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Juli 02/1998
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Brauchen wir neue Konzepte gegen die Kriminalität?

Fast alltägliche Berichte in den deutschen Medien: Übergriffe gegen Ausländer, prügelnde Hooligans in und um Fußballstadien, Straßenraub, Rauschgiftdelikte und sexueller Mißbrauch werden von vielen Bürgern als ernste Bedrohung wahrgenommen. Wie ist es um die "Innere Sicherheit" der Bundesrepublik Deutschland bestellt?

Sind schärfere Gesetze notwendig? Reichen die Konzepte von Bund und Ländern zur Kriminalitätsbekämpfung aus?

Zu diesem Thema nehmen die innenpolitischen Sprecherinnen und Sprecher der Fraktionen und der Gruppe im "Blickpunkt Bundestag" Stellung.

Erwin Marschewski, CDU/CSU

Hilfe aller gesellschaftlichen Gruppen

Marschewski

Der Kriminalitätsanstieg in den letzten drei Jahrzehnten war bedrohlich. In diesem Zeitraum hat sich die Zahl der polizeilich registrierten Straftaten verdreifacht. Die Steigerung erfaßt die meisten Deliktsbereiche. Entsprechend unterschiedlich müssen die Reaktionen ausfallen. Es gibt kein Patentrezept für alle Bereiche. Die Antwort hat deliktspezifisch zu erfolgen. Für alle Bereiche aber gilt: Es darf keine Toleranz für Rechtsbrecher geben. Die Gewährleistung der Inneren Sicherheit gehört zu den absolut vorrangigen Aufgaben eines Staates, bildet sie doch eine der tragenden Grundlagen seiner Existenz. Sie ist zudem eine grundlegende Voraussetzung für ein freiheitliches und friedliches Zusammenleben der Bürger in jedem demokratischen Staat. Der demokratische Staat beansprucht mit gutem Grund für sich das ausschließliche Gewaltmonopol. Aus diesem hoheitlichen Anspruch resultiert jedoch zugleich seine Pflicht, die Bürger vor den verschiedenen Formen von Kriminalität effektiv zu schützen. Dabei bedarf er der Hilfe aller gesellschaftlichen Gruppen. Es reicht nicht aus, mit den Mitteln von Justiz, Polizei und Verfassungsschutz Erkenntnisgewinnung, Gefahrenabwehr und Strafverfolgung zu betreiben. Vielmehr gilt es, den Grundkonsens und das Wertefundament, das unsere freiheitliche und demokratische Gesellschaft zusammenhält, zu wahren und zu festigen. Eltern, Schulen, Gewerkschaften und Kirchen sind aufgerufen, hierzu einen Beitrag zu leisten.
Dessenungeachtet müssen alle staatlichen Ebenen in den kommenden Jahren ihre Anstrengungen zur Bekämpfung der unterschiedlichen Formen von Kriminalität intensivieren. Dabei ist gerade die Kriminalprävention, die Verhütung von Verbrechen, stärker zu betonen. Sie fällt, was häufig übersehen wird, nach unserer grundgesetzlichen Kompetenzverteilung weitestgehend in den Zuständigkeitsbereich der Länder. Aufgabe des Bundesgesetzgebers ist es, ein ausreichendes Rechtsinstrumentarium zur Bekämpfung von Kriminalität zu schaffen. Diesem Anliegen fühlt sich die CDU/CSU-Fraktion wie keine andere Bundestagsfraktion verpflichtet. Dementsprechend verwahren wir uns gegen Entkriminalisierungstendenzen, wie sie bei Grünen und auch bei der SPD, z.B. im Bereich von Ladendiebstahl oder Schwarzfahren, aber auch bei der Rauschgiftkriminalität bestehen. Statt dessen plädieren wir für Sicherheitspartnerschaften, fordern null Toleranz gegenüber Rechtsbrechern, haben die Polizeivollzugskräfte des Bundes, den Bundesgrenzschutz und das Bundeskriminalamt personell und materiell deutlich verstärkt, und versuchen wo immer möglich, das geltende straf- und strafprozessuale Instrumentarium zur Kriminalitätsbekämpfung zu verbessern. Die Leistungen der Regierungskoalition in den letzten Jahren waren hier beachtlich. Oftmals gegen den Widerstand der Opposition konnte eine Vielzahl gesetzlicher Vorhaben durchgesetzt werden. Der Optimierung des Instrumentariums zur Bekämpfung von Straftaten dienten das Gesetz zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität, das Geldwäschegesetz sowie das Korruptionsbekämpfungsgesetz, Bundesgrenzschutz- und Bundeskriminalamtsgesetz. Sie alle haben geholfen, Deutschland zu einem der sichersten Länder in Europa zu machen. Auf diesem Weg kann es keine halben Sachen geben. Deshalb brauchen wir auch die Regelung der elektronischen Wohnraumüberwachung in Gangsterwohnungen. Denn hochgradig Kriminelle dürfen nirgendwo einen rechtsfreien Raum zur Planung ihrer Verbrechen haben. Dies gebietet der uns durch das Grundgesetz aufgegebene Schutz von Leib, Leben und Eigentum der rechtstreuen Bürger.

