partnerschaft, ausschlagen. Dies werden Sie auch damit begründen, dass alle Bundesregierungen seit Konrad Adenauer der Türkei den Beitritt zur Europäischen Union versprochen hatten. Deshalb möchte ich auf den Historiker Professor Heinrich August Winkler verweisen, der immer wieder betont, dass bei der Beurteilung von Entscheidungen stets auch die Umstände, unter denen sie getroffen wurden, zu berücksichtigen sind und dass es aus diesem Grunde keinen Automatismus geben kann.

   Wenn wir uns einmal die Entwicklung der Europäischen Union vor Augen führen, erkennen wir, dass in den 60er-, 70er-, 80er-Jahren die Ausgestaltung einer Wirtschaftsgemeinschaft weit vorangekommen und durch die Vollendung des Binnenmarktes sicherlich ein qualitativer Sprung gemacht worden ist. Aber inzwischen ist die Entwicklung wesentlich über den Binnenmarkt hinausgegangen. Wir haben die Verträge von Maastricht und Amsterdam, eine gemeinsame Währung ist eingeführt worden, wir haben eine Unionsbürgerschaft – im Übrigen ein Punkt, der sehr wenig diskutiert wird; diese Unionsbürgerschaft führt nämlich zum Kommunalwahlrecht für alle bei uns lebenden Bürger der Europäischen Union –, eine Erweiterung der Politik der Europäischen Union um die Innen- und Rechtspolitik, eine Grundrechtscharta und einen Verfassungsvertrag. Das heißt, es gibt eine Entwicklung von einer Freihandelszone hin zu einer politischen Union. Deshalb müssen wir uns fragen: Was bedeutet es für diese politische Union, wenn ein Land wie die Türkei Mitglied der Europäischen Union wird?

   Genau aus diesem Grund befassen sich die Kopenhagener Kriterien nicht nur mit dem beitrittswilligen Land, sondern fragen – das wird in der Diskussion immer wieder unterschlagen – zu einem Teil auch: Ist die Integrationsfähigkeit der Europäischen Union gefährdet, wenn ein weiteres Land aufgenommen wird? An dieser Stelle sage ich: Wir müssen uns vor Augen führen, dass die Vertiefung der politischen Union mit der Türkei als Vollmitglied nicht so erfolgen können wird, wie wir uns das vorstellen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Deshalb möchte ich den ehemaligen Verfassungsrichter Böckenförde zitieren, der neulich in einer Danksagung anlässlich der Verleihung des Hannah-Arendt-Preises deutlich gesagt hat – Zitat –:

Die Türkei ist nach geographischer Ausdehnung, Bevölkerungszahl, nationaler und kultureller Identität, ökonomischer und politischer Struktur von einer Bedeutung und Eigenart, die die Frage nach dem Konzept, der finalité der europäischen Einigung unausweichlich macht.

   Diese Frage, meine Damen und Herren, wird von der Bundesregierung und den sie tragenden Fraktionen nicht beantwortet: Ist es eine politische Union, ein geostrategisches Bündnis oder eine Freihandelszone, was wir uns vorstellen? Ohne diese Frage zu beantworten, ist es nicht verantwortlich, Beitrittsverhandlungen mit einem Land zu beginnen, da nicht klar ist, wohin diese führen sollen. Wir bekennen uns klar zu einer vertieften Politischen Union.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Sie werden weiterhin sagen, dass der Türkei die Zusage auch deshalb gegeben worden sei, weil sie historisch und politisch zu Europa gehöre. Tatsache ist, dass – daran kommt man nach einem Blick auf die Landkarte nicht vorbei – erstmals in der Geschichte des europäischen Einigungsprozesses Verhandlungen mit einem Land begonnen werden, dessen Grenzen weit über Europa hinausgehen; sie reichen bis zum Iran, zum Irak und nach Syrien.

(Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das hat sich aber nicht geändert!)

Meine Damen und Herren, es nützt doch nichts, so zu tun, als ob die Menschen das nicht beschäftigt. Denken Sie doch einmal an Konstruktionen wie das Schengen-Abkommen und die Definition der Außengrenzen! Daher muss doch über eine solche Tatsache debattiert werden.

   Man hilft der Türkei nicht, wenn man immer wieder darüber hinwegsieht, dass die Kopenhagener Kriterien von der Türkei nicht so erfüllt werden, wie wir uns das vorstellen. Es besteht kein Zweifel daran, dass es dort Folter gibt. Es besteht auch kein Zweifel daran, dass es eine Religionsfreiheit nicht gibt. An dieser Tatsache werden Sie nicht vorbeikommen, wenn Sie die Möglichkeiten betrachten, die christliche Kirchen in der Türkei haben. Es kann für den türkischen Ministerpräsidenten zu einem Eigentor werden – Wolfgang Schäuble hat dies gestern bemerkt –, wenn er uns bezichtigt, ein Christenklub zu sein, aber gleichzeitig Religionsfreiheit in seinem Lande nicht ausreichend garantiert.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Der Herr Bundesaußenminister spricht – so auch in den letzten Tagen – immer wieder von der geostrategischen Bedeutung, die der Beitritt der Türkei zur Europäischen Union habe. Es ist richtig: Die Europäische Union ist entstanden aufgrund der Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg und aus der Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus sowie der festen Überzeugung der europäischen Länder, nie wieder Krieg gegeneinander zu führen.

   Es ist auch richtig, dass der 11. September des Jahres 2001 die Welt verändert hat. Aber ich bezweifle, dass man argumentieren kann, die dadurch entstandene Situation hinsichtlich der Beziehung zwischen der Europäischen Union und der Türkei sei vergleichbar mit der Situation in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Wir haben ein gutes, freundschaftliches und enges Verhältnis mit der Türkei in den letzten Jahrzehnten. Die Türkei ist ein assoziiertes Mitglied der Europäischen Union.

   Man kann nicht behaupten, dass die geostrategische Frage, die sich nach dem 11. September 2001 natürlich stellt, mit einem Beitritt der Türkei zur Europäischen Union beantwortet werden kann. Es stellt sich eine ganz andere Frage: Welche Kraft auf sicherheitspolitischem Gebiet hat der Westen und insbesondere die Europäische Union? Ich glaube, da handeln wir nach dem Prinzip Hoffnung. Die Europäische Union ist keine sicherheitspolitisch global agierende Macht. Die globale Sicherheitsarchitektur des Westens beruht auf einer starken NATO, in der die Türkei Mitglied ist.

(Gernot Erler (SPD): „Gutes“ Argument! – Weitere Zurufe von der SPD)

– Meine Damen und Herren, wenn Sie den Unterschied zwischen einem geostrategischen Bündnis, wie es die NATO darstellt, und einer politischen Union, wie sie die heutige Europäische Union ist, nicht erkennen, dann wird es natürlich schwierig.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Der Bundesaußenminister spricht davon, dass nach dem 11. September 2001 kleineuropäische Lösungen nicht weiterhelfen würden, weil wir es mit großen Ländern wie Indien, China und den Vereinigten Staaten zu tun hätten. Er suggeriert damit, dass durch den Beitritt der Türkei aus einer kleineuropäischen Lösung eine großeuropäische Lösung wird. Heinrich August Winkler sagt dazu – wie ich finde, sehr zutreffend –: Man darf Größe nicht mit Stärke verwechseln. Das ist genau das Problem: Wenn es um die Verteidigung unserer westlichen Werte geht, sind wir nur stark innerhalb der NATO. Daneben brauchen wir aber eine handlungsfähige politische Union, mit der die Ziele Europas verwirklicht werden können.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Über die geostrategische Bedeutung der Türkei wird gesagt, die Türkei habe eine Brückenfunktion.

(Uta Zapf (SPD): Richtig!)

Eine Brücke ist immer ein Konstrukt – auch das ist hier schon gesagt worden –, das niemals vollständig zu einer Seite gehört. Das heißt, die Türkei kann ihre Brückenfunktion besser erfüllen, wenn sie nicht Vollmitglied der Europäischen Union ist und Aufgaben in anderen Bereichen wahrnehmen kann.

(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD – Uta Zapf (SPD): Das ist doch hanebüchen, was Sie hier sagen!)

   Es wird argumentiert, wir müssten jetzt beweisen – ich glaube, dass Europa dies nicht beweisen muss; denn wir sind kein, wie uns manchmal vorgeworfen wird, religiös ausgerichteter Klub –, dass die Europäische Union mit einem muslimischen Mitgliedstaat auskommen könne. Dieses Argument ließe sich, wenn man konsequent zu Ende denkt, auch auf andere Länder übertragen, indem man sagt, die Türkei sei kein typisch arabisches und islamisches Land.

Wo diese Beweiskette enden soll, wird sich dann zeigen. Aber darüber diskutieren Sie einfach nicht, weil Sie sich mit dieser Frage nicht auseinander setzen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Meine Damen und Herren, Sie wissen natürlich, dass das Argument der geostrategischen Bedeutung allein nicht ausreicht. Das heißt, dass die Vollmitgliedschaft der Türkei weiter gehend begründet werden muss. Deshalb weisen Sie dann, wenn es um die Aufnahme von Verhandlungen geht, immer darauf hin, es sei ja noch ein langer Zeitraum, es gehe eigentlich nur um die Aufnahme von Verhandlungen und es gebe keinen Beitrittsautomatismus.

   Helmut Kohl hat gestern ganz deutlich gesagt – insofern können Sie ihn nicht als Kronzeugen nehmen –, er sei immer der Auffassung gewesen, dass die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien – ich betone: aller Kriterien, der des Beitrittslandes und der der Integrationsfähigkeit – die Voraussetzung für die Aufnahme von Verhandlungen sei und sich nicht das Prinzip Hoffnung, dass das schon alles irgendwie gut gehen werde, durchsetzen könne.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Deshalb sage ich jetzt eindeutig: Genau dies ist auch unsere Haltung.

   Was heißt Beitrittsautomatismus? Ich glaube, hier spielen Sie mit der Ernsthaftigkeit dieser Frage.

(Zuruf von der SPD: Sie spielen!)

Denn es ist nicht redlich, so zu tun, als könne man fünf oder zehn Jahre verhandeln, um dann entweder die Vollmitgliedschaft oder das totale Scheitern zu erreichen. Ich sage Ihnen: Dies ist so unehrlich wie vieles in den letzten 40 Jahren im Umgang mit der Türkei.

(Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist wie beim Schwangersein! – Gegenruf des Abg. Michael Glos (CDU/CSU): Und davon verstehen Sie was?)

Sie wissen genau, dass, wenn es keine Auffangposition gibt, ein Scheitern eine Katastrophe für die Türkei und gleichzeitig für die Politische Union Europas wäre. Deshalb halten wir diesen Weg für nicht richtig. Wir glauben, es muss eine Alternative bzw. eine weitere Option geben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Wir wissen, dass Sie, obwohl Sie von keinem Beitrittsautomatismus sprechen, eine Rückfallposition, eine Option B, eine Alternative, wie es für uns die privilegierte Partnerschaft ist, ablehnen werden.

(Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Was ist das denn?)

Das eigentlich Unredliche an der Argumentation ist, dass Sie den Eindruck erwecken, dass das Konzept der privilegierten Partnerschaft im Grunde nichts weiter als ein glattes Nein gegenüber der Türkei ist.

(Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist es ja auch!)

Das ist nicht redlich, weil die privilegierte Partnerschaft ein Konzept ist, das der Türkei einzigartige Beziehungen intensivster Art mit der Europäischen Union in Aussicht stellt.

(Uta Zapf (SPD): Hat sie doch schon!)

Genau diesen Weg halten wir als Alternativweg für wichtig, um ein Scheitern und eine Katastrophe zu verhindern. Deshalb ist Ihre Argumentation an dieser Stelle nicht in Ordnung.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Meine Damen und Herren, es ist doch wahr – das wissen doch auch Sie –: Seitdem die privilegierte Partnerschaft als ein dritter Weg im Raum ist, ist die Diskussion in Europa weitergegangen. Schauen Sie sich die Debatten in der französischen Nationalversammlung an! Schauen Sie sich an, was selbst der französische Präsident auf dem deutsch-französischen Gipfel in Lübeck gesagt hat! Alle wissen, dass es im Grunde richtig wäre, eine Alternative, eine privilegierte Partnerschaft, die wir für die richtige halten, als Option im Auge zu haben,

(Gernot Erler (SPD): Was heißt denn „privilegierte Partnerschaft“? Sie wissen doch selber nicht, was das ist!)

nicht von einem Beitrittsautomatismus zu sprechen und ansonsten das Ganze, was da passiert, offen zu lassen.

(Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was ist denn jetzt diese privilegierte Partnerschaft? Sagen Sie doch mal, was das ist!)

   Ich glaube, wir alle sind uns darüber im Klaren – egal welche Haltung die einzelnen Kolleginnen und Kollegen haben –, dass die Entscheidung des Rates zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zwischen der Türkei und Europa von historischer Bedeutung für die Europäische Union ist. Wer das wegdrückt, wer sich dessen nicht bewusst ist und wer versucht, an einem solchen Vorabend keine Debatte stattfinden zu lassen, dem sage ich, dass er dieser Aufgabe nicht gerecht wird und den Menschen Sand in die Augen streut.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Die Diskussion hat sich aus meiner Sicht völlig verengt.

(Uta Zapf (SPD): Sie haben die Diskussion verengt!)

Es wird so getan, als ginge es nur um die Türkei. Im Wesentlichen geht es aber um uns, um die Zukunft eines jahrzehntelangen Aufbauwerks der Europäischen Union, um seine Vertiefung, das mit der Abgabe von Souveränitätsrechten verbunden ist. Dass es um uns geht, dass es um unsere Zukunft geht, muss in einer verantwortlichen Weise und deutlich ausgesprochen werden. Darüber gehen Sie leichtfertig hinweg.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Ich möchte Giscard D’Estaing zitieren, der immerhin Präsident des Europäischen Verfassungskonvents war. In der „FAZ“ vom 26. November sagte er:

Was mich am meisten überrascht, ist die Art und Weise, in der sich die meisten europäischen Politiker in eine ideenlose Sackgasse haben zwingen lassen: Entweder man bejaht die Eröffnung von Verhandlungen, die in eine Aufnahme der Türkei in die EU münden, oder man schlägt ihr die Tür vor der Nase zu. Wie konnte es zu dieser Ideenarmut, zu dieser extremen Vereinfachung kommen? Anderswo versteht man es besser, mit solchen Fragen umzugehen ...

Ich habe dem an dieser Stelle nichts hinzuzufügen. Ich teile die Meinung von Giscard D’Estaing vollkommen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Noch ein Zitat! – Zuruf von der SPD: Noch ein Gedicht!)

– Es kann ja sein, dass Ihnen die Zitate nicht passen. Sie müssen sich mit der Realität aber schon auseinandersetzen.

   Es ist ja nicht schlimm, dass wir unterschiedlich argumentieren.

(Uta Zapf (SPD): Auch wir haben nachher noch ein paar Zitate!)

Ich sage es ganz nüchtern: Mit einer Entscheidung in der Form, wie sie morgen aller Voraussicht nach getroffen wird, ist ein Alles oder Nichts, ein Entweder-oder, ein Scheitern oder eine Vollmitgliedschaft verbunden. Ich glaube, dass dies der geostrategischen Aufgabe Europas und der Politischen Union nicht gerecht wird. Deshalb brauchen wir ein durchdachtes Konzept, das der Türkei natürlich nicht die Tür vor der Nase zuschlägt.

   Sie schlagen die Möglichkeit eines dritten Weges aus. Als Opposition können wir diese Entscheidung nicht verhindern; wir werden aber

(Zuruf von der SPD: Wahlkampf machen!)

mit der Bevölkerung in diesem Lande über die Folgen einer solchen Entscheidung für Europa und für die Gesamtlage weiter sprechen.

   Es ist für mich und für uns wichtig – das macht die Bedeutung Europas aus –, dass die Politische Union der Europäischen Union weitergeführt werden kann, dass sie nicht in Gefahr gerät und dass wir trotzdem unseren geostrategischen Aufgaben gerecht werden, nicht als Europa gegen Amerika, sondern in den gemeinsamen Bündnissen.

   Deshalb werden wir diese Debatte 2005 und 2006 weiterführen. Anhand des Sachstandes, den wir 2006, wenn wir an der Regierung sind, vorfinden,

(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

werden wir prüfen, wie wir unsere Ideen, von denen wir überzeugt sind, in die Tat umsetzen können,

(Franz Müntefering (SPD): Pacta sunt servanda!)

und zwar genauso verantwortlich gegenüber unseren türkischen Freunden wie verantwortlich gegenüber dem Friedenswerk der Europäischen Union. In diesem Sinne werden wir weiterhin handeln.

   Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei Abgeordneten der FDP))

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort dem Kollegen Franz Müntefering, SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Franz Müntefering (SPD):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dies ist eine wichtige Woche für Europa. Frau Merkel, Sie haben gesagt, es ist eine Woche von historischer Bedeutung. An dieser Stelle sind wir uns einig. Wir gehen im Bewusstsein um die große Verantwortung an die Entscheidung, um die es jetzt geht, heran.

   Gestern hat das Europäische Parlament mit großer Mehrheit beschlossen, dass Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufgenommen werden sollen. Die SPD-Fraktion begrüßt diese Entscheidung des Europäischen Parlaments sehr.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Morgen entscheiden die Regierungschefs. Alles spricht dafür, dass sie bei der bisherigen Linie bleiben: Mit der Türkei werden Verhandlungen mit dem Ziel des Beitritts aufgenommen. Die Bundesregierung bzw. der Kanzler und der Vizekanzler haben für diese Entscheidung am morgigen Tag die klare Unterstützung der SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Die gestrige Entscheidung im Europäischen Parlament hatte eine Besonderheit, die als Absonderlichkeit in die Geschichtsbücher eingehen wird. Die Konservativen im Europäischen Parlament, voran die CDU/CSU-Abgeordneten aus Deutschland, haben dort geheime Abstimmung verlangt.

(Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das muss man sich mal vorstellen!)

In Deutschland kündigen Sie Unterschriftenlisten an, wollen aber selbst geheim abstimmen – das ist ein seltsames Demokratieverständnis.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist gewissermaßen die christdemokratische Leitkultur. Was sollen die Türken davon halten?

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Wirklich ein witziger Mann!)

   Auch heute haben Sie es nicht besser gemacht. Wir waren ganz gespannt darauf, von Ihnen zu hören, was eine privilegierte Partnerschaft ist.

(Uta Zapf (SPD): Wieder nichts!)

Aber das halten Sie genauso geheim wie Ihre gestrige Abstimmung. Sagen Sie doch einmal, was Sie damit eigentlich meinen!

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Das ist ja dermaßen niveaulos!)

   Das Ganze hat eine Vorgeschichte. Im Jahre 1963 ist unter einer CDU/CSU-geführten Regierung von der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ein Abkommen mit der Türkei geschlossen worden, in dem die Möglichkeit des Beitritts eröffnet wurde.

   Mit Billigung von Kanzler Kohl ist der Türkei auf dem Europäischen Rat in Luxemburg im Jahre 1997 ausdrücklich bescheinigt worden, dass sie „für einen Beitritt zur Europäischen Union in Frage kommt“.

(Uta Zapf (SPD): Hört! Hört!)

   Herr Kohl hat anschließend eine Pressekonferenz gegeben und bekräftigt, dass es dabei um eine Bestätigung der europäischen Berufung der Türkei und ihrer Perspektive für einen späteren Beitritt zur EU geht.

(Uta Zapf (SPD): Hört! Hört!)

Sie, Herr Glos, haben damals das deutsche Interesse bemüht und gesagt:

Es ist vor allem im deutschen Interesse, die Türkei in Europa zu sehen.
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Herr Glos, Sie hatten vorgestern Geburtstag und sind 60 Jahre alt geworden. Herzlichen Glückwunsch von Kollege zu Kollege! 60 ist ein schönes Alter.

(Uta Zapf (SPD): Jetzt wird er weise!)

Dann ist der jugendliche Leichtsinn vorbei und langsam beginnt die Altersweisheit. Ich hoffe, man wird das auch bei Ihnen ein bisschen merken. Ich jedenfalls wünsche Ihnen alles Gute!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Die Geschichte mit Europa geht weiter. In der Kontinuität der früheren CDU/CSU-Politik ist der Türkei 1999 vom Europäischen Rat in Helsinki der Status eines Beitrittskandidaten zuerkannt worden. Die Kopenhagener Kriterien müssen erfüllt werden. Dazu haben Sie, Frau Merkel, einige Monate, bevor es die Kommission getan hat, gesagt: „Die Türkei wird die Kopenhagener Kriterien erfüllen.“ Lesen Sie einmal nach, was Sie heute Morgen dazu gesagt haben.

   Der Gipfel war, dass Sie, die Opposition, angekündigt haben: Sollten Sie 2006 die Regierung übernehmen,

(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

werden Sie versuchen, einen Beschluss der Staats- und Regierungschefs der EU, Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufzunehmen, rückgängig zu machen. Ich kann Sie beruhigen: Das werden Sie 2006 nicht schaffen. Trotzdem sollte man sich einmal ansehen, was Sie da eigentlich sagen.

(Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja, genau!)

Sie sagen: Wenn Sie die Chance dazu hätten, die Sie aber nicht haben werden, würden Sie die Entscheidung einer deutschen Bundesregierung, mit solchen Verhandlungen zu beginnen, aushebeln. Dadurch disqualifizieren Sie sich für jedwede Aufgabe, sowohl außenpolitisch als auch bundespolitisch;

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

denn Verträge müssen gehalten werden. Das Schlimmste, was Sie als Opposition tun können, ist, ein solches Vorgehen anzukündigen.

(Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Was ist denn mit Maastricht und mit Schengen?)

Auch heute habe ich Sie nicht anders verstehen können.

   Niemand behauptet, dass das, was wir vor uns haben, leicht ist. Das werden schwierige Verhandlungen. Es wird sicherlich auch Rempeleien und Schwierigkeiten geben. Die Verhandlungen werden nicht automatisch zu dem Ergebnis führen, das wir uns wünschen. Die Türkei muss die Voraussetzungen schaffen, und zwar nicht nur per Gesetz und verbal. Sie müssen vielmehr Lebenswirklichkeit werden. Darauf werden wir zu achten haben. Das tun wir auch.

   Die Verhandlungen werden lange dauern und schwierig sein. Ihr Ausgang ist offen; das wissen Sie. Vor 2014 jedenfalls ist ein Beitritt der Türkei zur EU nicht zu erwarten.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Dann sind Sie aber nicht mehr an der Regierung! – Gegenruf der Abg. Uta Zapf (SPD): Schauen wir mal!)

– Es geht nicht um mich persönlich; die Sozialdemokraten möglicherweise doch, Herr Kauder, also seien Sie mal nicht so mutig!

(Beifall bei der SPD – Volker Kauder (CDU/CSU): Aber nur möglicherweise!)

   Die Türkei ist kein Beitrittskandidat wie jeder andere. Wir wissen um die Sorgen und Bedenken, die es auch in unserem Lande gibt: Die Türkei ist ein sehr großes Land, ein Land mit einer Kultur, die nicht ohne weiteres in Europa Tradition hat, wenigstens nicht in der Dimension wie andere Kulturen. Das bedeutet: Nicht nur die Türkei muss beitrittsfähig sein, die EU muss auch aufnahmefähig sein.

(Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): Ja, genau!)

– Ja, das sagen wir: Es liegt auch an uns. Mit uns wird die EU aufnahmefähig sein; ob das mit Ihnen auch der Fall sein wird, ist eine ganz andere Frage. Mit der Position, die Sie jetzt beziehen, sind Sie es sicher nicht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wer von vornherein sagt: „Wir wollen es nicht“, wie kann der sich aufnahmefähig machen?

   Die Verhandlungen können ausgesetzt werden, falls die Türkei die politischen Kriterien ernsthaft und dauerhaft verletzt. Die EU muss dafür Sorge tragen, eine Aufnahme der Türkei finanziell verkraften zu können. Wir lassen nichts aus: Die Sache wird schwierig. Für die ausgabenintensivsten Bereiche – die Agrarpolitik und die Strukturpolitik – müssen in den Verhandlungen mit der Türkei Regelungen gefunden werden. Was die Freizügigkeit der Personen angeht, wird in den Verhandlungen zu entscheiden sein, ob es den Mitgliedstaaten erlaubt werden soll, den Zuzug von Türkinnen und Türken dauerhaft zu begrenzen, oder wie lange die volle Freizügigkeit nicht gegeben ist.

   Wir verkennen nicht: Die Türkei kann und muss noch viel tun. Aber sie hat die Chance. Die Erfahrung, die wir mit anderen Ländern gemacht haben, ist: Die Chance, zur EU dazukommen zu können, ist der Ansporn für alle Demokraten in diesen Ländern, dies auch zu versuchen. Weshalb sind Sie so kleinmütig, zu glauben, dass das, was an demokratischer Idee, an Freiheitsidee in der EU steckt, sich nicht auch in andere Länder transportieren lässt, sie nicht anspornt, dazugehören zu wollen?

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Sie reden über die Risiken, wir reden über die Chancen, die es auch gibt. Sie reden kleinmütig und Sie reden mutlos. Deutschland ist der größte Handelspartner der Türkei. Der Zuwachs der deutschen Exporte war auch in diesem Jahr wieder fulminant. Der BDI hat erklärt:

Für die deutsche Industrie ist die Türkei ein Wachstumsmarkt mit großem strategischem Potenzial. Eine berechenbare europäische Perspektive und die schrittweise Übernahme des europäischen Rechts erhöht die Planungssicherheit für die Unternehmen.

Wo sie Recht haben, haben sie Recht: Die Perspektive des Beitritts der Türkei zur Europäischen Union liegt auch im ökonomischen Interesse Deutschlands und der EU. Das ist so und das darf man auch sagen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Der Beitritt der Türkei zur EU hat auch eine sicherheitspolitische Komponente. Sie haben eben die Sache mit der Brücke beschrieben, Frau Merkel. Dass Sie eine gute Naturwissenschaftlerin sind, das weiß man ja – das bezweifle ich auch nicht –, aber eine Architektin sind Sie Gott sei Dank nicht geworden;

(Heiterkeit bei der SPD)

da wären Sie mit dieser ganzen Sache gescheitert. Denn bei der Brücke ist das Entscheidende, dass man ein vernünftiges Widerlager hat: Sie muss gut aufliegen. Diese wichtige Funktion kann dieses Land übernehmen. Denn der NATO-Partner Türkei hat eine strategische Lage zwischen Europa und dem Nahen und Mittleren Osten. Es ist ein muslimisch geprägtes Land. Viele andere muslimisch geprägte Länder werden auf diese Türkei schauen; sie tun das heute schon. Die Türkei leistet Friedensbeiträge und exportiert Stabilität. Es ist vernünftig von Europa und von Deutschland, die Türkei unter Bedingungen einzuladen. Die Türkei wird für andere Länder ein gutes Beispiel sein, wenn sie die Werte verwirklicht, die Bedingung sind: Demokratie und Freiheit, Pluralismus und Toleranz.

Wer Frieden und Freiheit, Wirtschaftlichkeit und kulturelle Stärke für ganz Europa bewahren will, muß sich auf diese Annäherung einlassen.

Das ist ein gutes, ein wichtiges Wort. Es stand in der „Bild“-Zeitung, aber auch da gilt: Wo sie Recht haben, haben sie Recht.

   Wir sehen die Entscheidung zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen nüchtern: Es werden schwierige Verhandlungen sein. Aber das Ziel lohnt solche Anstrengung. Deshalb gehen wir verantwortungsbewusst an diese Aufgabe heran. Wir wünschen Europa, wir wünschen uns dabei eine gute und glückliche Hand und vor allen Dingen eine klare Botschaft an die Türkei, in der sich in den vergangenen Jahren so unglaublich viel verändert hat, und das unter einer konservativen Regierung. Wir alle sind – das muss man doch zugeben – überrascht von der Entwicklung in der Türkei, nicht nur in verbalen Bekundungen, sondern auch in der Praxis. Heute von hier aus im Deutschen Bundestag zu sagen: „Wir laden euch ein, mit uns zusammen dieses Europa zu gestalten“, das hat in der Tat, Frau Merkel, eine historische Dimension. Die Lösung liegt aber nicht in dem, was Sie sagen, sondern in dem, was diese Bundesregierung und diese Koalitionsmehrheit im Bundestag zu tun sich vorgenommen haben.

   Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile dem Kollegen Werner Hoyer, FDP-Fraktion, das Wort.

Dr. Werner Hoyer (FDP):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Europäische Rat wird morgen die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beschließen. Vielen kommt dieser Termin zu früh; auch mir geht es so, obwohl ich nicht zu denen gehöre, die auf ein Nein programmiert sind. Nicht zuletzt diese Bundesregierung hat 1999 vor und in Helsinki dazu beigetragen, dass wir jetzt eine Entscheidung treffen müssen, hinter die es dann auch kein Zurück mehr geben wird.

   Dies gilt auch für die Zeit nach 2006. Spätestens dann, wenn diese Regierung abgewählt sein wird, werden andere darüber zu entscheiden haben, wie es weitergehen wird. Für die FDP sage ich, dass es ein Zurück hinter die Aufnahme von Verhandlungen dann nicht mehr wird geben können.

(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Uta Zapf (SPD))

Der bayerische Ministerpräsident überschätzt sich an dieser Stelle; seine eigenen Parteifreunde im Europäischen Parlament, aber auch im Europäischen Rat werden ihm da nicht folgen.

(Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Was sagen Sie jetzt zu Frau Merkel, Herr Hoyer?)

Dies steht für die FDP fest. Die FDP ist national wie international ein verlässlicher Partner; das gilt mit Sicherheit auch für die Außenpolitik nach 2006.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Im Übrigen halte ich nichts davon, bei diesem Thema an den Sorgen der Bürgerinnen und Bürger vorbeizugehen. Wir müssen uns dieser Sorgen ernsthaft annehmen, die übrigens tief in die sozialdemokratische Wählerschaft hineinreichen. Umgekehrt halte ich überhaupt nichts davon, Emotionen und Ängste geradezu zu schüren.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Rot-Grün erweckt den Eindruck, als sei die Sicherheit Europas nur zu gewährleisten und der Kampf gegen den internationalen islamistischen Terrorismus nur zu gewinnen, wenn wir möglichst rasch die Europäische Union bis tief nach Mittelasien hinein ausdehnen.

(Zuruf von der SPD: Das ist doch Blödsinn, absoluter Blödsinn! – Gegenruf des Abg. Volker Kauder (CDU/CSU): Ihr habt doch gerade noch geklatscht! – Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Zu früh Hurra geschrien!)

Es wird so getan, als sei jeder, der sorgfältig und vorsichtig, vielleicht auch skeptisch an das Thema herangeht, von vornherein ein intoleranter Ausländerfeind oder zumindest jemand, der die strategischen Chancen nicht begreifen will, die im EU-Beitritt der Türkei stecken.

   Umgekehrt ist auch die Art der Ablehnung der Verhandlungen ein gefährliches Spiel mit dem Feuer; denn es können sehr leicht Ressentiments geweckt werden. Nebenbei bemerkt können auch völlig falsche Botschaften an die türkischen Mitbürgerinnen und Mitbürger in Deutschland ausgesandt werden. Beides bringt uns nicht weiter. Wir Liberalen kämpfen für eine Versachlichung der Debatte.

(Beifall bei der FDP)

   Es wird am Freitag nicht um eine Entscheidung über den Beitritt selbst, sondern um eine Entscheidung über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen gehen. Erst am Ende dieser Verhandlungen – in zehn, zwölf, 15 Jahren oder später – kann die Entscheidung über Aufnahme, Ablehnung oder auch über eine differenzierte Position stehen. Daran ist immer wieder zu erinnern; denn eines ist klar: Heute wäre weder die Türkei beitrittsfähig noch wäre die Europäische Union aufnahmefähig.

(Beifall bei der FDP)

   Richtig ist aber auch, dass die Türkei in den letzten Jahren einen bemerkenswerten Aufhol- und Reformprozess begonnen hat und sich ernsthaft um die Implementierung der Reformen bemüht. Diese Bewegung, die die Türkei vollzogen hat, ist eine Bewegung in die richtige Richtung, nämlich in Richtung unserer Wertvorstellungen. Das ist das Entscheidende. Weder die Religion noch die Frage der Geographie ist entscheidend, sondern die Verständigung auf gemeinsame Werte wie Würde des Menschen, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Hier hat die Türkei noch einen langen Weg vor sich. Aber sie hat ihn eindeutig und klar eingeschlagen. Darin steckt für Stabilität, Frieden und Wohlstand in Europa eine große Chance.

(Beifall bei der FDP)

   Deshalb ist es wichtiger, jetzt über die Ausgestaltung des Verhandlungsprozesses zu debattieren. Die Kommission macht hierzu durchaus kluge Vorschläge. Für uns Liberale sind dabei drei Elemente von herausragender Bedeutung. Die Stichworte lauten: Konditionierung, Monitoring und Ergebnisoffenheit.

   Konditionierung – was heißt das hier? Es muss der Türkei vollkommen klar sein, dass an einer Fortsetzung und Implementierung ihres Reformprozesses kein Weg vorbeigehen kann. Wir müssen mit unseren türkischen Kollegen dabei fair umgehen. Es kann auf unserer Seite weder ein Draufsatteln geben – die Kopenhagener Kriterien gelten – noch kann es einen Rabatt gegenüber der Türkei geben. Die EU muss sich ihrerseits durch die Ratifizierung des Verfassungsvertrages, durch die erfolgreiche Bewältigung der letzten Aufnahmerunde und nicht zuletzt durch die Reform ihrer Gemeinschaftspolitiken an Haupt und Gliedern aufnahmefähig machen.

   Schließlich zu Zypern. Ich halte es für völlig undenkbar, dass ein Land Mitglied der Europäischen Union wird, das in einem anderen Land der Europäischen Union gegen dessen Willen militärisch präsent ist. Das muss den Türken klar gesagt werden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie des Abg. Rainer Fornahl (SPD))

Als absolutes Minimum muss erwartet werden, dass die Türkei das Zollunionsprotokoll unterzeichnet;

(Uta Zapf (SPD): Das haben sie zugesagt!)

denn das würde zumindest inzidenter zum ersten Mal die Anerkennung Zyperns durch die Türkei beinhalten. Es ist absurd, sich vorzustellen, dass die Türkei in einer Regierungskonferenz Beitrittsverhandlungen mit 25 Mitgliedstaaten der Europäischen Union führt, von denen es einen gar nicht anerkennt.

   Beim Thema Monitoring bin ich von den Vorschlägen der Kommission schon weniger begeistert. Ich hätte mir gewünscht, dass die nationalen Parlamente und das Europäische Parlament in diesen Prozess einbezogen wären. Wir werden jetzt wieder die übliche Kommissionsroutine mit jährlichen Fortschrittsberichten erleben. Ich hätte mir einen breiteren Ansatz gewünscht, weil dann am Ende des Prozesses Überraschungen unangenehmer Art möglicherweise hätten vermieden werden können. Der Europäische Rat und die Kommission verpassen hier eine große Chance.

   Schließlich das Thema Ergebnisoffenheit. Hier müssen und können wir die Kommission beim Wort nehmen. Es ist richtig, als Ziel den Beitritt zu benennen. Von den Türken jetzt irgendetwas anderes zu verlangen wäre völlig unrealistisch.

(Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Richtig!)

Auch die Türkei hat eine Innenpolitik. Auch die Türkei will diesen Reformprozess mit Rückenwind aus Brüssel fortsetzen. Aber ob das Ziel erreicht wird, kann niemand vorhersagen und erst recht nicht garantieren. Wenn es nicht erreicht wird, dann muss alles darangesetzt werden, dass sich die Türkei nicht von Europa abwendet. Deshalb muss es Optionen geben dürfen – nicht im Sinne einer als Diskriminierung empfundenen Reduzierung des Verhandlungsziels,

(Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Genau das wäre es!)

sondern im Sinne von möglicherweise eines Tages als sinnvoll oder überlegen angesehenen Alternativen zum ursprünglich angepeilten Verhandlungsergebnis.

   Ich halte das für durchaus denkbar; übrigens weniger, weil ich der Türkei nicht zutrauen würde, dass sie den Reformprozess mutig fortsetzt oder dass sie in der Lage ist, ihre Volkswirtschaft weiter erfolgreich zu modernisieren, sondern eher deshalb, weil ich zumindest Zweifel habe, ob sich die türkischen Freunde voll darüber im Klaren sind, dass die Europäische Union kein definierter Endzustand ist, sondern ein Prozess, der auch in den nächsten 15 Jahren rasant weitergehen wird. Eine Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union setzt die Bereitschaft voraus, sich in diesen Prozess aktiv gestaltend einzubringen und in einem Umfang Souveränitätsrechte abzugeben und sich in die Innenpolitik hineinreden zu lassen, wie sich das manche in der Türkei gegenwärtig noch nicht vorstellen können. Wenn das allen am Ende des Prozesses erst einmal bewusst ist, dann ist es durchaus denkbar, dass im Konsens eher eine besondere Partnerschaft als eine volle Mitgliedschaft herauskommt – im Konsens mit den Türken und nicht als Abwehrreaktion gegenüber den Türken.

   Die Kommission baut hier ja schon vor. Ich glaube, es ist klug, dass man vorsichtshalber darauf eingerichtet ist, dass es nicht zu einer Vollmitgliedschaft kommt; denn das Schlimmste, was passieren könnte, wäre, dass das Verhandlungsziel verfehlt würde und sich die Türkei von Europa abwendet.

(Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Das ist wahr!)

Deswegen hat die Türkei Vorschläge gemacht, die weitgehend eine dauerhafte Abweichung vom Prinzip der Freizügigkeit möglich erscheinen lassen. Dann werden die Grenzen zwischen Vollmitgliedschaft und einer besonderen Partnerschaft ohnehin schon sehr schnell verwischt. Nehmen wir das, was die Kommission als Ergebnisoffenheit benennt, ernst und nehmen wir es wörtlich!

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Bundesminister Joseph Fischer.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Von allen Rednerinnen und Rednern wurde zu Recht unterstrichen, dass es sich um eine wichtige, ja sogar um eine historische Entscheidung nicht nur für Europa, sondern selbstverständlich auch für die Türkei handelt. Ich will versuchen, die Argumente im Einzelnen aufzunehmen und unsere Sicht dazu darstellen.

   Lassen Sie mich zuerst unsere Erwartung zweifelsfrei klarstellen. Wir gehen davon aus, dass der Europäische Rat den Beschluss fassen wird, zu einem bestimmten Datum im nächsten Jahr die Beitrittsverhandlungen – und nichts anderes – mit der Türkei aufzunehmen. Die Bundesregierung wird sich dafür mit allem Nachdruck einsetzen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Wir müssen doch sehen, dass das europäische Einigungsprojekt seit dem Ende des Kalten Krieges eine unglaublich positive Wirkung ausstrahlt. Hier verstehe ich ehrlich gesagt Ihren Kleinmut nicht. Frau Merkel, wenn ich über Klein- bzw. Großeuropa spreche, dann meine ich das Europa der 25, ein Europa, das um zehn Mitgliedstaaten größer geworden ist. Es gab eine gewisse Skepsis. Man fragte sich, wie lang es dauern werde, bis wir das verarbeiten könnten. Gerade die Ukraine-Krise hat doch gezeigt, dass wir in der 25er-Union keineswegs weniger handlungsfähig sind. Wir konnten feststellen, dass die Zusammenarbeit der beiden Präsidenten Kwasniewski aus Polen und Adamkus aus Litauen mit dem Hohen Beauftragten der Europäischen Union hervorragend war. Im Hintergrund haben viele, auch die Bundesregierung und der Bundeskanzler, dazu beigetragen, dass wir hier vorangekommen sind.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   An diesem Punkt muss ich Ihnen ehrlich sagen – es wird dauernd über Stolz geredet –, dass wir stolz darauf sein sollten, dass diese erweiterte Union die Verfassung zustande gebracht hat. In der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und in der gemeinsamen Außenpolitik kommen wir jetzt weiter. Wenn die Verfassung umgesetzt wird, dann wird die Verhandlungsfähigkeit weiter zunehmen. Dabei war die Türkei nicht nur in der NATO, sondern auch in der Verbindung von EU und NATO ein wichtiger Partner.

   Frau Merkel, stellen Sie sich vor: Die privilegierte Partnerschaft existiert bereits heute.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Die Türkei war bei der Unterzeichnung der Verfassung im Kapitol dabei und an den Beratungen über die Verfassung hat sie durch ihre Repräsentanten nicht nur der Regierung, sondern auch des Parlaments von Anfang an teilgenommen. In allen wichtigen Gremien der Europäischen Union sitzt sie beratend und sie nimmt an den Beratungen teil. Es gibt die Zollunion und inzwischen auch enge wirtschaftliche Beziehungen. Das heißt: Das, was Sie privilegierte Partnerschaft nennen und worüber Sie verhandeln wollen, existiert bereits.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Er widerspricht sich!)

– Nein, ich widerspreche mir überhaupt nicht. Vielmehr existieren diese engen Beziehungen.

   Sie haben das große Problem, dass die Regierung Erdogan bereits Fortschritte erreicht hat. Sie hat mit der Durchsetzung rechtsstaatlicher Grundsätze, mit der Abschaffung der Todesstrafe und mit Rechtsstaatsreformen Ernst gemacht, die wir seit Jahrzehnten gefordert haben, die aber erst jetzt angegangen wurden und noch umgesetzt werden müssen. Frau Merkel, wenn Sie ehrlich sind, dann müssen Sie sagen, dass Sie Schwierigkeiten mit einer Regierung haben, die das tut, was auch die CDU/CSU vier Jahrzehnte lang von der Türkei verlangt hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Dahinter steckt etwas ganz anderes. Ich komme darauf nachher noch zu sprechen. Es geht nicht um Ihr Argument, dass Sie sich um Europa sorgen. Im Übrigen teile ich Ihren Dreisatz nicht. Sie sprachen von der Freihandelszone. Die EU war von Anfang an mehr als eine Freihandelszone.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Die EFTA war die Freihandelszone, die EU hat von Anfang an auf Integration gesetzt.

(Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Eben, drum!)

Das Wesen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft war schon damals die Idee der Integration. Deswegen wurden der Gemeinsame Agrarmarkt und der Gemeinsame Markt für Industriegüter gleich am Anfang geschaffen. Das heißt, die Integration ist das wesentliche Element der Europäischen Union.

(Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Deswegen kann man sich aber nicht übernehmen!)

Wenn Sie Ihr Argument ernst nehmen würden, dann müssten Sie den damaligen Beitritt Großbritanniens und von skandinavischen Ländern in der Tat sehr skeptisch sehen. Ich tue das nicht. Wenn Sie sich die aktuelle Lage der Europäischen Union anschauen, dann werden Sie erkennen, dass das offensichtlich richtig ist.

   Ich komme zur Integration. Sie sprechen von der Wirtschaftsgemeinschaft. Ich sehe hier keinen Widerspruch. Die Vertiefung und Herstellung des Gemeinsamen Marktes und die Wirtschafts- und Währungsunion stehen in einem engen Zusammenhang mit einem vertieften politischen Zusammenwachsen.

Das hat auch die Erweiterung der Europäischen Union gezeigt. Ich frage Sie: Woher wissen Sie, dass Ihre These, mit der Türkei sei das nicht möglich, stimmt? Wir entscheiden heute nicht über den Beitritt der Türkei, sondern wir entscheiden über die Modernisierung der Türkei. Die Entscheidung über die Unterstützung der bisher erfolgreichen Modernisierung steht an.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Weder Sie noch ich wissen, was passieren wird. Es geht um Folgendes: Wenn wir Ihre Position übernehmen, wird das, ob Sie das intendieren oder nicht – ich meine das jetzt nicht negativ –, in der Türkei als Nein gesehen. Die Konsequenzen aus diesem Nein müssen wir dann auch durchbuchstabieren. Wir haben der Türkei über 41 Jahre lang den Beitritt zugesagt. Franz Müntefering hat noch einmal die Positionen und Zusagen, die auch Ihre Partei und die von Ihnen gestellten Regierungen vertreten haben, zitiert. Die Konsequenzen aus diesem Nein – darin sind wir uns doch zumindest hinter verschlossenen Türen einig – wären extrem fatal.

   Sie können uns heute nicht nachweisen, dass wir mit einem Ja einen Automatismus in Gang setzen. Das tun wir nicht, sondern wir sprechen uns expressis verbis gegen jeden Beitrittsautomatismus aus. Dann kann ich Sie nur fragen: Warum ist es Ihnen nicht möglich, dass Sie diesen Prozess, der – das wird so beschlossen – völlig offen ist, weiterhin positiv oder meinetwegen auch skeptisch begleiten? Ich dachte, zwischen Ihnen und uns gibt es in einem Punkt Einigkeit, nämlich dass wir ein großes Interesse an der Modernisierung der Türkei haben. Ich dachte auch, dass wir ebenso darin einig sind, dass diese Modernisierungsperspektive der Türkei mit der europäischen Perspektive verbunden ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ich sage Ihnen: Eine europäische Perspektive bedeutet auch eine feste Verankerung.

   Ich komme jetzt zu dem entscheidenden Punkt. Wir wollen die Entscheidung über den Beitritt der Türkei dann, wenn sie beitrittsfähig ist. Wir wissen, dass dieser Prozess zehn, vielleicht sogar 15 Jahre dauern wird. Wir wissen, dass es keinen Automatismus geben wird. Wir wissen auch, dass mit entsprechenden Benchmarks Vorsorgeregelungen für den Fall getroffen werden, dass die Entwicklung in der Türkei stagniert oder sie sich in die völlig andere Richtung bewegt. Ich frage nochmals die Union: Warum tun Sie so, als ob wir heute über den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union entscheiden? Warum sind Sie nicht in der Lage, auf den Prozess, den Sie eigentlich weiter begleiten könnten, positiv zu reagieren? Sie wissen doch ganz genau, dass heute die Entscheidung über die Modernisierung der Türkei und nicht über den Beitritt ansteht.

   Ich komme zu der strategischen Frage. Mich wundert, wie Sie mit der Frage der Strategie umgehen. Es ist doch nicht so, dass auf der einen Seite die Union die Gefühle anspricht und auf der anderen Seite eine kalte Strategie steht. Der entscheidende Punkt bei der Türkei ist, dass die Modernisierung in diesem großen islamischen Land am weitesten fortgeschritten ist.

   Ich will hier noch einen anderen Punkt ansprechen. Bei der Wahl des Generalsekretärs der Organisation der Islamischen Konferenz bestand die Alternative zwischen einem von Saudi-Arabien unterstützten Kandidaten und einem türkischen Kandidaten. Ich habe von manchen arabischen Kollegen und auch von Vertretern anderer islamischer Länder, die nicht Teil der arabischen Welt sind, gehört, dass der Grund, warum sie sich für den türkischen Kandidaten entschieden haben – er hat am Ende gewonnen –, war, dass sie den Reformprozess in der Türkei als beispielhaft nicht nur für sich selbst, sondern für die gesamte arabisch-islamische Welt sehen. Das ist der eigentlich strategische Ansatz. Darum geht es.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Das ist nicht das alleinige Argument und für sich genommen noch nicht ausreichend. Aber es ist natürlich ein sehr wichtiges Argument. Nach dem 11. September geht es darum, dass wir in der islamisch-arabischen Welt entweder die Transformation unterstützen oder in Kauf nehmen, auf eine Explosion zuzusteuern, die dann irgendwann kommen wird. Das scheint mir ganz klar zu sein. In dieser Situation ohne Not Nein zu sagen, halte ich für dermaßen blind und gegen die Interessen Europas, der gesamten westlichen Welt und Deutschlands gerichtet, dass ich Sie noch einmal auffordern möchte, Ihre Position im Lichte der Fakten grundsätzlich zu überprüfen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Ich glaube, bei Ihnen ist es im Wesentlichen etwas anderes. Es geht nicht um die Argumente, die jetzt vorgetragen wurden. Vielmehr steckt eine tief sitzende Aversion

(Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): Was?)

– gar nicht einmal bei Ihnen persönlich, aber bei Teilen Ihrer Partei – dahinter. Sonst könnten wir diesen Prozess auf der Grundlage der Vorschläge,

(Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Das ist eine Unverschämtheit!)

die die Präsidentschaft jetzt vorgelegt hat, gemeinsam weiter verfolgen. Sie würden sich damit gar nichts vergeben. Sie könnten an Ihrer Skepsis festhalten, aber wir könnten den Prozess der Modernisierung gemeinsam begleiten. Wir könnten den hier lebenden Menschen, die aus der Türkei stammen oder noch türkische Staatsangehörige sind, ein Gefühl der Zugehörigkeit zu uns geben, was ich für ganz wichtig halte.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Frau Merkel, auch unter dem Gesichtspunkt des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus wäre es das Dümmste, Kurzsichtigste und Gefährlichste, was wir machen könnten, wenn wir die Mehrheit der Muslime in die Ecke derer stellen würden, die meinen, uns mit Terror gefährden oder angreifen zu müssen.

(Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Tut doch niemand!)

Im Gegenteil: Die Mehrheit der Muslime muss auf unserer Seite stehen, wenn wir diese Auseinandersetzung gewinnen wollen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Falsche Behauptungen!)

   Die Bundesregierung hat sich ihre Position nicht leicht gemacht. Wir werden uns mit allem Nachdruck dafür einsetzen, dass wir jetzt auf dem Europäischen Rat eine Entscheidung auf der Grundlage bekommen, dass der Prozess offen ist, es keinen Beitrittsautomatismus gibt und die Umsetzung der notwendigen Reformen in die gesellschaftliche Realität überprüft wird. Es muss eindeutig sein, dass die Türkei einen Termin im nächsten Jahr bekommt, an dem wir die Beitrittsverhandlungen eröffnen. Dies ist im Interesse Europas und im Interesse unseres Landes.

   Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Gerd Müller, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Gerd Müller (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschland und die Türkei verbindet eine historische Freundschaft. Nicht zuletzt CDU und CSU haben die Verwirklichung der Zollunion damals gegen die Stimmen von Sozialisten und Grünen im Europäischen Parlament durchgesetzt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir lassen uns bei unseren Entscheidungen von niemandem unter Druck setzen. Wir sagen ein klares Nein zu Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Wir sagen aber Ja zur Zusammenarbeit mit einer starken, souveränen und stolzen Türkei. Das Konzept der privilegierten Partnerschaft, wie es von Frau Dr. Merkel aufgezeigt wurde, ist dazu der richtige Weg.

(Gernot Erler (SPD): Wir wissen immer noch nicht, was das ist!)

Es ist der richtige Weg für die Türkei, für Deutschland und für Europa.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Herr Außenminister, wenn man Ihre Argumentation logisch verfolgt, dann stellt man fest, dass das eigentlich die Argumentation für den Weg der Union ist. Es ist unverantwortlich, heute zu sagen: Alles oder nichts. Wir zeigen der Türkei den Weg auf: Ja oder nein. Wir verhandeln zehn bis 15 Jahre und am Schluss sagen wir: Ja oder nein. – Das ist der falsche Weg. Wir von der Union sagen: Wir wollen heute den Ausbau und die Vertiefung der Partnerschaft und Freundschaft mit der Türkei, und zwar schrittweise und stufenweise mit dem Konzept der privilegierten Partnerschaft.

   Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Koalition, Sie sprechen von der Mehrheit der Muslime im Land, die Sie brauchen. Ich frage Sie: Brauchen wir für einen solchen historischen Schritt nicht die Mehrheit der deutschen Bevölkerung hier in Deutschland?

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es ist beschämend, dass der Kanzler bei einer solchen Debatte, vor einem solchen historischen Schritt in Europa nicht auf der Regierungsbank sitzt, geschweige denn, dass er dem deutschen Parlament die Möglichkeit gäbe, über einen solchen Schritt abzustimmen. Sie entscheiden gegen die Mehrheit des deutschen Volkes und gegen das deutsche Parlament.

(Beifall bei der CDU/CSU – Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Woher wissen Sie denn das?)

Das ist die Arroganz der Macht. Sie, Herr Bundeskanzler, und Sie, Herr Außenminister, haben Ihre Freunde von der Industrie an Ihrer Seite, Herrn Breuer und Herrn Rogowski. Ich aber sage Ihnen: Die deutsche Industrie und die deutsche Wirtschaft profitieren heute schon von der Partnerschaft und der Zollunion. Das ist kein qualitativer Sprung.

(Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber natürlich!)

Fragen Sie doch einmal Herrn Vosseler! Fragen Sie einmal die Opel-Mitarbeiter! Fragen Sie den normalen Arbeitnehmer! Diese Menschen bangen um ihre Arbeitsplätze.

Sie haben ein Stück weit Angst vor dieser Entwicklung und sehen sie mit Sorge.

(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich komme auf die zentralen Punkte zu sprechen. Was sind unsere Gründe gegen den EU-Beitritt der Türkei? Wir sind überzeugt, dass die Aufnahme der Türkei das Ende der Politischen Union Europas bedeutet. Europa verliert dadurch seine Identität und seine Zustimmung bei den Bürgern. Das können wir nicht anstreben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Egon Bahr als Wegbereiter der Osterweiterungspolitik bringt seine Kritik an einer Vollmitgliedschaft auf den Punkt, indem er feststellt:

Nimmt man die Türkei auf, dann ist das das Ende der Vision von der politischen Union Europas.
(Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Wo er Recht hat, hat er Recht!)

Nicht nur die großen Sozialdemokraten Egon Bahr und Helmut Schmidt, den man ebenfalls in diesem Zusammenhang anführen könnte, warnen davor. Herr Müntefering, Sie haben vorhin von der geheimen Abstimmung gesprochen. Das hat auch einigen Sozialdemokraten im Europäischen Parlament geholfen. Der Sozialdemokrat Klaus Hänsch, der frühere Präsident des Europäischen Parlaments, hat sich vorgestern wie folgt zu der Debatte geäußert:

Die Verhandlungen müssen beginnen, aber ein Tag der Freude ist dies nicht. Es fehlt ein überzeugendes Argument dafür, dass die Türkei den Zusammenhalt Europas stärkt und nicht schwächt.

Die politische Vertiefung wird der Euphorie über die Größe und die Fläche geopfert. Das wissen Sie auch, Herr Außenminister. Das ist im Übrigen auch der Grund, warum die Briten für den Beitritt Ankaras stimmen und warum es viele Ja-Stimmen aus unterschiedlichen Motiven gibt.

   Frits Bolkestein, der frühere niederländische EU-Kommissar, spricht in aller Offenheit und Deutlichkeit klar aus, dass Vertiefung und Erweiterung die Lebenslüge der Union seien. Die Erweiterung und Vertiefung schafften in Brüssel ein Monster oder Chaos. Wahrscheinlich schafften sie beides. Denn Sie können nicht auf der einen Seite den Weg zur Politischen Union und die Handlungsfähigkeit Europas vertiefen – was wir alle wollen – und auf der anderen Seite die Europäische Union durch die Ausdehnung bzw. Erweiterung bis an die Grenzen Syriens und Armeniens in eine Größenordnung bringen, in der wir den Weg der Politischen Union nicht mehr gemeinsam gestalten können.

   Für unseren Außenminister hat Europa noch nicht die richtige Größe. Das hat er mehrfach betont. Nur mit der Türkei kann die EU hinsichtlich der Größe mit Amerika, Russland und China Schritt halten. Frau Merkel hat Sie bereits darauf hingewiesen, Herr Fischer: Sie verwechseln in Ihrer Großmannssucht Größe und Stärke. Ein Europa, das in der Welt eine Rolle spielt – das wäre entscheidend –, sollte und müsste mit einer Stimme sprechen. Das ist der Weg, den wir gehen müssen.

(Zuruf von der SPD: Der bayerische Weg!)

   Auch das Strategieargument wurde entkräftet.

(Uta Zapf (SPD): Keineswegs!)

Die Türkei ist weder eine Brücke zur arabischen Welt noch ein Vorbild für sie.

(Uta Zapf (SPD): Aber ja!)

Auch diese Wahrheit muss gesagt werden. Denken Sie an das Verhältnis zwischen der Türkei und ihren arabischen Nachbarn! Es ist mehr als gespannt. Denken Sie an die zwei Jahre zurückliegende syrisch-türkische Krise!

(Uta Zapf (SPD): Das ist zwei Jahre her! Heute ist alles anders!)

Die Türkei ist weder Brücke noch Vorbild für die arabische Welt. Dies bestätigen Ihnen nicht nur Herr Winkler, sondern auch viele andere Professoren, Wissenschaftler und Fachleute.

   Sie brechen mit der Aufnahme der Verhandlungen mit einem Grundsatz. Sie nehmen Verhandlungen auf, ohne dass die politischen Kopenhagener Kriterien erfüllt sind. Ankara missachtet die Menschenrechte. Die Zypernfrage ist weiter offen. Das Völkerrecht wird verletzt. Ankara verletzt das Recht auf Religionsfreiheit. Die EU-Kommission stellt zum Thema Folter fest, dass es zwar keine systematische, aber eine permanente Folter gibt. Allein 2004 sind 600 Folterfälle dokumentiert worden.

   Meine sehr verehrten Damen und Herren, Herr Bundesinnenminister Schily, allein aus der Türkei sind in den letzten zwölf Monaten 12 000 Asylbewerber nach Deutschland gekommen. Dennoch stellen Sie fest, dass alle Kriterien hinsichtlich der Demokratie und Menschenrechte erfüllt seien. Sie geben einen Freifahrtschein und brechen mit dem Grundsatz, Verhandlungen erst dann aufzunehmen, wenn die politischen Kriterien erfüllt sind.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Natürlich stellen sich die Menschen in unserem Lande auch die – bislang völlig unbeantwortete – Frage nach den Kosten. Wer soll angesichts leerer Staats- und Rentenkassen den Beitritt der Türkei finanzieren? 25 Milliarden Euro im Jahr! Woher soll das Geld kommen? Diese Frage bleibt völlig offen. Die Menschen stellen sich ebenfalls die Frage, was Freizügigkeit bedeutet. Das Osteuropa-Institut weist heute noch einmal darauf hin, dass Freizügigkeit freier Zugang für alle Menschen zu den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und zu den europäischen Märkten bedeutet. Das Osteuropa-Institut prognostiziert heute, dass 4 Millionen Türken über die Brücke nach Europa kommen werden; denn es gibt eine enorme Einkommensdifferenz zwischen der Türkei und den europäischen Mitgliedstaaten.

(Günter Gloser (SPD): Wer redet denn von heute?)

