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15. Wahlperiode
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   146. Sitzung

   Berlin, Freitag, den 3. Dezember 2004

   Beginn: 9.00 Uhr

   * * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *

   * * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *

   * * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *

Präsident Wolfgang Thierse:

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

   Der in der 142. Sitzung überwiesene Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Vereinfachung der Verwaltungsverfahren im Sozialrecht auf Drucksache 15/4228 soll nachträglich noch dem Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit zur Mitberatung überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Bundesregierung

Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Unterstützung der Überwachungsmission AMIS der Afrikanischen Union (AU) in Darfur/Sudan auf Grundlage der Resolutionen 1556 (2004) und 1564 (2004) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 30. Juli 2004 und 18. September 2004

– Drucksachen 15/4227, 15/4257 –

Berichterstattung:Abgeordnete Gert Weisskirchen (Wiesloch)Joachim Hörster Dr. Ludger Volmer Harald Leibrecht

Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 15/4259 –

Berichterstattung:Abgeordnete Alexander Bonde Lothar Mark Herbert Frankenhauser Dietrich Austermann Jürgen Koppelin

   Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen.

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Walter Kolbow das Wort.

Walter Kolbow, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Einmal mehr muss sich dieses Haus mit der humanitären Katastrophe in Darfur und mit der Frage beschäftigen, was Deutschland beitragen kann, um noch mehr Leid zu verhindern und mehr Sicherheit für verfolgte Menschen zu erreichen. Dabei ist uns klar: Die Situation in Darfur kann nur mit internationaler Unterstützung verbessert werden. Für das Überleben der Menschen ist es angesichts der unzähligen Opfer, die wir schon zu beklagen haben, wichtig, dass getroffene Waffenstillstandsvereinbarungen eingehalten werden und die Hilfsorganisationen freien Zutritt haben, um den Menschen dort zu helfen.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Der Darfurkonflikt gefährdet sowohl die bereits ausgehandelten Ergebnisse des gesamtsudanesischen Friedensprozesses als auch die Stabilität des Sudan und der gesamten Region. Es liegt in unserem Interesse, die Fähigkeit der Afrikanischen Union zur Durchführung der Mission AMIS, der African Union Mission in Sudan, zu unterstützen. Ihr Ziel ist die Überwachung des Waffenstillstandsabkommens vom 8. April 2004, die Unterstützung von vertrauensbildenden Maßnahmen und die Verbesserung der Sicherheitslage, die immer noch durch gegenseitige Übergriffe, Misshandlungen der Zivilbevölkerung und Plünderungen von Konvois der Hilfsorganisationen gekennzeichnet ist. Es geht jetzt darum, die Operation AMIS personell und materiell zu unterstützen, damit die Afrikanische Union in Darfur wirksamer als bisher handeln kann.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Ulrich Heinrich (FDP))

   Rechtliche Grundlage sind, wie wir wissen, die UN-Resolutionen vom Juli bzw. vom September. Vor einer Woche hat der Sicherheitsrat mit der Resolution 1574 die Mitgliedstaaten erneut gedrängt, logistische Hilfe zu leisten. Der Sicherheitsrat billigt darin den Einsatz militärischer Beobachter einschließlich einer Schutztruppe, um das Waffenstillstandsabkommen einzuhalten. Für die Stärkung der Operation AMIS ist eine größere internationale Unterstützung zwingend erforderlich; denn den afrikanischen Truppenstellern fehlt es vor allem an Lufttransportkapazität. Die Niederlande, Großbritannien und die USA haben bereits Lufttransportleistungen erbracht. Deutschland will es ebenfalls tun.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Ulrich Heinrich (FDP))

   Die Bundeswehr wird also, wenn Sie zustimmen – wir hatten am Montag vertrauensvolle Unterredungen in den Ausschüssen aufgrund der Nachfragen, die am letzten Donnerstag und letzten Freitag aufgetaucht sind –, afrikanische, voraussichtlich tansanische, Kontingente in den Sudan transportieren und die Durchführung der Überwachungsmission mit Lufttransporten in das Einsatzgebiet unterstützen.

   Vorgesehen ist der Einsatz von drei Transall-Transportflugzeugen, die mit entsprechenden Selbstschutzanlagen ausgerüstet sind. Maximal werden 200 Soldaten einschließlich Unterstützungs-, Sanitäts- und Sicherungskräften zum Einsatz kommen. Für den Fall eines Angriffs auf ein deutsches Transportflugzeug auf sudanesischem Boden ist beabsichtigt, eine Sicherungskomponente an Bord der Luftfahrzeuge mitzuführen, um Flugzeug und Besatzung bei Bedarf sichern zu können.

   Die Stationierung der Soldaten in Darfur ist nicht vorgesehen. Ihre zeitweilige Präsenz im Land ist direkt mit dem Lufttransport verknüpft. Dieser wird der Afrikanischen Union grundsätzlich durch die Europäische Union zur weiteren Abstimmung mit der sudanesischen Regierung angezeigt. Ein Flug- bzw. Überfluggenehmigungsverfahren wird zentral von der Afrikanischen Union mit diplomatischer Note von der sudanesischen Regierung erbeten. Dieses Verfahren hat sich in der Vergangenheit bewährt und es ist sichergestellt, dass es auch bei diesem Einsatz Anwendung findet.

   Das Mandat für den deutschen Einsatz soll mit Ihrer Zustimmung auf sechs Monate begrenzt werden. Damit wäre eine ausreichende Flexibilität für den Fall gegeben, dass sich der bis Ende Februar 2005 geplante Aufwuchs der Mission verzögern sollte. Damit hätten wir unseren Beitrag zur Unterstützung von AMIS und zur Arbeitsfähigkeit dieser Operation geleistet. Deutschland und die Staaten der Europäischen Union wollen AMIS nicht ersetzen; aber wir wollen durch unseren Beitrag dem starken politischen Willen der Afrikanischen Union, die Zügel in der Hand zu behalten und selbst tätig zu werden, Rechnung tragen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Ich möchte das Haus auf der Grundlage dieser meines Wissens gesicherten Informationen zur Sicherheitslage auch aus der Sicht des Verteidigungsministeriums bitten, dem Antrag auch im Interesse des Erfolgs der Mission zuzustimmen. Für diese Aufgabe ist die breite Zustimmung dieses Hauses dringend notwendig.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile Kollegen Andreas Schockenhoff, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU-Fraktion wird dem Antrag der Bundesregierung zum Einsatz deutscher Streitkräfte zur Unterstützung der AMIS-Mission zustimmen. Wir haben im Mai dieses Jahres in einem interfraktionellen Antrag den Völkermord, die Vertreibungen und die massiven Menschenrechtsverletzungen in Darfur angeprangert. Wir haben gemeinsam vor einer humanitären Katastrophe mit dem Einsetzen der Regenzeit gewarnt. Heute müssen wir feststellen, dass diese humanitäre Katastrophe unter den Augen der Weltöffentlichkeit eingetreten ist, und zwar auch deshalb, weil die Vereinten Nationen nicht handlungsfähig waren.

   In der UN-Vollversammlung haben afrikanische Staaten Resolutionen verhindert, die massive Menschenrechtsverletzungen im Sudan und in Zimbabwe verurteilt hätten. Sie bezeichneten die vorgeschlagenen Resolutionstexte – wörtlich – als „konfrontativ“ und „in keiner Weise geeignet, die Staaten Afrikas zur Kooperation zu bewegen“. Solange afrikanische Regierungen die Kritik an massiven Menschenrechtsverletzungen und einer rassistischen Politik in anderen afrikanischen Ländern als Diskriminierung ihres Kontinents zurückweisen, wird sich die Misere Afrikas noch weiter verschärfen.

   Im UN-Sicherheitsrat haben die USA eine Resolution vorgelegt, die den Druck auf die sudanesische Regierung verstärkt und Sanktionen androht, falls sie ihr Verhalten in Darfur nicht ändert. Zweimal mussten die USA ihren Resolutionsentwurf umschreiben und am Ende die Sanktionsandrohungen fallen lassen, bevor sich China und Russland statt eines Vetos wenigstens zu einer Enthaltung durchringen konnten. China ist der größte Investor in der sudanesischen Ölindustrie; Russland und Weißrussland sind die größten Waffenlieferanten des Sudans. Die „taz“ berichtet über diesen diplomatischen Eiertanz, durch den die Menschen in Darfur im Stich gelassen wurden, zu Recht unter der Überschrift „Völkerrecht bricht Menschenrecht“.

   Wir fordern die Bundesregierung auf, in ihrer stillen Telefondiplomatie gegenüber dem russischen Präsidenten und der chinesischen Führung, aber auch bei den Verhandlungen über die Reform der Vereinten Nationen nicht nur die Erweiterung des Sicherheitsrats, sondern auch vor allem die Handlungsfähigkeit des Sicherheitsrats in fundamentalen Menschenrechtsfragen zur Sprache zu bringen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Die Afrikanische Union hat sich bei ihrer Gründung vor zweieinhalb Jahren vorgenommen, bei Völkermord und inneren Konflikten afrikanischer Staaten nicht wegzusehen, sondern einzugreifen. Wir begrüßen das Friedensengagement der Afrikanischen Union in Darfur als einen ersten ernsthaften Testfall. Wir müssen die Truppen stellenden Staaten in Afrika logistisch und finanziell unterstützen, weil ein Scheitern ihrer Mission die AU schwächen würde und weil wir afrikanische Krisen nur in sehr begrenztem Maße von außen beheben können.

   Der Generalsekretär des Rates und Hohe Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU, Solana, hat eine koordinierte Unterstützung der AU durch die Europäische Union gefordert. Deutsche Offiziere aus dem EU-Militärstab sind bereits nach Addis Abeba entsandt, um die Afrikanische Union zu beraten. Gestern hat die EU die Bosnienmission übernommen. Sie wird damit zu einem auch militärisch handlungsfähigen internationalen Akteur. Deshalb hätten wir es lieber gesehen, wenn sich die Bundesregierung für eine ESVP-Mission in Darfur eingesetzt und den Transport tansanischer Truppen im Rahmen eines europäischen Angebots zugesagt hätte.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vielleicht hätten sich dann auch die Irritationen zwischen dem sudanesischen Außenministerium und dem deutschen Botschafter in Khartum vermeiden lassen, deretwegen wir die Entscheidung des Bundestages auf heute verschieben mussten. Der sudanesische Staatsminister hat der Bundesregierung unterstellt, die Rebellenorganisation in Darfur zu unterstützen. Statt diese Kritik bilateral zurückzuweisen, hätte die Chance bestanden, im Rahmen einer europäischen Sudanpolitik zu handeln.

   Ich will in diesem Zusammenhang auch darauf hinweisen, dass die Bundesregierung im Auswärtigen Ausschuss erklärt hat, der Darfureinsatz der Bundeswehr werde aus Mitteln der EU-Friedensfazilität für Afrika finanziert. Der Antrag, der uns heute zur Abstimmung vorgelegt wird, sieht allerdings eine Finanzierung mit Mitteln aus dem Einzelplan 14 des Bundeshaushaltes vor.

   Trotz dieser kritischen Anmerkungen ist es richtig, deutsche Soldaten zum Transport von Truppen der Afrikanischen Union nach Darfur zu entsenden. Ohne eine Lösung des Darfurkonflikts ist keine dauerhafte Befriedung des gesamten Sudans möglich. Staatssekretär Kolbow hat zu Recht darauf hingewiesen. Ein Zerfall des flächenmäßig größten Staates in Afrika würde eine der weltweit schlimmsten humanitären Krisen weiter verschärfen und einen neuen Rückzugsraum für den internationalen Terrorismus schaffen. Deswegen liegt die Überwachungsmission der Afrikanischen Union im deutschen Interesse. Der Beitrag der Bundeswehr zum Lufttransport ist angemessen und wird von uns mitgetragen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Ulrich Heinrich, FDP-Fraktion.

Ulrich Heinrich (FDP):

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Als Entwicklungspolitiker begrüße ich den Antrag der Bundesregierung ausdrücklich. Nachdem die Fragen meines Kollegen Hoyer letzte Woche zufriedenstellend beantwortet wurden, wird die FDP-Fraktion diesem Antrag zustimmen.

Was sich derzeit in Darfur abspielt, ist mit das Schlimmste, was man sich vorstellen kann. Als ich im Sommer dieses Jahres die Darfurregion bereist habe, um mir einen Überblick über die Lage zu verschaffen, habe ich den Umständen entsprechend einigermaßen gesittete Verhältnisse vorgefunden. Aber nun müssen wir erleben, dass sich die Situation laufend verschlechtert. Die Regierung in Khartoum hat alle ihre Zusagen nicht eingehalten. Wir sind ständig vertröstet worden, während sich die Situation immer weiter verschlechtert. Die Bombardierungen gehen weiter. Lager werden zwangsgeräumt. Die mühsam errichtete Infrastruktur – Versorgung mit Wasser und Nahrungsmitteln; dafür hat CARE gesorgt – wurde mit dem Bulldozer radikal zerstört. Letztendlich wurden sämtliche Friedensversprechungen gebrochen, bevor die Tinte, mit der die Unterschriften geleistet worden waren, trocken war. Die Weltgemeinschaft kann hier nicht länger zusehen. Es wäre ein Skandal, wenn wir, die Bundesrepublik Deutschland, nicht alles unternähmen, um die Situation dort zu verbessern.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Ich möchte die Bundesregierung hier ausdrücklich dafür loben, dass sie im UNSicherheitsrat massiven Druck gemacht hat, um die Resolutionen überhaupt zustande zu bringen. Nach langem Hin und Her wurden letztendlich drei Resolutionen verabschiedet. Es kann nicht sein – diese Meinung vertrete ich seit langem –, dass die EU selbst dort Missionen durchführt; vielmehr müssen wir die AU unterstützen und sie in die Lage versetzen, die notwendigen Maßnahmen mithilfe der AMIS durchzuführen.

   Afrika muss lernen, seine Probleme mit eigener Kraft zu lösen. Darfur wird die Nagelprobe sein. Wir werden sehen, wie sich die afrikanischen Staaten in dieser Mission verhalten und welchen Beitrag sie leisten.

   Afrika braucht unsere Unterstützung. Wir wollen mit dem heutigen Beschluss das klare Signal geben, dass wir, die Bundesrepublik Deutschland, im Rahmen der europäischen Sicherheitspolitik unseren Beitrag leisten wollen. Aber es ist äußerst wichtig, dass neben dieser Überwachungsmission bewaffnete Schutztruppen zur Sicherheit von humanitären Hilfeleistungen und zum Schutz der Zivilbevölkerung vor Ort präsent sind.

   Das Mandat gibt das zwar her; aber es kann bezweifelt werden, ob die geplanten zusätzlichen 2 300 Militärs ausreichen werden. Wer die Größe dieses Gebietes kennt – die Region Darfur ist etwa so groß wie Frankreich –, der kann sich vorstellen, welche unglaublichen Leistungen dort vollbracht werden müssen. Wenn die Gewalt in diesem Land gestoppt werden soll, dann wird die AU die militärischen Kräfte sicherlich aufstocken müssen.

   Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Blick in die Zukunft werfen.

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Heinrich, kommen Sie bitte zum Ende. Sie haben Ihre Redezeit schon weit überschritten.

Ulrich Heinrich (FDP):

Um Darfur dauerhaft befrieden zu können, wird die Marginalisierung dieser Region aufgehoben werden müssen. Im Entwurf des Nord-Süd-Vertrages ist die Beteiligung der Südregion festgelegt. Nötig ist eine entsprechende Behandlung der Region Darfur. Anderenfalls wird es dort wohl nie zur Ruhe kommen. Ich hoffe, dass die Regierung in Khartoum einsichtig ist und das Signal, das von der AU, aber auch von der Weltgemeinschaft ausgeht, versteht.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Staatsministerin Kerstin Müller.

Kerstin Müller, Staatsministerin im Auswärtigen Amt:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben heute über das Mandat zur Entsendung von Transportkapazitäten der Bundeswehr für die AU-Mission in Darfur zu entscheiden. Wie schon gesagt wurde, ist die Lage in Darfur leider auch nach den vielen Anstrengungen, die die internationale Gemeinschaft dort unternommen hat, sehr dramatisch. Mehr als 1,6 Millionen Menschen sind in Darfur auf der Flucht, über 200 000 haben sich in den Tschad geflüchtet. Seit März dieses Jahres sind bis zu 70 000 Menschen ums Leben gekommen. Die Kämpfe gehen weiter, und zwar trotz der Vereinbarungen der Konfliktparteien in Abuja. Beide Seiten – ich sage das sehr deutlich –, die Rebellenorganisationen und die sudanesische Regierung, brechen immer noch den vereinbarten Waffenstillstand. Es sind wieder einmal die Menschen, es ist die Zivilbevölkerung, die massiver Gewalt ausgesetzt sind und zwischen die Fronten dieses Konflikts geraten.

   Selbst Hilfsorganisationen, auch deutsche, sind in den vergangenen Wochen angegriffen worden. Ich möchte an dieser Stelle einmal allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Hilfsorganisationen, die trotz der sich verschlechternden Sicherheitslage in Darfur unter Einsatz ihres Lebens für eine Linderung der Not der Flüchtlinge und Zivilisten arbeiten, im Namen des ganzen Hauses danken.

(Beifall im ganzen Hause)

   Die Bundesregierung hat seit Beginn der Krise alles versucht, im Rahmen der EU und der Vereinten Nationen, um die Gewalt in Darfur zu beenden. Auch aufgrund der dramatischen Lage habe ich mich entschlossen, an der Sitzung des Sicherheitsrats in Nairobi, die vor zwei Wochen stattgefunden hat, teilzunehmen. Ich habe vor dem Sicherheitsrat sehr deutlich gemacht, dass die internationale Gemeinschaft bei fortgesetzten Menschenrechtsverletzungen in Darfur nicht untätig bleiben darf. Meine Damen und Herren, wir dürfen mit dem internationalen Druck nicht nachlassen; wir müssen alles dafür tun, dass es zu einem Ende der Gewalt in der Region kommt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Ulrich Heinrich (FDP))

   Die sudanesische Regierung und die Rebellenorganisationen müssen endlich die Gewalt beenden. Die sudanesische Regierung hat die Verantwortung, die Zivilbevölkerung zu schützen. Sie muss die Gewalt beenden und die Janjaweed-Milizen entwaffnen. Auch die Rebellenorganisationen müssen ihre Angriffe auf Zivilisten und auf humanitäre Organisationen sofort einstellen. Ich appelliere noch einmal an beide Seiten, ähnlich wie im Nord-Süd-Konflikt endlich nach einer politischen Lösung zu suchen und die Verhandlungen in Abuja fortzusetzen. Auf dem Weg des Krieges, mit dem Mittel der Gewalt wird es nicht zu einer Lösung des Konflikts kommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Vor dem Hintergrund der sich verschlechternden Situation in Darfur kommt den Bemühungen der Afrikanischen Union eine ganz besondere Bedeutung zu. In seinen Resolutionen hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Überwachungsmission der Afrikanischen Union ausdrücklich mandatiert. Um es noch einmal glasklar zu sagen: Dieser Mission hat auch die sudanesische Regierung zugestimmt. Noch am Dienstag hat der sudanesische Außenminister die zu langsam erfolgende Aufstockung der Mission beklagt. Herr Schockenhoff, von Irritationen kann also keine Rede sein, abgesehen davon, dass der sudanesischen Regierung die klare Haltung der Bundesregierung angesichts der massiven Menschenrechtsverletzungen in Sudan nicht besonders gut gefällt.

   Auch Kofi Annan hat in Nairobi noch einmal ausdrücklich an die internationale Gemeinschaft appelliert, die AU bei ihrer Mission zu unterstützen. Der Präsident der AU-Kommission Konaré hat mir gegenüber gesagt, er sehe das Engagement der AU in Darfur gar als eine ganz zentrale Bewährungsprobe für die Afrikanische Union an.

   Deshalb ist klar: Es gilt für diese Mission „African ownership“, das heißt, die Afrikanische Union wird diese Mission in Eigenverantwortung durchführen. Je mehr der Wille zu einer politischen Lösung aus der Region selbst kommt, desto erfolgversprechender ist, glaube ich, eine solche Mission.

   Allerdings ist für mich auch klar: Wir müssen alles dafür tun, dass diese Bewährungsprobe erfolgreich verläuft. Die Aufstockung der AU-Mission ist angelaufen. Sie verfügt derzeit über circa 800 Mann. In den kommenden Wochen und Monaten soll die Mission auf bis zu 3 320 Mann aufgestockt werden. Die Monitore der AMIS-II-Mission sollen künftig nicht mehr nur den Waffenstillstand überwachen; sie sollen auch Zivilisten schützen, die unmittelbar bedroht sind.

   Allerdings steht die Afrikanische Union vor enormen organisatorischen und logistischen Herausforderungen, die sie aus eigener Kraft nicht meistern kann. Deshalb braucht sie unsere Unterstützung. Neben der Finanzierung der Mission durch die EU-Friedensfazilität in Höhe von 92 Millionen Euro hat die AU die internationale Gemeinschaft um logistische Unterstützung gebeten.

   Die Bereitstellung von Transportkapazitäten der Bundeswehr wäre, glaube ich, ein besonders sichtbarer Beitrag unserer Unterstützung für das Gelingen der Mission.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben hier alle gemeinsam im Mai dieses Jahres einen Antrag zur Lösung der Darfurkrise verabschiedet. In diesem Antrag wird die Bundesregierung zur Unterstützung der Friedensbemühungen der AU aufgefordert. Genau das wollen wir jetzt tun. Ich würde mich daher sehr freuen, wenn unser Antrag auf Bereitstellung von Transportkapazitäten die breite Unterstützung dieses Hauses finden würde und wir damit einen kleinen, aber notwendigen Beitrag zum Gelingen der AU-Mission in Darfur leisten würden.

   Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegin Gesine Lötzsch.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Sie stellt jetzt eine Tupolew zur Verfügung! Jetzt kommt die Botschaft direkt aus dem Kreml!)

Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Morden, das Vertreiben und das Vergewaltigen von Tausenden unschuldiger Menschen im Sudan ist unerträglich und muss nach 21 Jahren Bürgerkrieg endlich beendet werden. Was bietet uns die Bundesregierung aber als Lösung für diesen schrecklichen Konflikt an? Ich will nur einige Widersprüche benennen, die nicht geklärt sind, die aber geklärt sein müssen, bevor der Bundestag mit gutem Gewissen einem Mandat zustimmen kann.

   In der Beschlussempfehlung steht:

Die Bundesregierung sieht im Friedensengagement der AU einen Ansatzpunkt für eine künftige Zusammenarbeit bei Konfliktlösungen in Afrika.

Das hört sich nach wirklich gleichberechtigter und vertrauensvoller Kooperation an. Die Afrikanische Union hat jedoch vor einer Woche die Resolutionsentwürfe der EU, der USA und anderer westlicher Industrieländer zur Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen im Sudan zurückgewiesen. Gemäß der Interpretation von Südafrika zeigt die Initiative, dass die EU und die anderen Industrieländer

… weiter nur in Entwicklungsländern – statt in den Gefängnissen des Iraks – nach Menschenrechtsverletzungen suchen.

Das hört sich wiederum nicht nach enger und vertrauensvoller Zusammenarbeit zwischen der Afrikanischen Union und Europa an.

   Sehr skeptisch bin ich auch, ob eine multinationale afrikanische Einsatzgruppe von kaum mehr als 5 000 Mann in einem Gebiet von der Größe Darfurs dafür garantieren kann, dass über eine Million Menschen in ihre Siedlungen zurückkehren können. Da ist wohl auch Frau Staatsministerin Müller skeptisch; so sagte sie gegenüber der „Zeit“:

Wir können nicht jetzt schon sagen, die Afrikaner sind gescheitert, wo sie noch gar nicht richtig angefangen haben.

Die Regierung fordert uns also auf, ein Bundeswehrmandat für eine Initiative zu geben, deren Sinn sogar die zuständige Staatsministerin mehr als bezweifelt.

   Meine Damen und Herren, ich könnte noch eine Vielzahl von Widersprüchen benennen, die deutlich machen, dass es wirklich hochgradig leichtfertig und verantwortungslos wäre, dieses Mandat zu erteilen.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos) – Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU): Zynisch!)

   Es gibt aber aus der Sicht der PDS einen weiteren gewichtigen Grund, das Mandat abzulehnen: Das sind die Daten des Rüstungsexportberichts. Dem Bericht zufolge wurden im Jahr 2003 Ausfuhrgenehmigungen für deutsche Rüstungsgüter im Wert von fast 5 Milliarden Euro erteilt. Jeder friedliebende Mensch fragt sich doch in Anbetracht dieser Zahl, ob das Friedensengagement der Bundesregierung auch wirklich ehrlich gemeint ist. Ich habe nach dem Lesen des Rüstungsexportberichts ernsthafte Zweifel und frage mich bei jedem Auslandseinsatz, ob es sich hier um eine Friedensmission oder um eine robuste Form der Markterschließung für weitere Rüstungsexporte handelt.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos) – Ulrich Heinrich (FDP): Unglaublich, was Sie da bieten!)

   Die PDS lehnt das Bundeswehrmandat aus den genannten Gründen ab.

   Vielen Dank.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident! Die internationale Gemeinschaft darf keine doppelten Standards benutzen. Wir dürfen nicht zusehen, wie ethnische Vertreibung stattfindet. Diese darf es nirgendwo, auch nicht in Afrika, geben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Ihnen, Frau Lötzsch, und anderen, die Zweifel haben, sage ich: Wir beteiligen uns an diesem Einsatz in Darfur, weil anders Menschenleben nicht geschützt und gerettet werden können und weil wir nicht zusehen und zulassen dürfen, dass vor unseren Augen das stattfindet, was die renommierte International Crisis Group einen Völkermord in Zeitlupe nennt. Deshalb ist es wichtig, dass wir den Mördern das Handwerk legen und dass wir alle dazu beitragen, dass Hilfe zur Verfügung gestellt wird.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

   Es ist gesagt worden, warum sich die Situation so dramatisch gestaltet. 1,8 Millionen Menschen sind auf der Flucht vor den Milizen und dem Militär der eigenen Regierung. – Wenn ich darf, würde ich auch die Kollegen da hinten, die sich offenbar über andere Fragen unterhalten, bitten, zuzuhören. Das Thema ist, glaube ich, so wichtig, dass wir uns alle damit beschäftigen sollten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder (CDU/CSU): Das geht zu weit! Die Bundesregierung hat nicht das Parlament zu kritisieren!)

– Ich bin ja auch Abgeordnete.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Sie treten aber als Bundesregierung hier auf!)

– Es war auch keine Kritik. Ich glaube, jeder hat verstanden, was ich gesagt habe; das war völlig in Ordnung.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, mittlerweile ist die Vergewaltigung von Mädchen und Frauen ein systematisches Mittel der perversen Kriegsführung geworden. An eine sichere Rückkehr der Flüchtlinge ist ohne militärischen Schutz nicht zu denken. Ihre Dörfer sind zerstört und die Gefahr, wieder in die Hände der Milizen zu fallen, ist groß. Die Regierung in Khartoum hat – es ist gesagt worden – bisher kaum oder gar keine wirksamen Maßnahmen unternommen, um diesem Vorgehen Einhalt zu gebieten.

   Die humanitäre Nothilfe hat zwar bisher dafür gesorgt, dass nicht noch mehr Menschen sterben. Die Nothilfe war nur möglich, weil es im Frühjahr dieses Jahres einen Aufschrei der internationalen Gemeinschaft gegeben hat. Es ist gut, dass der Deutsche Bundestag im Mai mit den Stimmen aller Parteien ein klares Signal ausgesendet hat. Deshalb war es möglich, mehr Menschenleben zu retten. Ich freue mich, dass wir für die Menschen immerhin über 33 Millionen Euro für humanitäre Leistungen zur Verfügung stellen konnten.

   Ich bin erleichtert, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die Afrikanische Union jetzt ihre eigene Verantwortung erkannt hat und wahrnehmen will. Ich darf hinzufügen: Es wurde auch Zeit. Die Afrikanische Union hat zugesagt, Truppen in die Region zu senden, um einen Waffenstillstand zu überwachen. Es fehlt ihr aber an Logistik. An Finanzmitteln hat die Europäische Union 92 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Für den Truppentransport haben andere europäische Länder Transportkapazitäten zur Verfügung gestellt. Auch hier muss Deutschland seine Verantwortung wahrnehmen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Afrika ist unser Nachbarkontinent. Wir sind in Afrika ein hoch anerkannter Partner. Die Probleme, die in Afrika nicht gelöst werden können, fallen auch auf uns zurück.