Fritz Rudolf Körper, SPD

Ausmaß richtig bewerten

Körper

Im Vordergrund der innenpolitischen Diskussion der vergangenen Jahre stand die Bekämpfung der organisierten Kriminalität. Obgleich die registrierten Zahlen der Delikte und Tatverdächtigen eher gleichgeblieben sind, mußte gehandelt werden, denn das Gefühl systematischer Bedrohung beeinträchtigt die persönliche Freiheit. Auch wird der demokratische Willensbildungsprozeß und das ordnungsgemäße Funktionieren der Verwaltung durch korrumpierte Mandats- und Amtsträger gefährdet. Die SPD hatte schon zur Jahreswende 1993/94 mit einem Parteitagsbeschluß und einem entsprechenden Gesetzentwurf die notwendigen Maßnahmen vorgeschlagen: elektronische Überwachung von Wohnräumen Tatverdächtiger der organisierten Kriminalität und erleichterter Zugriff auf deren rechtswidrig erworbenes Vermögen. Leider ist es erst im vergangenen Jahr gelungen, die Koalitionsfraktionen für die notwendigen Verfassungs- und Gesetzesänderungen zu gewinnen. Sobald auch der gemeinsame "Entwurf eines Gesetzes zur verbesserten Abschöpfung von Vermögensvorteilen aus Straftaten" verabschiedet ist, können alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen werden, ohne andererseits die Grundrechte der Bürger über Gebühr zu berühren.
Eine wesentliche Rolle insbesondere bei Verbrechen, Vergehen gegen die sexuelle Selbstbestimmung, gefährlicher Körperverletzung, schwerem Diebstahl und Erpressung wird künftig der genetische Fingerabdruck spielen. Das DNA-Identitäts-Feststellungsgesetz ist bereits mit großer Mehrheit über Parteigrenzen hinweg im Rechtsausschuß gebilligt worden, nachdem die SPD dort mit ihren Forderungen nach einer rechtsstaatlich einwandfreien Gesetzesgrundlage durchgedrungen ist. Für uns kam es auch hier darauf an, wirksame Kriminalitätsbekämpfung und Bürgerrechte in Einklang zu bringen.
Nicht zuletzt ist für die Bekämpfung der Kriminalität wesentlich, daß man ihr tatsächliches Ausmaß kennt. Bis jetzt wird zumeist auf die polizeiliche Kriminalstatistik zurückgegriffen, die zwar unverzichtbar ist, aber nicht ausreicht, um die Sicherheitslage gewissenhaft einzuschätzen. Diese Statistik beruht nämlich auf dem Tatverdacht, der sich im weiteren Verlauf des Verfahrens nicht immer bestätigt. Notwendig ist deshalb eine Verknüpfung mit anderen Statistiken, insbesondere der Strafverfolgungsstatistik, mit dem Ziel, eine Verlaufsstatistik zu erstellen. Dies bleibt eine Aufgabe für die nächsten Jahre!