Die Kaufkraft in der Türkei liegt bei 23 Prozent des EU-Durchschnitts. 20 Millionen Türken leben von einem Monatseinkommen in Höhe von unter 50 Euro. Wer sollte es diesen Menschen verdenken, wenn sie hoffnungsfroh über die Brücke gehen und zu uns kommen? Wer glaubt nicht, dass sie das tun werden?

   Erdogan hat in dieser Woche in seiner Rede vor dem türkischen Parlament ganz klar gemacht, er werde es nicht hinnehmen, dass die Freizügigkeit langfristig ausgeschlossen wird. Wenn Sie aber die Freizügigkeit langfristig ausschließen, dann machen Sie sich genau unser Konzept einer privilegierten Partnerschaft zu Eigen. Das ist ein sinnvollerer Weg als derjenige, den Sie vorschlagen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ich komme auf einen weiteren Punkt zu sprechen. Die Europäische Union ist nach der Osterweiterung überfordert, nun den Beitritt der Türkei zu schultern. Geben Sie eine Antwort auf die Frage, wie die Aufnahme der Türkei institutionell erfolgen soll, die dann mit 80 Millionen Einwohnern – das wären 15 Prozent der Bevölkerung der Europäischen Union – Anspruch auf 96 Abgeordnete im Europäischen Parlament und 15 Prozent der Ministerratsstimmen hätte. Weder sind die politischen Institutionen darauf vorbereitet noch sind die wirtschaftlichen Bedingungen dafür gegeben. Mit dem Beitritt der Türkei würde sich der Anteil der Kohäsionsländer in der EU auf 36 Prozent der Bevölkerung, 41 Prozent der Parlamentsstimmen und 43 Prozent der Ratsstimmen erhöhen, und das bei einem BIP-Anteil von 9 Prozent. Das würde den politischen, den institutionellen und den wirtschaftlichen Rahmen der Europäischen Union sprengen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Auch der Verfassungsvertrag gibt darauf keine Antwort. Er ist kein Erweiterungsplan.

   Ich komme zum Schluss. Ihre Alles-oder-nichts-Strategie ist falsch. Bei Ihnen heißt „ergebnisoffen“ Ja oder Nein. Das ist falsch. Verhandlungen über zehn oder 15 Jahre mit dem Ziel eines Beitritts zu führen und am Ende – möglicherweise – doch Nein zu sagen, das wäre eine verheerende Katastrophe für beide Seiten. Deshalb fordern wir Sie auf: Nehmen Sie die von uns, der Union, vorgeschlagene Option einer privilegierten Partnerschaft in die Verhandlungen auf!

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile der Kollegin Uta Zapf, SPD-Fraktion, das Wort.

Uta Zapf (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, dass die Rede von Herrn Müller eine Zusammenballung aller falschen Argumente in einem eigentlich rational zu führenden Diskurs darstellt. Das zeigt, auf welche Art und Weise Sie

(Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Überlegen Sie sich, was Sie sagen!)

– Herr Kollege, ich überlege mir das immer – vorgehen. Frau Merkel hat gesagt, das Thema bewege – das ist richtig – und wir müssten Argumente austauschen. Im gleichen Atemzug hat sie aber von einer Katastrophe gesprochen, wenn nun die Verhandlungen eröffnet würden. Das nenne ich nicht „Argumente austauschen“.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Ich möchte darauf hinweisen, wie inkonsistent Ihre Aussagen in den vergangenen Wochen waren. Vor einigen Wochen haben Sie angekündigt, die Entscheidung des Europäischen Rates zu respektieren. Ein paar Wochen später haben Sie gesagt: Wenn wir 2006 an die Regierung kommen, dann werden wir diese Entscheidung rückgängig machen. Offensichtlich gibt es eine hübsche Eskalation. Ich muss sagen: Ich bin dem Kollegen Rühe sehr dankbar, dass er zu genau diesem Thema öffentlich Stellung genommen hat. Er hat sowohl davor gewarnt, diese Frage im Bundestagswahlkampf zu instrumentalisieren, als auch davor, den Verhandlungsprozess zu stoppen.

   Herr Strauß – ich zitiere ihn ungern – hat immer gesagt: Pacta sunt servanda. Ich habe gehört, dass auch Frau Merkel diese Worte gegenüber Herrn Erdogan geäußert hat. Heute hat sie genau das Gegenteil behauptet.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Günter Gloser (SPD): Frau Merkel schlingert eben!)

   Die CDU/CSU behauptet, die Vollmitgliedschaft der Türkei scheitere an den Menschen in Europa. Sie implementieren einen Diskurs, der darauf abzielt, den Menschen zu suggerieren, dass die Integration der Türkei scheitern muss. In der letzten Diskussion hat Herr Glos in einem Zwischenruf gesagt: Wir wollen Hilfe vom deutschen Volk. Sie wollen nämlich, dass das deutsche Volk eine Mitgliedschaft der Türkei ablehnt.

(Michael Glos (CDU/CSU): Richtig!)

Im Moment sind Sie dabei – Sie führen keinen rationalen Dialog –, diesen Dialog mit einer beispielhaften Verdrehung der Argumente – Herr Müller war ein Paradebeispiel dafür – zu verhindern.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Günter Gloser (SPD): Herrn Glos kann niemand helfen!)

   Herr Pflüger hat erst kürzlich im Zusammenhang mit dem Verzicht auf die geplante Unterschriftenaktion geprahlt, als er sagte: Wir hätten ja viel Unterstützung gehabt; trotzdem haben wir darauf verzichtet.

(Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Richtig!)

Die NPD hat das nämlich aufgegriffen. So treibt man Wähler in die rechtsextremen Scheuern. Was Sie betreiben, ist nicht nur Populismus, sondern hat auch weit reichende Auswirkungen auf die Innen- wie auf die Außenpolitik. Es schert Sie in keiner Weise, dass Sie durch das Schüren von Ängsten, das Sie hier betreiben, Schäden anrichten.

   Zum Beispiel hat Herr Pöttering vor einigen Tagen im Deutschlandfunk gesagt: Zum Zeitpunkt des vermutlichen Beitritts wird die Türkei eine Bevölkerungszahl von 100 Millionen haben. Kein Einziger von Ihnen hat einmal einen Blick in die Geburtenstatistik der Türkei geworfen; sonst hätten Sie nämlich festgestellt, dass es dort ähnlich wie bei uns einen erheblichen Geburtenrückgang gibt, und das sowohl in den Metropolen als auch in Südostanatolien. Das ist keine wirklich rationale Diskussion, sondern eine Verkehrung der Tatsachen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Dasselbe gilt im Hinblick auf die wirtschaftliche Entwicklung. Herr Müller hat gerade das Quaisser-Gutachten erwähnt. Dieses Gutachten hat Herr Sinner, der bayerische Europaminister, stolz vorgestellt.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Das wurde vom Finanzminister Eichel in Auftrag gegeben!)

– Ja, ich weiß; und das vorherige auch. – Ich habe selbst mit Herrn Quaisser über seine Gutachten diskutiert. Wenn Sie genau hingeschaut hätten, dann hätten Sie bemerkt, dass Herr Quaisser genauso wie Sie die Parameter des Jahres 2004 zugrunde legt und in keiner Weise berücksichtigt, dass es während des gesamten Prozesses der Verhandlungen über einen Beitritt eine Entwicklung geben wird und dass es Prognosen gibt, die der Türkei durchaus eine positive Wirtschaftsentwicklung attestieren. Heute früh hat Herr Sahin, der Vorsitzende der Deutsch-Türkischen Industrie- und Handelskammer, die entsprechenden Argumente sehr genau aufgeführt.

   Wenn Sie mit diesem Thema wirklich fair und rational umgehen wollen, wenn Sie mit diesem Thema umgehen wollen, ohne Ängste zu schüren und ohne zu hetzen, dann müssen Sie auch diese Dinge erwähnen und Sie dürfen nichts vortragen, was schief ist und auf falschen Annahmen basiert.

   Wir begeben uns mit der Eröffnung der Verhandlungen doch in einen Prozess hinein. Diesen Prozess durchlaufen beide Seiten, sowohl die EU als auch die Türkei. Beide Seiten werden sich in diesem Prozess verändern und beiden Seiten wird dabei viel abverlangt. Innen- und außenpolitisch verantwortliches Handeln bedeutet, dass man mit den politischen Argumenten rational und ehrlich umgeht, dass man einen Beitrag zur politischen Willensbildung leistet und dass man in einem Abstimmungsprozess eine Entscheidung herbeiführt, so wie es das Europäische Parlament gemacht hat.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Dann lassen Sie uns doch einmal abstimmen! Der Bundeskanzler redet ja nicht einmal dazu!)

Ich bin mir ganz sicher, dass der Rat morgen entsprechend entscheiden wird und dann dieser Prozess eröffnet wird.

   Ich möchte noch auf ein Argument eingehen, das Herr Söder aufgegriffen hat und das auch Sie, Herr Müller, haben anklingen lassen: das Argument des Terrorismus. Herr Söder hat gesagt: Wenn wir jetzt Beitrittsverhandlungen beginnen, dann importieren wir den islamistischen Terror aus der Türkei nach Europa.

(Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Völlig gaga!)

Die ist so falsch wie nur irgend möglich,

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

weil die Türkei in der Terrorbekämpfung einer unserer besten Partner ist; sie ist selbst von diesem Terror betroffen. Fragen Sie doch bitte einmal das BKA danach, das Ihnen mitteilen wird, welch hervorragende Zusammenarbeit es an dieser Stelle gibt! Mit solchen Horrorargumenten – wenn sie zuträfen, dann hätte Frau Merkel natürlich Recht; das wäre eine Katastrophe – zu hantieren ist in der Tat völlig unverantwortlich.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Lassen Sie mich noch einen letzten Punkt aufgreifen: das sicherheitspolitische Argument. Das ist hier von Ihrer Seite völlig zerpflückt worden. Herr Fischer, Sie haben es sehr klar dargestellt. Ich bedanke mich dafür, dass Sie das noch einmal so deutlich gemacht haben. Den Partner Türkei werden Sie, meine Damen und Herren, vor den Kopf stoßen, wenn Sie so argumentieren. Die Türkei ist jahrzehntelang Partner der NATO, ist als Bollwerk gegen den Kommunismus wunderbar brauchbar, ist auch unerlässlich – das verdrängen Sie jetzt völlig – für den Ausbau der ESVP, der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Und nun wollen Sie ihr die Tür vor der Nase zuschlagen, obwohl richtig ist, was Sie bestreiten, nämlich dass die Türkei in dieser Region mittlerweile ein Garant und ein Promoter für Sicherheit ist und sein wird, weil sie gute Beziehungen zu ihren Nachbarn hat. Ja, sie hatte vor zwei Jahren einen Streit mit Syrien. Aber heute gibt es einen intensiven Annäherungsprozess mit Syrien. Es gibt einen Annäherungsprozess mit Iran. Dort ist die Türkei ein guter Vermittler. Vergessen Sie nicht, dass die Türkei das einzige Land in dieser Region ist, das gute Beziehungen zu Israel hat!

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Deshalb werden sie auch von den arabischen Staaten geliebt!)

Welches Pfund wir dort wegwerfen, wenn wir unseren Partner Türkei so vor den Kopf stoßen, das vergessen Sie hier völlig.

   Leider ist meine Redezeit jetzt fast zu Ende. Ich wäre gerade so richtig in Fahrt gekommen. – Wir sind gut beraten, glaube ich, wenn wir als Volksvertreter diesen Prozess begleiten, wie Herr Hoyer das gesagt hat. Es hindert uns niemand daran, diesen intensivierten europäisch-türkischen Dialog zu führen. Es hindert uns niemand daran, den deutsch-türkischen Dialog nicht nur in der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe zu führen, sondern generell unsere Kolleginnen und Kollegen im türkischen Parlament zu beraten, wenn sie es wünschen – das tun sie übrigens –, und sie bei diesem Prozess zu unterstützen, der für die Türkei schwer ist, der in der Türkei aber einen ganz hohen Akzeptanzgrad bei den Menschen hat. Die Kurden gehen auf die Straße und demonstrieren für den Beitritt zu Europa, weil sie genau wissen, dass ihre Menschenrechte, ihre bürgerlichen Rechte und ihre sozialen Rechte nur mit diesem Beitrittsprozess gewahrt bleiben. Die zivile Gesellschaft in der Türkei ist mittlerweile so stark und so gut, dass sie selbst die Kontrolle über die Einhaltung und die Implementierung der Kriterien leisten wird. Schlagen wir der Türkei die europäische Tür nicht vor der Nase zu! Das, aber nicht die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen, wäre eine Katastrophe.

   Danke.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile der Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP-Fraktion, das Wort.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte doch noch einmal auf die Beschlussfassung des Europäischen Parlaments von gestern zu sprechen kommen, die für den heute Abend beginnenden Europäischen Rat nicht bindend ist, aber doch ein ganz wichtiges politisches Bild widerspiegelt. Über 400 europäische Abgeordnete, Volksvertreter, haben sich für die Aufnahme von Verhandlungen mit der Türkei ausgesprochen.

Auch deutsche Liberale im Europaparlament haben Ja zu Verhandlungen gesagt, denn ein Ja zu Verhandlungen bedeutet kein Ja zu einem Beitritt. Sie haben da deutlich unterschieden.

(Beifall bei der FDP)

   Aber natürlich fühlen sie sich dazu verpflichtet, das einzuhalten, was in einem jahrzehntelangen Prozess der Heranführung der Türkei an die Europäische Union gesagt und auf den Weg gebracht worden ist. Auch vor 1998 sind die Weichen nicht in Richtung einer privilegierten Partnerschaft gestellt worden. Nirgendwo, in keinem Vertrag ist diese Alternative als eine Perspektive aufgezeigt worden. Es ist zwar auch nicht der Beitritt versprochen worden, aber er ist als eine Perspektive aufgezeigt worden. Auch in dieser heutigen Debatte muss die Kontinuität wichtiger außenpolitischer Entscheidungen der EU gewahrt bleiben.

   Man darf aber auch nicht die Augen vor dem verschließen, was in den nächsten Jahren, wenn die Verhandlungen aufgenommen werden – davon gehen wir aus, auch dank der Unterstützung vieler konservativer Regierungschefs im Europäischen Rat –, auf uns zukommt. Dann stehen wir vor der Aufgabe, offene und transparente Verhandlungen zu führen und ehrlich zu bewerten, welche Fortschritte erzielt worden sind, aber zugleich auch deutlich zu machen, wo es noch Defizite gibt. Dass gerade diejenigen, die in den letzten Jahren häufig in der Türkei gewesen sind, die dort Prozesse beobachtet haben und miterleben mussten, wie Abgeordnete, weil sie die kurdische Sprache sprechen, zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden, hoffen, dass sich hier in der Türkei etwas ändert, ist doch klar. Die Menschenrechtler erhoffen sich von der Entscheidung über die Aufnahme von Verhandlungen eine Verstärkung des Druckes und damit einen weiteren Schub bei der Unterstützung ihrer Anliegen. Dass deren Vorstellungen durchgesetzt werden, ist entscheidend. Zur Realität in der Türkei muss in Zukunft gehören, dass Folter, Misshandlungen und körperliche Verletzungen im Gewahrsam der Polizei, die ja schon auf dem Papier verboten sind, auch tatsächlich nicht mehr stattfinden bzw. bei Vergehen dagegen diejenigen, die so etwas machen, strafrechtlich verfolgt werden.

(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Auch beim Bild der Frau in der Gesellschaft muss es zu Veränderungen kommen. Auch Frauen in der Türkei müssen an allen gesellschaftlichen Entwicklungen teilhaben können. Angesichts der Größe und der starken regionalen Unterschiede in der Türkei reicht es nicht, dass so etwas irgendwo auf einem Papier steht. Vielmehr muss alles getan werden, dass die wirtschaftliche und gesellschaftliche Realität so aussieht, dass Frauen an der wirtschaftlichen Entwicklung teilhaben und ihre Rechte in einem nicht mehr autoritär geführten System auch tatsächlich wahrnehmen können. Das durchzusetzen wird ein entscheidender Punkt bei den Verhandlungen in den nächsten Jahren sein. Wir alle gehen davon aus, dass sie auf mehr als zehn Jahre angelegt sein werden. Wenn erst im Jahre 2014 über die Finanzen verhandelt werden soll, ist klar, dass in dem gleichen Jahr die Verhandlungen nicht auch schon abgeschlossen sein können. Vielmehr wird man davon ausgehen müssen, dass dieser Prozess sehr viel länger dauert.

   Das Monitoring darf jedoch nicht zu einem bloßen Beobachtungsritual verkommen, indem alle Jahre ein Bericht vorgelegt wird, der von jedem anders interpretiert wird, weil er vielleicht Gespräche geführt hat oder von Menschenrechtlern, die in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages angehört wurden, ein Bild vermittelt bekommen hat, sondern es müssen greifbare Ergebnisse erzielt werden. Es müssen andere Instanzen geschaffen werden, die Fortschritte einfordern und einmal erzielte überwachen. Damit soll das erreicht werden, was wir, die wir dieser Entwicklung positiv gegenüberstehen, erwarten, nämlich dass sich die Türkei so verändert, dass sie nach einem über längere Zeit laufenden Prozess beitrittsfähig sein wird.

(Beifall bei der FDP)

   Wenn das nicht der Fall sein wird, meine Damen und Herren, dann ist für uns auch klar, dass es nicht aufgrund der Tatsache, dass einmal die politische Entscheidung über die Aufnahme von Verhandlungen getroffen wurde, einen Automatismus nach dem Motto geben darf: Der politische Druck ist so groß, wir können nicht mehr anders entscheiden. Ich bin deshalb der Meinung, wir sollten genau hinschauen, wie die Realität in den Staaten, mit denen wir schon verhandeln und die demnächst Beitrittsverträge unterzeichnen wollen, aussieht und welche Fortschritte dort bei der Umsetzung notwendiger Reformen erzielt wurden.

Wir sollten uns nicht in die Lage bringen, dass uns vorgehalten werden kann, dass wir bei allen anderen Beitrittskandidaten die Augen vor vorhandenen Defiziten verschlossen hätten, bei der Türkei aber die Augen ganz weit aufmachen würden. Die Türkei soll so behandelt werden wie die anderen Staaten auch und die anderen Staaten sollen an den Maßstäben gemessen werden, die wir an die Türkei anlegen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegin Claudia Roth, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Michel Glos! – Die heutige Debatte markiert einen wichtigen Schritt in der Einigungsgeschichte Europas, denn die Türkei ist Teil Europas. Es ist wichtig, das am heutigen Tage immer wieder zu sagen. Das Ziel der Vollmitgliedschaft wurde bereits 1963 mit dem Ankara-Abkommen besiegelt. Seit 41 Jahren haben alle Bundesregierungen, auch die unionsgeführten, dieses Ziel unterstützt – zumindest offiziell, wie es heute erscheinen muss.

   Der Europäische Rat von Luxemburg 1997 hat – das hat Franz Müntefering deutlich gemacht – das Recht der Türkei auf einen EU-Beitritt nicht infrage gestellt. 1999 wurde die Türkei offiziell zum Beitrittskandidaten erklärt. Im Oktober dieses Jahres hat die Kommission auf der Basis der Kopenhagener Kriterien, die sie für hinlänglich erfüllt ansieht, die Beitrittsverhandlungen empfohlen. Gestern hat – das ist ein wichtiges Signal an den Europäischen Rat – das Europäische Parlament mit großer Mehrheit gegen die privilegierte Partnerschaft und für die unverzügliche Aufnahme der Verhandlungen gestimmt. Das ist ein Signal, das der Rat sicher ernst nehmen wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Wenn der Rat nun hoffentlich die Aufnahme der Verhandlungen beschließen wird, dann tritt das, was schon seit über 40 Jahren auf dem Weg ist, in ein neues Stadium ein. Dieser Schritt ergibt sich doch nicht nur aus der Logik der Beziehungen der Europäischen Union zur Türkei, sondern er steht auch in einer ganz besonderen Tradition der bundesdeutschen Politik: der Tradition der Integration. Willy Brandts Ostpolitik war doch geprägt von Dialog und Integration und eben nicht von Zurückweisung. Es war genau diese Dialogbereitschaft, diese Integrationsbereitschaft, die die Veränderungen in Europa seit 1989 vorbereitet hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Günter Gloser (SPD))

   Integration und nicht Zurückweisung war doch wirksam bei der Süderweiterung der Europäischen Gemeinschaft. Spanien, Portugal und Griechenland hatten ganz schlimme Diktaturen hinter sich, als sie sich damals auf den Weg in die Europäische Gemeinschaft gemacht haben. Es war doch genau der Prozess der europäischen Integration, der den Demokratisierungsprozess in diesen Ländern unterstützt hat und der mit dafür gesorgt hat, dass Spanien, Portugal und Griechenland heute stabile Demokratien in der Mitte der Europäischen Union sind.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Ähnlich ist es bei der Osterweiterung. Es gibt noch Probleme; aber die Erfolge sind unübersehbar. Die alten und die neuen Mitgliedstaaten profitieren davon, allen voran Deutschland.

   Genau das erwarte ich auch mit Blick auf die Türkei. Unser Ja zu der Aufnahme von Verhandlungen ist sehr wohl abgewogen; es ist keinesfalls eine Augenblickseingebung. Klares Ziel ist, dass auf Erfolg verhandelt wird. Aber der Verhandlungsbeginn setzt eben keinen Beitrittsautomatismus in Gang. Am Ende des Prozesses – das wird ein langer und schwieriger Prozess sein, ein Prozess, der der Türkei viel an Wandel abverlangen wird – ist die Entscheidung zu treffen. Ergebnisoffen heißt doch eben nicht, werte Kollegen von der Union, auf der privilegierten Partnerschaft und nur auf der privilegierten Partnerschaft zu bestehen, denn sie ist kein Angebot und das wissen Sie auch; sie ist in Teilen sogar weniger als der Status quo. Wenn Sie also von „ergebnisoffen“ sprechen, werte Kollegen, dann meinen Sie die rote Karte und das ist ganz genau das Gegenteil von seriösem Verhandeln.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte noch einmal versuchen, zu begründen, warum wir so vehement für den Beginn von Verhandlungen mit der Türkei sind. Wir sind dafür, weil wir ein vitales Interesse an einer demokratischen Türkei, an der Einhaltung von Menschenrechten, Minderheitenrechten und Rechtsstaatlichkeit haben.

Mit der Frage, was wir dazu beitragen können, dass es zu einem Demokratisierungsprozess und zur stärkeren Beachtung der Menschen- und Minderheitenrechte in der Türkei kommt, beschäftige ich mich seit 18 Jahren. Die glaubwürdige Beitrittsperspektive seit 1999 hat diesen Reformprozess unterstützt und dafür gesorgt, dass es große Veränderungen in der Türkei gegeben hat. Diese Veränderungen sind der Beweis dafür, wie wichtig diese Perspektive ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Frau Merkel, ich weiß, dass nicht die Papierform von Gesetzen zählt, sondern dass es auf die Implementierung ankommt. Ich weiß sehr genau, dass Defizite noch überwunden werden müssen. Ich weiß, dass es ein Folterverbot gibt. Aber ich weiß auch, dass dieses Folterverbot bis in die letzte Polizeistation in der Türkei umgesetzt werden muss.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Aber nicht umgesetzt ist!)

   Ich weiß, dass es ein Gesetz von Verfassungsrang zur Gleichstellung von Mann und Frau gibt. Aber es muss jetzt noch in die Praxis umgesetzt werden, Gerd Müller. Es darf keine Ehrenmorde und keine Zwangsverheiratungen mehr geben.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Das interessiert doch den Schröder nicht! Schauen Sie sich doch mal an, was er in China gesagt hat!)

Ich weiß, dass sich die Situation der religiösen Minderheiten massiv verändert hat. Gleichwohl muss man sagen, dass es Defizite bei der Priesterausbildung und beim Rechtsstatus dieser Minderheiten gibt.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Fischer ist ein Seelenverkäufer!)

   Ich weiß, dass der Ausnahmezustand in den kurdischen Gebieten aufgehoben worden ist und dass damit begonnen wurde, die kulturelle Realität anzuerkennen. Das reicht aber noch nicht, dass die Kurden tatsächlich akzeptiert werden.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Sie sind eingeknickt!)

Weil ich all das weiß, unterstütze ich diesen Integrationsprozess, der den Demokratisierungsprozess begleitet und absichert.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Wenn Sie sich dafür interessieren würden, Gerd Müller, dann wüssten Sie, dass alle – wirklich alle – Menschenrechtsorganisationen in der Türkei, entsprechende Stiftungen und Vereine, alle Vertreter der religiösen Gruppen, Vertreter der Kurden und der Armenier und nicht zuletzt die Mitglieder des Menschenrechtsausschusses der türkischen Nationalversammlung, die eine enge Kooperation mit unserem Parlament wollen, der Meinung sind: Bei der Demokratisierung in der Türkei kommt es jetzt darauf an, die Dynamik der Veränderungen nicht zu unterbrechen und in den Anstrengungen nicht nachzulassen. Der Beginn der Verhandlungen und das begleitende Monitoring fördern den Demokratisierungsprozess, den wir alle wollen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   All diejenigen, die wirklich für die Menschenrechte eintreten und die sie nicht nur dann einfordern, wenn es ihnen politisch in den Kram passt, müssen für die EU-Integration der Türkei sein. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Ich möchte noch einmal auf das Argument hinsichtlich der Sicherheit zurückkommen. Seit jenem 11. September haben Tausende von Menschen ihr Leben verloren. Die Liste der von Terroranschlägen betroffenen Städte wird traurigerweise immer länger: New York, Bagdad, Riad und Madrid. Aber Uta Zapf hat Recht: Auf dieser Liste steht auch Istanbul. Auch in Istanbul haben Menschen ihr Leben verloren; auch die Türkei ist im Fadenkreuz des internationalen Terrorismus.

   Was will dieser Terrorismus? Er will den Clash of Civilization; er will Unterschiede zwischen Kulturen zu gewaltsamen Gegensätzen steigern. Dem müssen wir entgegenwirken. Die Türkei ist dabei ein ganz besonders wichtiger Verbündeter. Eine demokratische Türkei in der Europäischen Union zeigt Integrationsbereitschaft und Integrationsfähigkeit. Sie wäre ein Beweis dafür, dass die Behauptung, Islam und Demokratie seien per se ein Widerspruch, falsch ist. Außerdem wäre es ein sehr wichtiges Signal in die islamische Welt, in die arabische Welt und ein enormer Sicherheitszugewinn für uns alle. Dieses Argument können Sie nicht vom Tisch wischen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Herr Müller, ich gebe Ihnen Recht: Dieses Europa muss von unten entstehen. Es muss von den Menschen gewollt werden.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Das glaubt ihr doch selber nicht! Von den Menschen in der Türkei oder in Deutschland?)

– Hören Sie mir doch einmal zu!

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Von welchen Menschen?)

Dabei geht es um die Begegnung der Zivilgesellschaften, um kulturellen Austausch sowie um ein gestärktes und vertieftes Verständnis füreinander. Dafür braucht es aber die Bereitschaft zur Annäherung und zum Dialog. Eine Ausgrenzung, das Schüren von Ängsten und das Aufstellen von Bedrohungsszenarien, wie Sie es heute Morgen exemplarisch vorgeführt haben, darf es nicht geben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Bitte erinnern Sie sich, liebe christdemokratische Kollegen: Sie haben dereinst die Entspannungspolitik abgelehnt und sind damit für lange Jahre in das politische Abseits manövriert worden. Sie beginnen, mit der Türkei genau die gleichen Fehler zu machen. Wieder setzen Sie auf Ab- und Ausgrenzung. Wieder erkennen Sie nicht die Zeichen des Wandels und wieder einmal setzen Sie auf innenpolitische Stimmungsmache.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Herr Müller, das haben Sie auch heute Morgen wieder getan.

   Sie wollen die Türkeifrage 2006 zum Wahlkampfthema machen. Daran kann Sie niemand hindern. Aber Ihr Antrag, den Sie in der nächsten Sitzungswoche einbringen werden und in dem Sie einen Zusammenhang zwischen Beitrittsverhandlungen und islamistischem Terror und Bandenkriminalität herstellen, Ihr Brief, den Sie einen Tag vor dem CDU-Parteitag an Bundeskanzler Schröder geschrieben haben – das war doch kein ernst gemeinter Brief an den Bundeskanzler; das war der Auftakt zu einer antitürkisch aufgeladenen Patriotismusdebatte –,

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

und das Spekulieren über Unterschriftenlisten, das ist doch – ich bitte Sie von Herzen – keine differenzierte Auseinandersetzung, sondern Wahlkampf. Den betreiben Sie auf dem Rücken von Migranten. Das ist genau das Gegenteil von Integration.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, mit der Ankündigung von Herrn Stoiber – die wird er nicht einlösen, weil Sie 2006 nicht in der Regierung sein werden – zerschlagen Sie außenpolitische Glaubwürdigkeit, indem Sie sagen: Wir werden mit allen Mitteln versuchen, das, was der Europäische Rat morgen – hoffentlich – beschließen wird, wieder einzukassieren. Damit zerschlagen Sie außenpolitisches Porzellan. Sie zerschlagen die Glaubwürdigkeit der deutschen Außenpolitik. Gut, dass Sie nicht in die Regierung kommen werden!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ja. – Sie haben sich von einer gestalterischen und verantwortlichen Europa- und Außenpolitik abgemeldet. Ich muss Ihnen sagen: Ich finde es wirklich schlimm, dass Sie in dieser Frage eine Politik nach dem Motto „Der Zweck heiligt die Mittel“ betreiben, um an die Macht zu kommen.