   Deshalb bitte ich Sie sehr herzlich, heute eine Entscheidung – ich habe den Eindruck, dass sie von allen Fraktionen getragen wird – für Humanität, für Nachbarschaftlichkeit und auch für wohlverstandenes Eigeninteresse zu treffen. Ich bitte Sie um ein überzeugendes Votum.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Zum Schluss noch ein Wort zu einem Thema, das sehr eng damit verbunden ist. Um dauerhaft Frieden im Sudan garantieren zu können, muss die Regierung in Khartoum deutlichere Signale erhalten, dass die internationale Gemeinschaft keine Ausweichmanöver mehr dulden wird. Auch auf die Rebellen muss Druck ausgeübt werden, damit sie sich zu einem Schweigen der Waffen bekennen und dieses auch einhalten. Solch ein deutliches Signal an alle Seiten wäre ein umfassendes UN-Waffenembargo. Wir dürfen nicht zulassen, dass sich, nachdem es ein Waffenembargo der Europäischen Union gibt,

(Markus Löning (FDP): In China gibt es doch eines! Was ist denn mit dem?)

nicht auch die Vereinten Nationen, die sich in dieser Frage bislang nicht geäußert und entschieden haben, in diesem Sinne verhalten. Die Staaten, die sich bisher aus durchsichtigen Gründen gegen eine schärfere UN-Resolution gestellt haben, müssen ihre Haltung ändern. Die Waffenexporte in den Sudan nehmen pro Jahr um fast 40 Prozent zu. Das ist ein Skandal. Öl- und Waffengeschäfte über Leichen hinweg darf die Weltgemeinschaft nicht hinnehmen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   In der Haushaltsdebatte zum Etat des Bundesentwicklungsministeriums hat mich der Kollege Ruck gefragt, wie es beim Sudan mit der Entwicklungszusammenarbeit aussieht. Ich sage an dieser Stelle: Solange Sprengbomben auf Hütten geworfen werden und solange Milizen im Verbund mit regulärem Militär Strohdächer anzünden, Frauen vergewaltigen, Männer töten, Menschen zu Sklaven machen und Brunnen vergiften, so lange gibt es keine Entwicklungszusammenarbeit und keine Entschuldung. Mit mir nicht! Ich hoffe, dass alle in diesem Hause diese sehr klare Aussage unterstützen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Mordenden Milizen und Militärs muss ihr finsteres Handwerk gelegt werden. Heute müssen wir ein Zeichen setzen, damit das Vertrauen der Menschen in Darfur in die Solidarität der internationalen Gemeinschaft nicht enttäuscht wird. Für Darfur gilt – Frau Lötzsch, es wäre gut, wenn auch Sie das gelernt hätten –: Ohne Friedenstruppen wird es dort keinen Frieden geben.

   Ich danke Ihnen sehr herzlich.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Egon Jüttner, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU):

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Konflikt im Sudan ist mittlerweile zur größten humanitären Katastrophe auf dem afrikanischen Kontinent geworden. Trotz zahlreicher Versprechungen der sudanesischen Regierung hat sich die Menschenrechtssituation im Westsudan, in der Provinz Dafur, nicht verbessert, sondern dramatisch verschlechtert.

   Sudanesisches Militär geht brutal gegen Flüchtlinge vor. Unter Einsatz von Tränengas und Schusswaffen wurden erst kürzlich 20 000 Flüchtlinge in Darfur umgesiedelt. Humanitäre Nothilfe wird durch arabische Milizen massiv behindert. Zwischen regierungsnahen Milizen und Rebellen brachen erneut heftige Kämpfe aus. Vor einer Woche hat das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen aufgrund der Kämpfe seine Hilfe im nördlichen Darfur vorübergehend ausgesetzt. 300 000 Vertriebene sind jetzt ohne Nahrungsmittelhilfe.

   Humanitäre Organisationen und UNO-Delegierte haben bereits vor mehr als einem Jahr vor einem Genozid in Darfur gewarnt. Dennoch kam es weder zu einem internationalen Waffen- oder Ölembargo noch zu anderen wirksamen Sanktionen gegen den Sudan. China, der größte Investor in Sudans Ölindustrie, hat aus rein wirtschaftlichen Interessen ein entschlossenes Handeln der Vereinten Nationen blockiert. Diese Blockadehaltung sollte China ebenso wie der Waffenlieferant Russland endlich aufgeben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

   Auch unseren afrikanischen Freunden müssen wir klar sagen: Dass sie eine deutliche UN-Resolution zu den Menschenrechtsverletzungen in Darfur verhindert haben, ist das falsche Signal an ein menschenverachtendes Regime.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Für die Sicherheitslage in Darfur ist die Beobachtermission der Afrikanischen Union von zentraler Bedeutung. Deshalb begrüßen wir es, dass die Afrikanische Union die Anzahl ihrer Soldaten deutlich aufstocken will. Denn bei dieser Mission geht es nicht nur um die Überwachung des Waffenstillstandes, sondern auch um den Schutz der Zivilbevölkerung vor Bedrohung. Deshalb muss dieser Beschluss so schnell wie möglich umgesetzt werden. Bei der Umsetzung wird die Bundeswehr mit der Durchführung von Truppentransporten einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der humanitären Situation leisten. Allerdings sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass mit diesem Einsatz die Bundeswehr die Grenze dessen erreicht, was sie in Afrika leisten kann.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Überwachungsmission in Darfur wird zur ersten großen Bewährungsprobe für die Afrikanische Union. Ohne internationale Unterstützung bei der Logistik und Finanzierung kann sie diese Bewährungsprobe jedoch nicht bestehen. Wenn die Afrikanische Union, was wir alle wollen, künftig mehr Verantwortung übernehmen soll, dann muss sie auch handlungsfähig sein. Ihre Handlungsfähigkeit kann sie jetzt durch einen Erfolg in Darfur unter Beweis stellen; denn es ist höchste Zeit, dass die Afrikaner ihre Probleme endlich selbst lösen.

   Eine erfolgreiche Überwachungsmission kann zunächst die Versorgung der Menschen in Form von Nothilfe gewährleisten. Mittelfristig sollte es aber nicht nur um die Schaffung humanitärer Korridore gehen. Erforderlich sind ebenso entwicklungspolitische Maßnahmen auch friedensbildender Art. Sie müssen in die Nothilfe integriert werden und zum Aufbau des Landes beitragen.

   Angesichts der uns mit großer Sorge erfüllenden Menschenrechts- und Sicherheitslage in Darfur appelliere ich an die sudanesische Regierung, die arabischen Milizen zu entwaffnen, die Zivilbevölkerung vor weiteren Menschenrechtsverletzungen zu schützen, den internationalen Hilfsorganisationen uneingeschränkten Zugang nach Darfur zu gewähren und den herrschenden Zustand der Straflosigkeit zu beenden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD))

   Die Menschen in Darfur brauchen dringend Frieden. Deshalb stimmen wir dem Antrag der Bundesregierung auf Unterstützung der Überwachungsmission zu.

   Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich schließe die Aussprache.

   Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 15/4257 zu dem Antrag der Bundesregierung zum Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Unterstützung der Überwachungsmission AMIS der Afrikanischen Union. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/4227 anzunehmen. Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Zu dieser namentlichen Abstimmung liegen mir zwei Erklärungen vor, und zwar von den Kollegen Wolfgang Börnsen (Bönstrup) und Jürgen Koppelin.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte, bei der Stimmabgabe sorgfältig darauf zu achten, dass die Stimmkarten, die Sie verwenden, Ihren Namen tragen.

   Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle Plätze eingenommen? – Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.

   Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat?  Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie herzlich, Platz zu nehmen, damit wir die Beratungen fortsetzen können und wir allen Rednern Gelegenheit geben zu sprechen.

   Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer, Harald Leibrecht, Rainer Funke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Zukunft für Tschetschenien

– Drucksache 15/3955 –

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion der FDP neun Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Werner Hoyer das Wort.

Dr. Werner Hoyer (FDP):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Debatte geht es nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie um Tschetschenien. Es geht um Widersprüche, schwere Fehler und beachtliche Risiken der deutschen Russlandpolitik – Widersprüche, Fehler und Risiken, die das deutsche und das europäische Interesse an wirklich konstruktiven Beziehungen zu Russland aufs Spiel setzen.

   Wir legen Ihnen heute einen Antrag vor, für den wir nicht die ursprüngliche Autorenschaft beanspruchen. Dieser Antrag wurde vom Kieler Parteitag von Bündnis 90/Die Grünen wortgleich so beschlossen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!)

In dem Antrag werden Menschenrechtsverletzungen durch russische Streit- und Sicherheitskräfte in Tschetschenien offen angesprochen und massiv kritisiert. Das vernichtende, aber zutreffende Urteil lautet, die russische Politik sei „nicht geeignet und in der Lage, den Kaukasus zu befrieden“. Der Kreml wird aufgefordert, endlich eine politische Lösung für den Konflikt anzustreben.

   Der Antrag geht aber ausdrücklich über die reine Tschetschenienpolitik hinaus und ordnet das Thema in den Gesamtzusammenhang ein. Er kritisiert Präsident Putin auch ausdrücklich für seine Maßnahmen zur „Formierung des russischen Zentralstaats“ und zur „Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit sowie der demokratischen Strukturen“. All das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist wichtig und richtig und verdient Beachtung in der deutschen Russlandpolitik. Allerdings findet sich unglücklicherweise nichts davon in der Politik der Bundesregierung wieder.

(Beifall bei der FDP)

Diese Politik wird nun einmal von einem grünen Außenminister verantwortet.

   Es kann doch nicht sein, dass Außenminister Fischer auf dem eigenen Parteitag weiße Salbe auf die grüne Seele schmiert und dann als Regierungsmitglied die Kritik und die Forderungen ignoriert, die er selbst beim Parteitag mit aufstellt. Herr Fischer macht in der Russlandpolitik nahezu schweigend genau das mit, was seine Partei zu Recht kritisiert. Der „Spiegel“ hat das zutreffend als „grüne Selbstverleugnung“ bezeichnet.

(Beifall bei der FDP – Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist Unsinn und falsch!)

   Uns geht es bei dieser Debatte aber vor allem darum, eine neue, eine besonnene und konsistente Russlandpolitik der Bundesregierung einzufordern. Gute Beziehungen und eine möglichst enge Zusammenarbeit mit Russland sind und bleiben für die Europäische Union, aber ganz besonders für uns Deutsche ein herausragend wichtiges Ziel. Damit aus dieser Zusammenarbeit aber eine wirkliche Partnerschaft werden kann, muss Russland auf dem Weg zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft, also auf dem in den 90er-Jahren eingeschlagenen Reformkurs weiter voranschreiten, genauer gesagt, muss es dorthin zurückkehren, denn die gegenwärtige Entwicklung gibt Anlass zu größter Sorge.

   Präsident Putin hat mit seiner gelenkten Demokratie eine neue Regierungsform etabliert und ein Paradoxon zur Leitlinie gemacht: Lenkung und Demokratie. Mit diesem Zusammenhang habe ich allerdings einige Schwierigkeiten. Putins Politik ist nicht auf Reformen, Demokratisierung und Rechtstaatlichkeit ausgerichtet, sondern auf Stabilität, Machterhalt und die Bewahrung und Wiederherstellung russischer Größe. Es gibt in Russland kaum noch unabhängige elektronische Medien. Die Justiz ist nicht mehr unabhängig und es gibt keine – zumindest keine effektive – zivile Kontrolle über die Sicherheitsorgane.

   Darüber sind sich übrigens alle einig: die Russlandexperten in Deutschland, in Europa und in den Vereinigten Staaten. Nur die deutsche Russlandpolitik sieht das offensichtlich anders. Bundeskanzler Schröder hat den russischen Präsidenten im deutschen Fernsehen vor zehn Tagen als „lupenreinen Demokraten“ öffentlich geadelt. Er sprach von seinem Grundvertrauen darauf, dass Putin Russland zu einer ordentlichen Demokratie machen wolle. Was Putin anstrebt, ist allerdings keine ordentliche, sondern eine geordnete, eben eine gelenkte Demokratie. Damit bremst und behindert er die Demokratisierung, statt sie zu befördern.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Bei seinem Treffen mit Präsident Putin in Sotschi im Sommer dieses Jahres ging der Bundeskanzler noch weiter. Er testierte keine empfindliche Störung der Wahlen in Tschetschenien und stellte dem Präsidenten für dessen Tschetschenienpolitik damit sogar eine Art demokratisches Gütesiegel aus. Die OSZE-Wahlbeobachtermission hat das ebenso wie die Sprecherin der EU-Kommission völlig anders gesehen und von weder freien noch fairen Wahlen gesprochen. In dem heute vorliegenden Antrag, zu dem auch Sie sich hier bekennen sollten, werden die Wahlen als das bezeichnet, was sie wirklich waren: eine Farce.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU))

   Der Bundeskanzler bestätigt seinem Freund Wladimir Putin auch im Hinblick auf den Jukos/Chodorkowski-Prozess ausdrücklich, mit rechtsstaatlichen Mitteln vorzugehen. Das wiederum sieht der Koordinator für die deutsch-russischen Beziehungen, der wirkliche Russlandkenner Erler, ganz anders. Er spricht von Zweifeln an der russischen Rechtspraxis und Zweifeln an der Souveränität von Präsident Putin im Umgang mit potenziellen Rivalen und Konkurrenten. Das sieht auch meine Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger als Berichterstatterin der Parlamentarischen Versammlung des Europarates so.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des angesprochenen Kollegen Erler?

Dr. Werner Hoyer (FDP):

Selbstverständlich.

Gernot Erler (SPD):

Herr Kollege Hoyer, ich schätze Sie als einen sehr seriösen Kollegen in diesem Hause. Deswegen bin ich über Ihre Rede etwas verwundert und möchte Ihnen folgende Frage stellen: Würden Sie mir zustimmen, dass es auch parlamentarische Möglichkeiten gibt, das Thema Tschetschenien selbst in die Hand zu nehmen und zu behandeln, wie das in meiner Fraktion zum Beispiel der Kollege Bindig durch seinen langjährigen Einsatz im Rahmen seiner Tätigkeit im Europarat macht und wie auch ich das mit demonstrativen Akten, Kontakten und Gesprächen mit russischen Menschenrechtsorganisationen mache?

   Finden Sie es nicht ein bisschen dürftig, hier einen Antrag zu vertreten, der – so würde man das im bürgerlichen Leben sagen – ein Plagiat eines Beschlusses der Grünen ist, und so zu tun, als hätten Sie als Parlamentarier keine einzige Möglichkeit, selbst tätig zu werden? Ich habe zu diesem Thema noch nie einen Kollegen aus Ihrer Fraktion in irgendeiner Weise tätig werden sehen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dr. Werner Hoyer (FDP):

Ihre letzte Bemerkung erschwert mir meine Antwort; an sich schien sie leicht zu sein. Denn ich finde es nicht fair, dass Sie über die Bemühungen unserer Kolleginnen und Kollegen im Menschenrechtsausschuss, in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates und im Auswärtigen Ausschuss einfach hinweggehen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ansonsten, Herr Kollege Erler, ist das schon ein Problem. Im Laufe meiner bisherigen parlamentarischen Tätigkeit habe ich noch nie zu dem Instrument gegriffen, einen Antrag einer anderen Partei zu übernehmen und einzubringen. Ich hatte allerdings die große Sorge, dass dieser Antrag, den ich für sehr gut halte, von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nicht in den Deutschen Bundestag eingebracht wird, weil dann der Widerspruch zur Russlandpolitik der Bundesregierung deutlich werden würde.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Deswegen mögen Sie mir dieses Stilmittel verzeihen.

   Ich denke, das Wichtigste ist, dass der Deutsche Bundestag, der in der Russlandpolitik nach meiner Auffassung weiter ist als die Bundesregierung – das zeigen auch viele Initiativen von Kolleginnen und Kollegen –, in dieser Frage eine Position vertreten kann, durch die die Bundesregierung zum Jagen gebracht wird. Herr Kollege, wir haben doch am Beispiel der Chinapolitik und des Waffenembargos gesehen, wie der Deutsche Bundestag durch seine Positionierung auch in der Bundesregierung Bewegung ausgelöst hat.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Wir sind weiter als der Kanzler!)