Rezzo Schlauch, Bündnis 90/Die Grünen

Patentrezepte gibt es nicht

Schlauch

"Die Kriminalität nimmt zu", das Lamento der Politik zu Wahlkampfzeiten hat einen Haken: Es basiert auf falschen Tatsachen. Aktuell hat sich die Kriminalität, nimmt man die Fallzahlen der Statistik in den letzten Jahren, verringert, wenn auch geringfügig. Die Klage über die schlimmen Verhältnisse, meist verbunden mit starken Sprüchen über kriminelle Ausländer, die man "am Kragen packen und rausschmeißen" sollte, stärkt die Angst vor Kriminalität. Einen nüchternen Blick auf die wirklichen Probleme und damit auf mögliche Lösungsansätze verstellt sie. Wirklich problematisch sind in erster Linie die qualitativen Veränderungen in der Kriminalstatistik: die zunehmende Jugendkriminalität, höhere Gewaltbereitschaft und mehr Delikte hier nicht seßhafter Durchreisender.
Patentrezepte gegen Kriminalität gibt es nicht. Wer sie verspricht, täuscht die Bürgerinnen und Bürger. In der Kriminalitätsbekämpfung fehlt es nicht an Gesetzesverschärfungen. Davon hat die Koalition in den letzten Jahren reichlich beschlossen. Wenn es an etwas fehlt, dann ist es die Präsenz der Polizei auf den Straßen und im Stadtviertel, dann ist es eine angemessene Ausstattung der Gerichte, damit Urteile zeitnah gefällt werden können. Und es fehlt an einer vernünftigen und effizienten Drogenpolitik, die Abhängigen hilft, anstatt sie in die Beschaffungskriminalität zu treiben. Es fehlt an einer Sozialpolitik, die Alten erspart, auf Bahnhöfen in Papierkörben wühlen zu müssen, und Jugendlichen andere Betätigungsfelder bietet, als eben mit "Haste mal 'ne Mark?" zu nerven. Wer wie Innenminister Kanther den angeblichen Werteverfall bei Jugendlichen und Kindern beklagt und an die Erziehungsleistung der Familien appelliert, der sollte selber seine erzieherische Vorbildfunktion überprüfen. Wer nämlich dazu schweigt, daß die führenden Manager der großen deutschen Energieversorgung jahrelang die Öffentlichkeit über verstrahlte Castor-Transporte hinters Licht führen, wird schwerlich Erfolg haben, wenn er Ehrlichkeit und Anstand beim Bürger anmahnt. Fortschritte in der Bekämpfung der Kriminalität wird man nur erreichen, wenn man die Präventionen stärkt und weit im Vorfeld ansiedelt, bevor kriminelle Karrieren beginnen. Der Weg zurück in die 50er Jahre, die Wiedereinführung geschlossener Heime und lebenslanger Sicherungsverwahrung, wird keinen Erfolg bringen. Ein Ausbildungsplatz für jeden Jugendlichen und die volle rechtliche Integration hier geborener Kinder der zweiten Ausländergeneration hilft, Perspektiven zu schaffen und Vorurteile abzubauen. Das kann man übrigens auch in der Politikstatistik nachlesen: "Ungünstige Sozialisationsbedingungen, Arbeitslosigkeit auch der Erziehungspersonen, eigene ungünstige Zukunftsperspektiven, ein die finanziellen Möglichkeiten übersteigender Lebensstil, Trend zu immer größerer Vereinzelung, Tolerierung von Gewalt zur Lösung von Konflikten, Alkoholmißbrauch oder negative Medieneinflüsse" sind danach die Ursachen für steigende Jugendkriminalität. An die muß man ran!

Max Stadler, F.D.P.