(Widerspruch von der CDU/CSU)

Ich bin davon überzeugt, dass gerade in der Politik der Zweck die Mittel nicht heiligt.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das ist ein böses Beispiel für die politische Unkultur in diesem Land.

   Wir sagen heute Ja zur Türkei in Europa, Ja zu einer demokratischen Türkei.

(Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Was macht ihr denn mit den Menschenrechten, ihr Opportunisten!)

Wir werden diesen Verhandlungsprozess sehr ernsthaft – im Sinne der Menschenrechte. –

(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

begleiten.

Präsident Wolfgang Thierse:

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen. Sie haben Ihre Redezeit schon deutlich überschritten.

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ja, Herr Präsident. – Aber lassen Sie mich noch eines sagen:

(Zurufe von der CDU/CSU: Nein!)

Wenn es um Menschenrechte geht, muss ich mir von Ihrer Fraktion wirklich nichts vorhalten lassen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Friedbert Pflüger, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kollegin Roth, die Einzige, die in der bisher im Ganzen eigentlich sachlichen Debatte auflädt, emotionalisiert und innenpolitisch instrumentalisiert, sind Sie und nicht die Opposition.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Uta Zapf (SPD): Das ist doch gar nicht wahr!)

   Es muss möglich sein, mit einem Land gute Beziehungen zu unterhalten, den Dialog mit ihm zu pflegen und Freund dieses Landes zu sein, ohne dass dieses Land gleichzeitig ein Angebot zur Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union erhält.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Herr Erdogan hat in einem Interview in der „Bild am Sonntag“ gesagt, dass, wer gegen die Vollmitgliedschaft sei, dies aus antitürkischen Motiven tue, aus Motiven, die damit zu tun hätten, dass man Europa als Christenklub verstehe. Ich glaube nicht, dass er damit seinem Land und sich selbst einen großen Gefallen getan hat. Denn es ist ein Fehler, das Bekenntnis zur EU-Mitgliedschaft der Türkei zum entscheidenden Maßstab für die Türkenfreundlichkeit eines Menschen oder eines Landes zu machen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Helmut Kohl hat das gestern in einem, wie ich finde, ganz ausgezeichneten Interview in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ auch für sich bekundet. Er hat davon berichtet, wie er in der Vergangenheit mehrfach gegenüber der Türkei – übrigens auch in Washington – hilfreich gewesen ist. Er sagt, er finde es schon seltsam, dass er wegen seiner ablehnenden Meinung zum EU-Beitritt plötzlich in das Lager der Türkenfeinde gestellt werde. Ich glaube, da können wir den früheren Bundeskanzler gut verstehen.

(Günter Gloser (SPD): Was war denn 1997?)

Auch wir finden es seltsam, dass wir plötzlich ein Christenklub und antitürkisch sein sollen, nur weil wir sagen: Die Vollmitgliedschaft ist nicht das richtige Instrument für diese Freundschaft.

(Beifall bei der CDU/CSU – Gernot Erler (SPD): Warum bist du heute so defensiv?)

   Giscard d’Estaing,

(Gernot Erler (SPD): Den hatten wir vorhin schon!)

ehemaliger französischer Staatspräsident und ehemaliger Präsident des europäischen Verfassungskonvents, hat diesen Gedanken auf den Punkt gebracht. In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ hat er gesagt: „Wenn die einzig denkbare Lösung entweder der Beitritt der Türkei zur Union oder das Zerwürfnis mit seinen Partnern sein sollte, wäre die EU dazu verdammt, zu einer regionalen Sektion der Vereinten Nationen abzugleiten, zu einem Ort der Begegnung, des Dialogs ...“

(Uta Zapf (SPD): Was für ein Gedanke! Quatsch!)

Dieses Argument sollten Sie ernst nehmen. Wer will bestreiten, dass der Dialog, eine Anbindung der Türkei an Europa und ein gutes Verhältnis zu den hier lebenden Türken notwendig sind; aber deshalb muss ich nicht für die Vollmitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union sein.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ein zweiter Gedanke. Im Vertrag zur Europäischen Union heißt es:

Jeder europäische Staat kann beantragen, Mitglied der Union zu werden.
(Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Richtig!)

Ist die Türkei ein europäischer Staat?

(Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja!)

Darüber wird eine intensive Debatte geführt. Ein entscheidendes Kriterium dafür ist die geographische Lage. Es kann nun einmal nicht bestritten werden, dass die Türkei zu weniger als 5 Prozent in Europa liegt und weniger als 10 Prozent der Bevölkerung im europäischen Teil der Türkei leben. Die Türkei reicht 1 500 Kilometer nach Asien hinein – das ist die anatolische Hochebene. 1 500 Kilometer beträgt in etwa die Entfernung von Warschau nach London.

   Wenn man die Europäische Union als mehr als eine Freihandelsunion, nämlich als politische Union versteht, muss die Frage legitim sein, ob wir sie beliebig auf andere Kontinente ausdehnen sollten.

(Zuruf von der SPD: Was heißt hier „auf andere Kontinente“?)

Ich glaube, dass Ernst Wolfgang Bockenförde mit seiner Bemerkung Recht hat: Mit dem Beitritt der Türkei in die EU würde geographisch aus der Europäischen Union eine europäisch-kleinasiatische Union werden. Das ist ein wesentlicher Punkt, den man in aller Ruhe diskutieren kann, ohne sich gleich so aufzuregen wie die Kollegin Roth.

   Drittens. Ich möchte etwas zu der Brückenfunktion sagen. Frau Merkel hat heute Morgen dazu etwas gesagt. Herr Müntefering äußerte dagegen das Widerlagerargument. Zunächst einmal möchte ich darauf hinweisen, dass Helmut Schmidt in einem Artikel in der Zeischrift „Die Zeit“ zu Recht darauf hingewiesen hat, dass die Wirkung des Modells Türkei in der arabischen Welt, die Wirkung einer Brückenfunktion, begrenzt ist, weil mit der Türkei in der arabischen Welt eine Kolonialherrschaft, die Herrschaft der Sultane, verbunden wird. Aus diesem Grund hätte die Türkei lediglich einen sehr begrenzten Modellcharakter für diese Region.

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Pflüger, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Roth?

Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU):

Ja, gerne.

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Pflüger, Sie haben Europa geographisch definiert. Ich möchte Sie fragen, wie Sie die Aussage im Ankaraabkommen einschätzen. Sie wissen, dass Walter Hallstein, ein CDU-Mann, 1963 Kommissionspräsident war. In dem Ankaraabkommen wird eindeutig definiert, dass die Türkei Teil Europas ist. Das ist die wichtige Aussage dieses Abkommens. Es wird deutlich gemacht, dass sich Europa über Werte definiert und weder kulturell noch geographisch ausgrenzend wirkt. So in etwa – ich habe nicht wortwörtlich zitiert – lautet die im Ankaraabkommen unterschriebene Formulierung.

Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU):

Frau Kollegin Roth, ich habe gesagt, dass die Geographie ein Kriterium ist, wenn auch ein wesentliches. Ich habe nicht bestritten, dass man Europa auch anders definieren kann.

(Uta Zapf (SPD): Das ist eine intellektuelle Hochleistung!)

   Sie haben das Assoziationsabkommen von 1963 angesprochen. In diesem Assoziationsabkommen heißt es: Ziel des Assoziationsabkommens ist eine beständige und ausgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen. Damals gab es eine EWG und noch keine Politische Union. Es ging um das Versprechen, Teil der EWG zu werden, und um nichts anderes.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Zurück zu dem Brückenargument. Der Kollege Müntefering hat vom Widerlager gesprochen. Er wird nicht bestreiten, dass eine Brückenfunktion die Selbstständigkeit beider Teile, die die Brücke verbindet, voraussetzt.

Wenn der Westen bzw. die EU die Türkei durch eine Vollmitgliedschaft völlig vereinnahmt, dann ist sie nicht mehr Brücke, sondern Teil des Westens bzw. der Europäischen Union.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Uta Zapf (SPD): Noch mehr intellektuelle Hochleistung!)

Die geistige und politische Vermittlung zwischen Europa und dem Orient, von der wir wollen, dass die Türkei sie übernimmt,

(Günter Gloser (SPD): Und was ist mit Spanien?)

kann sie nur dann leisten, wenn sie souverän und selbstständig bleibt, nicht aber, wenn sie vereinnahmt wird.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Uta Zapf (SPD): Das ist doch Unsinn!)

   Viertens. Immer wieder hören wir das Argument, es sei ungeheuer wichtig, die Türkei aufzunehmen, weil sie sonst in den Islamismus abdrifte. Günter Verheugen, der die Verhandlungen für die EU-Kommission geführt hat, hat gesagt, es sei denkbar, dass die Türkei in einen antieuropäischen, fundamentalistischen Islam abrutsche. Deshalb müsse man jetzt mit den Verhandlungen über einen Beitritt zur EU beginnen.

   Meine Damen und Herren, merken Sie gar nicht, was in dieser Argumentation steckt? Wenn wirklich eine reale Gefahr darin besteht, dass die Türkei ins fundamentalistische Lager abdriftet, dann soll die EU ihr also helfen? Müsste es nicht umgekehrt sein? Müsste sich nicht die Türkei zuerst ihrer selbst und ihres Weges sicher sein, die notwendigen Reformen durchgeführt und dem Islamismus eine endgültige Absage erteilt haben, bevor wir mit ihr verhandeln? Es kann doch nicht Aufgabe der EU sein, die Demokratie in der Türkei zu festigen. Dieses Argument ist aberwitzig.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Wenn es wirklich so wäre, dass die Türkei für ihre Modernisierung, Verwestlichung und Europäisierung sowie für die Einhaltung der Werte die EU bräuchte, dann wäre der innere Reformprozess der Türkei relativ oberflächlich.

(Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das war in Spanien genauso!)

Ich habe, wenn Sie so wollen, mehr Vertrauen in die Türkei. Ich glaube, die Türkei schafft das, und zwar auch im Rahmen einer privilegierten Partnerschaft und ohne Vollmitgliedschaft.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ich möchte ein fünftes Argument, das in dieser Debatte angeführt wird und das sehr wichtig ist, aufgreifen. Ich meine die Frage, ob sich ein Christenclub und der Islam vertragen. Meine Fraktion und ich würden nie sagen, dass Islam und EU nicht zusammenpassen; denn es gibt zum Beispiel das Assoziationsabkommen mit Bosnien-Herzegowina. Es ist gar keine Frage, dass das möglich sein kann. Aber ich glaube, Europa hat auch mit kultureller Identität, Geschichte und Traditionen, die über Jahrhunderte gewachsen sind, zu tun.

(Uta Zapf (SPD): Troja liegt in der Türkei!)

   Das hat mit Christentum und Christenclub erst einmal gar nichts zu tun – das wäre sehr oberflächlich betrachtet –, sondern damit, dass gerade in der globalisierten Welt jede Organisation bzw. jeder Zusammenschluss, der eine politische Union sein will, so etwas wie ein Wirgefühl benötigt. Dieses Wirgefühl ist mehr als das Bekenntnis zu Demokratie und Menschenrechten. Es beruht auf jahrhundertealter Geschichte, die man gemeinsam durchlebt haben muss: die griechische Antike,

(Uta Zapf (SPD): Ja! Troja liegt in der Türkei!)

dar römische Recht, der Investiturstreit, die Reformation, die Aufklärung, das alles prägt Europa. Man kann zwar sagen, dass man trotzdem Möglichkeiten der Anbindung findet. Aber zu sagen, dass all das kein Problem sei, das ist keine Lösung. Es ist ein Problem! Sie müssen sich darum bemühen, die Menschen mitzunehmen, sie nicht vor den Kopf zu stoßen und nicht von oben Entscheidungen zu treffen, denen die Menschen nicht zustimmen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Sie machen das doch! Sie stoßen die Menschen vor den Kopf!)

   Meine Damen und Herren, schließlich wird – sechstens – argumentiert, dass die Türkei seit über 40 Jahren ein Versprechen habe, vier Jahrzehnte lang gewartet habe und die EU jetzt endlich zu ihrem Versprechen stehen müsse. Ich finde dieses Argument ziemlich absurd,

(Uta Zapf (SPD): Was?)

wenn ich mir die türkische Geschichte in den vier Jahrzehnten seit Anfang der 60er-Jahre ansehe. In der Türkei hat es seit Anfang der 60er-Jahre drei Militärputsche gegeben.

(Zuruf von der SPD: Griechenland!)

Noch in den 90er-Jahren musste durch die Einwirkung und den Druck des Militärs die islamistische Heilspartei von Herrn Erbakan verboten werden. Daran zeigt sich: Es war doch nicht die EU, die der Türkei lange Zeit ein Versprechen nicht erfüllt hat. Vielmehr war es so, dass die Türkei über 40 Jahre hinweg nicht einmal ansatzweise die Kriterien erfüllt hat, deren Einhaltung für einen Beitritt oder auch nur für die Aufnahme von Verhandlungen notwendig gewesen wäre.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Jetzt haben wir gerade zwei Jahre Erdogan – mit beachtlichen Reformen,

(Michael Glos (CDU/CSU): Reformen auf dem Papier!)

die wir überhaupt nicht infrage stellen, zu denen wir ermutigen und bei denen wir unterstützen wollen. Aber der Kollege Müller hat Recht: Ein großer Teil davon steht nur auf dem Papier. Und wissen wir denn wirklich so genau, in welche Richtung sich die Türkei und die AKP entwickeln?

(Gernot Erler (SPD): Hasenfuß! Das ist doch keine Politik!)

Ich bin erst im Juni dieses Jahres in der Türkei gewesen und habe viele gehört, die gesagt haben: „Wir wollen gerade deshalb in die EU, um dann eine islamische Demokratie zu bekommen, um dann die Grenzen, die das Militär im kemalistischen Staat zieht, aufzuweichen.“ Es könnte also sogar der Fall eintreten, dass die Türkei im Zuge der Verhandlungen über die EU-Mitgliedschaft genau das verliert, was wir an ihr schätzen: die klare Trennung zwischen Religion und Staat.

(Uta Zapf (SPD): Es ist nicht zu fassen! – Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie sind doch auch eine religiöse Partei! So etwas sagt die christliche Partei!)

Ich bitte Sie, solche Bedenken ernst zu nehmen; sie werden in Europa breit diskutiert.

(Uta Zapf (SPD): Keine Ahnung!)

Warum gehen Sie eigentlich nicht auf die Vorlage ein, die Ihnen der Konvent für eine europäische Verfassung ermöglicht hat?

Präsident Wolfgang Thierse:

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

(Uta Zapf (SPD): Es wird wirklich Zeit! – Gegenruf des Abg. Volker Kauder (CDU/CSU): Frau Zapf, er darf genauso reden wie Sie auch!)

Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU):

Ich komme gern zum Schluss, Herr Präsident, ich darf nur diesen Gedanken zum Ende bringen. – Der Verfassungskonvent hat in Art. I 57 ganz klar festgelegt, dass es die Möglichkeit einer privilegierten Partnerschaft mit der EU gibt.

(Gernot Erler (SPD): Was ist denn das? Das wisst ihr doch selber nicht!)

Warum halten Sie sich das nicht zumindest als eine Möglichkeit offen? Dann müssen wir die Türkei in zehn oder 15 Jahren nicht vor die Alternative stellen: entweder totaler Abbruch – Sie sagen ja: „Es soll ergebnisoffen verhandelt werden“ – oder aber Vollmitgliedschaft. Warum bauen wir nicht Möglichkeiten ein, wie wir die Türkei in europäischen Strukturen auffangen können, auch wenn dieser angeblich ergebnisoffene Prozess scheitern sollte?

Präsident Wolfgang Thierse:

Herr Kollege, Sie müssen wirklich zum Ende kommen; Sie haben Ihre Redezeit schon weit überschritten.

Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU):

Damit würden wir uns, der EU und der Türkei einen großen Gefallen tun.

   Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU – Gernot Erler (SPD): Der Pflüger ist am Ende!)

Präsident Wolfgang Thierse:

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegin Christa Nickels.

Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ich muss hier mein Unverständnis über weite Passagen Ihrer Rede äußern, Herr Pflüger. Man hat über 40 Jahre hinweg auf einen Beitrittsprozess gesetzt – unabhängig von der jeweiligen Regierung und auch seitens der Europäischen Union. Nun haben wir diese unglaublich positive Entwicklung: Ich kenne weltweit keinen zweiten Staat, der in einer derartigen Kraftanstrengung von Regierung, Verwaltung und anderen staatlichen Organisationen in nur zwei Jahren die gesamte Gesetzeslage umgekrempelt hat und Wege zur Implementierung geschaffen hat. Deshalb ist es für mich überhaupt nicht nachvollziehbar und es leuchtet keinem ein, dass Sie gerade jetzt, zu diesem Zeitpunkt, mit dieser Art von Bedenkenträgerei anfangen. Das ist die Beleidigung eines Volkes, das wie kein anderes diese Anstrengung unternimmt. Das ist der erste Punkt.

   Der zweite ist folgender: Sie führen sich hier in einer patronhaften Art als Sachwalter der Christen und der Religionsvielfalt in der Türkei auf, verlangen aber genau das Gegenteil von dem, was alle Religionsgemeinschaften und alle Menschenrechtsorganisationen in der Türkei und auch die kurdischen Abgeordneten – von denen fünf gerade aus jahrelanger Gefangenschaft entlassen worden sind – verlangen. Sie alle wünschen, dass es eine ehrliche Beitrittsperspektive gibt und nicht das, was Sie jetzt vorschlagen. Diese Gruppen sagen: „Das ist eine einzigartige Chance für uns, hier wirklich Maßstäbe zu setzen und einen guten Beitrag für die Europäische Union insgesamt zu leisten.“

   Sie argumentieren hier im Namen des christlichen Abendlandes. Ich erinnere Sie nur an Ihr taktisches Spiel im Zusammenhang mit der EU-Verfassung: Sie haben ganz klar für die Aufnahme des Gottesbezuges in die Verfassung gestritten. Dieses Ziel haben Sie aber für parteipolitische, für innenpolitische Mätzchen missbraucht.

   Es war Bischof Homeyer, der vor zwei Jahren auf dem Michaelsempfang hier in Berlin zum ersten Mal Hannah Arendt zitiert und auf das Prinzip des „offenen Stuhls“ verwiesen hat:

Unabhängig davon, ob man glaubt oder nicht glaubt: Dass man sich an etwas bindet, was auch oberhalb menschlicher Weisheit ist, ist wichtig.

Das haben Sie konterkariert, das haben Sie kaputt gemacht, indem Sie die Aufnahme des Gottesbezugs als Angst vor einem mehrheitlich islamisch geprägten Land parteipolitisch instrumentalisiert haben.

Sie laufen jetzt Gefahr, genau dasselbe zu machen. Mir kann kein Mensch klar machen, warum Sie den Religionsgesellschaften, den Menschenrechtsvereinen und den Parteien in der Türkei das, was sie als wichtig ansehen, ausreden wollen und warum Sie im Namen dieser Organisationen und Menschen das Gegenteil erklären.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Pflüger, Sie haben Gelegenheit zur Antwort.

Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU):

Frau Kollegin Nickels, ich weiß wirklich nicht, warum Sie sich so aufregen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich habe sehr ruhig und sehr sachlich argumentiert; von Beleidigung der Türkei kann keine Rede sein. Ich habe eben ganz deutlich gemacht, dass ich den großen Reformprozess der letzten zwei Jahre anerkenne. Allerdings habe ich auch gesagt, dass vieles nur auf dem Papier steht,

(Volker Kauder (CDU/CSU): Genau so ist es!)

was vor Aufnahme von Verhandlungen eigentlich in die Praxis umgesetzt sein sollte.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Voraussetzung, nicht Folge!)

   Ich nenne Ihnen ein paar Beispiele: Ihr Parteivorsitzender, Herr Bütikofer, ist Anfang November in der Türkei gewesen und hat nach seiner Rückkehr gesagt, die Folter sei in der Türkei noch verbreitet.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Cem Özdemir!)

Darüber muss man einmal nachdenken: Die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung hat immer erklärt, bevor man über Beitrittsverhandlungen diskutieren könne, müsse erst die Folter ein Ende haben, und nun sagt Herr Bütikofer, es werde nach wie vor gefoltert.

   Frau Lochbieler, die Vorsitzende von Amnesty International, sagt, es gebe in der Türkei zwar eine Reihe begrüßenswerter Reformen, doch lasse die Umsetzung mehr als zu wünschen übrig. Prälat Rainer Korten, der in Antalya arbeitet, hat mehreren Kollegen von uns einen Brief geschrieben, in dem es heißt, Religionsfreiheit – davon haben Sie eben geredet – gebe es in der Türkei nicht einmal in Ansätzen.

   Frau Kollegin, über all diese Fragen müssen wir reden können. Wir müssen auch auf Defizite hinweisen können, ohne dass es eine Beleidigung der Türkei ist. Wir sind Freunde der Türkei.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile Kollegin Lale Akgün, SPD-Fraktion das Wort.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Die Grünen sind zu puren Opportunisten geworden! Alle Grundsätze werden der Macht geopfert! – Volker Kauder (CDU/CSU): Total verlottert und prinzipienlos sind die Grünen geworden! – Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das geht aber nicht! Das geht nicht! – Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Partei der Opportunisten!)

– Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe der Kollegin Akgün das Wort erteilt. Ich bitte Sie, ihr zuzuhören.

(Beifall bei der SPD)

Dr. Lale Akgün (SPD):

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich Folgendes von vornherein klarstellen:

   Erstens. Ich wurde zwar vor vielen Jahren als Türkin geboren, spreche hier heute aber als deutsche Bundestagsabgeordnete. Dies ist kein Widerspruch, sondern es passt hervorragend zusammen.

   Zweitens. Ich vertrete sozialdemokratische Positionen und deutsche Interessen. Auch dies ist kein Widerspruch; vielmehr passt dies ganz hervorragend zusammen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich betone dies, weil Sie, Kolleginnen und Kollegen der Union, in den letzten Wochen und Monaten jedes noch so hanebüchene Argument gegen den Beginn der Verhandlungen der EU mit der Türkei, gegen die Position der SPD in dieser Frage und gegen die 2,6 Millionen Menschen türkischer Herkunft in Deutschland eingesetzt haben. Sie machen Stimmung im Lande, indem Sie Gespenster an die Wand malen: Gespenster von politischer Legalisierung, Islamismus, Destabilisierung, steigender Kriminalität und Terrorismus.

   Diese Argumentation ist nicht nur falsch, sie ist schäbig.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): In welchem Film stehen Sie denn?)

Sie ist schäbig, weil sie die Wahrheit verdreht. Sie ist schäbig, weil sie zum Ziel hat, Wahlkampf auf dem Rücken von Zugewanderten zu machen. Schließlich ist sie schäbig, weil sie die Leistungen und die Integrationskraft des europäischen Einigungsprozesses in ungeheuerlicher und unpatriotischer Weise diffamiert.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie tragen mit Ihren ausgrenzenden Argumenten die politische und die moralische Verantwortung dafür, dass diese Gesellschaft immer weiter gespalten wird. Für ein paar Stimmen am rechten Rand nehmen Sie die Explosion von Millionen von Menschen in Kauf.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)

   Über den Beitritt selbst debattieren wir heute nicht. Das werden wir in zehn bis 15 Jahren tun, wenn der Bundestag den Beitritt ratifizieren wird. Heute geht es um die Frage, ob ein Land wie die Türkei, überwiegend von Muslimen bewohnt, Teil der europäischen Familie werden kann, wenn es die Werte und Ziele Europas teilt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die sozialdemokratische Antwort auf die Frage danach ist ein klares Ja. Europa ist für uns in erster Linie eine große Bewegung für die Stärkung des Friedens, der Demokratie und der Menschenrechte.

   Heute vernehmen wir aus der Türkei Dinge, die selbst 1999, in dem Jahr, in dem die EU der Türkei den Kandidatenstatus verliehen hat, noch schier unmöglich erschienen. Wie heute bereits erwähnt, demonstrieren im Südosten der Türkei Zehntausende Kurden im Einklang mit den Zielen der türkischen Regierung für einen Beitritt zur EU. Armenische und christliche Repräsentanten werben gemeinsam mit der Regierung der Türkei für den Beitritt. Dinge, die vor wenigen Jahren noch unter Strafe standen, sind heute als Bürgerrechte im Gesetz verankert und werden mehr und mehr auch implementiert.

   An all dem zeigt sich: Europa schafft Stabilität; es ist die Grundlage für Frieden und Freiheit. Das ist eine Erkenntnis, die Ihre Partei zu anderen Zeiten nicht nur geteilt, sondern unter Konrad Adenauer entscheidend mitgeprägt hat. Das war einmal, leider. Heute schürt die CDU/CSU Ressentiments. Unter Angela Merkel und Edmund Stoiber ist es europäische Friedenspolitik genug, wenn sie ihren internen Streit über wirtschafts- und sozialpolitische Fragen mit Debatten zum Thema Türkei überdecken können. Das ist eine miese und durchsichtige Strategie.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Geht es auch sachlich?)

   Unsere Europapolitik hat einen anderen Anspruch. Wir möchten Politik für das Europa von morgen machen. Wie ich erwähnt habe, ist der Türkei bereits 1999 der Kandidatenstatus verliehen worden. Seitdem hat sich in der Türkei sehr viel zum Positiven verändert. Seitdem hat sich aber auch Europa verändert. Es gab weit reichende strukturelle Reformen, eine Stärkung des Europäischen Parlaments und im Mai dieses Jahres den Beitritt von zehn neuen Mitgliedern. Wir sind auf dem besten Weg, Europa eine Verfassung zu geben, die die Werte und Grundlagen des europäischen Integrationsprozesses klar beschreibt. Wir alle wissen: Ohne Reformen der EU und ihrer Institutionen funktioniert die Erweiterung der Union nicht. Aber wir wissen auch: Ohne die Erweiterung, ohne die Impulse der neuen Mitgliedstaaten wären die Reformen nicht auf den Weg gebracht worden. Das ist ein interaktiver Prozess, der für einen künftigen Beitritt der Türkei ebenfalls gilt.

   Ich stelle fest: Die EU wurde im Laufe der Zeit und im Prozess der Erweiterung immer politischer. Erweiterung und Vertiefung sind also doch kein Widerspruch, wie von Ihnen immer gern behauptet wird.

   Das Argument, die EU werde sich mit der Aufnahme der Türkei wirtschaftlich und finanziell übernehmen und die Türkei werde den Strukturfonds und die Landwirtschaftspolitik der EU sprengen, ist nicht stichhaltig. Wenn sich die Türkei noch zehn Jahre in gleichem Maße weiterentwickelt und anschließend Mitglied der EU wird, dann wird es eine dynamische Türkei sein, die die EU wirtschaftlich und politisch voranbringen wird.

   Aber nicht nur die Türkei wird sich weiterhin ändern, auch die EU wird es tun. Die Landwirtschaftspolitik und die Strukturförderung werden sich ändern. Sie müssen sich den neuen Gegebenheiten anpassen. Wenn wir die Türkei als Chance begreifen, werden die Beitrittsverhandlungen diesen notwendigen Prozess sogar beschleunigen und beleben.

   Die Erweiterungen der jüngsten Zeit und die anstehenden Beitrittsverhandlungen mit der Türkei haben nicht nur die Strukturreform in Europa beschleunigt; vielmehr haben sie auch eine Debatte über die Werte Europas und seine Identität in Gang gebracht und in die breite Öffentlichkeit getragen. Hieran zeigt sich: Der Geist Europas ist der Geist der Aufklärung, die Werte Europas sind die Werte der Aufklärung.

Die Intensität, mit der über das Für und Wider einer Vollmitgliedschaft der Türkei diskutiert wird, zeigt, welch lebendiges Wesen dem Europagedanken innewohnt. Europa ist kein statischer Klub, dessen Mitglieder sich dadurch auszeichnen, dass sie sich auf ein christlich-historisches Erbe oder auf das kulturelle Erbe des antiken Griechenlands und Roms berufen, wie man es in letzter Zeit häufiger von Leuten hört, denen alle anderen Argumente ausgegangen sind. Wer Europa als statisches Gebilde begreift und konservieren will, der hat den Esprit Europas nicht verstanden; der hat nicht verstanden, dass die europäische Integration als dynamischer Prozess zu begreifen ist. Um mit den Worten des spanischen Dichters Antonio Machado zu reden: “Wanderer, deine Spuren sind der Weg und nichts mehr. Es gibt keinen Weg, man macht den Weg beim Gehen.“

   Das hat nichts mit Wertelosigkeit und Beliebigkeit zu tun. Es ist das Grundprinzip des Erfolgs der europäischen Einigung. Teilung von Souveränität und Verantwortung, Förderung der Vielfalt, eine offene Gesellschaft – das ist unsere sozialdemokratische Vision für Europa und das ist auch die Vision der Menschen in der Türkei, die all ihre Hoffnungen auf das Dazugehören zur europäischen Wertegemeinschaft setzen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wenn unser Bundeskanzler morgen für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei stimmt, dann ist das ein Stück ursozialdemokratischer Politik. Das ist gut für die Türkei, gut für uns in Deutschland und gut für Europa. Auch das ist kein Widerspruch, sondern passt hervorragend zusammen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (fraktionslos):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die PDS ist dafür, dass mit der Türkei Verhandlungen über den Beitritt zur Europäischen Union aufgenommen werden. Die PDS hat gestern im Europaparlament zugestimmt und wir werden das auch hier im Bundestag tun.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Im Gegensatz zur CDU/CSU stehen wir nicht im Wort eines Kanzlers Adenauer oder Kanzlers Kohl. Wir stimmen zu, weil es politisch vernünftig ist und weil die EU kein christlich-abendländischer Klub ist.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Nun kann man einen EU-Beitritt selbstverständlich befördern oder auch ablehnen. Das muss jede Partei mit sich selbst ausmachen. Mit Sorge verfolge ich allerdings, dass bei diesem Thema in den letzten Tagen verbal aufgerüstet und das gesellschaftliche Klima damit vergiftet wurde. Das ist aus meiner Sicht verantwortungslos und weckt die falschen Geister.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Natürlich fühlen sich viele Türkinnen und Türken direkt angegriffen, wenn der CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber droht, er werde alles – wohlgemerkt: alles – dafür tun, dass die Türkei nie EU-Mitglied werde.