Genauso sollten wir das auch bei der Russland- und der Tschetschenienpolitik machen; denn über die Ziele können wir uns sehr schnell verständigen.

Wir geben Ihnen mit diesem Antrag die Gelegenheit, sich zu dem zu bekennen, was Bündnis 90/Die Grünen – wie ich finde, sehr wortgewaltig und gut durchformuliert – auf ihrem Parteitag beschlossen haben.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler ist mit Präsident Putin befreundet. Ich kritisiere das überhaupt nicht, im Gegenteil: Gerade das deutsch-russische Verhältnis braucht auch eine persönliche, eine emotionale Dimension. Russland hat gegenüber dem Westen seit jeher ambivalente Empfindungen: Oft hat es sich abgelehnt gefühlt, nicht hinreichend wahrgenommen in der Größe und Bedeutung seiner Kultur, in seinem menschlichen Reichtum, ja in seiner Würde. Da ist russisch-deutsche Freundschaft ein gutes Gegenmittel. Wie oft ist Bundeskanzler Helmut Kohl von denen, die uns heute regieren, dafür kritisiert worden, dass er eine Freundschaft zu Präsident Jelzin gepflegt hat! Das ist als „Saunabekanntschaft“ abqualifiziert worden. Ich frage mich bisweilen, ob das größte Wunder in den russisch-deutschen Beziehungen des letzten Jahrzehnts, der friedliche, völlig problemlose und würdige Abzug der russischen Streitkräfte aus Ostdeutschland, ohne diese Freundschaft möglich gewesen wäre.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Ob der jetzige Bundeskanzler mit Präsident Putin im Hinblick auf die Ukraine seine Freundschaft erstmals  tatsächlich einbringen kann, ist noch abzuwarten. Ich muss es nach den Ergebnissen der gestrigen Gespräche von Präsident Kutschma in Moskau leider eher bezweifeln. Jedenfalls darf diese Freundschaft nicht den Blick auf die Realität in Russland und auf die Politik des Kremls verklären, sie darf nicht zur alleinigen Leitlinie der deutschen Russlandpolitik werden. Eine solche Freundschaft muss belastbar sein.

(Beifall bei der FDP)

   Gute freundschaftliche Beziehungen und eine enge Zusammenarbeit mit Russland sind wichtig; darüber sind wir uns einig. Die lange Geschichte der Beziehungen ist immer durch Schwanken zwischen Extremen geprägt gewesen. Dieses Schwanken zwischen Extremen gilt es jetzt durch eine wirkliche Partnerschaft abzulösen. Eine wirkliche Partnerschaft kann es nur mit einem Russland geben, mit dem eine Wertepartnerschaft besteht, die auch gelebt wird. Wir können und sollten alles daransetzen, dass es zu einer solchen echten Partnerschaft kommt. Dafür müssen wir die Reformen und die Reformer in Russland unterstützen. Wir dürfen Russland nicht auf den Dreiklang Stabilität, Kampf gegen den internationalen Terrorismus und Energielieferant bzw. kurzfristiger Absatzmarkt reduzieren. Langfristig kann Russland für uns und für alle Europäer sehr viel mehr sein. Um darauf hinzuwirken, müssen wir die russische Zivilgesellschaft, die unter Präsident Putin so sehr unter Beschuss gekommen ist, stärken.

(Beifall bei der FDP)

Der Petersberger Dialog, den die Bundesregierung dazu dankenswerterweise etabliert hat, wird leider immer mehr zu einem Feigenblatt des Kremls für eine Pseudozivilgesellschaft. Es gibt in Russland unzählige wirklich kremlunabhängige NGOs, die von Putin nicht zugelassen werden. Auch mit diesen gilt es zu kooperieren, es gilt, sie gerade wegen des immer schärferen Windes aus dem Kreml zu unterstützen. Wer Putins gelenkte Demokratie auch gegenüber den überaus mutigen kritischen Stimmen aus Russland öffentlich verteidigt, der zieht den Ansätzen für eine unabhängige kritische Zivilgesellschaft in Russland den Boden unter den Füßen weg.

(Beifall bei der FDP)

   Russisches Roulette und grüne Schizophrenie können wir uns in der Russlandpolitik wirklich nicht leisten. Das haben die russischen Reformer, diese überaus mutigen Menschen, nicht verdient, die gegenwärtig mit angehaltenem Atem, mit Hoffnung und Ängsten auf die Entwicklung in Kiew, auf den Katalysator, der sich dort möglicherweise für die weitere Entwicklung ergibt, schauen. Dafür sind die Chancen, die sich für Russland, für Deutschland und für Europa aus einer wirklich positiven Entwicklung einer echten Partnerschaft ergeben könnten, zu groß. Wir dürfen diese Chancen nicht verpassen. Umgekehrt mag ich an die Risiken, die mit einer dauerhaften Autokratisierung Russlands einhergehen, gar nicht denken. Denn dauerhafte Stabilität lässt sich auf dem Wege, der am Beispiel Tschetscheniens zu beobachten ist, für das russische Riesenreich leider nicht erreichen; die dramatischen Entwicklungen in Tschetschenien haben uns nachhaltig darauf aufmerksam gemacht.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich komme zurück zu unserer namentlichen Abstimmung über den Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Unterstützung der Überwachungsmission AMIS der Afrikanischen Union und gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekannt: Abgegebene Stimmen 553. Mit Ja haben gestimmt 540, mit Nein haben gestimmt zehn, Enthaltungen drei. Der Antrag der Bundesregierung ist damit angenommen.

   Nun erteile ich dem Kollegen Rudolf Bindig, SPD-Fraktion, das Wort.

Rudolf Bindig (SPD):

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Vorgang um den Antrag, den wir hier diskutieren und der den Titel „Zukunft für Tschetschenien“ trägt, ist schon bemerkenswert. Die FDP reicht dem Deutschen Bundestag einen Text ein, der wortgleich einer Entschließung des letzten Parteitages von Bündnis 90/Die Grünen entspricht.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Als Antragsteller sind die Namen vieler Mitglieder der FDP-Fraktion aufgeführt.

   Dass sich die FDP in einer so wichtigen Frage den Feststellungen und Wertungen der Grünen voll anschließt, erstaunt etwas, ist letztlich aber ihre Sache.

(Dirk Niebel (FDP): Wir wollen mal sehen, wie die Grünen das sehen!)

Politisch hat das Vorgehen der FDP für mich allerdings einen mehr als faden Beigeschmack.

(Zurufe von der FDP: Oh!)

Absicht der FDP ist es nämlich offensichtlich nicht, sich ernsthaft mit den Problemen und Nöten der Menschen in und um Tschetschenien auseinander zu setzen,

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der FDP)

vielmehr soll der Tschetschenienkonflikt für ein taktisches innenpolitisches Manöver missbraucht werden. Mich erschreckt dieses Manöver.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich habe immer gedacht, dass wir auf dem Gebiet der Menschenrechte über alle Fraktionen hinweg daran arbeiten, uns für die Menschen in Not und für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen einzusetzen.

(Markus Löning (FDP): Da sitzt der Bundeskanzler! Er hat auch eine eigene Meinung!)

Ich habe immer geglaubt, dass dies unser gemeinsames Anliegen und unsere gemeinsame Triebkraft ist.

(Dr. Werner Hoyer (FDP): Das stimmt doch auch!)

Die Tatsache, dass die FDP einen Antrag der Grünen einreicht, um damit ein innenpolitisches Spiel zu treiben, mit dem Ziel, herauszufinden, ob man nicht da oder dort vielleicht unterschiedliche Einschätzungen von Abgeordneten der Grünen, der SPD und der Bundesregierung bzw. dem Bundeskanzler bloßlegen kann, stellt meiner Meinung nach einen Niedergang der menschenrechtlichen und außenpolitischen Seriosität der FDP dar.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Rainer Stinner (FDP): Das nun wirklich nicht!)

Da wir bei diesem Spiel nicht mitspielen wollen, sage ich gleich: Wir wollen diesen Antrag zur weiteren Beratung an die Ausschüsse überweisen. Das beantrage ich hiermit zugleich für die SPD-Fraktion.

   Die verzweifelte Lage der Menschen in Tschetschenien, die Leiden der Opfer, aber auch der schwere Dienst der Sicherheitskräfte und Soldaten, die häufig auch nur Opfer in dieser Kriegsmaschinerie sind, verbieten eine solche effekthascherische Politik. Die informierte Öffentlichkeit ist dadurch nicht zu täuschen. Wir jedenfalls werden die existenzielle Not der Menschen in Tschetschenien weiterhin zum Ausgangspunkt unserer Politik machen.

(Beifall des Abg. Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD))

Diese zu beenden und den Menschen wieder eine Perspektive für ein angstfreies Leben zu ermöglichen, muss Vorrang vor den Bemühungen haben, hier Kritik an der Russlandpolitik als Ganzes zu betreiben. Wenn Sie das wollen, dann beantragen Sie doch eine Debatte zur deutschen Russlandspolitik

(Markus Löning (FDP): Machen wir doch gerade!)

und schreiben Sie nicht „Zukunft für Tschetschenien“ über Ihren Antrag.

   Der andauernde Konflikt in Tschetschenien ist die offene Wunde in der Politik der Russischen Föderation und eine Tragödie für die Menschen in Tschetschenien und den angrenzenden Regionen im Kaukasus. Auch wenn zurzeit andere politischen Ereignisse die Schlagzeilen beherrschen, so ist die politische und menschenrechtliche Lage in der Republik Tschetschenien doch weit davon entfernt, sich zu normalisieren oder bereits normal zu sein. Fast täglich kommt es zu neuen Anschlägen und Gewaltaktionen.

   Am 10. Dezember ist der Tag der Menschenrechte. Es ist daher angebracht, dass wir den Konflikt in Tschetschenien aus der Sicht der dort lebenden Menschen mit ihren alltäglichen Nöten und Ängsten sehen und ihretwegen die politischen Anstrengungen intensivieren, um den Konflikt einzudämmen und die Lage der Menschen zu verbessern. Voraussetzungen dafür sind, die Ursachen des Konflikts zu analysieren und die Verursacher der Tragödie klar zu benennen.

Schwerste Menschenrechtsverletzungen und strafrechtliche Akte werden von allen Konfliktbeteiligten begangen. Unmissverständlich zu verurteilen sind Terrorakte wie der Anschlag auf zwei Flugzeuge, die abstürzten, das Selbstmordattentat in der Nähe einer U-Bahn-Station in Moskau, die Geiselnahme von Hunderten unschuldiger Kinder und ihrer Familienangehörigen in Beslan und das schreckliche Blutbad, welches die Geiselnahme beendete. Für derartige Angriffe auf unschuldige Zivilisten kann es keine Entschuldigung geben.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Unmissverständlich zu verurteilen sind auch alle übrigen Morde, welche durch illegal bewaffnete Gruppen in Tschetschenien, Inguschetien, Ossetien und Dagestan stattgefunden haben und stattfinden.

   Schwere Verbrechen an der Zivilbevölkerung werden aber auch von den unterschiedlichen föderalen und prorussisch-tschetschenischen Sicherheitskräften während ihrer Sonderoperationen in der Republik Tschetschenien sowie in zunehmendem Maße in benachbarten Regionen begangen. Die Liste der Menschenrechtsverletzungen ist lang: Morde, Verschwindenlassen von Personen, Folter, Geiselnahme, Vergewaltigung und willkürliche Inhaftierung.

   Diese Spirale der Gewalt aus terroristischen Akten illegal bewaffneter Gruppierungen einerseits und Gewaltaktionen der russischen Sicherheitskräfte andererseits muss unterbrochen und umgekehrt werden. Ohne ein Ende der Gewalt und ohne Bestrafung der Täter kann es keine nachhaltige politische Lösung geben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

   Der Konflikt hat vielfältige Ursachen. Es geht eben nicht nur, wie die russische Regierung immer wieder behauptet, um die Konfrontation mit dem internationalen Terrorismus radikal-islamistischer Prägung. Der Konflikt hat seine Wurzeln vor allem in der russischen Geschichte selbst und in der Unterentwicklung der Region. Durch das unterschiedslos brutale Vorgehen der russischen Sicherheitskräfte sowohl gegen die Zivilbevölkerung als auch gegen die tschetschenisch-nationalistischen Akteure ist der Konflikt selbst zu einer Brutstätte immer neuer Gewalthandlungen geworden. Die aktuelle Gewalt erneuert sich ständig aus dem Konflikt heraus, der wechselseitig Angst und Hass erzeugt.

   Zwar hat mit der Länge des Konfliktes auch der Einfluss international operierender Terroristen zugenommen. Aber dies ist nicht die Hauptursache dieses Konfliktes. In Tschetschenien herrscht ein Klima der Straflosigkeit, da die tschetschenischen und föderalrussischen Strafverfolgungsbehörden noch immer entweder nicht willens oder nicht in der Lage sind, die für die Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Dieses Klima der Straflosigkeit ist inzwischen auch auf Inguschetien übergesprungen. Damit droht sich der Konflikt im Nordkaukasus wie eine Epidemie auszubreiten und die Rechtsstaatlichkeit auch in anderen Gebieten der Russischen Föderation zu gefährden.

   Wie groß die Gefahr ist, zeigen zwei beängstigende Entwicklungen. Vom Generalstaatsanwalt der Russischen Föderation wird gefordert, dass der Staat das Recht hat, Verwandte mutmaßlicher Terroristen als Geisel zu nehmen und ihnen Folter und Mord androhen zu können. Mit dieser Sippenhaft will man Terroristen zwingen, sich zu ergeben. Beunruhigend ist auch, dass es schwere Verbrechen an jenen Menschen und ihren Familienangehörigen gegeben hat, die vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geklagt haben.

   Zur Beschreibung der Menschenrechtslage in der Republik Tschetschenien habe ich im Auftrag des Europarates einen umfangreichen Bericht erstellt, der auf der Basis von Informationen von Nichtregierungsorganisationen und offiziellen Quellen viele Einzelfälle schwerster Menschenrechtsverletzungen dokumentiert. Der Bericht und die Feststellungen sind von einigen – ich betone: einigen – russischen Politikern heftig kritisiert worden. Allerdings ist von offizieller russischer Seite in keinem konkreten Fall eine Unkorrektheit nachgewiesen worden. Die wachsende Kritik in Russland an menschenrechtsorientierten Nichtregierungsorganisationen ist völlig ungerechtfertigt und deshalb zurückzuweisen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Diese Organisationen leisten eine hervorragende Arbeit. Zudem gilt es nicht diejenigen zu kritisieren, die Menschenrechtsverletzungen aufdecken und dokumentieren, sondern diejenigen zur Verantwortung zu ziehen, die Menschenrechtsverletzungen begehen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Gemeinsam sollten wir deshalb die Regierung der Russischen Föderation erneut nachdrücklich dazu auffordern, gegen die Menschenrechtsverletzungen durch ihre eigenen Sicherheitskräfte einzuschreiten und das Klima der Straflosigkeit in der Republik Tschetschenien zu beenden. Damit Letzteres tatsächlich geschieht, ist ein klares politisches Zeichen von höchster politischer Ebene in Russland erforderlich, also von Präsident Putin selbst. Er muss anordnen – er muss diese Anordnung mit seiner Autorität versehen –, dass alle Sicherheits- und Strafverfolgungsbeamten bei der Ausübung ihrer Pflichten jederzeit die Menschenrechte wahren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Er muss anordnen, dass sich alle ergriffenen oder geplanten Antiterrormaßnahmen im Einklang mit den Menschenrechts- und Völkerrechtsnormen befinden. Diese Auffassung sollten wir alle gemeinsam als Abgeordnete in Gesprächen und Kontakten mit Abgeordneten in der Russischen Föderation sowie im Gespräch mit russischen Regierungsmitgliedern vertreten.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Der Bundeskanzler auch!)