Bürgern mehr Sicherheit geben

Stadler

Das Thema "Innere Sicherheit" steht bei den Liberalen nicht erst dann auf der Tagesordnung, wenn die nächste Wahl vor der Tür steht; Innere Sicherheit war immer ein Schwerpunktthema und wird es auch weiter bleiben. Der innere Frieden einer Gesellschaft beruht auf der Freiheit der Rechtsordnung ebenso wie auf der Sicherheit der Bürger. Zu einer Rechtsordnung, die der Bürger als richtig und gerecht anerkennt, gehört auch ihre Durchsetzung und damit der Schutz gegen Straftaten, also Innere Sicherheit. Die immer hektischer werdende Gesetzgebung trägt nicht zur Inneren Sicherheit bei. Vielmehr muß überprüft werden, inwieweit die bereits beschlossenen Gesetzesänderungen greifen. Allein seit 1991 sind 40 bundesgesetzliche Maßnahmen, von der Rasterfahndung, dem verdeckten Ermittler, der Kronzeugenregelung bis hin zur Telefonkontrolle durch den Bundesnachrichtendienst und der schärferen Ausweisung krimineller Ausländer, der Korruptionsbekämpfung, in das Gesetzblatt geschrieben worden. Untersuchungen über die Wirkungen dieser Neuregelungen und eine Erfolgsbilanz fehlen. Hier muß nachgebessert werden. Insbesondere stellt sich die Frage nach den Ursachen: Die offenen Grenzen nach allen Himmelsrichtungen haben das Vordringen organisierter Kriminalität begünstigt. Die mangelhafte Integration von Ausländern, die Angst der Deutschen vor allem Fremden, veranlaßt hier lebende Ausländer zu Eigenleben und treibt sie in die Isolation, die häufig dann in Kriminalität münden kann. Vollzugsdefizite bei der Polizei und Justiz schwächen ebenfalls die Innere Sicherheit. Erforderlich ist eine bessere Ausbildung, modernere Technik, mehr Personal, Effizienz bei der Rechtsprechung. Innere Sicherheit kann nur durch ein ressortübergreifendes Gesamtkonzept geschaffen werden, das darauf abzielt, Anreize zur Tatbegehung zu senken, potentielle Täter zu demotivieren, Tatgelegenheiten systematisch abzubauen, potentielle Opfer zu beraten, den Bürger am Prozeß der Herstellung Innerer Sicherheit zu beteiligen sowie Industrie und Versicherung einzubeziehen (z.B. durch elektronische Sperren für Autos, Autoradios, ein Bonussystem bei Eigenleistungen des Versicherungsnehmers). Die liberale Botschaft im Bereich der Inneren Sicherheit ist: Wir nehmen die Gefährdungsgefühle der Bevölkerung ernst; Patentrezepte gibt es nicht, wer anderes behauptet, spielt mit der Angst der Menschen und wird den Ursachen des Problems nicht gerecht; nicht nach immer weiteren neuen Gesetzen rufen, sondern Vollzugsdefizite bekämpfen; eine verstärkte Präsenz von Ordnungskräften und Polizei in der Öffentlichkeit und eine effektiv handelnde Justiz müssen den Bürgern mehr Sicherheit geben.

Ulla Jelpke, PDS

Soziale Ursachen

Jelpke

Beim Thema "Kriminalität" fällt als erstes ein großer Widerspruch zwischen den Tatsachen und den Worten und Taten der herrschenden Politik ins Auge. Nach der neuesten Kriminalstatistik für das Jahr 1997 sank die Kriminalitätsquote um 0,9%, der Anteil ausländischer Straftäter nimmt ab. Nach einem Lagebericht des BKA war auch die "organisierte Kriminalität" 1997 rückläufig. Die Kriminalität also wird geringer, gleichzeitig aber werden mit dem Schreckensbild des organisierten Verbrechens, und vor allem des ausländischen, immer neue Sicherheitsgesetze durchgesetzt, die vor allem auf eines zielen: auf den Ausbau des "Hochsicherheitsstaates". Bundesregierung und auch SPD stehen für polizeifixierte Konzepte der öffentlichen Sicherheit, des "starken Staates" bzw. der "wehrhaften Demokratie". Die SPD hat in einer großen Sachkoalition mit der Regierung alle wesentlichen Regelungen und Verschärfungen zum Ausbau des Repressionsapparates mitgetragen und dadurch ihre Zustimmung erst möglich gemacht. Einige Stichworte: Abschottung der Grenzen gegen Flüchtlinge nach der faktischen Abschaffung des Asylrechts, der "Große Lauschangriff", Raster- und Schleierfahndung, Ausbau des BGS, EUROPOL usw. usw. Sowohl Bundesregierung als auch SPD gehen offensichtlich (in realistischer Einschätzung ihrer Möglichkeiten und Fähigkeiten) davon aus, daß sie die sozialen Ursachen für "kriminelles Handeln" nicht beseitigen können (oder wollen). Nicht jeder, der arm ist, wird auch kriminell. Aber: Hohe Arbeitslosigkeit, die Angst um die Wohnung und die zunehmende gesellschaftliche Ausgrenzung sind ein sozialer Boden, auf dem Kriminalität gedeihen kann. Die Kriminalpolitik der PDS will gerade diese sozialen Ursachen kriminellen Handelns bekämpfen. Daher treten wir ein für eine andere Gesellschafts- und Sozialpolitik, die mit der Logik des Profits und des "Standort Deutschland" bricht und die Interessen und Bedürfnisse der Menschen in den Mittelpunkt stellt.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/1998/bp9802/9802081
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