(Günter Gloser (SPD): Er springt als Tiger und landet als Bettvorleger!)

Die türkische Gemeinde in Berlin beispielsweise hat entsprechend harsch reagiert und erklärt – ich zitiere –: „Wir nehmen die Kriegserklärung an.“ Ich finde das falsch; denn das spielt Herrn Stoiber und den anderen, die hier verbal aufrüsten, in die Hände, und das auf deren Niveau. Das sollten auch die türkischen Gemeinden in der Bundesrepublik bedenken und vermeiden.

(Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Stoiber sollte bei der Landespolitik bleiben!)

   Das Ja der PDS zu den Beitrittsverhandlungen ist nicht bedingungslos und auch nicht unumkehrbar. Der Türkei werden Fortschritte bescheinigt, wenn es um Rechtsstaatlichkeit und Bürgerrechte geht – zu Recht. Es bestehen aber weiterhin erhebliche Differenzen zwischen Wort und Tat, zwischen Gesetz und Praxis. Insbesondere der Alltag der 20 Millionen Kurdinnen und Kurden in der Türkei wird noch immer von Diskriminierung, Unterdrückung und sogar Terror geprägt. Daher wundere ich mich schon, dass die SPD und vor allem die Grünen dies nicht hörbarer kritisieren und auf Änderung drängen.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Im EU-Parlament haben Ihre Kolleginnen und Kollegen gestern jedenfalls jeden Antrag, in dem es um die Rechte der Kurdinnen und Kurden ging, abgelehnt und nicht in die entsprechende Resolution aufgenommen.

   Eine offene europäische Wunde ist nach wie vor auch die Zypernfrage. Es wäre widersinnig, den Fall der deutschen Mauer zu bejubeln und die Mauern durch Zypern zu dulden. Hier hat die Türkei eine Bringpflicht. Ich finde, die EU ist verpflichtet, hier zu drängen.

   Die Türkei hat noch weitere ungelöste Grenzfragen, zum Beispiel mit dem Irak und mit Syrien. Auch die militär-strategische Allianz der Türkei mit Israel ist wenig hilfreich für die friedliche Lösung des Nahostkonflikts.

   Deshalb wiederhole ich: Den Beitrittsverhandlungen folgt nicht automatisch ein Beitritt. Die Verhandlungen dürfen nicht bedingungslos sein, wie der türkische Ministerpräsident dieser Tage in einem Interview meinte. Es geht um einen Prozess, der begonnen hat und weitergehen muss. Dieser Prozess muss im Interesse der Türkei, im Interesse der EU und auch im Interesse der Bundesrepublik weitergehen. Deshalb stimmen wir heute zu.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Als letzter Redner hat das Wort der Kollege Gert Weisskirchen von der SPD-Fraktion.

Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bis auf einige Entgleisungen fand ich die Debatte sehr aufschlussreich. Mich verwundert sehr, Dr. Pflüger, dass Sie im Grunde genommen das bestätigen, was Sie ansonsten kritisieren, nämlich dass die Gefahr einer solchen Debatte darin besteht – in Ihrem Beitrag konnte man das sehr plastisch erkennen –, dass man sich auf der einen Seite gegen eine Kulturalisierung der Politik wendet, auf der anderen Seite aber genau diese Gefahr verstärkt, wenn man den Islam in einer solchen Weise in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung stellt.

   Wenn es richtig ist, dass die Europäische Union eben kein religiöses Projekt ist, sondern eines, das der Aufklärung verpflichtet ist, dann kommt es doch darauf an, dass wir die Kräfte innerhalb der Türkei stärken müssen – viele Türken leben bei uns in der Bundesrepublik Deutschland; Markus Löning kann als Berliner Abgeordneter sicherlich einiges dazu sagen –, die sich von der Islamisierung abwenden und versuchen, die Aufklärung in ihre Religion hineinzubringen. Genau das zerstören Sie mit Ihrem Argument, es gehe darum, die gefährlichen Triebkräfte, die es innerhalb des Islam gebe, zu konterkarieren.

   Lieber Herr Pflüger, ich glaube, dass Sie in noch einem Punkt missverstehen, was die Europäische Union ist. Die Europäische Union ist auch kein geografisches Projekt. Die Europäische Union ist ein Projekt der europäischen Werte. Es ist nicht ausgeschlossen und darf auch nicht ausgeschlossen werden – das Beispiel Bosnien haben Sie selbst genannt –, dass sich der Islam so entwickelt, dass er innerhalb der europäischen Werte eine komplementäre Aufgabe übernimmt. Im Gegenteil: Schauen Sie sich die Debatte in Frankreich an, die beispielsweise von Sarkozy angestoßen wurde! Es lohnt sich, darüber nachzudenken, was Säkularismus heute bedeuten kann. Es kommt darauf an, den Islam zu europäisieren. Das ist die zentrale Aufgabe der Europäischen Union.

   Wenn Sie schon dazu aufrufen, mit den Argumenten und Problemen, die damit verbunden sind, rational umzugehen, dann sage ich Ihnen: Die große Aufgabe, die uns bevorsteht, ist, den Islam gemeinsam mit den Türken, die bei uns leben, gemeinsam mit den Kräften der Aufklärung in der Türkei zu europäisieren. Dafür braucht die Türkei eine Perspektive. Diese darf aber nicht, wie es die Union fordert, lauten: Ihr werdet nie Vollmitglied der Europäischen Union. Diese schwierige, harte Debatte, die auch in der Türkei geführt wird, lenken Sie in eine Bahn der inneren Radikalisierung. Das müssen Sie bitte zur Kenntnis nehmen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Manchmal wird hier nicht genau beachtet, wie innerhalb der Türkei selber debattiert wird. Schauen wir uns einmal den inneren Charakter der Türkischen Republik an, die einen langen historischen Vorlauf hat. Die Türkische Republik – das ist besonders gut bei Kemal Atatürk nachzulesen und zu erkennen – hat mit dem Osmanischen Imperium geradezu einen Bruch vollzogen. Das ist im 20. Jahrhundert die entscheidende Wende gewesen, vorangetrieben durch ebenjene Kräfte, die Anschluss an die europäische Aufklärung suchten.

   Das Konzept, das Kemal Atatürk in den 20er-Jahren entwickelt hat, ist der Versuch, die Türkei zu europäisieren und den Anschluss an Europa – das betrifft auch die europäischen Werte – zu erreichen. Das ist ein schwieriger Prozess. Dieser Kampf innerhalb der Türkei ist – da haben Sie, die Sie das kritisieren, Recht – noch längst nicht beendet. Aber auch da gilt: Wenn wir heute die Tür für eine mögliche Vollmitgliedschaft der Türkei schließen – und das wollen Sie –, dann heißt das, der Radikalisierungstendenz innerhalb der Türkei neue Nahrung zu geben und die Türkei von Europa zu entfernen. Das wollen wir nicht. Deshalb ist das, was die EU morgen beschließen wird, im Interesse des aufklärerischen Islam und im Interesse Europas. Das ist ein weiteres Argument, das, wenn wir schon miteinander offen und hart debattieren, angeführt werden muss.

   Schließlich: Lesen Sie einmal nach, was Frau Merkel gesagt hat. Mir ist eines von ihrer Rede in Erinnerung geblieben. Das war nichts Substanzielles. Sie hat gesagt: Es geht nicht um die Türkei, sondern es geht um uns. Ja, es geht um uns, es geht um Sie. Sie vollziehen einen Bruch mit der Politik, an der Frau Merkel als Ministerin, Herr Kollege Dr. Schäuble und die anderen Kolleginnen und Kollegen der Union beteiligt waren. Sie vollziehen einen Bruch mit der Politik, die eine lange Tradition in Deutschland hat. Diese Politik bestand darin, verlässlich zu sein und der Türkei eine Perspektive zu geben. Sie brechen mit dieser Politik der Verlässlichkeit. Damit verabschiedet sich die Union aus dem europäischen Konzert. Das kann doch wahrlich nicht in Ihrem Interesse sein. Ich bitte Sie, bei diesem Punkt wenigstens einmal nachzudenken, ob das Ihr letztes Wort sein kann.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Herr Weisskirchen, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kossendey?

Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD):

Ja.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Bitte schön, Herr Kossendey.

Thomas Kossendey (CDU/CSU):

Herr Kollege Weisskirchen, Sie beschwören gerade den Bruch, den die CDU/CSU vollzogen haben soll. Wie erklären Sie sich dann die Äußerungen von Frau Schröder-Köpf in der Zeitung „Milliyet“ vom 19. April 1998, wonach die Türken die SPD wählen sollten, weil die CDU/CSU nie zulassen würde, dass die Türkei Mitglied der Europäischen Union wird? Hat sich Frau Schröder-Köpf damals geirrt?

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD):

Ich wusste gar nicht, dass die Frau des Bundeskanzlers als Kronzeugin genannt werden kann. Natürlich kann Frau Schröder-Köpf ihre Meinung genauso wie Sie und ich sagen.

   Fragen Sie bitte die Aufgeschlossenen in der Türkei und hier in Deutschland, die genau wissen, welchen inneren Kampf sie zu bestehen haben, wenn es darum geht, die Türkei zu einem Mitglied der Europäischen Union zu machen. Diesen inneren Kampf so zu begleiten, dass in der Türkei selbst ein fester innerer Wille entsteht, zu Europa zu gehören, ist die Aufgabe, die vor uns steht. Ich bitte Sie herzlich darum, sich an dieser Auseinandersetzung so konstruktiv zu beteiligen, wie es Ihrer eigenen Tradition entspricht, nicht aber so zu handeln, wie Sie es heute hier getan haben.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Ich schließe die Aussprache.

   Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 15/4522 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Für ein glaubwürdiges Angebot der EU an die Türkei“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/3949 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der beiden fraktionslosen Abgeordneten bei Gegenstimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 15/4523 zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Die Türkeipolitik der EU verlässlich fortsetzen und den Weg für Beitrittsverhandlungen mit der Türkei freimachen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/4031 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der beiden fraktionslosen Abgeordneten gegen die Stimmen von CDU/CSU und der FDP-Fraktion angenommen.

   Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 15/4524 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Zu der Empfehlung der EU-Kommission über Beitrittsverhandlungen der Europäischen Union mit der Türkei“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/4064 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU-Fraktion gegen die Stimmen der FDP-Fraktion und bei Enthaltung der beiden fraktionslosen Abgeordneten angenommen.

   Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses (11. Ausschuss) zu der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten

Jahresbericht 2003 (45. Bericht)

– Drucksachen 15/2600, 15/4475 –

Berichterstattung:Abgeordnete Ulrike Merten Anita Schäfer (Saalstadt)

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Das ist so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Wehrbeauftrage des Deutschen Bundestages, Dr. Willfried Penner, das Wort. Herr Penner, bitte schön.

Dr. Willfried Penner, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Aus aktuellem Anlass bemerke ich: Was Misshandlungen in der Bundeswehr angeht, so haben meine Amtsvorgänger und ich immer wieder darüber berichten müssen, und zwar klar und unmissverständlich auch anhand von Fallbeispielen. Aber auch dies ist wahr: Überwiegend hat die Bundeswehr angemessen reagiert, angefangen bei einfachen Disziplinarmaßnahmen bis hin zur Entfernung aus dem Dienst und Einschaltung von Strafverfolgungsbehörden.

   Gewiss wirkt dies nicht zu 100 Prozent generalpräventiv; sonst kämen solche Vorgänge nicht immer wieder vor. Aber ich kann nicht bekunden, dass sie generell verharmlost oder vertuscht würden. Das gilt im Übrigen auch für überkommene Soldatenrituale, die auch das körperliche Wohlergehen beeinträchtigen können und doch der männlichen Identitätsstiftung dienen sollen.

   Aus aktuellem Anlass bemerke ich weiter: Die Bundeswehr ist keine Armee der Schleifer und Drangsalierer. Die Masse der 12 000 Ausbilder gibt dienstlich keinen Anlass zu Beanstandungen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Sie haben es nicht verdient, unter Generalverdacht gestellt und damit gesellschaftlich geächtet zu werden. Ganz im Gegenteil: Sie sind rechtstreu und versehen einen wichtigen Dienst für die Bundeswehr und die Soldaten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

   Aus aktuellem Anlass darf ich aber auch Folgendes bemerken: Die Bundeswehr ist nicht irgendein öffentlicher Dienstleister. Sie hat auch mit Gewalt bzw. mit Anwendung von Gewalt und Abwendung derselben, auch durch Gewalt, zu tun. Es ist staatlich legitimierte Gewalt, die Gewalt von dritter Seite auch mithilfe der Bundeswehr und der Soldaten unterbinden soll.

   Der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung haben durch sehr konkrete Entscheidungen – insgesamt sind es über 40 – die Rahmenbedingungen dafür geschaffen, dass die Bundeswehr und die Soldaten in solchen Fällen im Ausland eingesetzt werden können. Mittlerweile haben über 100 000 Soldaten an solchen Einsätzen teilgenommen. Die Soldaten darauf richtig vorzubereiten ist selbstverständliche Pflicht des Dienstherrn. Das geschieht auf vielfältige Weise, auch in der Form, dass Soldaten auf Gefangennahme und Verhöre eingestellt werden. Das kann und darf nicht in einer Weise begrenzt sein, dass man nur über den Ernstfall redet. Nein, der Soldat muss auf den Eventualfall vorbereitet sein, und zwar auch mit vielen sehr konkreten Elementen der Gefangenschaft. Das geschieht in einem genau festgelegten Rahmen mit Sicherungen bis hin zu begleitender ärztlicher und psychologischer Hilfe.

   Wenn denn Bundesregierung und Bundestag weiter gehende Entscheidungen treffen, beispielsweise ein so genanntes robustes Mandat beschließen, dann muss die Bundeswehr ihre Soldaten darauf vorbereiten, dass sie dem robusten Mandat auch gerecht werden können. Wenn Bundesregierung und Bundestag – was bisher Gott sei Dank nicht geschehen ist – die Beteiligung an Kampfeinsätzen beispielsweise im Rahmen eines so bezeichneten asymmetrischen Kriegs beschließen, dann muss klar sein, worum es gehen kann: um Zerstören, Verwunden, Verwundetwerden, ja, auch um Sterben und Töten. Darauf müssen die Soldaten ebenfalls vorbereitet sein. Das ist dann nicht die Stunde der Rambos und der Brutalos, sondern die Stunde der Bewährung für die Tragfähigkeit der Inneren Führung. Wer dabei seine individuellen Quälgelüste auslebt, ist in der Bundeswehr fehl am Platz.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

   Aus aktuellem Anlass bemerke ich auch dies: In der allgemeinen Grundausbildung für Wehrpflichtige, freiwillig länger dienende Zeitsoldaten und Bewerber für die Ausbildung zu Berufssoldaten ist der Ausbildungsteil „Gefangennahme und Verhör“ nicht vorgesehen; er ist untersagt. So hat es das Heeresführungskommando im Februar 2004 bestätigt; so hat es der Führungsstab der Streitkräfte verbindlich festgelegt. Wer dagegen verstößt, macht sich eines Vergehens schuldig. Wer innerhalb eines solchen Ausbildungsvorhabens darüber hinausgehende Gewalthandlungen vornimmt, wird zusätzlich zur Verantwortung gezogen. Die Einhaltung dieser Regeln muss die Dienstaufsicht sicherstellen. Sie steht nicht nur auf dem Papier, sondern ist konkret gefordert, nicht zuletzt und ganz besonders beim Schutz der Wehrpflichtigen.

   Der Staat verlangt den Wehrpflichtigen eine tief greifende Pflicht ohnegleichen – gegebenenfalls bis zum Einsatz von Leib und Leben – ab. Deshalb besteht staatlicherseits auch die selbstverständliche Pflicht und Schuldigkeit, für einen umfassenden Schutz Sorge zu tragen. Wenn es denn bei der Dienstaufsicht hapert, dann muss das in Ordnung gebracht werden, und zwar umgehend.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Nicht in Jahren!)

   Aus aktuellem Anlass bemerke ich zusätzlich: Es ist zutreffend, dass das Echo betroffener Soldaten auf Coesfeld unterschiedlich ausgefallen ist. War es für die einen „cool“ oder ein „Highlight“, wurde es von anderen erlitten, von wieder anderen als zum militärischen Betrieb gehörend akzeptiert und von weiteren Soldaten unter gruppendynamischen Zwängen hingenommen; so wird jedenfalls berichtet. Das wird genau ermittelt werden müssen, und zwar von Staatsanwaltschaften genauso wie von der Bundeswehr selbst. Ich selbst kann mitteilen, dass Eingaben Betroffener zu diesem Thema eher karg sind. Die Zurückhaltung von Wehrpflichtigen bei Eingaben ist im Übrigen auffällig. Sie machen nur unterproportional davon Gebrauch. In Zahlen heißt das für 2004: Knapp 19 Prozent beträgt der Anteil der Grundwehrdienstleistenden an der durchschnittlichen Truppenstärke. Ihr Anteil am Eingabeaufkommen liegt hingegen bei knapp 7 Prozent, und dies bei proportional ständig steigenden Zahlen der Eingaben insgesamt.

   Außerdem bemerke ich aus aktuellem Anlass: Die beschuldigten Soldaten haben – wie auch andere – einen Anspruch auf ein faires Verfahren. Mehrere Soldaten haben mich auch insoweit um Unterstützung gebeten. Dem komme ich selbstverständlich nach; auch das gehört zu meinen gesetzlichen Aufgaben. Vorverurteilungen helfen der Sache nicht, wohl aber zügige Verfahren nach den Maßstäben des Rechts. Auch darauf werde ich ein Auge haben.

   Abweichend vom Vorherigen, aber auch aus aktuellem Anlass darf ich bemerken: Ausländerpolitik berührt ebenfalls die Bundeswehr. Nicht nur deutschstämmige Frauen und Männer leisten soldatischen Dienst in der Bundeswehr.

Es heißt, dass die Bundeswehr mittlerweile circa 80 unterschiedliche Ethnien umfasst. Gerade die Soldatinnen und Soldaten mit fremder Abkunft können mit Fug und Recht erwarten, dass die Ausländerpolitik mit ihren Müttern und Vätern anständig verfährt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich muss darauf aufmerksam machen dürfen, dass die Bundeswehr und die Soldaten nach 15 Jahren stetiger tief greifender Veränderungen, die noch mindestens weitere fünf Jahre währen sollen, Zeit zum Atemholen brauchen. Es war und ist eine riesige Kraftanstrengung, die Bundeswehr zur Einsatzarmee umzubauen, den Umfang der Bundeswehr von 520 000 Soldaten im Jahr 1990 auf demnächst 250 000 schrittweise zu reduzieren, die Anzahl der Standorte nach und nach auf 405 zu verkleinern, die Voraussetzungen für den uneingeschränkten Zugang für Frauen in die Bundeswehr zu schaffen usw. usw.

   Zusätzliche grundlegende Veränderungen werden zunehmend als Bedrohung wahrgenommen. Der diesbezügliche Leitbegriff Transformation wird nicht als Verheißung verstanden. Dieser Begriff kann vielmehr zum Unwort in der Bundeswehr werden, wie zuvor die Begriffe „Kopfpauschale“ oder „Hartz IV“ auf anderen Politikfeldern. Bei allem Verständnis gerade der Soldaten für Veränderungen: Innehalten braucht nicht immer ein Fehler zu sein. Anders ausgedrückt, man darf das stolze Selbstverständnis der Bundeswehr, wonach es keine Probleme, sondern nur Herausforderungen gibt, nicht überstrapazieren.

   Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Bundeswehr, so wird vonseiten der politischen und militärischen Führung mehr oder minder uneingeschränkt betont, sei auch zu weiteren Einsätzen in der Lage, ohne dass die bisherigen Engagements reduziert werden müssten. Das hört sich in der Truppe gelegentlich anders an. Immer wieder und verstärkt weisen Soldaten darauf hin, dass die Möglichkeiten der Spezialisten, namentlich der Fernmelder, erschöpft seien, dass sachgerechte Ausbildung im Inland Not leide, weil gutes Material im Einsatz benötigt werde, und dass viele Ausbilder ebenfalls wegen Einsatzverwendung ersetzt werden müssten.

   Im Interesse der Soldaten ist zu hoffen, dass die unterschiedlichen Wahrnehmungen derselben Sache durch die Truppe einerseits und die militärische und politische Führung andererseits nicht „Weichspülprozessen“ zuzuschreiben sind, die umso mehr wirken, je weiter die Realität entfernt ist. Es wäre unverantwortlich, sich für Einsätze zu entscheiden, wenn die Fähigkeiten dafür nur mit sprachlichen Kunstgriffen festgestellt werden können.

(Beifall des Abg. Hans Raidel (CDU/CSU) – Volker Kauder (CDU/CSU): Sehr richtig!)

   Herr Präsidentm meine Damen und Herren, Personalangelegenheiten machen seit Jahren einen wichtigen Anteil an den Eingaben aus. Dabei geht es in jüngster Zeit namentlich um sich mehrende finanzielle Einbußen bei ständig zunehmenden Dienstbelastungen. Lebens- und dienstältere Offiziere mit Portepee sind mit ihrer persönlichen Beförderungssituation unzufrieden. Beim Blick in den Spiegel stellen sie sich selbst die Frage – auch ihre Angehörigen stellen ihnen diese Frage –: Was hast du eigentlich verbrochen, dass die Soldaten, die du ausgebildet hast, in derselben Laufbahn an dir vorbeigezogen sind?

   Gewiss, das Attraktivitätsprogramm hat gegriffen. Dabei sind vielfach diejenigen übersehen worden, die mit ihrer militärischen Erfahrung und ihren unverzichtbaren Qualitäten in der Menschenführung das Rückgrat der Armee ausmachen: die gestandenen Ober- und Hauptfeldwebel. Immer wieder sind auch Klagen über organisatorische und inhaltliche Mängel bei den Maßnahmen der zivilen Aus- und Weiterbildung zu vernehmen. Immer wieder wird die Undurchlässigkeit von Laufbahnen beklagt.

   Die Truppe wünscht sich erweiterte Möglichkeiten der Personalgewinnung und der Stellenbesetzungshoheit „aus sich heraus“. Die Zentren für Nachwuchsgewinnung werden teilweise herb kritisiert. Ich habe vier von fünf dieser Einrichtungen besucht und mich davon überzeugen können, dass dort gute Arbeit geleistet wird. Dennoch: Die Truppe muss sich darauf verlassen können, dass im Hinblick auf den Alltag in der Bundeswehr weder Assoziationen mit „Marlboro-Romantik“ noch solche mit Aufenthalten im „Streichelzoo“ geweckt werden dürfen.

Herr Präsident, meine Damen und Herren, Schlussfolgerungen aus den von mir mit meinem Jahresbericht 2003 vorgelegten Befunden zu ziehen ist Sache des Auftraggebers, nämlich des Parlaments. Für den Fall allerdings, dass Sie den Beauftragten nach seiner Einschätzung fragen, gestatten Sie mir noch folgende Bemerkungen:

   Die von mir festgestellten Mängel werden von der politischen Führung der Bundeswehr weitestgehend bestätigt. Die Monita werden geteilt, Abhilfe wird jedoch nicht überall oder nur in Ansätzen geleistet. Bei dieser Reaktion darf es nicht bleiben. Die Fragen aus der Truppe danach, wann denn nun endlich die allenthalben bekannten Mängel, etwa bei der Infrastruktur, beim Material, beim Beförderungssystem für die älteren Feldwebel, abgestellt werden, werden drängender.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Einen Dissens in der Bewertung sehe ich beim Thema Auslandseinsatz/Material. Ich habe kritisiert, dass Soldaten ohne absolvierte Ausbildung an ihren Spezialfahrzeugen – das meint: sondergeschützte Kfz von Personenschutzkommandos – in den Einsatz geschickt werden. Das Ministerium hält dies bei der Feldjägertruppe und dem Wolf für hinnehmbar. Ich bleibe dabei: Vorbereitende Einsatzausbildung muss im Inland stattfinden und darf nicht erst im Einsatzland beginnen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

   Ein Wort zu den aktuellen Eingabenzahlen. Stand von gestern: 5 890 Eingaben. Das sind zehn mehr als im selben Zeitraum des Vorjahres. Damit wird bis zum Jahresende ein ähnlich hohes Niveau wie im Vorjahr erreicht werden, insbesondere gemessen an einer sinkenden Truppenstärke auch in diesem Jahr. Der Staatsbürger in Uniform nimmt seine Petitionsinstanz, den Wehrbeauftragten, knapp 90-mal so häufig in Anspruch wie der Staatsbürger ohne Uniform den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages.

   Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich bedanke mich für die Unterstützung durch den Verteidigungsausschuss, deren ich jederzeit sicher sein konnte. Ich bedanke mich für die durchgängig gute Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium der Verteidigung, was gelegentliche Unzulänglichkeiten bei den Stellungnahmen zu meinen Überprüfungsersuchen nicht umschließt.

(Vereinzelt Heiterkeit)

Ich wünsche besonders den Soldatinnen und Soldaten im Einsatz von Herzen, dass sie wohlbehalten nach Hause zurückkehren.

   Schönen Dank für die Geduld.

(Beifall im ganzen Hause)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, möchte ich dem Wehrbeauftragten Dr. Willfried Penner sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern seines Amtes im Namen des ganzen Hauses für die verantwortungsvolle Arbeit sehr herzlich danken.

(Beifall)

   Das Wort hat nun der Bundesminister Dr. Peter Struck.

Dr. Peter Struck, Bundesminister der Verteidigung:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Soldaten auf der Tribüne! Ich schließe mich dem Dank an den Wehrbeauftragten Willfried Penner auch für das Bundesministerium der Verteidigung an. Ich bedanke mich sehr dafür, Herr Penner, dass Sie in Ihrem Bericht die Leistungen der Soldatinnen und Soldaten im In- und Ausland besonders gewürdigt haben.

   Unsere Streitkräfte haben sich national und vor allem international einen hervorragenden Ruf erworben. Grund dafür ist die hohe Motivation aller Männer und Frauen in der Bundeswehr. Diese resultiert zum einen aus der Gewissheit, dass Öffentlichkeit und Politik in einem breiten Konsens hinter ihnen stehen, und zum anderen aus dem Zusammenhalt untereinander, also aus dem inneren Gefüge.

   Lassen Sie uns an dieser Stelle an diejenigen denken, die im Auftrag des Bundestages und dann im Dienst für unser Land ihr Leben verloren haben, und den Verletzten eine weitestgehende und baldige Genesung wünschen.

   Ihr Jahresbericht, Herr Wehrbeauftragter, ist ein bewährter traditioneller Gradmesser für das innere Gefüge der Bundeswehr. Unübersehbar ist, dass die derzeitigen Rahmenbedingungen Probleme schaffen, die ihren Niederschlag auch in der Zahl der Eingaben bei Ihnen finden. Herr Penner, Sie haben die Zahl für das Jahr 2004 eben genannt. 400 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind bei der Bundeswehr beschäftigt. Da ist die Eingabenzahl natürlich auch in der Relation zu sehen; aber eine Zahl von circa 6 000 ist zweifellos immer noch zu hoch.

Der Bericht ist ein Spiegelbild sowohl der Sorgen und Ärgernisse der Soldatinnen und Soldaten als auch – natürlich – der Unzulänglichkeiten; Sie haben eben einige angesprochen. Er ist jedoch genau wie die Berichte vorher ein Mängelbericht, kein Zustandsbericht. Solche Unzulänglichkeiten können bei allen Anstrengungen in einer Großorganisation wie der Bundeswehr nie ausgeschlossen werden. Wir arbeiten, wie gesagt, an der Beseitigung dieser aufgezeigten Mängel, die Sie eben noch einmal genannt haben, vor allem in folgenden Schwerpunktbereichen: Transformation – hier geht es um den daraus entstehenden Anpassungsdruck für die Soldatinnen und Soldaten –, Personal – hier geht es um die Umsetzung des Attraktivitätsprogramms und die Einführung neuer Laufbahnen –, Frauen in der Bundeswehr – hier geht es vor allem um die Laufbahnberatung unter besonderer Sicherstellung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf – und Auslandseinsätze; hier geht es um die Dauer und die Familienbetreuung. Zum letzten Punkt will ich hinzufügen: Wir haben entschieden, dass wir die Dauer der Auslandseinsätze in der Regel auf vier Monate reduzieren. Das ist ein Wunsch, der auch im Verteidigungsausschuss des Parlaments immer deutlich geäußert wurde.