– Ich weiß, dass auch der Bundeskanzler dies tut. Ich finde es richtig, dass er zwischen einer Politik der Kontakte und der Gespräche, die versucht, Einfluss zu nehmen, und einer Mikrofondiplomatie oder gar Megafondiplomatie, bei der man bestimmte Dinge nur nach außen proklamiert und innen nichts erreichen kann, unterscheidet. Es muss die Möglichkeit gegeben sein, die Probleme in Tschetschenien in Gesprächen direkt anzusprechen.

   Ich weiß, dass zum Beispiel der deutsche Außenminister, wenn er mit dem russischen Außenminister zusammenkommt, in ganz intensiver Weise die Situation anspricht und darüber diskutiert. Ich glaube, solch eine Vorgehensweise ist besser, als den Antrag einer anderen Partei zum Gegenstand eines eigenen Antrages im Deutschen Bundestag zu machen und damit nur innenpolitische Spiele zu betreiben. Wir können und wollen dies jedenfalls nicht akzeptieren; wir können und wollen dabei nicht mitmachen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile Kollegen Friedbert Pflüger, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

(Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Jetzt hören Sie mal gut zu!)

Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir über Tschetschenien reden, dann müssen wir zunächst auch über die furchtbare Geiselnahme in Beslan reden, wo tschetschenische Terroristen die vielleicht grausamste Geiselnahme in der Geschichte durchgeführt haben. Wir führen uns die Bilder vor Augen: die Bomben, die an Girlanden über Hunderten von Kindern aufgehängt wurden; Kinder, die gezwungen wurden, ihren Urin zu trinken; Kinder, mit deren Köpfen man Fenster eingeschlagen hat. Die Art und Weise, wie dort islamistische Fanatiker – Terroristen – gewütet haben, übersteigt alles, was jedenfalls ich bis dahin gesehen habe.

   André Glucksmann sagt in einem Artikel in „Le Monde“ vom 23. September 2004, wer zu so etwas fähig ist,

... der schreckt vor nichts mehr zurück. Schon gar nicht vor der Hölle. Heute eine gekidnappte Schule, morgen ein in die Luft gesprengtes Atomkraftwerk. Warum nicht, die Terroristen sorgen sich so wenig ums eigene Leben wie um das der anderen.

Er schreibt im selben Artikel:

Die apokalyptische Szene, die sich da am 3. September unter unseren Augen abspielte, hat Zukunft. Eine scheußliche Zukunft. Wie eine dreistufige Rakete zielt sie nicht nur auf Kaukasien und Russland, sondern auf ganz Europa.

   In der Tat haben wir es hier mit einem Thema zu tun, das weit über den traditionellen Tschetschenienkonflikt, der Jahrhunderte alt ist, hinausgeht.

   Wir kennen die Berichte über den alten Konflikt zwischen Tschetschenien und Moskau, etwa aus Leo Tolstois Buch „Hadschi Murat“ über die 40er-Jahre des 19. Jahrhunderts, als auch schon mit großer Brutalität auf beiden Seiten gekämpft wurde. Damals war das aber ein separatistischer, ein nationalistischer, ein ethnischer Konflikt. Durch die Islamisierung, durch die Ausbeutung dieses alten Konfliktes durch al-Qaida, durch die Finanzierung der Leute, durch das Lehren in terroristischer Kriegsführung – so nennen das die Leute von al-Qaida – ist eine neue Stufe der Brutalität entwickelt worden.

Wir haben das zum ersten Mal richtig gesehen, als im Oktober 2002 in einem Moskauer Musicaltheater Hunderte von Geiseln gefangen genommen worden sind. Ich habe einen Augenzeugen gesprochen. Er hat erzählt, unter den Geiselnehmern seien junge Leute im Alter von 16 oder 17 Jahren gewesen. Sie trugen islamistische Spruchbänder, ohne über ein großes politisches Bewusstsein zu verfügen. Sie haben aber immer gesagt, sie seien bereit, für den Emir und für Allah zu sterben. Hier werden junge Leute in einen furchtbaren Konflikt gehetzt.

   Deswegen müssen wir an dieser Stelle zunächst sagen: Wenn es um den Kampf gegen den islamistischen Terrorismus geht, stehen wir an der Seite Russlands. Wir sind in einer gemeinsamen Antiterrorkoalition. Die Opfer von Beslan und Moskau sind uns genauso viel Trauer wert wie die Opfer vom 11. September 2001 in New York und Washington. Wenn wir über Tschetschenien reden, müssen wir zunächst den Opfern und ihren Familien in Russland unser Mitgefühl aussprechen.

(Beifall im ganzen Hause)

   Wladimir Putin hat gestern in der indischen Zeitung „The Hindu“ gesagt: Europa und die USA unterstützen tschetschenische Terroristen. – Damit hat er nicht Recht. Das tun wir nicht. Wenn tschetschenische Terroristen in unserem Land Unterschlupf finden, dann werden wir sie festsetzen und ausweisen.

   Im Rahmen der Untersuchungen zum so genannten Volmer-Erlass ist offenbar geworden, dass zwei tschetschenische Terroristen, die an der logistischen Planung der Moskauer Geiselnahme beteiligt waren, die Brüder Arbi Daudov und Ruslan Daudov, offenbar mit einem Visum nach Deutschland kamen. So etwas darf nicht geschehen. Wir dürfen niemals, weder gegenüber Russland, noch gegenüber einem anderen Land in der Welt, den Eindruck vermitteln, Deutschland würde eine Zuflucht bieten, und sei es nur durch eine nachlässige Handhabung der Visapolitik.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Wenn es aber wahr ist, dass dieser Konflikt islamisiert worden ist – ich glaube, das liegt auf der Hand und ist spätestens seit 1996 der Fall –, und wenn es wahr ist, dass dieser Konflikt eine internationale Dimension hat, dann kann Herr Putin diesen Konflikt nicht mehr als rein russische Angelegenheit bezeichnen. Wenn der Konflikt eine internationale Dimension bekommt, dann liegt es in unserem Interesse, zu wissen, wie man den Terrorismus dort bekämpft.

   Diesbezüglich läuft in Tschetschenien wirklich vieles in eine furchtbare, falsche Richtung. Natürlich muss man hart gegen Terroristen vorgehen, aber doch nicht gegen das ganze tschetschenische Volk. Im Augenblick wird aber alles in einen Topf geworfen. Von russischer Seite wird nicht mehr zwischen dem nationalistischen Widerstand, den Islamisten und dem tschetschenischen Volk unterschieden. Es gibt keinen Spielraum für Verhandlungen, keinen Spielraum für internationale Vermittlungen.

   Die Russen haben vor dem Hintergrund ihres riesigen Reiches, Sorge, dass Separationsbewegungen Schule machen könnten. Wir wollen ganz deutlich sagen, dass niemand ein Interesse an einer Destabilisierung der Russischen Föderation haben kann. Wer sich das ethnische Geflecht, die vielen Völker, die im Nord- und Südkaukasus leben, diesen bunten Teppich von unterschiedlichen Völkern und Religionen, die dort zusammenleben, ansieht, der kann nur sagen: Dagegen sind die Probleme, die es auf dem Balkan gibt, ein Klacks.

   Der Separatismus der Tschetschenen kann bei uns keine Unterstützung finden; denn er würde zu weiteren großen Problemen führen. Die Tschetschenen müssen bei uns aber sehr wohl offene Ohren finden, wenn sie sagen: Wir wollen im Rahmen der Russischen Föderation unsere Rechte und mehr Autonomie. – Dann müssen wir sie anhören und unterstützen. Diese Unterstützung dürfen wir nicht den Islamisten überlassen.

(Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Tun wir das?)

   In diesem Zusammenhang ist es nicht klug, wenn der Bundeskanzler sagt: Die Wahl in Tschetschenien war akzeptabel.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Auf dem Parteitag der Grünen – das wurde in den Antrag der FDP übernommen – wurde gesagt: Die Wahl war eine Farce. Die Europäische Union, wir alle haben das gesagt. Der Bundeskanzler sollte nicht das genaue Gegenteil sagen.

   Ich finde es legitim, dass die FDP das aufgreift. Dadurch wird deutlich, dass hier mit zwei Zungen gesprochen wird: Der Bundeskanzler macht Realpolitik und die Grünen gehen an die Basis und sagen: Schaut, wir machen Menschenrechtspolitik. – Das geht nicht zusammen. Sie müssen sich schon entscheiden, was Sie machen wollen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Rudolf Bindig (SPD): Es geht um Innenpolitik!)

– Es geht nicht um Innenpolitik. Es geht um die Klärung der Positionen.

(Rudolf Bindig (SPD): Es geht um Ihre innenpolitische Kleinkariertheit und nicht um die Nöte der Menschen!)

Kollege Bindig, Sie haben Recht: Es muss ein Zusammenspiel zwischen einem lautstark und klar artikulierenden Parlament und einer auf stille Diplomatie setzenden Regierung geben.

Aber stille Diplomatie darf kein Alibi für Nichtstun werden. Das ist der Verdacht, den wir in diesem Fall haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Es läuft falsch in Tschetschenien. Es gibt ein sehr eindrucksvolles Buch von Anna Politkovskaja – ich werde sie nächste Woche in Moskau sehen –

(Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Haben Sie die schon einmal gesehen?)

mit dem Titel „Tschetschenien – die Wahrheit über den Krieg“. Dort heißt es über einen tschetschenischen Familienvater:

Issa ... geriet ... in ein solches Konzentrationslager

– „Filtrationslager“ nennt man dort die Gefangenenlager –

am Rande von Chottuni. Sie drückten ihre Zigaretten auf seinem Körper aus, rissen ihm die Nägel von den Fingern, ließen wassergefüllte Pepsi-Cola-Flaschen auf seine Nieren klatschen. ... Offiziere niedriger Dienstgrade, die die kollektiven Verhöre durchführten, lachten den Tschetschenen ins Gesicht, sie hätten knackige Hintern, und vergewaltigten sie. Mit den Worten: „Weil uns eure Weiber nicht ranlassen.“

Die Tschetschenen mussten eine furchtbare Tortur über sich ergehen lassen. Rache dafür zu nehmen – so sagen Augenzeugen – würde das gesamte Ziel ihres weiteren Lebens sein.

Die Frage ist, ob die unvorstellbare Härte, mit der Moskau dort vorgeht

(Markus Löning (FDP): Das ist dieser lupenreine Demokrat!)

– das hat auch Herr Bindig in seinem Bericht festgestellt –, nicht zu immer mehr Terrorismus führt. Ich glaube, diese Frage müssen wir stellen. Wir stellen sie nicht, um Herrn Putin in eine Ecke zu stellen oder um die Russische Förderation zu destabilisieren, sondern um bei der Lösung dieses schlimmen Konfliktes zu helfen. Das hat mit Innenpolitik nichts zu tun,

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Doch!)

sondern es geht um Klärung, Herr Kollege Bindig.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das können Sie jemandem erzählen, der keine Ahnung hat!)

Herr Schröder sagt angesichts einer solchen Sachlage in der „Süddeutschen Zeitung“, Putins Politik sei der richtige Weg und der vom russischen Präsidenten eingeschlagene Kurs führe zu innerer und äußerer Sicherheit und werde von ihm solidarisch mitgetragen. Kollegin Nickels von den Grünen sagt dazu, Schröders Interview sei gut gemeint und schlecht gemacht gewesen.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Das hat früher Herr Fischer zu Herrn Kohl gesagt!)

Die Kollegin Katrin Göring-Eckardt kritisiert Putin mit den Worten, die Politik der unerbittlichen Härte werde keine Lösung bringen.

   Ich würde dem Außenminister raten, sich vielleicht ein bisschen stärker in die Russlandpolitik einzumischen und

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Ein bisschen mehr auf den Bundeskanzler einzuwirken!)

das nicht alles Herrn Schröder zu überlassen und – ich sage noch einmal: Es geht nicht darum, Putin in eine Ecke zu stellen – ein offenes Wort unter Freunden zu sprechen. Sie sind sehr schnell, wenn es ein offenes Wort gegenüber Amerika zu sagen gilt. Dann verweigern Sie sich bitte auch nicht, wenn es um ein offenes Wort gegenüber Russland geht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Also doch Innenpolitik!)

   Bei der Stiftung Wissenschaft und Politik gibt es einen angesehenen Wissenschaftler, Dr. Uwe Halbach. Er hat neulich in einem kleinen Kreis bei Herrn Schäuble einen Vortrag gehalten und die Zahl der Toten in Relation gesetzt. Tschetschenien hat ungefähr eine Bevölkerung von 1 Million Menschen. Nach sehr konservativen Schätzungen sind 100 000 Zivilisten bei den Tschetschenienkriegen seit 1994 ums Leben gekommen. Wenn man das auf den Irak umrechnet, dann würde das bedeuten, dass 2,5 Millionen Menschen im Irak gestorben wären. Ich habe von der Friedensbewegung und unseren friedensbewegten Intellektuellen, die so „mutig“ auf die Straße gegangen sind, um gegen den Irakkrieg zu demonstrieren, kaum etwas zu der Tragödie in Tschetschenien gehört, die eine ganz andere Dimension gehabt hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Sie haben eine ziemlich einseitige Wahrnehmung!)

   Ich komme zum Schluss. Wir müssen jetzt Putin das Angebot machen, mit dem Europarat und der OSZE an einem runden Tisch den Versuch zu unternehmen, neben der Härte gegen Terroristen, die auch wir befürworten, den anderen die Hand zu geben und vielleicht doch zu überlegen, ob man nicht Verhandlungspartner auf tschetschenischer Seite braucht. Ist Maschadow wirklich das gleiche wie Bassajew? Ist der separatistische Widerstand wirklich das gleiche wie der islamistische? Müssten wir hier nicht zusammen – noch einmal: nicht, um Putin in die Ecke zu stellen, sondern um ihm zu helfen – darangehen, mit internationaler Unterstützung diesen Konflikt zu einer besseren Lösung zu führen? Das ist unser Plädoyer.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Wer hat denn Sakajew eingeladen?)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Winfried Nachtwei, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir zunächst eine Vorbemerkung. Die FDP hat einen guten Antrag zur Zukunft Tschetscheniens vorgelegt,

(Beifall bei der FDP)

allerdings unter fragwürdigen Umständen.