(Günther Friedrich Nolting (FDP): Von uns!)

Außerdem werden wir die Zahl der Familienbetreuungszentren auf 31 erhöhen. Das bringt eine weitere wesentliche Verbesserung für die Betroffenen mit sich.

   Ich bin dem Parlament auch sehr dankbar, dass es aus eigener Initiative heraus zusammen mit dem Verteidigungsministerium Abhilfe bei den Versorgungsfragen geschaffen hat. Wir haben ein Einsatzversorgungsgesetz beschlossen, das diejenigen gegenüber dem bisherigen Rechtszustand besser stellt, die im Auslandseinsatz einen Unfall erleiden. Herzlichen Dank auch dafür, das ist eine große Leistung.

   Der Verteidigungsausschuss hat in der vergangenen und in dieser Woche anhand eines Zwischenberichts über die Zwischenfälle, die im Zusammenhang mit dem Ort Coesfeld genannt wurden, gesprochen. Dabei möchte ich die Bürgerinnen und Bürger von Coesfeld meiner ausdrücklichen Sympathie versichern. Sie haben im Grunde damit nichts zu tun.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hans Raidel (CDU/CSU) – Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Das ist doch logisch!)

– Das sage ich auch im Hinblick auf meinen Fraktions- und Parteivorsitzenden. – In diesem Bericht sind 18 Fälle aufgeführt, die in den letzten Wochen gemeldet wurden und im weitesten Sinne mit den Vorgängen in Coesfeld vergleichbar sind.

   Einer dieser 18 Fälle kann nach dem Stand der Ermittlungen mittlerweile nicht mehr in irgendeinen Zusammenhang mit den dortigen Misshandlungen gebracht werden. Es handelt sich dabei um eine Übung des Kommandos Spezialkräfte zur Geiselbefreiung in Calw im September 2004. Bei dieser Übung wurde ein Soldat durch Glassplitter verletzt. Ursache dafür war fehlerhaftes Material.

   Die verbleibenden 17 Fälle lassen sich in drei Kategorien einteilen: Vorfälle der Kategorie 1, die zwar im Zusammenhang mit Coesfeld öffentlich genannt werden, aber nicht dem Charakter der Fälle dort entsprechen, wie etwa Gefangennahme, Geiselbefreiung und Ähnliches; Vorfälle der Kategorie 2, wonach die Ausbildung außer Kontrolle geriet; Vorfälle der Kategorie 3, nach der Gefangennahme, Geiselbefreiung und ähnliche Tatbestände geübt wurden, obwohl dies nicht vorgesehen oder gar ausdrücklich verboten war – wie etwa im Falle Coesfeld.

   Der Herr Wehrbeauftragte hat uns auf vier weitere Fälle hingewiesen. Denen wird derzeit nachgegangen. Darauf ist auch in dem Zwischenbericht, der dem Verteidigungsausschuss vorliegt, hingewiesen worden.

   Ich möchte Ihnen, Herr Präsident, meine Damen und Herren, sagen, dass sich an meiner persönlichen Bestürzung über diese Vorgänge nichts geändert hat. Es wird mit allem Nachdruck an der restlosen Aufklärung gearbeitet. Ungeachtet der Ergebnisse habe ich bereits eine Reihe von Maßnahmen veranlasst: Prüfung durch den Generalinspekteur, wie in Zukunft solche Vorfälle verhindert werden können, Integration eines Moduls „Innere Führung“ in die einsatzvorbereitende Ausbildung, Anweisung an die Inspekteure, in ihren jeweiligen Verantwortungsbereichen eine verstärkte Dienstaufsicht durchzusetzen, und eine Untersuchung darüber, welche Auswirkungen die Auslandseinsätze auf das „Betriebsklima“ und auf die Gestaltung der Ausbildung haben. Es ist aber falsch, dass – wie verschiedentlich behauptet wurde – unsere Soldaten nach einem Auslandseinsatz „roher“ wären als vor diesem Einsatz. Eher ist das Gegenteil der Fall. Das ergibt sich aus den Erfahrungen, die ich selbst gemacht habe. Das wissen auch die Kolleginnen und Kollegen, die im Auslandseinsatz tätige Soldaten kennen.

Die Gründe, weswegen das Instrument der Dienstaufsicht die Vorfälle nicht verhindert hat und die Möglichkeit zu Beschwerden und Eingaben nicht wahrgenommen wurde, sind noch nicht bekannt. Allenfalls können wir darüber spekulieren. Auch sind diese Zusammenhänge vorbehaltlos und sehr schnell aufzuklären. Bis dahin bleiben Mutmaßungen darüber, warum beide Mechanismen nicht funktioniert haben, reine Spekulation.

   Aus den Ergebnissen der Aufklärung werden dann die entsprechenden Lehren zu ziehen sein. Eines ist jedenfalls ganz klar: Die Bindung an Recht und Gesetz sowie die Vorschriftenlage sprechen eine unmissverständliche Sprache. Körperliche und psychische Misshandlungen werden in der Bundeswehr unter keinen Umständen toleriert, meine Damen und Herren,

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP)

auch nicht während der vorbereitenden Ausbildung für einen Auslandseinsatz am VN-Ausbildungszentrum in Hammelburg oder bei den Gefechtsübungszentren. Um bei solchen praktischen Ausbildungsabschnitten eine physische und psychische Überforderung zu vermeiden, sind stets auch ein Psychologe sowie Sanitäts- und Sicherheitspersonal zwingend anwesend.

   Misshandlungen haben auch nichts mit einer einsatzorientierten, realitätsnahen Ausbildung zu tun. Realitätsnähe findet dort ihre Grenzen, wo Körper und Seele vorsätzlich Schaden zugefügt wird.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP)

Da gibt es eine scharfe Grenze zwischen militärischer Ausbildung, die körperlich wie seelisch sehr anstrengend sein darf und zur bestmöglichen Vorbereitung auf die Einsätze sogar sein muss, und dem Zufügen von Schmerzen als Selbstzweck.

   All dessen ungeachtet bin ich der Meinung, dass die Innere Führung nicht das Geringste an Bedeutung verloren hat. Ob sie möglicherweise in Teilbereichen neu belebt werden muss, wird zu prüfen sein. Klar ist: Es darf nicht geduldet werden, dass sich in den Streitkräften aus der Einsatzrealität heraus ein Selbstverständnis bildet, das einseitig einem „Kämpfertypus“ huldigt.

(Beifall der Abg. Helga Daub (FDP))

Im Allgemeinen besteht dieses Selbstverständnis nicht. Die Soldatinnen und Soldaten verstehen sich nach wie vor als Staatsbürger in Uniform. Ich weiß das aus eigener Anschauung. Das Parlament und die Öffentlichkeit, die vor allem wegen der Wehrpflicht hoch sensibilisiert ist, sorgen hier für ein Höchstmaß an Kontrolle.

   Es steht völlig außer Zweifel – Herr Penner hat dankenswerterweise darauf hingewiesen –, dass die Bundeswehr in ihrer Gesamtheit über jeden pauschalen Verdacht erhaben ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Bei aller berechtigten Empörung will ich an dieser Stelle an die vielen Tausend Ausbilder und Vorgesetzten erinnern, die ihrem Ausbildungsauftrag mit großem Engagement, vorschriftengerecht und sehr erfolgreich nachkommen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Diese Soldatinnen und Soldaten haben es verdient, dass zwischen ihnen und den wenigen Schuldigen klar unterschieden wird.

   Abschließend noch ein persönliches Wort an den Wehrbeauftragten: Dieser Bericht, Herr Dr. Penner, ist Ihr vierter und zugleich letzter Bericht. Ich möchte mich persönlich bei Ihnen für Ihre überaus wertvolle Arbeit bedanken. Sie haben mit Ihrer partnerschaftlichen Zusammenarbeit, Ihrer Fairness und Ihrem großen persönlichen Engagement ein Beispiel gegeben.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP)

Immer wenn Sie sich zu Wort gemeldet haben, ist überdeutlich geworden, dass Ihnen das Wohl der Bundeswehr und aller ihrer Angehörigen persönlich besonders am Herzen gelegen hat. Für die „Zeit danach“, Herr Kollege Penner, darf ich Ihnen und Ihrer Familie schon jetzt alles Gute, Glück und Gesundheit wünschen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt der Kollege Christian Schmidt von der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich schließe mich gerne dem Dank an den Wehrbeauftragten, Dr. Penner, an, der heute einen Bericht für das Jahr 2003 vorgelegt hat. Er wird uns auch für das Jahr 2004 noch einen Bericht vorlegen, den wir dann parlamentarisch zu behandeln haben werden. Ich meine, er ist in einem Punkt seiner Verpflichtung besonders gerecht geworden. Er ist Hilfsorgan des Parlaments, des Bundestages, und er muss den Begriff der Parlamentsarmee in die Realität umsetzen. Das hat er getan. Er tut das unbequem, mit Worten und Hinweisen. Wenn man seine Berichte der letzten Jahre, besonders den von 2003, liest, stellt man fest, dass bei der Bundeswehr vieles im Argen liegt. Wir bedanken uns bei dem Wehrbeauftragten, dass er dies auch so ausspricht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ein Hilfsorgan des Parlamentes wie der Wehrbeauftragte muss gute Arbeitsbedingungen vorfinden. Dafür ist noch manches zu tun. Der Wehrbeauftragte hat einen Anspruch darauf, dass die Mitarbeiter, die ihm zur Verfügung stehen, effektiv arbeiten können.

(Günther Friedrich Nolting (FDP): Wohl wahr!)

Daher geht ein Auftrag auch an uns, an das Präsidium, an den Präsidenten dieses Hauses, hier tätig zu werden. Ich möchte darum bitten, dass darüber zügiger entschieden wird, als es bisher zu erkennen war.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Für uns ist dabei allein die Qualifikation und nichts anderes entscheidend. Gerade für den politisch so sensiblen Bereich des Wehrbeauftragten, der über die Einhaltung von Rahmenbedingungen zu berichten hat, spielt das eine große Rolle.

   Der Jahresbericht des Wehrbeauftragten ist natürlich ein Mängelbericht. Dass er in seiner Rede auf die aktuellen Vorfälle eingegangen ist, begrüße ich besonders. Wir müssen aber einmal grundsätzlich darüber reden, dass die Vorstellung, man könne die Bundeswehr mit vielen Aufgaben belegen, die sie irgendwie schon bewältigen werde, angesichts des Ausbildungsstandes nicht realistisch ist. Das viel beschworene Ende der Fahnenstange ist erreicht.

   An einem Tag, an dem die ersten Flüge zu einem neuen Einsatz in Afrika stattfinden, muss man sagen: Die vom Wehrbeauftragten angesprochene Diskrepanz zwischen den Fähigkeiten der Bundeswehr und ihren Aufgaben droht zu einem strukturellen und substanziellen Problem für unsere Truppe zu werden. Die Regierung darf der Truppe nicht Aufträge erteilen, ohne ihr gleichzeitig das Geld und die Mittel zu geben, die sie für deren Erledigung braucht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Gemessen an der Stärke der Bundeswehr sind die über 6 000 Eingaben in der Tat ein Alarmsignal. Man kann auch sagen: Noch nie hatten so wenige Soldaten so viele Sorgen; denn die Bundeswehr hat den niedrigsten Personalbestand seit 1961 erreicht. Eine der Ursachen für die hohe Zahl an Eingaben liegt aber gerade in der verminderten Truppenstärke begründet. Denn noch nie hatten so wenige Soldaten so viele Aufträge zu bewältigen. Gerade deshalb möchte ich unseren Soldatinnen und Soldaten und den zivilen Mitarbeitern für die vorbildliche Pflichterfüllung unter beständig schlechter werdenden Rahmenbedingungen ganz besonders danken.

   Der Alltag in der Bundeswehr ist entgegen rot-grüner Lesart von tiefer Verunsicherung der Soldaten und ihrer Familienangehörigen geprägt. Das schöne Wort Transformation vermag unseren Soldaten nicht das Gefühl zu vermitteln, sie gingen einer gesicherten Zukunft entgegen. Im Gegenteil: Unsere Soldaten haben das Gefühl, Manövriermasse und Lückenbüßer für finanzielle Engpässe zu sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Die Mehrzahl der Soldatinnen und Soldaten fühlt sich durch den kurz- und mittelfristigen Aktionismus dieser Bundesregierung und die sich gegenseitig überholenden Reformen tief verunsichert. Ich bedanke mich beim Wehrbeauftragten, dass er auf diese Probleme deutlich hingewiesen und von der Notwendigkeit einer Atempause gesprochen hat.

(Beifall des Abg. Hans Raidel (CDU/CSU))

   Berechenbarkeit und Führungsverantwortung aufseiten der politischen Führung der Bundeswehr braucht man, sucht man aber vergebens. Genau aus diesem Klima heraus ergeben sich die handfesten Gründe, die zu den vielen Eingaben an den Wehrbeauftragten führen. Ich sage klar: Schikanen und Misshandlungen bei der Ausbildung sind nicht hinnehmbar. Man darf jetzt aber nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Einsatznahe Ausbildung in der Bundeswehr bleibt notwendig. Pauschale Diskriminierungen der Ausbildung in der Bundeswehr sind fehl am Platz. Es ist nicht schlecht, wenn in diesem Punkt ein Konsens in diesem Haus besteht. Denn wir, die Mitglieder des Parlaments insgesamt, müssen die Einsätze der Soldaten verantworten. Die Ausbilder selbst müssen im Rahmen einer angepassten Ausbildung das Rüstzeug erhalten, um die jungen Soldatinnen und Soldaten fordernd, aber gut und respektvoll auf ihre Aufgaben vorzubereiten.

   Dennoch finde ich es angesichts der Vorfälle an circa 20 Standorten etwas zu kurz gegriffen, wenn der Verteidigungsminister bei der Ursachenforschung auch den zu geringen Frauenanteil in der Bundeswehr dafür verantwortlich machen will, zumal ich im Zusammenhang mit der Verbesserung der Arbeit in der Bundeswehr eine andere Quelle gefunden habe. Das Bundesfamilienministerium hat sich nämlich die Freude geleistet, die Studie „Gewalt gegen Männer“, die nicht pauschal und repräsentativ ist, wie dort dargestellt worden ist, herauszugeben, in der steht: Drei von fünf Männern, die Wehrdienst geleistet haben, haben Schikanen, Unterdrückungen, schwere Beleidigungen oder Demütigungen erfahren. Ein Drittel gibt an, gezwungen worden zu sein, etwas zu sagen oder zu tun, was sie absolut nicht wollten. Jeder Sechste sei schließlich eingesperrt, gefesselt oder anderweitig in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt worden.

   Das ist interessant. Wissen Sie, was die Bundesregierung dafür ausgegeben hat, das zu erforschen? Immerhin stolze 259 281 Euro. Was ist die Konsequenz? Wenn dem so ist, dass die Mehrzahl der Soldaten das Gefühl hat, gedemütigt worden zu sein, dann verstehe ich nicht, dass man hier nur von Einzelfällen spricht.

   Damit wir uns klar verstehen: Ich halte diese Studie für höchst zweifelhaft und für völlig nutzlos.

(Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Haben Sie nicht die methodische Einleitung gelesen?)

   Es wundert einen schon, wenn für solche Fragen sinnlos Geld in einer Größenordnung von Hunderttausenden von Euro verschleudert wird, statt dass man sich darum kümmert, dass die innere Führung und die Ausbildung bei der Bundeswehr verbessert werden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Darin steht doch, dass es keine repräsentative Studie ist!)

– Wenn es keine repräsentative Studie ist, wieso erstelle ich dann überhaupt eine Studie?

   Sie, Herr Minister,

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Wo ist denn der Minister?)

tragen die politische Verantwortung. In dem gerade dargestellten Fall betrifft es die Ministerin eines der anderen Ressorts. – Aber bei dieser Gesamtproblematik fehlte es schon an Dienstaufsicht und die beginnt bekanntlich beim Minister.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Wo ist denn der Minister?)

Es wurde gesagt, die Dienstaufsicht müsse durchgesetzt werden. Da bin ich doch erstaunt. Die Dienstaufsicht durchzusetzen ist eine der Grundlagen der Struktur eines so großen Organs, wie es die Bundeswehr ist.

   Auffällig ist, dass seit Februar 2004 mindestens fünf verschiedene Stellen an nachgeordnete Dienststellen im Heer Weisungen gegeben haben: Heeresamt, Heeresführungskommando, Generalinspekteur, FüS, Staatssekretär, Minister etc. Ich habe den Eindruck, dass hier die Rechte nicht so genau weiß, was die Linke macht, bzw. dass wir eine Straffung der Ausbildungsorganisation und auch der politischen Vorgaben brauchen. Nicht der Oberfeldwebel oder der Feldwebel, der einmal danebengreift, ist im Fokus unseres Interesses bei der Frage, welche Ausbildungsstrukturen die Bundeswehr fähig ist anzubieten. Es scheint, viele Stäbe arbeiten an dieser Frage, kommen aber zu keiner rechten Entscheidung. Da fällt mir ein, was einmal Rainer Maria Rilke gedichtet hat: „Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe“ – und hinter Tausend Stäben keinen Verantwortlichen, füge ich hinzu.

(Beifall des Abg. Hans Raidel (CDU/CSU))

   Eines wird in dem Bericht des Wehrbeauftragten überdeutlich: die immer größer werdende Kluft zwischen der Einschätzung der inneren Lage der Bundeswehr auf der Ebene der politischen Leitung und militärischen Führung einerseits und vor Ort in unseren Kasernen andererseits. Hier klafft so viel auseinander, dass wir uns bei konkreten Vorfällen überlegen müssen, wie wir die Funktion des Wehrbeauftragten als Frühwarnsystem des Parlaments stärken können. Ich denke, allein die katastrophal danebengegangene Übung in Stuttgart, von der über ein Jahr lang niemand – auch der Wehrbeauftragte nicht, weil ihm keine entsprechenden Beschwerden vorlagen – informiert worden war, zeigt, dass wir eine Informationspflicht der Bundesregierung gegenüber dem Parlament postulieren müssen. Wir müssen uns im Hinblick auf das Gesetz über den Wehrbeauftragten fragen, welche Mechanismen wir dafür finden können. Es kann nicht sein, dass man von solchen hanebüchenen Fällen wie in Stuttgart, wo immerhin sieben der Beteiligten – darunter waren auch Wehrpflichtige – zu Schaden gekommen sind, nur en passant erfährt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Die Motivation der Soldaten ist auf einem Nullpunkt angekommen. Wir müssen deswegen die Truppe bei den Reformen mitnehmen. Oft lohnt ein Blick zurück. Ich habe gehört, es bestehe kein Generalverdacht. Das ist richtig; das haben wir immer gesagt. Die heutige Regierungskoalition hat sich zwischen 1996 und 1998 allerdings ganz anders verhalten. Im Untersuchungsausschuss wurde über angeblichen Rechtsradikalismus in der Bundeswehr diskutiert und die Bundeswehr insgesamt infrage gestellt. Einige Mängel und Defizite wurden moniert: Es gäbe eine Verschlechterung des Betriebsklimas. Es gäbe zu viele Vorkommnisse im Bereich der Menschenführung. Es fehle an wirksamer und führender Dienstaufsicht. Die Grundsätze der Inneren Führung würden nicht beachtet. – Ich frage heute: Wie kann es sein, dass Sie alles besser und anders machen wollten, wir heute aber feststellen müssen, dass sich die Defizite verstärkt haben? Im Abschlussbericht von 1998 stellten die Sozialdemokraten in ihrem Minderheitenvotum fest:

Die Versäumnisse muss sich der Bundesminister der Verteidigung persönlich zuschreiben lassen.
(Hans Raidel (CDU/CSU): Hört! Hört!)

Was heißt das eigentlich heute?

   Noch ein Wort zur Wehrpflicht. Frau Sager von den Grünen konnte sich nicht zurückhalten, die aktuellen Vorfälle als Nachweis der Gefahr der Wehrpflicht zu bezeichnen. Was für ein politischer Blödsinn.

(Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Haben Sie ihre Aussagen korrekt gelesen? Nein!)

Wenn man allerdings keine korrekte Aufgabenbeschreibung für Wehrpflichtige erstellt, weil man etwa die Frage des Heimatschutzes negiert, dann braucht man sich nicht zu wundern, wenn einige bei der Grundausbildung auf dumme Gedanken kommen.

   Mir passt es nicht, dass sich unter den Kritikern zum Fehlverhalten in der Bundeswehr auch solche befinden, die sich klammheimlich darüber freuen, dass sie unsere Soldaten pauschal verunglimpfen können. Beispielhaft möchte ich Herrn Wiglaf Droste, einen besonders begnadeten Journalisten, nennen, der für eine nicht stubenreine Vorlesung an der Universität der Bundeswehr laut „Spiegel“ 856 Euro kassiert hat. Ich darf Ihnen ein Zitat von Herrn Droste vortragen – Herr Präsident, ich betone, dass es sich um ein Zitat handelt –:

Mein Mitleid mit deutschen Soldaten, die, wenn schon nicht im Leben, so doch wenigstens als Leiche zu etwas nütze sein können, hält sich stark in Grenzen: Sie haben sich freiwillig gemeldet – weil sie scharf darauf sind, ihr trainiertes Totmacherwissen im Ernstfall auszuprobieren ... Soldaten sind nicht nur Deutschländer-Würstchen, sondern eben auch: Zinksargfüllmasse.

Da hört für mich jede Toleranz auf. Es ist schwer erträglich, dass dieser Mann dafür auch noch Geld von der Bundeswehr kassiert.

   Bei dem Festakt „40 Jahre Bundeswehr – 5 Jahre Armee der Einheit“ auf der Hofgartenwiese in Bonn hatten wir die Parole „Soldaten sind Mörder“ im Ohr. Wir haben damals den Vorstoß unternommen, rechtlich klarzustellen, dass so etwas eine Beleidigung der Soldaten der Bundeswehr ist. Ich vermisse, dass wir uns nicht nur in Einzelfällen, sondern als Gesellschaft vor die Soldaten, die wir als Dienstleister im Sinne unserer Sicherheit verstehen, stellen und die Verantwortung miteinander tragen. Hier muss vieles nachgearbeitet werden. Die Bundesregierung hat viel zu tun.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt der Kollege Winfried Nachtwei vom Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter, lieber Herr Penner! Das Kontrollorgan Wehrbeauftragter ist weltweit einmalig. Von Soldaten wird es intensiv in Anspruch genommen. Mit über 6 000 Eingaben im vorigen Jahr wurde die zweithöchste Anzahl an Eingaben in Relation zum Umfang der Bundeswehr erreicht. Offenbar ist die Bundeswehr keine Armee von Duckmäusern. 30 Prozent dieser Eingaben, also ungefähr 1800, bezogen sich auf Fragen der Menschenführung und des Wehrrechts. Interessant ist, dass sich Grundwehrdienstleistende unterproportional oft an den Wehrbeauftragten wandten.

   Das Berichtsjahr 2003 war von dem ersten gezielten Terrorangriff auf Bundeswehrsoldaten in Kabul, vom Neustart der Bundeswehrreform – bekannt unter dem Begriff „Transformation der Bundeswehr“ – und vor allem vom Irakkrieg geprägt. Es ist ein ausgesprochen gutes Zeichen – das wird vom Wehrbeauftragten auch so bewertet –, dass die Rechtmäßigkeit von Einsätzen unter Soldaten in diesem Jahr ein besonderes Gesprächsthema war. Ich muss hierzu anmerken, dass eine Bundesregierung, die die Bundeswehr in den Irakkrieg geschickt hätte, dem Staatsbürger in Uniform das Rückgrat gebrochen hätte.

   Die Übungsexzesse in der Ausbildungskompanie in Coesfeld und die anderen bekannt gewordenen Fälle widersprechen dem Rechtsverständnis der Bundeswehr, der Inneren Führung, dem geltenden Recht und sind auch ein Schlag ins Gesicht der Zehntausenden von Bundeswehrsoldaten, die ihren Dienst ausgezeichnet wahrnehmen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Im Fall dieser Ausbildungskompanie kamen verschiedene Momente zusammen: mangelhaftes Unterscheidungsvermögen zwischen so genannter realitätsnaher Ausbildung und der Grenze zur Verletzung der Menschenwürde, mangelnde Dienstaufsicht und schließlich Gruppendruck. War das, was in dieser Ausbildungskompanie viermal geschah, die Spitze eines Eisbergs und die brutalisierende Konsequenz von Auslandseinsätzen, wie manche in den Medien sagen? Ich meine: Nein. Die anderen inzwischen bekannt gewordenen, gemeldeten Fälle zeigen den Ausnahmecharakter der Vorfälle in dieser Ausbildungskompanie bezüglich ihres Ausmaßes, ihrer Intensität und der Art des Umgangs mit ihnen, des langen Beschweigens.

   Die Qualität der Ausbildung insgesamt ist am Einsatz der Bundeswehr abzulesen. Dazu stellt der Wehrbeauftragte fest: „In allen Einsatzgebieten wird der Dienst der Soldatinnen und Soldaten hoch geschätzt.“ Das ist ausdrücklich keine Höflichkeitsfloskel, sondern eine allgemeine Erfahrung, auch die Erfahrung derjenigen Kolleginnen und Kollegen in diesem Haus, die diese Einsatzgebiete immer wieder besuchen.

   Die aktuell diskutierten Fälle lenken den Blick auf Probleme, die im Bericht des Wehrbeauftragten klar benannt werden. Erfolgreiche Ausbildung setzt erforderliche Zeit, ausgebildetes Personal und einsetzbares Ausbildungsmaterial voraus. Daran hat es, so der Wehrbeauftragte, in nicht wenigen Einheiten und Verbänden gefehlt. Verursacht wurden diese Ausbildungsmängel vor allem durch eine Überfrachtung mit verschiedenen Aufgaben.

   Im Hinblick auf die Diskussionen der letzten Wochen stellt sich vor allen Dingen eine Frage: Was ist überhaupt eine realitätsnahe Ausbildung angesichts diffuser Bedrohungen und eines sehr breiten Einsatzspektrums, angesichts der Einsatzmethoden von US-Streitkräften im Irak und angesichts einer Rambowelt in Videos und Computerspielen? Bundeswehrsoldaten müssen ausgebildet werden für das so genannte Gefecht der verbundenen Waffen – sprich: für den massiven militärischen Gewalteinsatz im Rahmen des Völkerrechts –, für Friedenseinsätze mit polizeiähnlichen Gewaltfähigkeiten und für die humanitäre Hilfe. Neben militärischen Fähigkeiten sind also quasi-polizeiliche Fähigkeiten, soziale und interkulturelle Kompetenz, schnelle Entscheidungsfähigkeit und Verhaltenssicherheit gefordert, und das von Soldatinnen und Soldaten mit immer niedrigeren Dienstgraden. Der eindimensionale Kämpfertyp wäre hier völlig überfordert und völlig fehl am Platz.

   Deshalb gehört zur realitätsnahen Ausbildung in der Tat auch die Vorbereitung auf den schlimmsten Fall, auf Extremsituationen wie Verwundungen, Tod und Geiselnahme. Aber es ist klar – das konnten wir in der vorigen Woche in Hammelburg erleben –, dass diese Situationen, in denen man an die Grenzen der psychischen Belastbarkeit stößt, nur von Professionellen geprobt werden dürfen, und zwar unter strengster Kontrolle, mit psychologischer Begleitung und in klaren Grenzen. Das hat sich sehr deutlich gezeigt.

   Zur so genannten realitätsnahen Ausbildung gehören aber auch die Grundsätze der inneren Führung, das Völkerrecht und die politische Bildung. Dies ist kein Luxusartikel, sondern für erfolgreiche Einsätze absolut notwendig. Hier benennt der Wehrbeauftragte seit Jahren das zentrale Defizit, dass die politische Bildung immer wieder anderen Diensterfordernissen hintangestellt werde. Wir müssen uns darüber klar sein, dass es angesichts einer sehr heterogenen Klientel von Soldaten und Rekruten und angesichts einer Politik, die von vielen Bürgerinnen und Bürgern als unattraktiv und uninteressant wahrgenommen wird, besonders schwierig ist, zur politischen Bildung beizutragen.

   Im Falle von Coesfeld versagte auch die – ich will sie einmal so nennen – erste Linie der Frühwarnung: das System der Vertrauensleute und die Soldatenbeteiligung. Das verweist auf eine Mängelanzeige des Wehrbeauftragten, die er bereits seit Jahren zum Ausdruck bringt:

Die Vielzahl der Fälle und die Schwere der Verstöße gegen bestehende Bestimmungen geben Anlass zu der Bemerkung: Soldatenbeteiligung ist gesetzlich vorgeschrieben. Sie dient der sachgerechten Entscheidungsfindung und stärkt die Stellung des Staatsbürgers in Uniform. Alle Vorgesetzten haben die Beteiligungsrechte zu achten und dem Gesetz Geltung zu verschaffen.

Das muss endlich ernst genommen werden.

   Wie wirken sich schließlich Auslandseinsätze, die Erfahrung von Macht, Stärke, aber auch Machtlosigkeit auf Einstellung und Verhalten von Soldaten aus? Wir Abgeordnete im Verteidigungsbereich kennen sehr viele Soldaten, die ernsthafter, verantwortungsbewusster und politisch überlegter aus dem Ausland zurückkommen. Von einer pauschalen Brutalisierungswirkung kann keine Rede sein. Trotzdem: Über latente und langfristige Erfahrungs- und Lernprozesse wissen wir zu wenig, brauchen wir wissenschaftliche Untersuchungen, die Parlament und Öffentlichkeit zugänglich sind.