(Widerspruch bei der FDP)

Er ist – darauf ist schon hingewiesen worden – wortgleich mit dem Beschluss des Parteitags der Bündnisgrünen in Kiel Anfang Oktober. Im bürgerlichen Leben nennt man solche Textübernahmen ohne Quellenangabe geistigen Diebstahl.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Widerspruch bei der FDP)

   Ich will mich aber nicht an der Form festhalten, sondern komme jetzt zum Inhalt. Vor drei Monaten erschütterten die Geiselmorde von Beslan und die Sprengung zweier Passagierflugzeuge die Menschen in Russland und Europa. Diese Morde waren neue Höhepunkte einer fürchterlichen Terrorserie gegen Zivilisten und brachten eine neue Entgrenzung von Gewalt. Solche Taten sind durch absolut nichts zu rechtfertigen. Mit solchen Verbrechern verbietet sich jeder Dialog.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Dr. Werner Hoyer (FDP))

   Das Massenverbrechen von Beslan lenkte den Blick der Weltöffentlichkeit wieder für wenige Wochen auf den Gewaltkonflikt in Tschetschenien. Er dauert inzwischen seit Ende des 18. Jahrhunderts an und vor zehn Jahren – nämlich am 11. Dezember 1994 – eskalierte er erneut in den so genannten ersten Tschetschenienkrieg mit dem Einmarsch der russischen Truppen. Seit 1999 fielen diesem Krieg in diesem kleinen Land – es ist gerade halb so groß wie die Schweiz – mehr als 100 000 Menschen zum Opfer. Mit 80 Prozent der Dörfer und Städte Tschetscheniens wurde zugleich die Grundlage der tschetschenischen Gesellschaft zerstört. Der enthemmte Gewaltkonflikt ist durch schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen aufseiten föderaler und prorussischer so genannter Sicherheitskräfte einerseits und von brutalen Angriffen verschiedener bewaffneter tschetschenischer Gruppen und Terroristen andererseits gekennzeichnet.

   Es wurde schon darauf hingewiesen: Am Anfang dieses Tschetschenienkrieges spielten der extreme Islamismus und Terrorismus fast keine Rolle. Aber die Art der Kriegsführung fachte offensichtlich das Feuer des islamistischen Terrorismus an. Heutzutage muss man davon sprechen, dass Tschetschenien ein strategischer Angriffspunkt für den islamistischen Terrorismus ist.

   Allerdings bleibt es weiterhin falsch, den Tschetschenienkonflikt auf einen äußeren Angriff durch islamistische Terroristen zu reduzieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Es bleibt dabei, dass er erhebliche innere Ursachen hat.

   Die Bundesrepublik und die Europäische Union haben ein eminentes Interesse an der Eindämmung des Tschetschenienkonflikts, und zwar erstens wegen unserer menschenrechtspolitischen Glaubwürdigkeit, zweitens wegen unserer strategischen Partnerschaft mit Russland und drittens, weil wir uns solche Brutstätten für internationalen Terrorismus nicht leisten können.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

   Wir müssen nüchtern feststellen: Niemand hat für den Tschetschenienkonflikt eine Lösung parat. Dazu sind die Verfeindungen und Verwundungen zu tief und die Gewaltinteressen zu stark. Zu sehr haben sich die verschiedenen Beteiligten in fürchterliche Sackgassen verrannt. Trotzdem sind meiner Ansicht nach Ansatzpunkte für eine notwendige und viel beschworene politische Lösung erkennbar.

   Erstens. Terrorismusbekämpfung muss Menschenrechte und humanitäres Kriegsvölkerrecht einhalten. Alles andere wirkt terrorismusfördernd. Die totale Feindwahrnehmung beider Seiten muss durchbrochen werden. Auf russischer Seite muss den Tschetschenen gegenüber zwischen Separatisten und wirklichen Terroristen unterschieden werden.

   Zugelassen werden müssen unabhängige Dritte, etwa Menschenrechtsverteidiger und OSZE-Beobachter, genauso wie demokratische Legitimität anstelle ferngelenkter Pseudodemokratie und Pseudotschetschenisierung. Hierfür sind die geplanten Wahlen im kommenden Jahr eine entscheidende Bewährungsprobe. Mittelfristig könnte auch das Angebot eines Stabilitätspaktes für den Kaukasus durch die Europäische Union sehr hilfreich sein.

   Tschetschenien ist ein brennendes Thema der gemeinsamen Sicherheit in Europa. Hierfür ist ein offener Dialog zwischen Deutschland und Russland auf allen Ebenen unabdingbar.

   Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegin Melanie Oßwald, CDU/CSU-Fraktion.

Melanie Oßwald (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die siebten und achten Klassen der Staatlichen Internationalen Schule Berlin haben vor kurzem die Hintergründe der Tragödie von Beslan durchgenommen. Krönender Höhepunkt war eine Simulation der UNO, bei der die Schüler in die Rolle von Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates schlüpfen mussten. Streng nach den Regeln und den Gepflogenheiten der UNO sollten sie eine realistische Lösungsstrategie für den Tschetschenienkonflikt entwerfen. Eine Klasse befürwortete am Ende ihrer Sicherheitsratssitzung die völlige Unabhängigkeit Tschetscheniens bei gleichzeitig weit reichenden Antiterrorgarantien der neuen tschetschenischen Regierung. Die anderen drei Klassen kamen zu dem Schluss, dass ein Verbleib Tschetscheniens in der Russischen Föderation bei größtmöglicher innenpolitischer Selbstständigkeit die realistischste Lösungsmöglichkeit für diesen schwer lösbaren Konflikt sein dürfte. Da kann man nur staunen: Siebt- und Achtklässler entwickeln Lösungsvorschläge! Aber unsere Bundesregierung hat anscheinend keinen Lösungsvorschlag in der Tasche, den Schröder seinem Busenfreund Putin überreichen könnte.

   Im Gegensatz zur offiziellen Schmusekurspolitik sehen – Gott sei Dank – andere wie zum Beispiel die Grünen durchaus Anlass zur Kritik an der russischen Politik. Eine Änderung des Regierungskurses bewirkt dies aber leider nicht. Im Gegenteil: Unser Bundeskanzler behauptet – ich möchte das wiederholen –, Putin sei ein lupenreiner Demokrat. Ich frage mich, ob wir nun viele Aussagen so ironisch sehen müssen wie diese. Es ist dringender denn je, dass wir eingreifen und Russland in dieser fast ausweglosen Situation helfen, um eine politische und vor allem demokratische Lösung zu finden.

   Die Ankündigung Putins, der Kampf gegen den internationalen Terrorismus erfordere eine Erneuerung der gesamten Politik für den Nordkaukasus, ist richtig. Dieser Vorschlag geht aber leider in die falsche Richtung. Immer deutlicher wird, dass es in diesem Konflikt nur noch Verlierer geben wird. Islamistische Kräfte unterlaufen zunehmend die sezessionistischen Unabhängigkeitsbestrebungen der Tschetschenen zugunsten eigener Ziele. Moskau darf einerseits keine Islamisierung seiner südlichen Territorien zulassen und andererseits die Region nicht ohne geordnete Verhältnisse verlassen. Dies ist ohne internationale Hilfe schlichtweg unmöglich. Die Verweigerung der Unabhängigkeit und die fortgesetzte Brutalität der russischen Truppen gegenüber der Bevölkerung schüren eher das Abdriften der kaukasischen Moslems in das radikale Lager der Islamisten. Das sind Islamisten, die keine Hemmungen haben, Gewalt in die ganze Welt zu tragen.

   Die unschuldige Zivilbevölkerung Tschetscheniens leidet – das ist heute bereits erwähnt worden – seit mehr als zehn Jahren entsetzliche Qualen. Sie verliert jede Hoffnung auf eine gute Zukunft und das Vertrauen in Rechtsstaatlichkeit.

Aufrüsten statt verhandeln, das ist eher die Taktik Putins im Tschetschenienkrieg. Seine Militärs kennen bei ihrem Feldzug keine Kompromisse. Die eigentlichen Ursachen des Konfliktes werden aber leider kaum angesprochen, zum Beispiel die desolate wirtschaftliche und soziale Lage im gesamten Kaukasus und insbesondere in dieser Region. Es wird nichts getan, um zum Beispiel die Bildungseinrichtungen wieder aufzubauen. Seit zehn Jahren gehen die Kinder dort nicht mehr in die Schule. Sie nehmen dafür an dem Kriegsgeschehen regen Anteil.

   Es bedarf keiner großen Fantasie, sich die Situation der Frauen, Männer und Kinder vorzustellen, deren Lebensgrundlagen seit fast einer Generation systematisch zerstört werden und deren Väter, Brüder und Söhne vor ihren Augen verschleppt, misshandelt oder getötet werden. Die internationale Gemeinschaft ist aufgefordert, dem Konflikt eine noch größere Aufmerksamkeit zu schenken. Dies ist bis heute leider versäumt worden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Werner Hoyer (FDP))

   Die deutsche Regierung muss ihr wiederholt erklärtes Menschenrechtsengagement – sie und auch mein Kollege Bindig stellen es immer gern heraus; leider stehen nicht alle dahinter – endlich ernst nehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Sie muss beim russischen Präsidenten darauf dringen, die Menschenrechtssituation in seinem Land spürbar zu verbessern. Was Menschenrechte angeht, darf es nicht nur um PR oder um Macht gehen. Allein seit Jahresbeginn kamen in Tschetschenien mehrere hundert Zivilpersonen ums Leben. Meist waren Sicherheitsdienste oder Streitkräfte für diese Todesopfer verantwortlich.

   Allein in dem Viertel des Landes, das als halbwegs sicher gilt – auch „Memorial“ darf dort regelmäßig dokumentieren –, kamen nur in diesem Jahr ums Leben: 83 tschetschenische Angehörige von Polizei und Armee, acht Verwaltungsbeamte und 23 Rebellen. Es gab 294 Entführungen. 146 Entführungsopfer wurden wieder freigelassen, 20 tot aufgefunden; die anderen 128 werden vermisst. Wie ich bereits gesagt habe, gilt dies nur für das Viertel des Landes, das als befriedet gilt. Ich möchte das lieber nicht auf das ganze Land hochrechnen.

   Die Tschetschenen haben ein Recht, in Frieden und Würde zu leben. Auch die russischen Soldaten haben Anspruch auf eine politisch durchdachte und vernünftige Lösung dieses Bürgerkrieges. Wir müssen endlich den Mut haben, mit Russland auch einen kritischen Dialog über Demokratie und Menschenrechte zu führen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Werner Hoyer (FDP))

Alles andere ist feige und hat mit politischer Verantwortung nichts zu tun.

   Meine Damen und Herren von der Koalition, die heutige Debatte zeigt: Eigentlich sind wir uns einig, dass es so nicht weitergehen kann. Ich finde es darum umso bedauerlicher, dass Sie es nicht geschafft haben, den angekündigten Antrag in die heutige Debatte einzubringen.

(Gernot Erler (SPD): Das machen wir schon noch, Frau Kollegin!)

Das wäre eher politisches Handeln gewesen, als heute nur zu reden. Ich sehe die rot-grüne Russlandpolitik damit als gescheitert an.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegin Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos):

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir als Abgeordnete der PDS begrüßen die Initiative der FDP, die Situation in Tschetschenien auf die Tagesordnung des Bundestages zu setzen.

   Ebenso wie in der Debatte am Mittwoch stelle ich die Frage: Was sind eigentlich die Ziele deutscher Außenpolitik? Bereits in der Debatte über die Situation in der Ukraine ist immer wieder die Frage aufgeworfen worden, wie Bundeskanzler Schröder seine demonstrativ engen Beziehungen zum russischen Präsidenten Putin nutzt, um auf dessen Politik einen gewissen Einfluss zu nehmen.

   Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich finde es gut und richtig, dass sich die Bundesregierung um gute Beziehungen zu Russland bemüht. Russland ist vom Westen lange genug gedemütigt worden. Der Bundeskanzler ist zu der Auffassung gekommen, dass die Demütigung Russlands ein Irrweg und eine politische Sackgasse ist. Das können wir als PDS nur unterstützen.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos) – Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Das dachten wir auch! – Jörg van Essen (FDP): Von Russland lernen heißt siegen lernen!)

   Andererseits kritisieren wir die Zurückhaltung der Bundesregierung in der Tschetschenienfrage. Gegen das tschetschenische Volk wird bereits zum vierten Mal ein Ausrottungskrieg geführt. Der vierte Krieg begann im September 1999 unter Putin. Er ist bis heute nicht beendet. Putin setzt weiterhin auf Staatsterror und bewirkt damit eine Steigerung des Gegenterrors.

   Trauriger Höhepunkt war das tödliche Attentat auf Präsident Kadyrow. In der Person Kadyrow lässt sich das ganze tragische Schicksal Tschetscheniens nacherzählen. Kadyrow war ursprünglich der oberste muslimische Geistliche Tschetscheniens. Unter dem ersten Präsidenten Dudajew hatte er zum Heiligen Krieg gegen die Russen aufgerufen. Später wurde er zur Marionette des Kremls, gehasst und verachtet vom tschetschenischen Volk und schließlich ermordet.

   Im September wurden wir alle ohnmächtige Zeugen der Geiselnahme in Beslan. Opfer waren Kinder, die gerade noch freudig in die Schule gegangen waren. Nach dem wenigen, was wir heute wissen, waren die Täter nicht Tschetschenen, sondern Inguschen, die Opfer nicht Russen, sondern Osseten. Die Inguschen sind mit den Tschetschenen ethnisch und sprachlich nah verwandt und wurden im Februar 1944 gleichzeitig mit diesen nach Mittelasien deportiert. Für diese Deportation rekrutierten Stalins Geheimdienste Hilfstruppen. Zu diesen Hilfstruppen gehörten auch Osseten, westliche Nachbarn der Inguschen.

   Warum gehe ich so detailliert darauf ein? Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die Konflikte weit in die Vergangenheit reichen. Es geht nicht nur um Tschetschenien, sondern um den gesamten Nordkaukasus. Die Verhältnisse sind kompliziert – das leugnet niemand –, aber trotzdem können wir von der Bundesregierung erwarten, dass sie sich mit dieser komplizierten Situation entsprechend auseinander setzt.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

Wir als PDS sind nicht länger bereit, eine Arbeitsteilung zu akzeptieren, die da heißt: Schröder ist für die guten Beziehungen zu Putin zuständig und Fischer redet über die Menschenrechte.

(Jörg van Essen (FDP): Wenn er es denn täte! – Gegenruf des Bundesministers Joseph Fischer)

   Wir sollten für Tschetschenien die gleichen Maßstäbe wie für die Ukraine anlegen. Freiheit, Frieden und Menschenrechte sind keine abstrakten Forderungen. Ein Weg zu Frieden, Freiheit und Menschenrechten wird man für Tschetschenien und den gesamten Kaukasus nur finden können, wenn man sich mit der Geschichte – nicht nur der letzten zehn Jahre – auseinander setzt. – Herr Fischer wird noch sprechen; er braucht nicht dazwischenzurufen.

(Gernot Erler (SPD): Das hat er gar nicht gemacht!)

   Die Bundesregierung ist gefordert, vom Kreml diplomatisch, aber konsequent die Achtung des Rechts auf Selbstbestimmung auch der Tschetschenen einzufordern. Diese Aufgabe ist schwierig, aber lösbar.

   Vielen Dank.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Johannes Pflug, SPD-Fraktion.

Johannes Pflug (SPD):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst eine Bemerkung an den Kollegen Pflüger richten. Herr Kollege Pflüger, Sie haben einige Dinge angesprochen, auf die ich gerne eingehen würde, was ich aber wegen meiner begrenzten Redezeit nicht tun kann. Zwei Dinge allerdings möchte ich doch ansprechen.

   Wenn Sie sagen, dass die Friedensbewegung nicht gegen den Terror in Tschetschenien demonstriert, dann ist das schlichtweg falsch. Wir haben in Berlin demonstriert.

   Den Volmer-Erlass dafür verantwortlich zu machen, dass zwei Terroristen nach Deutschland eingereist sind, Herr Kollege Pflüger, ist absurd. Dann können Sie genauso gut Herrn Schrempp dafür verantwortlich machen, dass jemand mit einem Mercedes einen Unfall verursacht.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Das war ein Ausflug in die Wirtschaft!)

   Der Antrag der FDP zum Thema Tschetschenien enthält viele Passagen, denen zugestimmt werden kann. Aber dieser Antrag enthält auch Formulierungen, die besser unterblieben wären. Dazu gehört zum Beispiel ein solch verquaster Satz wie:

Die Terroristen haben die zivilisatorischen und menschlichen Mindeststandards in nicht vorstellbarer Weise unterschritten, …

Dass die FDP die Ermordung von Schulkindern und ihren Eltern in den Kontext einer Formulierung wie „Unterschreiten von Mindeststandards“ stellt, ist nicht akzeptabel.

(Widerspruch des Abg. Dr. Werner Hoyer (FDP))

– Dass Sie den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen abgeschrieben haben, Herr Hoyer, ist keine Entschuldigung dafür. Sie von der FDP sind es, die diesen Text in den Deutschen Bundestag eingebracht haben. Deshalb müssen Sie ihn auch verantworten.

   Sie schreiben in Ihrem Antrag:

Der Terroranschlag von Beslan ist durch nichts zu rechtfertigen.

Das ist richtig. Es muss klar sein, dass es in der Beurteilung von Terror nur konsequente Ablehnung und keine relativierenden Betrachtungsweisen gibt. Die von der Kommission zur Reform der Vereinten Nationen soeben einstimmig angenommene Terrorismusdefinition ist, meine ich, ein Fortschritt für die internationale Politik.

   Wir können uns bei der Bekämpfung von internationalen Terroristen keine Zweideutigkeiten erlauben. Deswegen begrüßt die SPD-Bundestagsfraktion – wie Sie es auch tun – die politische Unterstützung, die die Bundesregierung der russischen Regierung beim Kampf gegen den tschetschenischen und den internationalen Terrorismus zuteil werden lässt.

(Dr. Werner Hoyer (FDP): Darüber sind wir uns einig!)

   Der Deutsche Bundestag begrüßt insbesondere die Aussagen der gemeinsamen Erklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder und dem russischen Präsident Wladimir Putin, die anlässlich des Terroranschlags von Beslan erarbeitet und am 9. September veröffentlicht wurde. Darin heißt es unter anderem:

Deutschland und Russland verurteilen alle Akte und Formen des Terrorismus, ungeachtet der zugrunde liegenden Motivation ... Beide Länder werden verstärkt zusammenarbeiten, um der globalen Herausforderung durch den Terrorismus und seinen Ursachen noch wirksamer entgegentreten zu können.

   Von besonderem Interesse ist eine Passage in dem FDP-Antrag – oder soll ich sagen: in dem Grünen-Antrag? –, die sich mit der Natur und den Zielen des tschetschenischen und des internationalen Terrorismus befasst. Es heißt darin:

Der islamistische Terrorismus, der sich als Netzwerk um den Kern von El Qaida organisiert hat, versucht systematisch, die Südgrenze der GUS-Region zu zersetzen. Nachdem die Terrorgruppen Afghanistan als Basis weitgehend verloren haben, bietet der ungelöste und unkontrolliert eskalierte Konflikt in Tschetschenien nun einen neuen Angriffspunkt.
Von hier aus wollen Islamisten die gesamte Kaukasus-Region … destabilisieren. Ziel scheint nicht nur die ideologische Herrschaft zu sein, sondern die politische Schwächung von Gesellschaften und Staaten, um im entstandenen Chaos machtpolitisch Zugriff auf strategische Rohstoffe in Arabien und Zentralasien zu erlangen, den Westen zu erpressen und einen allgemeinen Krieg der Kulturen zu provozieren.

   Einmal abgesehen davon, dass dies nur ein Teilaspekt sehr komplexer Zusammenhänge und historischer Entwicklungen in Tschetschenien ist, ist festzuhalten, dass Vorschläge wie zum Beispiel der, die Staatengemeinschaft müsse „Russland und die tschetschenische Gesellschaft vom Weg einer friedlichen Konfliktlösung“ überzeugen, nicht weiterhelfen. Wie soll denn die Staatengemeinschaft Terrorgruppen, die Chaos produzieren, um ihre Machtansprüche durchzusetzen, von einer friedlichen Konfliktlösung überzeugen?

(Dr. Werner Hoyer (FDP): Wo steht das denn?)

Der Satz „Der Deutsche Bundestag fordert die Menschen in Tschetschenien … auf, offen für politische Lösungen zu sein“ ist zwar ein gut gemeinter Ratschlag, aber hilft natürlich auch nicht weiter.

   Nun haben wir – das gebe ich gerne zu – auch nicht den Stein der Weisen gefunden. Ich bin aber absolut davon überzeugt – der Kollege Bindig hat das ja auch gesagt –, dass jede politische Lösung des Tschetschenienkonflikts, zu der sich die russische Regierung mehrfach bekannt hat, mit einer energischen Untersuchung und Verfolgung aller Menschenrechtsverletzungen vor Ort und mit entschlossenen Maßnahmen gegen das sich ausbreitende Klima der Straflosigkeit beginnen muss.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Partner für eine politische Lösung des Konflikts wird es erst geben, wenn die Spirale von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen angehalten wird und die Menschen in Tschetschenien durch Lösung der Flüchtlingsprobleme und einen tatsächlichen Wiederaufbau eine lebenswerte Zukunftsperspektive erhalten.

   Da wir gerade in diesen Tagen hochsensibilisiert auf die Ukraine blicken und dort verstärktes Engagement der Europäischen Union erwarten, sollten wir ebenso mit Blick auf Tschetschenien von der Europäischen Union fordern, dass sie gemeinsam mit der russischen Regierung die Möglichkeiten zu einer umfassenden Strategie der Stabilisierung und Vertrauensbildung in der Kaukasusregion, also so etwas Ähnliches wie einen Stabilitätspakt Kaukasus, auslotet. Die Ausrichtung muss sowohl auf die sieben russischen Föderationssubjekte im Nordkaukasus als auch auf die südkaukasischen Republiken Georgien, Armenien und Aserbaidschan mit ihren gefährlichen und ungelösten Regionalkonflikten erfolgen. Anderswo gemachte Erfahrungen mit Strategien zur Stabilisierung von Regionen sollten von der EU genutzt werden.

   Russland sollte trotz seiner ablehnenden Haltung gegenüber jeglicher internationaler Einmischung nicht übersehen, dass sich das Tschetschenienproblem allmählich zu einem Flächenbrand ausbreiten könnte und die Hilfsbereitschaft und Solidarität der internationalen Völkergemeinschaft dann schnell nachlässt. Das erleben wir in Afghanistan, im Irak, im Sudan, im Kongo usw.

   Im Süden Russlands herrscht ein Bürgerkrieg. Kriege sind eine besondere Bedrohung für die Menschenrechte. Auf die Frage, wie man auf zivilisierte Weise schwer bewaffnete und gewaltbereite Terroristen bekämpfen kann, hat man in Tschetschenien noch keine befriedigende Antwort gefunden. Dennoch bestehen wir darauf, dass bei dem notwendigen Kampf gegen den Terrorismus die Verhältnismäßigkeit der Mittel gewahrt und die Rechte der Zivilbevölkerung geschützt werden müssen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Bundesminister Joseph Fischer.

Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bedauerlicherweise führen wir hier eine zweigeteilte Debatte, nämlich einmal eine innenpolitische über die Frage unserer Beziehungen zu Russland und zum anderen darüber – das ist, wie ich meine, die wesentlich wichtigere –, wie die Tragödie in Tschetschenien beendet werden könnte. Dazu habe ich leider wenig gehört.

   Lassen Sie mich mit dem ersten Teil der Debatte, dem innenpolitischen Teil, beginnen. Es ist noch gar nicht so lange her, dass Präsident Putin in Berlin war und hier im Hause gesprochen hat. Ich habe bei dem Treffen sehr sorgfältig zugehört. Vieles von dem, was hier angemahnt wird, hätte dabei direkt vorgetragen werden können. Ich habe aber wenig Diesbezügliches gehört. Außerdem gab es während des Bundestagswahlkampfes – die Situation war damals schon sehr schlimm – Reisen von Kanzlerkandidaten nach Russland. Ich habe in der Auswertung der Presseberichte wenig darüber gelesen, dass entsprechende Vorstellungen dort vorgetragen worden wären. Darüber hinaus kann ich mich an den Besuch meines geschätzten Kollegen, des früheren Außenministers Iwanow, im Auswärtigen Ausschuss erinnern.

Ich saß die ganze Zeit dabei. Schon damals wäre all das vorzutragen gewesen; aber es ist nicht vorgetragen worden.

   Ich selbst war das letzte Mal am 12. Februar dieses Jahres in Moskau. Ich habe mir jetzt die Agenturmeldungen heraussuchen lassen, acht Stück. Ich will nur eine davon zitieren, nämlich Reuters:

Fischer legt deutsche Bedenken gegen Tschetschenien-politik darBundesaußenminister Joschka Fischer hat bei der russischen Regierung die deutschen Vorbehalte gegen das Vorgehen Russlands in Tschetschenien unterstrichen – im direkten Gespräch mit Putin und der russischen Delegation. „Wir haben intensiv über die Entwicklung in Tschetschenien gesprochen“, sagte Fischer am Donnerstag nach einem Gespräch mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in Moskau. „Ich habe unsere Besorgnis dargestellt, die Frage der Beachtung der Menschenrechte, der Transparenz, die Frage der inneren Demokratieentwicklung.“ Der russische Außenminister Igor Iwanow sagte bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Fischer, es sei kein Geheimnis, dass es Meinungsverschiedenheiten zu Tschetschenien, der Freiheit der russischen Medien und der Demokratie in Russland gebe. Fischer und Iwanow betonten, sie hätten in einem sehr offenen Gespräch diese Meinungsverschiedenheiten ebenso besprochen wie zahlreiche Themen, in denen Übereinstimmung zwischen beiden Ländern bestehe.

   Ich könnte Ihnen jetzt auch noch die anderen Zitate vorlegen, meine Damen und Herren.

(Dr. Werner Hoyer (FDP): Haben Sie das dem Bundeskanzler auch erzählt?)

– Angesichts dieser Meldung müssten Sie Ihren Vorwurf eigentlich zurücknehmen. Sie sagten, Fischer würde zu all dem nahezu schweigen. Jetzt weichen Sie nicht auf den Bundeskanzler aus. Ich weiß, dass er in ähnlicher Art und Weise alle Probleme mit dem Präsidenten angesprochen hat, und zwar nicht nur einmal, sondern mehrfach.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Was Sie tun, ist kurzsichtig und schlechte Oppositionspolitik.

Präsident Wolfgang Thierse:

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Pflüger?

Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen:

Bitte, Kollege Pflüger.

Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU):

Herr Bundesminister, Ihre Äußerungen, die in den Agenturmeldungen wiedergegeben worden sind, sind uns natürlich bekannt.

(Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das merkt man nicht immer!)

Trotzdem möchte ich Sie fragen: Finden Sie es richtig, dass der Bundeskanzler – im Gegensatz zur EU – die Wahlen in Tschetschenien als akzeptabel bezeichnet hat?

Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen:

Herr Kollege Pflüger, wir, auch der Bundeskanzler, haben diesbezüglich eine klare Haltung eingenommen.

(Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Oh! Das ist etwas ganz Neues!)

Ich weiß, dass er gerade in den Gesprächen mit Präsident Putin all die Punkte, auf die ich eben eingegangen bin, präzise angesprochen hat.

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

– Sie müssen die Antwort schon mir überlassen. – Deshalb kann ich Ihnen an diesem Punkt nur sagen: Es ist sehr kurzsichtig, was Sie hier betreiben; denn Sie lenken nur von dem Widerspruch ab, den es bei Ihnen gibt.

(Lachen des Abg. Eckart von Klaeden (CDU/CSU))

Ich weiß, dass es in der Politik oft schwer ist, Dilemmata zuzugeben.

(Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Was ist das denn für ein Eiertanz?)

– Was für ein „Eiertanz“ denn? Verehrter Kollege, wenn Sie zu der Frage, wie Russland einzubinden ist, nichts sagen können und es dann als „Eiertanz“ bezeichnen, wenn ich auf dieses Dilemma hinweise, zeigt das doch nur, in welchen Horizonten Sie tatsächlich denken.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Antworten Sie doch darauf, ob die Wahlen akzeptabel sind oder nicht!)

   Kollege Pflüger – Sie können sich ruhig setzen –

(Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Sie haben die Frage noch nicht beantwortet!)

– ich habe die Frage beantwortet –, den entscheidenden Punkt haben Sie doch im ersten Teil Ihrer Rede angesprochen – ich bedaure sehr, dass Sie das nicht weiter ausgeführt haben –, nämlich in welche Richtung sich Russland entwickelt und wie wir unsere Politik gestalten müssen. Selbstverständlich ist die Tragödie in Tschetschenien dabei von zentraler Bedeutung. Sie haben zu Recht diesen furchtbaren, grauenhaften Terrorismus angesprochen: die Tatsache, dass die Unterdrückung der Unabhängigkeitsbestrebungen in Tschetschenien dazu geführt hat, dass es zunehmend zum Rekrutierungsfeld des internationalen Dschihad-Terrorismus wird, und andererseits die Konsequenzen, die das für die Entwicklung der russischen Demokratie insgesamt haben kann.

   Angesichts der Entwicklung müssen wir klar zu unseren Grundsätzen stehen. Wir haben immer die Grundsätze unserer Tschetschenienpolitik verfolgt, indem wir zum einen auf eine politische Lösung des Konflikts gedrängt – ich komme gleich auf Elemente dazu zu sprechen – und zum anderen klar gemacht haben, dass die territoriale Integrität Russlands beibehalten werden muss. Eine weitere Auflösung der Russischen Föderation birgt Konsequenzen, über die sich die wenigsten Gedanken machen. Diejenigen, die dies so schlankweg mit Unabhängigkeit gleichsetzen

( Dr. Werner Hoyer (FDP): Haben wir nicht getan!)