   Seit September 2001 hat deutsche Sicherheitspolitik eine enorme Entgrenzung erfahren. Wir brauchen in nächster Zeit dringend eine Diskussion und Verständigung über neue Grenzen des Bundeswehrauftrages und die Aufgaben der Soldaten. Wir haben uns vor einer Überforderung der Soldaten vorzusehen. Sie sind keine Alleskönner.

   Zum Schluss: Der Wehrbeauftragte ist Hilfsorgan der parlamentarischen Kontrolle der Streitkräfte. Er bedarf selbstverständlich einer ausreichenden personellen Ausstattung. Wenn die Position des Leitenden Beamten im Amt des Wehrbeauftragten seit drei Monaten unbesetzt ist, dann ist das ausgesprochen unglücklich und sollte schnell abgestellt werden.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Umso mehr danke ich Ihnen, lieber Herr Dr. Penner, und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Namen meiner Fraktion für die hervorragend geleistete Arbeit.

   Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt die Kollegin Helga Daub von der FDP-Fraktion.

Helga Daub (FDP):

Herr Präsident! Dr. Penner! Kollegen und Kolleginnen! Jährlich wird der Bericht des Wehrbeauftragten debattiert. Dennoch ist es dieses Mal nicht wie sonst, aber darauf komme ich noch.

   Der Jahresbericht 2003 zeigt Handlungsbedarf für die Innere Führung, aber in hohem Maße auch für die Politik auf. Eindeutig ist ein Motivationsrückgang bei den Soldatinnen und Soldaten zu beklagen. Die Bereitschaft, Reformen mitzutragen, sinkt weiter, und das aus mehreren Gründen: Spezialisten werden zu häufig in Einsätze geschickt. Die Beförderungspraxis wird beanstandet. Wir haben noch immer keine Gleichsetzung der Besoldung in Ost und West, obwohl diese Forderung von uns immer wieder erhoben wird. Die Unsicherheit, wie es mit der Bundeswehr weitergehen wird, darf auch nicht unterschätzt werden. – Die schwindende Zahl von Berufssoldat-Bewerbern sollte von uns als Alarmsignal begriffen werden. Wir dürfen es nicht auf die leichte Schulter nehmen, wenn gut ausgebildete Männer und Frauen sich gegen die Bundeswehr entscheiden. Wir brauchen sie, um eine Bundeswehr des Niveaus zu haben, das wir uns wünschen.

(Beifall bei der FDP)

   Ein sehr zu Recht geäußerter Kritikpunkt bezüglich der Auslandseinsätze ist die Kluft zwischen vorbereitender Ausbildung in Deutschland und der Wirklichkeit im Einsatzland. Man kann nicht zu Hause an anderem Gerät üben, als man es dann am Einsatzort vorfindet.

   Noch einmal zur Besoldung. Die FDP fordert, wie Sie wissen, seit langem eine eigene Besoldungsregelung für Soldaten. Der Soldatenberuf ist eben nicht mit anderen Berufsfeldern des öffentlichen Dienstes vergleichbar. Wir sprechen von Transformation der Bundeswehr, wir sprechen über Zahlen, über Geld, über Beschaffungen und andere Projekte. Wir müssen aufpassen, dass neben all diesen notwendigen betriebswirtschaftlichen Aspekten der so wichtige Faktor „soziale Kompetenz“ von uns nicht übersehen wird.

(Beifall bei der FDP)

   Die Bundeswehr befindet sich im Wandel. Wir alle wollen und müssen diesen Wandel in allen Bereichen mittragen und unterstützen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Arnold von der SPD-Fraktion.

Rainer Arnold (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir beraten heute zum letzten Mal über einen Jahresbericht, der in Verantwortung des Wehrbeauftragten Dr. Willfried Penner vorgelegt wurde. Die Zahl der Eingaben ist sicherlich kein Maßstab für eine Bewertung, aber über 6 000 Beschwernisse zeigen doch eines: Die Soldaten vertrauen dem Wehrbeauftragten und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Für die geleistete Arbeit bedanke ich mich an dieser Stelle recht herzlich bei Herrn Dr. Penner und all seinen Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP)

   Selbstverständlich – Herr Kollege Schmidt hat das Problem angesprochen – braucht der Wehrbeauftragte auch das richtige Personal. Natürlich wollen wir alle, dass offene Stellen zügig besetzt werden. Ich muss aber noch einen Satz hinzufügen: Die Auswahl des Personals liegt nicht in der Verantwortung und ist nicht Sache der Parlamentarier. Wir tun gut daran, immer wieder zu berücksichtigen, dass jede öffentliche Erörterung den Beteiligten mehr schadet als Nutzen bringt. Entsprechend bitte ich dies auch zu behandeln.

(Hans Raidel (CDU/CSU): Das haben wir jetzt nicht verstanden!)

   Wie in den vergangenen Jahren umfasst der Jahresbericht auch Misshandlungen von Untergebenen. Zur Relation: Eine der 60 Seiten des Jahresberichtes befasst sich mit Misshandlungen in der Truppe. Die Vorfälle von Coesfeld haben dieser Passage in der öffentlichen wie auch in der heutigen Debatte allerdings ein besonders starkes Gewicht gegeben.

   Eines kann ich nicht verstehen: Hier wird der Verteidigungsminister kritisiert, obwohl er dazu aufgerufen hat, darüber hinausgehende Vorfälle zu melden. Der Verteidigungsminister hat uns Verteidigungspolitikern einen Zwischenbericht über 18 Fälle vorgelegt. Wir werden laufend unterrichtet.

(Zuruf von der CDU/CSU: Nachträglich!)

Die Bundeswehr selbst arbeitet dies in einem sehr transparenten, offenen Verfahren ab, das in anderen Streitmächten beileibe nicht selbstverständlich ist. Wir werden gut unterrichtet. Dieses offensive Vorgehen des Ministers begrüßen wir ausdrücklich.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt nämlich überhaupt nichts zu vertuschen. Vorfälle werden strafrechtlich aufgearbeitet und disziplinarrechtlich geahndet.

   Das ist aber nur die eine, die formale Seite. Wir sollten auch die andere Seite betrachten. Selbstverständlich gibt es eine politische Diskussion und eine politische Bewertung. Eines möchte ich vorausschicken: Es ist klar geworden, dass Coesfeld nicht überall ist. Keiner der anderen genannten Fälle ist hinsichtlich der Dimension mit Coesfeld vergleichbar. Dort ging es nicht nur um unwürdige Behandlung, sondern um körperliche, aber auch seelische Misshandlungen. Trotzdem hat dies nichts mit Folter zu tun. In dieser Hinsicht sollte man in der Betrachtung sicherlich Acht geben.

   Das macht Coesfeld natürlich nicht entschuldbar. Wenn Ausbilder triumphierend über ihre Untergebenen vor der Kamera posieren, dann ist dies selbstverständlich ein ziemlich schlimmer Vorfall, der nicht hinnehmbar ist. Deshalb ist es richtig, dass der Minister die Verfehlungen mit aller Konsequenz ahndet.

   Eines sollte uns beschäftigen: In Coesfeld gibt es sehr viele Beteiligte – Opfer, aber auch Täter. Wenn sich bei über hundert Beteiligten niemand bei der Instanz des Wehrbeauftragten meldet, so ist dies für mich durchaus ein Grund zur Nachdenklichkeit. Wir müssen erforschen, warum dies so ist. Gruppendynamisches Verhalten mag eine Rolle spielen; möglicherweise will in einer solchen Situation keiner als Weichling gelten. Möglicherweise wissen Rekruten auch nicht, was ihnen im Sinne von harter Ausbildung, die sie an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit führt, zugemutet werden darf und zugemutet werden muss. Vielleicht ist es auch ein Stück weit ein Reflex auf gesellschaftliche Veränderungen. Ich frage mich durchaus, inwieweit junge Leute noch bereit sind, ihre Rechte in unserer Gesellschaft formal richtig einzufordern. All dies sollten wir miteinander sehr sorgsam untersuchen; darüber sind wir uns auch einig.

   Anders als in den vergangenen Jahren ist die Bundeswehr heute weltweit im Einsatz und es ist klar: Die Ausbildung muss dies widerspiegeln. Es gibt eine veränderte, eine härtere Einsatzrealität. Geiselnahmen und das Üben dieser Situation, um den psychischen Stress besser aushalten zu können, haben allerdings nicht die Dimension, wie sie im Augenblick öffentlich wahrgenommen wird. Die Gefahr einer Geiselnahme ist nicht das größte, sondern ein sehr kleines Risiko im Einsatz. In der Ausbildung hat sie deshalb auch nur einen kleinen Stellenwert; sie wird nur einige Stunden lang behandelt. Ich glaube, das müssen wir im Bild wieder zurechtrücken. Das ist nicht der Schwerpunkt.

   Im Rahmen der Ausbildung bezüglich des Verhaltens bei einer Geiselnahme ist es auch in anderen Truppenteilen zu schlechtem Führungsverhalten und fachlichen Fehlern gekommen. Individuelles Fehlverhalten sollte sicherlich nicht vorkommen. Ich glaube, der entscheidende Punkt ist: Wir müssen schauen und die militärische Führung muss mit den Kommandeuren und den Kompaniechefs darüber reden, wie Truppenführung und Verantwortung ausgeübt werden. Arbeit kann man delegieren, die Verantwortung letztlich aber nicht. Ich erwarte schon, dass ein Kompaniechef im Truppenalltag so dicht bei seinen Kameraden ist, dass er Veränderungen im Geist der Truppe sensibel wahrnehmen und sehr frühzeitig reagieren kann. Die Vorfälle in Coesfeld sind letztlich nicht über Nacht gekommen. Eine solche Dynamik entsteht über einen längeren Zeitraum. Ich glaube, das ist ein ganz entscheidender Punkt. Hier werden die Politik und die militärisch Verantwortlichen ansetzen.

   Als Letztes hierzu: Bei aller Kritik und disziplinarrechtlicher Abwicklung haben auch die Soldaten, die Fehler gemacht haben, eine zweite Chance verdient. Vergessen wir bei der Bewertung bitte nicht, dass wir von jungen Männern zwischen 22 und 25 Jahren reden, die Hilfe brauchen, um sich selbst in ihrer Rolle zurechtfinden und definieren zu können. Natürlich ist der Begriff der Inneren Führung für den einen oder anderen eher abstrakt und natürlich gab es eine von dem einen oder anderen ausgeschiedenen General – ich bin froh, dass manche ausgeschieden sind – angestoßene Debatte darüber, ob die Innere Führung noch ein zeitgemäßes Instrument bei einer Armee im Einsatz ist. Ich sage eindeutig: Ja. Gerade im Bereich der Krisenbewältigung ist die Innere Führung notwendig. Der Wehrbeauftragte hat bereits in dem 42. Jahresbericht etwas ganz Wichtiges festgestellt: Die Innere Führung bedeutet nichts Geringeres als die Verwirklichung staatlicher und gesellschaftlicher Normen in den Streitkräften. Ich glaube, besser kann man diesen Begriff nicht definieren.

   Man muss reflektieren, ob Auslandseinsätze Soldaten verändern. Ich denke, man sollte sich das genau anschauen. Eines stimmt: Krieg verändert Menschen. Die Bundeswehr ist aber nicht im Krieg. Sie hat andere Aufgaben, zum Beispiel die Sicherung von Stabilität. Meine Beobachtung ist: Wer eine Zivilgesellschaft implementieren will – das ist der Auftrag auf dem Balkan und in Afghanistan –, der wird das letztlich nicht allein mit Waffengewalt und Härte können. Er muss sich gelegentlich zwar durchsetzen, aber um eine Zivilgesellschaft aufzubauen, sind genau die gesellschaftlichen Prinzipien notwendig, die die Innere Führung der Bundeswehr beinhaltet. Nur wenn sich Soldaten auch im Auslandseinsatz entsprechend verhalten und die Bürgerinnen und Bürger das merken, sind sie glaubhafte Partner beim Aufbau von Nationen. Deshalb ist die Innere Führung der Schlüssel für den Erfolg der Einsätze im Ausland. All die schrecklichen Ereignisse im Irak zeigen, dass es allein mit Waffen nicht funktionieren wird.

   Meine Beobachtung ist: Die Soldaten, die aus dem Einsatz zurückkommen, haben sich in der Tat verändert, und zwar positiv. Sie haben einen erweiterten Horizont; denn sie haben Menschen in Not und Bedrängnis und andere Situationen als in unserer wohlbehüteten deutschen Gesellschaft kennen gelernt. Die Soldaten haben eine positive Entwicklung durchgemacht und bringen ihre Eindrücke in die Truppe ein.

Eines sollten wir allerdings nochmals miteinander besprechen: Vielleicht lassen wir die Soldaten im Auslandseinsatz politisch ein wenig allein. Früher war es sehr einfach: Zur Zeit des Kalten Krieges hat jeder Soldat gewusst, wo der potenzielle Feind ist und auf was er vorbereitet wird. Es gab ein einfaches und klares Szenario. Heute ist bei der Vorbereitung alles vielschichtiger und viel komplexer. Jeder Soldat ist ein humanitärer Helfer, der Brunnen baut, und ein Polizist. Daneben muss er eine abgestufte militärische Reaktionsfähigkeit besitzen und militärisch-robust auftreten. Für das ganze Spektrum muss er ausgebildet sein. Ich glaube, wir müssen helfen, dass sich die Soldaten bei diesem Spagat richtig definieren können, damit klar wird, dass ein militärisch-robustes Auftreten und humanitäre Hilfe keine Gegensätze sind und für eine erfolgreiche Auftragserfüllung beides zusammen gehört. Erst wenn es uns gelingt, dass sich Soldaten hier richtig einordnen, haben wir einen wichtigen Schritt im Bereich der Inneren Führung getan, sodass jeder sieht: Die Innere Führung ist der Alltag.

   Das heißt für mich – ich komme zu meinen Folgerungen –: Natürlich ist es gut, dass der Generalinspekteur jetzt in die Ausbildung das Modul der Inneren Führung einbaut. Aber ich weiß, dass dem 18-jährigen Soldaten ein rein intellektuelles Nähern an das Thema Innere Führung nicht helfen wird. Innere Führung muss er erleben und erfahren, durch vorbildliches, beispielhaftes Verhalten seiner führenden Soldaten. Wenn er dies im Truppenalltag spürt, dann hat er etwas gelernt. Deshalb ist diese Reflexion notwendig. Natürlich hat auch Weiterbildung einen hohen Stellenwert, nicht nur militärfachliche, sondern auch Weiterbildung in Menschenführung und Persönlichkeitsentwicklung. Ebenso muss in Zukunft Personalführung ein wichtiges Modul der Weiterbildung werden.

   Ich stimme dem Wehrbeauftragten in einem Punkt ausdrücklich zu: Wir muten den Soldaten im Augenblick viele Prozesse gleichzeitig zu: Auslandseinsätze und eine interne Transformation mit tief greifenden Veränderungen in der Truppe. Gleichzeitig sollen sie ständig dazulernen. All dies soll parallel ablaufen. Dass dies auch aufgrund der Zeitknappheit zu Verwerfungen führt, ist für mich ganz normal. Dies darf Verfehlungen zwar nicht entschuldigen, aber wir sollten diesen Rahmen sehr wohl berücksichtigen. Wenn wir Kritik üben, sollten wir den Soldaten gleichzeitig unseren Respekt davor zuteil werden lassen, dass sie diese Aufgaben parallel zu bewältigen haben, und ihnen danken, dass sie nicht jammern.

   Es ist aber nicht so, wie der Kollege Schmidt gesagt hat, dass sie unter dieser Transformation leiden. Das Gegenteil ist der Fall. Die Soldaten erklären: Ihr habt politisch richtig entschieden. Wir wollen diesen Wandel. Wir wollen zum Schluss eine einsatzfähigere Armee werden. – Die Soldaten machen also durchaus mit. Ich habe den allergrößten Respekt vor all denen, die das so bewerten. Ich bin sehr sicher, dass es der Truppe gelingen wird, diesen komplizierten Transformationsprozess erfolgreich zu Ende zu führen.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt die Kollegin Anita Schäfer von der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute im Plenum den Bericht des Wehrbeauftragten zu beraten, der, obwohl über ein halbes Jahr alt, plötzlich ungeahnte Aktualität bekommen hat, eine Aktualität, auf die wir alle, die wir mit der Bundeswehr verbunden sind, gerne verzichtet hätten.

   Coesfeld ist das Stichwort, an dem sich die Gemüter erhitzen und an dem auch wir heute nicht vorbeikommen. Die Reaktion auf die Geschehnisse in Coesfeld und anderen Orten zeigt, dass die Situation in den Streitkräften den Bürgerinnen und Bürgern außerhalb der Kasernen nicht egal ist. Die Ereignisse, auf die ich hier nicht noch einmal eingehen muss, haben Amt und Amtsführung des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages sowie die Umsetzung des Prinzips der Inneren Führung in die Schlagzeilen der Medien gehoben. Es ist nur natürlich, dass sich nun auch das Plenum des Bundestages mit der inneren Lage der Bundeswehr beschäftigt.

   Nun zum Bericht des Wehrbeauftragten. Viele altbekannte Probleme des Jahres 2002 sind auch 2003 relevant geblieben. Dazu gehören zum Beispiel die Eingaben zum Attraktivitätsprogramm, in dem sich viele altgediente Unteroffiziere zu Recht benachteiligt sehen. Die Wahrheit ist: Der Fachdienstunteroffizier wird in den Kompanien oft als Belastung wahrgenommen, weil er für den Wachdienst und die allgemeinmilitärische Ausbildung nicht zur Verfügung steht.

   Es gibt Eingaben zur Integration der Soldatinnen in die Streitkräfte. Hier zeigt sich erfreulicherweise eine zunehmende Normalität. Die von fast allen Soldatinnen gewünschte Unaufgeregtheit setzt sich durch. Eine offene Wunde bleibt jedoch die Familienbetreuung – darauf hat auch der Minister hingewiesen –, bei der weiterhin erhebliche Defizite festzustellen sind. Mit der Umsetzung des neuen Stationierungskonzeptes muss die Bundesregierung endlich ein neues, konzeptionell und strukturell besseres, modernes Familienbetreuungskonzept vorlegen. Dieses Signal muss von der heutigen Debatte ausgehen.

Ein intaktes Familienleben stärkt die Berufszufriedenheit der Soldatinnen und Soldaten und ist zentrales Element der Inneren Führung. Der Antrag unserer Fraktion „Frauen und Familien in der Bundeswehr stärken und fördern“ zeigt hier den richtigen Weg.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Die vielen Eingaben zur mangelhaften Bearbeitung von Personalsachen und die permanenten Ärgernisse bei Besoldung und Versorgung sind Beleg für eine gereizte Stimmung unter den Soldatinnen und Soldaten. Die unzureichende Einsatzversorgung – ebenfalls Inhalt vieler Eingaben – konnte inzwischen verbessert werden. Manche der genannten Probleme scheinen in der Natur des Menschen zu liegen. Fehler lassen sich dort, wo Menschen agieren, nie völlig abstellen. Aber es gibt auch eine Vielzahl hausgemachter Probleme, für die diese Bundesregierung die Verantwortung trägt und die mit dem Umbau der Streitkräfte zu tun haben. Wie in anderen Bereichen auch scheinen Reformen für die rot-grüne Bundesregierung zum Selbstzweck geworden zu sein. Besonders schlimm dabei: Die Regierung hat im selbst angerichteten Reformchaos den Überblick verloren. Wenn dies schon für die Regierung gilt, wie sollen dann die betroffenen Menschen noch die Orientierung behalten?

   Besonders bedrücken mich die Aussagen des Wehrbeauftragten zur Stimmung in der Bundeswehr. So bemängeln die Soldatinnen und Soldaten seit Jahren erfolglos, dass häufig klare Ausbildungsziele fehlen, dass es an Material und Personal für die Ausbildung mangelt, dass ihnen der politische Sinn ihres Dienstes nicht mehr vermittelt wird und dass Anspruch und Wirklichkeit immer häufiger auseinander klaffen.

   Es gibt zwei weitere Themen, bei denen die Bundesregierung offenbar unfähig oder nicht willens ist, offensichtliche Erkenntnisse umzusetzen. So findet sich ein Kapitel im Bericht des Wehrbeauftragten, das sich erfreulich und unerfreulich zugleich heraushebt: die Eingabe zahlreicher Reservisten. Hier klagen in den meisten Fällen Soldaten darüber, dass sie ihre Leistung nicht einbringen können. Bürokratie und schlechte Planung machen es oft unmöglich, dass ihre Einsatzbereitschaft und hohe Motivation genutzt werden können. Wie wichtig und geradezu unentbehrlich Reservisten sind, zeigt der vorliegende Bericht sehr eindrucksvoll. Schauen Sie einmal in das Kapitel 1.5, „Bearbeitung von Eingaben“. Das Sanitätsführungskommando bekommt massive Kritik zu hören, worauf das Ministerium entgegnet: Der Inspekteur des Sanitätsdienstes hat sich der Problematik angenommen. – Eine solche Antwort ist, gelinde gesagt, eine Frechheit, denn sie beinhaltet erstens eine Selbstverständlichkeit und ist zweitens auch noch nichts sagend. Herr Staatssekretär, wissen Sie eigentlich, wie der Sanitätsdienst das Problem lösen will? Mit Reservisten. Im Internet sucht das Sanitätsführungskommando händeringend Reservisten, die für diese Aufgabe geeignet sind.

   Zu einem weiteren Thema: Im Bericht finden sich umfangreiche Passagen zur allgemeinen Wehrpflicht, wenn auch die Anzahl der einschlägigen Petitionen zurückgegangen ist. Hier äußert sich das Ministerium sehr ausführlich, aber wenig zielführend, während es sich zu anderen Themen des Berichtes recht knapp äußert. Von zentraler Bedeutung bei der Frage der Wehrpflicht ist die Dienstgerechtigkeit. Ich wundere mich sehr, warum Ihr Haus noch immer davon spricht, dass es kein großes Problem mit der Dienstgerechtigkeit gebe. So auch in dem vorliegenden Bericht. Warum glauben Sie eigentlich nicht dem bundeswehreigenen Sozialwissenschaftlichen Institut und beziehen dessen Erkenntnisse in Ihre Argumentation ein? In einer SOWI-Studie heißt es beispielsweise:

Diese demografische Entwicklung wird sich auf die Nachwuchsgewinnung der Bundeswehr nachhaltig auswirken: Zum einen wird das Bewerberpotential insgesamt kleiner und zum anderen wird sich der Wettbewerb um die besser gebildeten, höher motivierten und erfolgsorientierten Jugendlichen verschärfen.

Die Konsequenz kann doch nur lauten: Die Wehrpflicht wird in Zukunft also wichtiger denn je.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Jeder innerhalb und außerhalb des Hauses kennt die demographischen Entwicklungen, vor denen wir stehen, und die entsprechenden Herausforderungen. Wir wissen, dass sich in wenigen Jahren die Diskussion über die Dienstgerechtigkeit erledigt haben wird. Herr Staatssekretär, warum benutzen Sie nicht offensiv diese Erkenntnisse? Der Minister redet der Wehrpflicht nur noch halbherzig das Wort, im Innersten hat er sich doch längst von ihr verabschiedet.

(Helga Daub (FDP): So ein Schlimmer!)

   Den größten Teil der Eingaben macht der Bereich Innere Führung aus.

(Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Stimmt nicht, Personal!)

Im vorliegenden Bericht sind Misshandlungsfälle enthalten, die aber auch nicht nur andeutungsweise mit denen in Coesfeld zu vergleichen sind.

   Die aktuellen Vorfälle, die der Wehrbeauftragte zwangsläufig noch nicht in seinen Jahresbericht aufnehmen konnte, sind jedoch nicht isoliert zu betrachten; sie stehen vielmehr in einem größeren Zusammenhang. Das Bundesministerium der Verteidigung bewertet in der vorliegenden Stellungnahme zum Jahresbericht die innere Lage der Bundeswehr für das Jahr 2003 als „noch stabil“. Diese Formulierung muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: „noch stabil“. Bedeutet dies, dass das Ministerium bei der Abfassung seiner Antwort schon Unheil ahnte, dass es am Erfolg der Inneren Führung bereits zweifelte und die Situation nur noch in Sonntagsansprachen schönredete? Die Misshandlungen zeigen deutlich: Die innere Lage der Bundeswehr ist 2004 leider nicht mehr stabil, wobei Coesfeld nur als Synonym gelten kann.

   Herr Minister, im Frühjahr haben Sie und die gesamte politische Führung Ihres Hauses immer wieder gesagt: Die Ausbildung aller Soldaten muss auf die Einsatzerfordernisse ausgerichtet werden. Auf der Wehrpflichttagung des Beirats für Innere Führung im Mai dieses Jahres wurde dies ausdrücklich auch für die allgemeine Grundausbildung festgestellt. Ich darf aus der Ausgabe von „aktuell – Zeitung für die Bundeswehr“ vom 1. Juni zitieren:

Den Wehrdienst attraktiver zu machen, ihn sinnvoll zu gestalten und den neuen Herausforderungen an Streitkräfte in der Transformation anzupassen, das war Schwerpunkt des Beitrages des Generalinspekteurs ...

Dann folgte ein Satz, den wohl so mancher Ausbilder falsch verstanden hat:

Einsatzrealität und Einsatzerfahrung sollen alsbald die Ausbildung aller Mannschaftsdienstgrade bestimmen.

Für mich stellt sich nun die Frage, was die Truppe gelesen hat: die Bundeswehrzeitung „aktuell“ oder den Befehl, mit dem Geiselnahmen untersagt wurden?

   Ich muss daran erinnern, dass die Grundausbildung nach neuen Befehlen erst im Oktober aufgenommen wurde. Einen Sommer lang blieb die Truppe im Ungewissen. Sie schwebte zwischen politischen Äußerungen und fehlenden neuen Ausbildungsanweisungen. Dazu kamen noch all die Probleme, die wir in den Berichten des Wehrbeauftragten nachlesen können: zu wenig Personal, fehlendes Material und zu viele Aufträge. Bei einer solchen Mangelwirtschaft leiden Ausbildung und politische Bildung. Lesen Sie doch einmal Kapitel 3.12 des Berichts!

(Beifall des Abg. Hans Raidel (CDU/CSU))

   Hier liegt das Problem, das durch die Einsätze erst richtig ernst wird. Nicht von ungefähr hat daher der Verteidigungsausschuss den Unterausschuss „Weiterentwicklung der Inneren Führung“ eingesetzt.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, die politische Führung der Bundeswehr steht an dieser Stelle in der Verantwortung. Die bekannt gewordenen Misshandlungen sind meiner Meinung nach dramatische Einzelfälle. Das Umfeld dafür hat jedoch die politische Führung zu verantworten. Die mangelnde Bereitschaft vieler Soldatinnen und Soldaten, Schikanen, Demütigungen und Misshandlungen an den Wehrbeauftragten zu melden, muss uns besonders zu denken geben.

   Zum einen ist der Begriff „Innere Führung“ für viele schwammig geworden und muss daher weiterentwickelt werden. Zum anderen scheint die Wahrnehmung des Amtes und der Aufgaben des Wehrbeauftragten unschärfer zu werden. Es ist schlimm, wenn in manchen Medien immer häufiger vom „Wehrbeauftragten der Bundesregierung“ gesprochen wird. Dagegen sollte sich der Wehrbeauftragte selbst wenden. Dagegen müssen wir uns aber auch als Bundestag wehren. Innerparteiliche Streitigkeiten schwächen nämlich die parlamentarische Kontrolle.

   An dieser Stelle muss ich Sie auffordern, Herr Thierse: Werden Sie Ihrer Verantwortung als Bundestagspräsident gegenüber den Soldatinnen und Soldaten unserer Parlamentsarmee gerecht! Auch wir als Parlament haben es in der Hand, einen größeren Beitrag zur Inneren Führung zu leisten, indem wir den unmittelbaren Kontakt zu den Soldatinnen und Soldaten suchen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Frau Schäfer!

Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU):

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Das heißt aber auch: Der Wehrbeauftragte sollte häufiger und unangekündigt die Truppe besuchen und sich nicht von Mitarbeitern vertreten lassen. Sein Personal muss eine hohe fachliche Qualifikation aufweisen. Offene Stellen müssen zügig nachbesetzt werden. Die Truppe muss die Existenz des Wehrbeauftragten ebenso spüren wie die Aufmerksamkeit des Parlaments – egal wo sie sich befindet, und zu jeder Zeit.

   Die CDU/CSU-Fraktion dankt dem Wehrbeauftragten für den sachlichen Bericht.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin Abgeordnete der PDS.

   Ich möchte auf die Foltervorwürfe und Foltervorfälle eingehen. Ich verstehe, ehrlich gesagt, die Verwunderung von Bundesminister Struck und einigen Medien über diese Vorfälle in der Bundeswehr nicht. Es wird der Eindruck vermittelt, dass Rambos in der Etappe ihre Kompetenz überschritten hätten.

   Ich habe am 30. Juni 2004 die Bundesregierung Folgendes gefragt: Michael Wolffsohn ist Professor an der Universität der Bundeswehr in München.

(Reinhold Robbe (SPD): Leider!)

Anfang Mai hatte er in einem Fernsehinterview gesagt, „als eines der Mittel gegen Terroristen“ halte er „Folter oder die Androhung von Folter für legitim“. Ich fragte, ob es zutrifft, dass es für Wolffsohn keine dienstrechtlichen Konsequenzen geben wird. Die Antwort der Bundesregierung war mehr als unbefriedigend. Es gab natürlich keine dienstrechtlichen Konsequenzen für den Folterbefürworter. Professor Wolffsohn darf weiter unbehelligt an der Universität der Bundeswehr in München unterrichten.

   Wir alle kennen den weisen Spruch: Der Fisch fängt immer am Kopf an zu stinken. Dieser Spruch gilt auch für die Folterdebatte.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

Ex-General Schönbohm hat sich für die Folter ausgesprochen und es gibt auch einige namhafte Grundgesetzkommentatoren, die den Einsatz der Folter in Extremsituationen für zulässig halten. Nun wird die Bundesregierung erklären, dass sie damit nichts zu tun hat, dass es sich hier um Einzelmeinungen handelt, die nicht repräsentativ sind. Doch dem ist nicht so. Ich habe die Bundesregierung bereits am 10. Juni 2003 gefragt, was sie unternommen habe, um die Zustände im Gefangenenlager Guantanamo Bay, die die „New York Times“ als „Schandfleck für den amerikanischen Rechtsstaat“ bezeichnet hat, gegenüber der US-amerikanischen Regierung anzusprechen. Die Antwort lautete:

Der Regierung der USA ist die Auffassung der Bundesregierung bekannt, dass der völkerrechtlich umstrittene Status der Gefangenen einer Klärung und raschen Lösung bedarf.

Mehr nicht! Diese Antwort gab die Bundesregierung im Sommer 2003. Seitdem ist nichts passiert.

   Schlimmer noch: Das Foltergefängnis von Guantanamo Bay ist die Folterausbildungsstätte schlechthin geworden. Die dort Ausgebildeten foltern jetzt im Irak. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass die Bundesregierung gegenüber der US-amerikanischen Regierung in den letzten 18 Monaten tatsächlich mit Nachdruck auf die Einhaltung der Menschenrechte dort gedrängt hat. Nun können SPD und Grüne die Verzagtheit gegenüber der US-amerikanischen Regierung sicherlich begründen. Die deutsche Regierung will die US-amerikanische Regierung nicht weiter verärgern; darüber haben wir hier schon oft genug diskutiert.

   Oder reden wir doch über die UN-Antifolterkonvention, die bereits Albanien, der Senegal, Serbien und andere Länder unterzeichnet haben, bisher aber nicht die Bundesrepublik. Auch hier habe ich die Bundesregierung nach den Gründen gefragt. Die Antwort war wieder unbefriedigend.

   Professor Wolffsohn, Guantanamo Bay und die UN-Antifolterkonvention sind nur drei Beispiele aus der aktuellen Folterdiskussion in unserem Land. Ich glaube, die Botschaft ist bei den Unteroffizieren, die ihre Soldaten foltern, so angekommen, wie sie nur ankommen kann. Es gibt kein Missverständnis. Die „Süddeutsche Zeitung“ schreibt sogar von „Abu Coesfeld“. Die Ähnlichkeit der Bilder ist erschreckend, genauso wie die Reaktionen seitens der militärischen und der politischen Führung. Herr Struck erklärt – genauso wie Herr Rumsfeld –, dass die Übergriffe im Widerspruch zu den geltenden Ausbildungsmethoden und den Werten stehen. Die Bundesregierung, insbesondere der Verteidigungsminister, hat in der Folterdebatte versagt. Es ist unredlich, wenn die Verantwortung auf einzelne Unteroffiziere geschoben wird. Es ist ebenfalls unredlich und widersprüchlich, wenn man den Einsatz der Bundeswehr im Ausland als Grund für die zunehmende Gewalt in der Truppe heranzieht. Wenn ich die Bundesregierung richtig verstanden habe – zumindest das, was sie sagt und schriftlich erklärt –, soll die Bundeswehr im Ausland zur Konfliktprävention, zur Kriegsbeendigung und zur Friedenserhaltung eingesetzt werden. Hier liegt der Widerspruch. Friedenssicherung bedeutet die Zurückdrängung des Bildes vom militärischen Kämpfer. Aber augenscheinlich lautet die stillschweigende Annahme, dass der militärische Einsatz die Soldaten in Kampfsituationen führt, die Brutalisierung zur Folge haben. Dies widerspricht eklatant den deklarierten Einsatzzielen.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

   Herr Struck, ich bin der Auffassung, dass es Zeit ist, die Verantwortung nicht auf Einzelne abzuschieben, sondern persönlich Verantwortung zu übernehmen, den systematischen und komplexen Zusammenhang zu erkennen und einen anderen Typus von Bundeswehrsoldaten anzustreben.

   Vielen Dank.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulrike Merten von der SPD-Fraktion.

Ulrike Merten (SPD):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrter Willfried Penner, auch wenn ich als Vorletzte in dieser Debatte spreche, will ich mich dem herzlichen Dank an den Wehrbeauftragten und an seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für diesen Bericht anschließen.

   Jeder Soldat und jede Soldatin hat das Recht, sich mit ihren persönlichen Anliegen an den Wehrbeauftragten zu wenden. Wir haben mittlerweile mehrfach gehört, dass dieses Recht im Berichtsjahr über 6 000 Soldaten und Soldatinnen in Anspruch genommen haben. Aber im Zusammenhang mit den Vorfällen in Coesfeld haben wir auch zur Kenntnis zu nehmen, dass nicht alle Betroffenen dem Wehrbeauftragten wichtige Vorfälle, die sie bei der Bundeswehr erlebt haben, gemeldet haben.

   Betrachtet man die Fälle in der Bundeswehr, bei denen es um Misshandlungen von Untergebenen bzw. Kameraden ging, so stellt man fest, dass die Betroffenen die Möglichkeit, sich an den Wehrbeauftragten zu wenden, aus unterschiedlichen Motiven nicht umgehend genutzt haben. Das will ich niemandem vorwerfen. Aber ich finde, die Motive sollten uns schon interessieren. Zum Teil werden jetzt Vorfälle öffentlich – auch das haben wir durch den Bericht, den wir im Verteidigungsausschuss diskutiert haben, erfahren –, die bereits Jahre zurückliegen. Die Angaben dazu waren im Übrigen teilweise sehr diffus. Eine sofortige Meldung beim Wehrbeauftragten hätte den Schaden sicherlich wenn nicht abwenden, so doch begrenzen können.

   Ich will auch ganz deutlich sagen: Nicht nur die Soldaten, die sich erst jetzt melden, haben sich falsch verhalten; in der Verantwortung stehen vor allem diejenigen, die damals für Ausbildung und Führung zuständig waren. Ihnen ist möglicherweise Fehlverhalten anzulasten.

   Der Bericht spiegelt die aktuellen Sorgen und Nöte der Betroffenen wider. Ich finde, alle Betroffenen sollten die Institution des Wehrbeauftragten – die so alt ist wie die Bundeswehr – in Anspruch nehmen, für sich und zum Wohle der gesamten Armee.

   Motive wie fehlende Zivilcourage, Angst vor Repressalien und Angst vor zukünftiger Missachtung helfen in diesem Fall niemandem. Deswegen glaube ich, es ist richtig, dazu zu ermutigen, beobachtete Vorgänge – im Übrigen nicht nur solche, die man selbst erlitten hat – dem Wehrbeauftragten und damit dem Parlament zu melden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Bundesminister der Verteidigung hat daher alle Betroffenen zu Recht aufgefordert, dem Wehrbeauftragten Fälle von Misshandlung mitzuteilen. Diese Fälle müssen aufgeklärt werden und der Deutsche Bundestag muss darüber unterrichtet werden.

   Erst wenn alle Fälle auf dem Tisch liegen – nach dem zu urteilen, was bis jetzt gemeldet worden ist, scheint es sich ja nicht um ein Massenphänomen zu handeln –, kann man zu einem abgewogenen Urteil kommen, das dann die entsprechenden Maßnahmen nach sich ziehen muss. Man kann allerdings schon jetzt sagen, dass der Generalverdacht, den einige in Bezug auf die Bundeswehr geäußert haben, absolut nicht angebracht ist. Vielmehr haben wir es hier – Gott sei Dank – immer noch mit einem Phänomen einzelner Verfehlungen zu tun.

   An dieser Stelle müssen wir eher fragen: Wie konnte es zu dem Fehlverhalten von Ausbildern kommen? Wie konnte es dazu kommen, dass diejenigen, die von diesem Fehlverhalten betroffen waren, sich nicht eher gemeldet haben? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt. Krachende Allwissenheit und die Einstellung „Wir haben es ja schon immer gesagt“ sind überhaupt nicht angebracht.

Damit verbindet sich die Frage nach der Dienstaufsicht – darüber haben wir heute schon gesprochen –: Wie kann und muss sie funktionieren? Zu fragen ist auch nach der Erlasslage. Die Erlasslage ist eindeutig; darüber wird gar nicht gestritten. Für mich stellt sich die Frage: Ist die Erlasslage bei aller Eindeutigkeit für alle – auch für diejenigen, die gut daran täten, sie zu kennen – wirklich nachvollziehbar und wird sie ihnen in der gebührenden Gründlichkeit nahe gebracht? Ich muss erwarten, dass nicht nur der Bataillonskommandeur und der Kompaniechef, sondern wirklich alle, die mit Ausbildung befasst sind, über den Kern der Erlasslage in diesen Punkten nicht nur informiert sind, sondern sie auch präsent haben.

   Die andere Frage ist: Wie kann man Ausbildung gestalten, auch Ausbildung, die auf Auslandseinsätze ausgerichtet ist, um für den Ernstfall, aber nicht den Ernstfall zu proben? In den Zusammenhang gehört natürlich auch die Frage: Welche Ausbilder brauchen wir eigentlich und wie müssen wir die Ausbilder vorbereiten, damit sie ihrer schwierigen Aufgabe gerecht werden können?

   Ich will in diesem Zusammenhang auch noch ein Wort zur Wehrpflicht sagen. Die Vorfälle von Coesfeld bringen die einen zu dem Schluss: Die Wehrpflichtarmee ist die einzig mögliche Wehrform, um sicherzustellen, dass solche Vorfälle zumindest bekannt und transparent werden. Nur sie gewährleistet die notwendige Sensibilität in der Gesellschaft. Die anderen sagen: Die Wehrpflichtarmee ist obsolet. Diese Vorfälle haben gezeigt, dass das nicht die Wehrform der Zukunft sein kann. Beides, glaube ich, ist in dieser Pauschalität falsch.

(Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Richtig!)

   Die Fragen, die sich damit verbinden, sind sehr viel komplexer. Es geht eben nicht nur um Nachwuchsgewinnung, sondern es geht auch um Auftrag, um Finanzen und natürlich auch um Fragen der Wehrgerechtigkeit. Deswegen muss man sehr genau hinschauen, um diese Frage dann abschließend beantworten zu können.

(Hans Raidel (CDU/CSU): Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!)

   Ich will trotzdem mit aller Eindeutigkeit sagen, dass die Wehrpflicht durch den Zugriff auf Rekruten aus Bevölkerungskreisen, die der Bundeswehr sonst nicht zur Verfügung stünden, weitgehend sozial repräsentative und aufgeschlossene Streitkräfte sicherstellt. Dadurch kann – ich halte das nicht für widerlegt – das Leistungs- und Bildungspotenzial der Bevölkerung für die Streitkräfte umfassend genutzt werden.

   Die Integration der Bundeswehr in die Gesellschaft – und damit bürgernahe Streitkräfte – ist zu einem Qualitätsmerkmal geworden. Dies ist ein wichtiger gesellschaftspolitischer Erfolg für unser Land, auf den wir zu Recht stolz sein sollten und den wir nicht leichtfertig aufs Spiel setzen sollten.

   In den vergangenen Wochen ist im Zusammenhang mit den Vorfällen in Coesfeld viel über Innere Führung geredet worden. Der Soldat/die Soldatin soll den Sinn und die Notwendigkeit des Dienstes erkennen. Dies ist ein Baustein der Inneren Führung. Prägendes Merkmal bleibt der Staatsbürger in Unform. Der Staatsbürger in Uniform ist eine freie Persönlichkeit, verantwortungsbewusster Staatsbürger und einsatzbereiter Soldat.

   Gerade für Auslandseinsätze hat die Innere Führung eine große Bedeutung. Dies wird jetzt im Unterausschuss sehr detailliert und wirklich auch in die Tiefen gehend nachbearbeitet, damit dem Parlament im nächsten Jahr Vorschläge dazu gemacht werden können. Allen Behauptungen zum Trotz ist man im BMVg natürlich auch längst dabei, auf die Herausforderung „Auslandseinsätze und Innere Führung“ zu reagieren.

   Ich will an dieser Stelle noch einmal sagen, dass sich die Bundeswehr seit der Zeitenwende 1989/1990 natürlich erheblich verändert hat. So weist der Wehrbeauftragte zu Recht auf die Probleme im gegenwärtigen Transformationsprozess der Bundeswehr hin. Frau Kollegin Schäfer, wenn wir schon über Reformen der Bundesregierung reden,

(Volker Kauder (CDU/CSU): Die Bundesregierung kann man nicht reformieren, die muss weg!)

dann will ich an dieser Stelle Folgendes sagen – Kollege Arnold hat sich dazu schon ausführlich geäußert –: Wenn ein schwieriger Reformprozess, in dem Fall Transformationsprozess, von allen Beteiligten so getragen würde wie von der Bundeswehr, müssten wir uns über das Reformklima und die Reformfähigkeit dieses Landes keine Sorgen machen.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Frau Kollegin Merten, kommen Sie bitte zum Schluss.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Das ist ein guter Hinweis!)

Ulrike Merten (SPD):

Ich will im Zusammenhang mit dem hier behandelten Thema noch eines sagen: Der Bericht des Wehrbeauftragten ist natürlich ein Mängelbericht und kein vollständiger Bericht über den Zustand und das innere Gefüge der Bundeswehr. Entscheidend ist, dass die Themen so lange auf der Tagesordnung bleiben, bis sie abgearbeitet sind, und nicht nur so lange, wie die Medien ihr Interesse und ihren Fokus auf ein Thema richten, weil sie glauben, daraus Honig saugen zu können.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)

   Garant dafür, dass das so bleibt, also dass die Themen so lange auf der Tagesordnung bleiben, bis sie abgearbeitet sind, ist der jährliche Bericht des Wehrbeauftragten und seiner Mitarbeiter. Dafür will ich noch einmal herzlich Danke sagen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Das Wort hat der Kollege Dr. Karl Lamers, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Im 45. Jahresbericht eines Wehrbeauftragten, der heute als Ihr vierter und letzter Bericht im Plenum beraten wird, Herr Wehrbeauftragter, haben Sie dankenswerterweise auch auf die Arbeit des Unterausschusses „Weiterentwicklung der Inneren Führung“ Bezug genommen. Zunächst möchte ich Ihnen als Vorsitzender dieses Unterausschusses und ganz persönlich für die als Wehrbeauftragter geleistete Arbeit für unseren Staat und unsere Bundeswehr danken.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

   Im Unterausschuss haben Sie uns im Dezember 2003 Rede und Antwort gestanden und wertvolle Hinweise zum inneren Zustand der Bundeswehr gegeben. Wenn es um den inneren Zustand der Bundeswehr geht, dann gibt es so etwas wie einen Fiebermesser: Das sind Sie, Herr Wehrbeauftragter. In den letzten Jahren haben Sie immer wieder einen Anstieg der Beschwerden und Eingaben von Soldaten an Ihre Behörde gemeldet. Wenn die Fieberkurve steigt, dann müssen sich die zuständigen Gremien damit auseinander setzen. Das Parlament tut es heute hier im Plenum und jede Woche im Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages. So muss es sein. Nach Kempten und Coesfeld ist das umso dringlicher.

   Wir alle spüren, das Land ist im Umbruch. Wir alle spüren, die Bundeswehr befindet sich im Umbruch. Da erwachsen große Unsicherheiten für unsere Soldaten: einerseits aus den Auslandseinsätzen und manchen Begleitumständen mit all ihren Auswirkungen auf die Familien, andererseits sicher auch aus der unübersichtlich gewordenen Situation durch die Strukturreformen der Bundeswehr. Für viele Soldaten kommen die einzelnen so genannten Reformschritte zu schnell und zu hektisch; sie sehen nicht mehr, wo eigentlich ihre Lebens- und Dienstzeitplanung bleibt.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, einer der Väter der Inneren Führung, General Johann-Adolf Graf von Kielmannsegg, hat einmal prägnant und treffend formuliert:

Der Erfolg, den die Innere Führung für und in der Bundeswehr immer von neuem anzustreben hat, kann nur dann errungen werden, wenn die drei Begriffe Soldat, Mensch, Führung so zusammenklingen, daß jeder Ton voll schwingt und alle drei doch einen Akkord geben.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Er sagt weiter:

Das Soldatische darf nicht untergehen, der Mensch muß in der Mitte sein, Führung muß wirklich Führung bleiben – dann wird Innere Führung das angestrebte Ziel erreichen.

   Meine Damen und Herren, ich frage Sie: War das, was wir in Coesfeld, in Kempten und an anderen Orten erlebt haben, der von Kielmannsegg eingeforderte Akkord von Mensch, Soldat und Führung? Gewiss nicht. Richtig ist: Mit den Auslandseinsätzen haben sich die Anforderungen an unsere Soldaten grundlegend verändert. Die Ausbildung muss auf diese Veränderungen reagieren. Sie muss zweifellos Soldaten darauf vorbereiten, dass im Einsatz auch der Worst Case, der schlimmste aller denkbaren Fälle, eintreten kann. Aber hier geht es doch um die sach- und fachgerechte Vorbereitung von Soldaten vor einem konkreten Einsatz. XXXXX

Coesfeld ist nicht Hammelburg. Was in Hammelburg erlaubt ist, ist in Coesfeld in einer Nacht-und-Nebel-Aktion mit Rekruten noch lange nicht zulässig. Darum geht es doch.

   Innere Führung ist gewiss keine Bibel, kein Kodex mit unveränderlichen Inhalten. Aber es gibt eben unverzichtbare Teile der Inneren Führung, die nicht aufgegeben werden dürfen, so genannte Konstanten. Es geht um den Soldaten als Staatsbürger in Uniform, dessen staatsbürgerliche Rechte so wenig wie möglich eingeschränkt werden sollen. Es geht um die Bindung des Prinzips von Befehl und Gehorsam an Recht und Gesetz. Es geht um die zwingende Beachtung der Menschenwürde im Dienst. Es geht um das grundsätzliche Verbot von strafrechtlich bewehrten Handlungen im Bundeswehralltag. Innere Führung, so sagt General Ulrich de Maizière, ist ein dynamisches Konzept, immer in Entwicklung; sie muss aktuell sein. Letztlich geht es um den politisch gebildeten und sensibilisierten Soldaten, der im Zeichen der Inneren Führung die Möglichkeiten und Grenzen seines Handelns erkennt.

   Innere Führung – das ist nicht nur, aber auch Menschenführung. Zweimal, Herr Wehrbeauftragter, sprechen Sie von Führungsverantwortung. Recht haben Sie; genau darum geht es: um Führungsverantwortung. Wo war diese Führungsverantwortung in Coesfeld, in Kempten und anderswo? Jeder Ausbilder kennt – oder sollte kennen – seine Ausbildungsvorschriften, seine Handreichungen, seine Dienstpläne. Die Dienstaufsicht der Vorgesetzten – bis ganz nach oben in die militärische Führung hinein – muss sicherstellen, dass die Vorschriften eingehalten werden und dass die Menschenführung und die angewandten Methoden und Mittel in Ordnung sind. Darum geht es, meine Damen und Herren.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Herr Wehrbeauftragter, wir sind uns einig: So sollte es sein. Hätte da nicht die Alarmglocke schrillen müssen bei diesen so genannten Ausbildungseinlagen? Mit dem Grundgedanken des Staatsbürgers in Uniform, der Bindung des Befehls an Recht und Gesetz und der menschenwürdigen Behandlung von Untergebenen, mit all den Themen, mit denen Sie sich tagtäglich befassen, sind diese jedenfalls nicht in Einklang zu bringen.

   Auch bei den Untergebenen hätte die Einsicht wachsen müssen, dass sie diese Befehle nicht ausführen mussten, ja nicht durften. Vereinzelt hört man, da seien einige „über das Ziel hinausgeschossen“. Die Tatsache, dass von der Heeresführung seit Februar 2004 fünf verschiedene Weisungen bezüglich der Ausbildung ergingen, lässt aufhorchen. Hier wurde nachgesteuert, um Auswüchse zu begrenzen.

   Ich meine, wir müssen über die Ausbildung der Ausbilder neu nachdenken, insbesondere über die Führungsverantwortung. Aber bei allem, was wir heute besprechen, müssen wir wissen, dass von der ganz überwältigenden Mehrheit unserer Soldatinnen und Soldaten, von Ausbildern und Auszubildenden schon heute das Prinzip Innere Führung gelebt und verwirklicht wird. Wir reden heute über die, die den Geist dieses Prinzips immer noch nicht verstanden haben oder nicht verstehen wollen. Das können wir nicht hinnehmen. Wir wollen, dass die Bundeswehr insgesamt klar Schiff macht.

   Meine Damen und Herren, die Ereignisse von Coesfeld, Kempten und anderswo führen in manchen Köpfen zu erstaunlichen Schlussfolgerungen: Die Wehrpflicht sei überholt; es müsse eine Berufsarmee eingeführt werden. Genau das Gegenteil ist der Fall.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Eine Wehrpflichtarmee steht viel stärker im Blickpunkt der gesamten Öffentlichkeit, der Medien, des Parlaments und vieler Familien in unserem Land als eine Berufsarmee.

(Ernst Burgbacher (FDP): Quatsch!)

Ich kann auch nicht erkennen, dass in den Fällen, über die wir in den letzten Wochen diskutiert haben, Wehrpflichtige die Verantwortung trugen. Ich bin vielmehr überzeugt: Weil die Bundeswehr durch die allgemeine Wehrpflicht in der Gesellschaft verankert ist, sprechen wir heute und seit Wochen leidenschaftlich über die „besonderen Vorkommnisse“.

   Zu den Konsequenzen, meine Damen und Herren. Es besteht Handlungsbedarf, der uns alle verpflichtet: Parlament, Regierung und Bundeswehr. Wir sind aufgefordert, das Rechtsempfinden unserer Soldaten zu stärken und das Sensorium für einsatznahe Ausbildung unter Beachtung unserer Rechtsnormen zu schärfen. Das Prinzip Innere Führung mit dem Menschen im Mittelpunkt setzt Grenzen im Handeln. Das gilt für jeden.

   Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Ich schließe die Aussprache.

   Wir kommen zu der Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses zu dem Jahresbericht 2003 des Wehrbeauftragten. Es handelt sich um die Drucksachen 15/2600 und 15/4475. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.

   Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 g sowie Zusatzpunkt 3 auf:

25. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Neuordnung der Reserve der Streitkräfte und zur Rechtsbereinigung des Wehrpflichtgesetzes (Streitkräftereserve-Neuordnungsgesetz – SkResNOG)

– Drucksache 15/4485 –

Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss (f)InnenausschussRechtsausschuss Haushaltsausschuss

b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Siebzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes

– Drucksache 15/4492 –

Überweisungsvorschlag:Innenausschuss

c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 92 und 108)

– Drucksache 15/4108 –

Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)InnenausschussFinanzausschussAusschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung

d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Öffnung des Bundesrechts für die Zusammenführung von Gerichten der Verwaltungs-, Sozial- und Finanzgerichtsbarkeit in den Ländern (Zusammenführungsgesetz)

– Drucksache 15/4109 –

Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)InnenausschussFinanzausschussAusschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung

e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 5. April 2004 zwischen der Bundesrepublik Deutschland, der Republik Polen und der Tschechischen Republik über den Bau einer Straßenverbindung in der Euroregion Neiße, im Raum zwischen den Städten Zittau in der Bundesrepublik Deutschland, Reichenau (Bogatynia) in der Republik Polen und Hrádek nad Nisou/Grottau in der Tschechischen Republik

– Drucksache 15/4467 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach, Cornelia Pieper, Christoph Hartmann (Homburg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Nationales Sicherheitsforschungsprogramm vorlegen

– Drucksache 15/3810 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)Auswärtiger Ausschuss InnenausschussVerteidigungsausschuss

g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hellmut Königshaus, Markus Löning, Horst Friedrich (Bayreuth), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Anhalter Bahn in die Dringlichkeitsliste für die Lärmsanierung an bestehenden Schienenwegen aufnehmen

– Drucksache 15/4262 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

ZP 3 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP

Deutsch-russischen Jugendaustausch ausweiten und stärken

– Drucksache 15/4530 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss

   Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.

   Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 15/4492 – das ist Tagesordnungspunkt 25 b – soll an den Innenausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

   Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 26 a bis 26 f sowie zu den Zusatzpunkten 4 a bis 4 f. Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.

   Tagesordnungspunkt 26 a:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (17. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Abgeordneten Marion Seib, Katherina Reiche, Thomas Rachel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

Für mehr Wettbewerb und Flexibilisierung im Hochschulbereich – der Bologna-Prozess als Chance für den Wissenschaftsstandort Deutschland

– zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Ute Berg, Jörg Tauss, Klaus Barthel (Starnberg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Hans-Josef Fell, Anna Lührmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

zu der Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregierung zu den Ergebnissen der Europäischen Bildungsministerkonferenz am 18./19. September 2003 in Berlin

– zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Ulrike Flach, Christoph Hartmann (Homburg), Cornelia Pieper, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

zu der Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregierung zu den Ergebnissen der Europäischen Bildungsministerkonferenz am 18./19. September 2003 in Berlin

– Drucksachen 15/1787, 15/1579, 15/1582, 15/4490 –

Berichterstattung:Abgeordnete Ute Berg Marion Seib Grietje Bettin Cornelia Pieper

   Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/1787 mit dem Titel „Für mehr Wettbewerb und Flexibilisierung im Hochschulbereich – der Bologna-Prozess als Chance für den Wissenschaftsstandort Deutschland“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP bei Gegenstimmen der CDU/CSU angenommen.

   Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss, den Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/1579 zu der Regierungserklärung zu den Ergebnissen der Europäischen Bildungsministerkonferenz in Berlin anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU und Enthaltung der FDP angenommen.

   Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung, den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/1582 zu der genannten Regierungserklärung abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen.

   Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Das sind die Tagesordnungspunkte 26 b bis 26 f.

   Tagesordnungspunkt 26 b:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 168 zu Petitionen

– Drucksache 15/4422 –

   Wer stimmt dafür? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Sammelübersicht 168 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.

   Tagesordnungspunkt 26 c:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 169 zu Petitionen

– Drucksache 15/4423 –

   Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Sammelübersicht 169 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.

   Tagesordnungspunkt 26 d:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 170 zu Petitionen

– Drucksache 15/4424 –

   Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Sammelübersicht 170 ist ebenfalls mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.

   Tagesordnungspunkt 26 e:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 171 zu Petitionen

– Drucksache 15/4425 –

   Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Sammelübersicht 171 ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen.

   Tagesordnungspunkt 26 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 172 zu Petitionen

– Drucksache 15/4426 –

   Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Sammelübersicht 172 ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP bei Gegenstimmen der CDU/CSU angenommen.

   Zusatzpunkt 4 a:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 30. September 2003 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Bulgarien über die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der organisierten und der schweren Kriminalität

– Drucksache 15/3880 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuss)

– Drucksache 15/4525 –

Berichterstattung:Abgeordnete Tobias Marhold Erwin Marschewski (Recklinghausen)Silke Stokar von Neuforn Dr. Max Stadler

   Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4525, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.

   Zusatzpunkt 4 b:

Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes

– Drucksache 15/2252 –

(Erste Beratung 102. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)

– Drucksache 15/4537 –

Berichterstattung:Abgeordnete Abg. Erika Simm Siegfried Kauder (Bad Dürrheim)Jerzy Montag Jörg van Essen

   Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4537, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.  Gegenprobe!  Enthaltungen?  Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.

   Wir kommen zu weiteren Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.

   Zusatzpunkt 4 c:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 173 zu Petitionen

– Drucksache 15/4509 –

   Wer stimmt dafür?  Wer stimmt dagegen?  Enthaltungen?  Die Sammelübersicht 173 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.

   Zusatzpunkt 4 d:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 174 zu Petitionen

– Drucksache 15/4510 –

   Wer stimmt dafür?  Gegenprobe!  Enthaltungen?  Die Sammelübersicht 174 ist ebenfalls mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.

   Zusatzpunkt 4 e:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 175 zu Petitionen

– Drucksache 15/4511 –

   Wer stimmt dafür?  Wer stimmt dagegen?  Enthaltungen?  Die Sammelübersicht 175 ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen.

   Zusatzpunkt 4 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 176 zu Petitionen

– Drucksache 15/4512 –

   Wer stimmt dafür?  Wer stimmt dagegen?  Enthaltungen?  Die Sammelübersicht 176 ist mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen.

   Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:

Aktuelle Stunde

auf Verlangen der Fraktion der SPD

Zwischenbilanz des nationalen Paktes für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs in Deutschland

   Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister Wolfgang Clement.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
[Der folgende Berichtsteil – und damit der gesamte Stenografische Bericht der 148. Sitzung – wird morgen,
Freitag, den 17. Dezember 2004,
an dieser Stelle veröffentlicht.]
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/plenarprotokolle/15148
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