– das habe ich Ihnen doch nicht vorgeworfen; wir müssen uns in dieser Frage, in der Konsens besteht, ja nicht streiten –, bedenken nicht, was das an weiterer Gewalt und Instabilität mit sich bringen kann.

   Herr Kollege Pflüger, auf meiner Reise in den Südkaukasus vor einigen Monaten habe ich mit den Außenministern und den Staatspräsidenten von Aserbaidschan, Armenien und Georgien auch über die Tschetschenienfrage diskutiert. In diesen Gesprächen habe ich zwei Fragen gestellt. Erstens habe ich gefragt, wie man diesen Konflikt und die Mentalität, die in Tschetschenien dahintersteckt, erklären kann. Ich sage ganz offen, dass ich keine befriedigende Antwort erhalten habe. Meine Gesprächspartner haben mir selbst gesagt, dass sie mir keine Antwort auf diese Frage geben können. Zweitens habe ich gefragt, was zu tun ist und wie sich dieser Konflikt lösen lässt. Darauf habe ich sehr widersprüchliche Antworten erhalten.

   Auf unsere berechtigte Kritik kommt von der russischen Seite sofort die Frage: Was schlagt ihr denn vor? Wenn wir den Namen Maschadow erwähnen und fragen, ob es keine Möglichkeit gibt, einen politischen Prozess mit Maschadow zu beginnen, dann folgt prompt die Antwort: Mit Terroristen werden wir dies nicht tun; er hat zu viel Blut an den Händen. Außerdem wird darauf verwiesen, dass es auch in der Phase zwischen dem ersten Tschetschenienkrieg unter Jelzin und dem zweiten Tschetschenienkrieg nicht funktioniert hat. Wir können uns doch noch alle sehr gut an die damaligen Zustände in Tschetschenien erinnern.

   Dennoch sind wir der Meinung, dass alle Möglichkeiten ausgelotet werden sollten. Ein Waffenstillstand setzt allerdings Partner voraus. Man sollte sich daher überlegen, ob es sinnvoll ist, den Ansatz mit Maschadow weiter zu verfolgen. Ich möchte aber hinzufügen, dass dahinter – zu Recht – große Fragezeichen stehen.

(Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Natürlich!)

Das wissen Sie nur zu gut. Das ist das Dilemma, das ich zu beschreiben versuche und über das wir nicht einfach hinwegdiskutieren dürfen.

(Dr. Werner Hoyer (FDP): Tun wir auch nicht!)

– Ich sage doch gar nicht, dass Sie das tun. Ich habe nur gesagt, dass wir das nicht dürfen.

   Ein weiterer wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang ist die Frage: Kann es gelingen – wenn man einen Partner findet –, einen langfristigen Waffenstillstand auf der Grundlage der territorialen Integrität der Russischen Föderation zu erreichen? Ich warne davor, die These von der Internationalisierung einfach in den Raum zu stellen. Denn das Problem mit einem möglichen Stabilitätspakt für den Gesamtkaukasus ist: Weder die südlichen Republiken, die ihre Unabhängigkeit bewahren wollen und die ihre Besorgnis äußern, noch Russland, das auf seine territoriale Integrität achtet, werden diesen Pakt akzeptieren.

   Den Ansatz, die Verhältnisse mit friedlichen Instrumenten zu verbessern, um den Prozess in Gang zu setzen, halte ich für richtig. Aber dieser Ansatz wird an den Ängsten und an den Widersprüchen in der Kaukasusregion sozusagen hängen bleiben. Wir sollten nicht meinen, wir könnten den Stabilitätsansatz, wie wir ihn auf dem Balkan entwickelt haben, so einfach auf diese Region übertragen.

   Wir müssen in dieser Situation auch verstehen, wie Russland die Entwicklung im südlichen und im nördlichen Kaukasus sieht. Gestatten Sie mir, dass ich einige Bemerkungen zu diesem Punkt mache. Ich mache mir nicht die Position Russlands zu Eigen, aber ich sage, dass man die russische Seite verstehen muss. Es ist das Trauma des Abstiegs einer Supermacht, die sich einst auf dem Niveau der Vereinigten Staaten befunden hat. Es ist – ohne jeden Zweifel – das Trauma der territorialen Desintegration. Das spielt bei der Ukrainepolitik des russischen Präsidenten und der russischen Regierung, aber auch bei der Haltung der russischen Öffentlichkeit eine ganz entscheidende Rolle.

   Bei allem Verständnis für die Situation Russlands ist meines Erachtens aber auch klar, dass eine erfolgreiche Modernisierung Russlands ohne den Übergang zu einer modernen Marktwirtschaft, zu einer modernen Zivilgesellschaft, zu einer Teilung der Macht innerhalb der unterschiedlichen Institutionen sowie ohne eine Festlegung auf demokratische Grundprinzipien – wir begreifen das als Freiheit in der Gesellschaft und in der Wirtschaft – nicht funktionieren kann. Ich bin der festen Überzeugung, dass eine Erneuerung Russlands letzten Endes davon abhängt, ob Russland ein aktiver Faktor in einer wissensgetriebenen, globalisierten Wirtschaft werden kann. Eine solche wissensgetriebene, globalisierte Wirtschaft lässt sich nur mit freien Individuen, also mit freien Bürgerinnen und Bürgern erfolgreich organisieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Herr Minister, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen:

Ich komme zum Ende.

   Meine Damen und Herren, es ist es wert, einmal ausführlich im Plenum oder im Ausschuss über die Russlandpolitik zu diskutieren.

   Im Hinblick auf die Tragödie in Tschetschenien stehen wir zu unseren Grundsätzen. Ich meine, dass dabei – ohne dass das eine Einmischung bedeutet – die OSZE und ihre Beobachtermission, aber auch der Europarat eine wichtige Rolle des Aufeinanderzuführens spielen könnten. Moskau zu überzeugen ist alles andere als einfach; das sage ich hier in aller Klarheit. Dennoch werden wir nicht ruhen, weil wir der Überzeugung sind, dass der Tschetschenienkonflikt jenseits der großen humanitären Tragödie ein gewaltiges Destabilisierungspotenzial hat.

(Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr richtig!)

Wir werden an unseren Grundsätzen festhalten und weiter eine klare Sprache pflegen. Wir sind unseren Grundsätzen verpflichtet. Wenn diese aufgerufen sind, dann werden wir zu unseren Grundsätzen stehen; das hat die Bundesregierung immer wieder bewiesen. Aber wir müssen auch die ganze Komplexität des Problems begreifen. Glauben Sie mir, die Entwicklung im Irak und an anderen Orten macht die Argumentation gegenüber der russischen Seite nicht unbedingt einfacher.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)

   Insofern verstehe ich die Nöte der Opposition auf der einen Seite; ich will mich darüber nicht beschweren. Aber auf der anderen Seite ist es dieses Thema wirklich wert, vertieft und jenseits dieser innenpolitischen Spielereien diskutiert und positiv vorangebracht zu werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christoph Bergner, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich den Antrag, von dessen Herkunft ich erst nachträglich erfahren habe, gelesen habe, hat mich die dort getroffene Lageeinschätzung zu zwei Kommentaren herausgefordert.

   Erster Kommentar. Wir sprechen über eine Region dieser Erde mit höchster Gewaltkonzentration. Wer die ausgewiesenen Zahlen, 100 000 Tote, 6 000 Minenopfer im Jahr 2002 – das sind fünfmal mehr als im gleichen Zeitraum in Afghanistan – und 10 000 gefallene russische Soldaten, ins Verhältnis zur Größe der Region mit 700 000 Einwohnern setzt – diese Region ist nicht viel größer als der Freistaat Thüringen –, kann erst einmal ermessen, über welches Inferno wir hier reden. Gemessen daran wünschte man sich natürlich mehr öffentliche Aufmerksamkeit und mehr problembezogene Diskussionen in den politischen Debatten zu Tschetschenien.

   Wenn wir darüber hinaus die massive Militärkonzentration – 100 000 Soldaten befinden sich zeitweise in dieser kleinen Region und 300 000 in der Umgebung – mit dem Umstand in Zusammenhang bringen, dass ein Großteil staatlicher Gewaltaktivitäten außerhalb des Kriegsrechtes liegt, dann, finde ich, sollten wir unsere Empörung über das Verhalten der Amerikaner in Guantanamo einmal ins Verhältnis zu unserer Empörung über die Entwicklung in Tschetschenien setzen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Werner Hoyer (FDP): Beides ist empörend!)

   Ein zweiter Kommentar scheint mir ebenfalls wichtig zu sein. Wir sprechen wirklich über eine Tragödie. Der Konflikt hat tragische Wurzeln – das ist schon mehrfach angesprochen worden –, die in die Zeit der zaristischen Kolonisation und in die Zeit der stalinschen Deportationen zurückreichen. Er hat aber auch tragische Wurzeln im Wesen des tschetschenischen Volkes selber. Die Regierung Maschadow ist nach dem Friedensabkommen, das mit Lebed geschlossen worden war, erkennbar gescheitert. Sie ist auch deswegen gescheitert, weil in dieser Region ein Clandenken noch so stark vorherrscht, dass es offenkundig extrem schwierig ist, Institutionen der Staatlichkeit eigenverantwortlich zu etablieren. Auch dies sollten wir im Blick haben, wenn wir über diesen Konflikt reden.

   Angesichts einer solchen Lageeinschätzung plädiere ich dafür, dass wir in unserem vergleichsweise behüteten Mitteleuropa uns nicht mit altklugen Ratschlägen oder mit besserwisserischen Urteilen über die Situation äußern;

(Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Sehr gut! – Zuruf von der SPD: Sehr richtig!)

aber ich kann uns angesichts der Dramatik auch nicht empfehlen, dass die Repräsentanten der deutschen Politik mit gespaltener Zunge sprechen. Dies scheint mir mindestens ebenso wichtig zu sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   In diesem Zusammenhang, Herr Minister Fischer, würde ich gern die FDP vor dem Vorwurf der innenpolitischen Spielerei in Schutz nehmen,

(Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Aber nur ein wenig!)

denn wenn dieser Antrag zu einem Klärungsprozess innerhalb der Bundesregierung führt,

(Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Das ist nicht nötig!)

welche Positionen man denn nun gegenüber Russland in Sachen Tschetschenien vertreten will, dann halte ich dies für einen wichtigen und notwendigen Beitrag.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ebenso halte ich es für wichtig, ja für unverzichtbar, dass wir den Dialog mit Russland nicht nur als einen Dialog hinter verschlossenen Türen nach dem Vorbild bismarckscher Diplomatie führen. Die Politik der Europäischen Union, die auf eine strategische Partnerschaft setzt, wird doch nur dann glaubwürdig, wenn wir einen Dialog der Zivilgesellschaften unterstellen. Zu diesem Dialog gehört in punkto Tschetschenien sehr vieles, was zumindest mir bisher viel zu sehr verdrängt wurde.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Dass einer der heute meistgefürchteten, gefährlichsten Terroristen, Schamil Bassajew, noch Anfang der 90er-Jahre im Abchasienkonflikt für russische Interessen gegen georgische Truppen gekämpft hat, macht doch eine Diskussion über den Zusammenhang zwischen tschetschenischem Terrorismus und seiner Vorgeschichte notwendig.

   Wenn russische Truppen – übrigens in einem sehr engen Zusammenhang zur ersten Wahl Wladimir Putins zum Präsidenten; dies war sogar ein Argument für seine Wahl – mit großer Härte und mit dem Ziel eines Unterwerfungsfriedens in Tschetschenien agieren, so müssen wir uns nicht wundern, dass sie den Widerstand in die asymmetrische Kriegführung treiben und es jetzt terroristische Strukturen gibt, von denen wir zu Recht fürchten, dass sie sich dem Netzwerk des islamistischen Terrorismus anschließen.

   Es gibt also viel Raum für offene Diskussionen – nicht besserwisserisch, aber offen und nicht beschränkt auf Diplomatie hinter verschlossenen Türen. Wenn die heutige Debatte und der aus einem Parteitagsbeschluss abgeleitete FDP-Antrag einen Beitrag dazu leisten, so erachte ich dies für wichtig und notwendig. Gleichwohl halte ich es nicht für richtig, über diesen Antrag sofort hier im Plenum abzustimmen, denn im Hinblick auf das Problem erkenne ich an dem Parteitagsbeschluss der Grünen noch zu viele Mängel.

   Weil die Lampe aufleuchtet, will ich nur noch zwei Stichworte nennen. Wir werden mehr Nachdenklichkeit investieren müssen, als wir in diesem Antrag finden, wenn wir die Frage beantworten wollen, was Deutschland und die EU zur Lösung des Tschetschenienkonfliktes beitragen können.

   Hinsichtlich eines zweiten Punktes will ich durchaus die Sichtweise des Bundesaußenministers unterstützen.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Herr Kollege, jetzt können Sie wirklich nur noch einen Schlusssatz sagen.

Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU):

Ich sage noch einen Satz, Frau Präsidentin: Auch ich halte die Sichtweise „Stabilitätspakt Kaukasus“ für nicht zielführend, sondern wünsche mir Aktivitäten, die zwischen den unterschiedlichen Handlungsrahmen im Südkaukasus und im Nordkaukasus unterscheiden. Insofern lohnt es sich, über diesen Antrag im Ausschuss vertiefend zu diskutieren.

   Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Das war wenigstens zur Sache! – Weiterer Zuruf von der SPD: Das war eine gute Rede!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Ich schließe die Aussprache.

   Wir kommen zum Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/3955 mit dem Titel „Zukunft für Tschetschenien“. Mir ist gerade mitgeteilt worden, dass die FDP nach der Debatte auf die sofortige Abstimmung verzichtet, sodass wir gemeinsam davon ausgehen können, dass Überweisung beantragt ist. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. An welche Ausschüsse soll überwiesen werden?

(Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Nur an den Auswärtigen Ausschuss!)

– Sind Sie damit einverstanden? – Dann ist so beschlossen.

   Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:

– Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die parlamentarische Beteiligung bei der Entscheidung über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland (Parlamentsbeteiligungsgesetz)

– Drucksache 15/2742 –

(Erste Beratung 100. Sitzung)

– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jörg van Essen, Rainer Funke, Günther Friedrich Nolting, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Mitwirkung des Deutschen Bundestages bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr (Auslandseinsätzemitwirkungsgesetz)

– Drucksache 15/1985 –

(Erste Beratung 100. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (1. Ausschuss)

– Drucksache 15/4264 –

Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Dieter Wiefelspütz Ronald Pofalla Volker Beck (Köln)Jörg van Essen

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Widerspruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Gernot Erler.

[Der folgende Berichtsteil – und damit der gesamte Stenografische Bericht der 146. Sitzung – wird am
Montag, den 6. Dezember 2004,
an dieser Stelle veröffentlicht.]
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/plenarprotokolle/15146
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