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Oktober 10/2000
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menschen im bundestag

Nur fünf Schritte bis zum Fenster

Harald Berwanger gehört zur Arbeitsgruppe Außenpolitik der SPD-Bundestagsfraktion. Sein Geburtsland ist zugleich auch sein Arbeitsgebiet.
Harald Berwanger...
Harald Berwanger...
Harald Berwanger...
Harald Berwanger...

Das Büro ist zuerst immer auch die Barriere. Neben der Tür hängt das Schild mit einem Namen und der Beschreibung eines Arbeitsgebietes. "Harald Berwanger" steht da beispielsweise und "Arbeitsgruppe Außenpolitik". Der Raum selbst ist klein. Schon nach fünf Schritten stünde man am Fenster und sähe auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein schönes altes Haus. Dessen Lack ist ein wenig ab. Fünf Schritte kann man aber nicht gehen, denn in der Mitte des Raumes steht ein großer Schreibtisch. Rechts neben der Tür ein hoher Einbauschrank, der beim Öffnen seiner Funktion beraubt und zur Einbauküche wird. Eine winzige Pantry eher, in der man Tee oder Kaffee kochen und vielleicht auch ein Brot schmieren kann. Rechts neben dem Schreibtisch hängen Karten und ein paar Hausdepeschen, auf dem Schreibtisch liegt Papier.

Der Raum gibt nichts preis über den Referenten der Arbeitsgruppe Außenpolitik der SPD-Fraktion im Bundestag, Harald Berwanger. Der Raum verrät kein Gefühl, keine Leidenschaft und keine Macke. Er ist die Barriere. Er sagt nichts darüber aus, was Harald Berwanger hier den ganzen Tag macht. Und schon gar nichts darüber, warum er es macht. Harald Berwanger muss sich selbst preisgeben, soll er beschrieben werden. Aber er ist ein leiser Mensch. Er redet ruhig und verliert dabei fast nie den Blickkontakt. Nur wenn er über den nächsten Satz nachdenkt, senkt er manchmal den Kopf ein wenig oder schickt den Blick nach irgendwo über die Gesprächspartnerin hinweg.

Der kleine Raum zwingt ihn hinter den Schreibtisch und die Besucherinnen davor. Er legt die Hände so, dass die dadurch entstehende Distanz gemindert wird. Den Raum füllt ein irritierendes Geräusch. Es entsteht durch die S-Bahn, die möglicherweise einige Deckenelemente zum Schwingen bringt. Ein leichtes Klirren, das einen über das ganze Gespräch hinweg begleitet. Falsche Töne, die Harald Berwanger nicht mehr hört und die Tonfrau eines Fernsehteams zur Verzweiflung brächte.

Der Raum ist die gegenwärtige Etappe einer langen Geschichte, die weit weg, in einem ganz anderen Land und in einem ganz anderen Leben begann und die einem eine von vielen möglichen Antworten auf die Frage geben kann, wie man in solchen Räumen landet und zu solch einem Türschild kommt.

Als Harald Berwanger geboren wird, ist die Teilung Deutschlands bereits seit einem Jahr durch eine Mauer zementiert. Auf Ewigkeiten, wie es scheint. Für die im Westen Deutschlands gehört er also zu jenen hinter dem Eisernen Vorhang. Seine Geburtsstadt Temeswar liegt in Rumänien und wird 28 Jahre später Ausgangsort einer Erneuerung, eines Auf- und Widerstandes gegen das herrschende System sein. 1962 ist Temeswar eine Stadt, in der sehr viele Rumäniendeutsche leben, Harald Berwangers Familie gehört dazu. Seine Muttersprache ist deutsch, er besucht deutsche Schulen, seine Stadt wird oft mit der westlichen Metropole Wien verglichen, seine Bezugspersonen gehören fast alle, wie er selbst, zu einer Minderheit. Das hat ihn geprägt, bis zum heutigen Tag. "In einer Diktatur zu leben, ist nicht schön, aber es stärkt die Wahrnehmung. Es stärkt die Widerständigkeit und das ganze Lebensgefühl. Man sagt ja, einmal Minderheit, immer Minderheit, das muss so nicht stimmen. Aber was stimmt, ist, dass man nie vergisst, wie es sich als Minderheit lebt und sich so immer auch in andere Menschen hineinversetzen kann, die in dieser Situation sind."

Blick aus dem Bürofenster von Harald Berwanger.
Blick aus dem Bürofenster von Harald Berwanger.

Das sagt Harald Berwanger heute. Er stellt bewusst keinen Abstand zu diesem ihn so prägenden Lebensgefühl her. Er sagt nicht: Damals habe ich das so empfunden. Er spricht in der Gegenwart, und die Gegenwart erinnert ihn auch immer wieder daran. Als er 1998 in die Fraktion der SPD wechselte und in das Arbeitsgebiet Südosteuropa, begann gerade der Kosovo-Krieg. Keine einfachen Zeiten also.

Harald Berwanger sitzt in einem Büro in Deutschland und erarbeitet Papiere für Abgeordnete, die sich mit diesem Thema befassen, er schreibt Anträge und Pressemitteilungen, versucht Kontakte zu den Ländern herzustellen und zu halten, tritt mit Botschaften und befreundeten Parteien in Verbindung, sammelt Informationen, redet mit Vertretern von Nichtregierungs- und Menschenrechtsorganisationen und geht gelegentlich auf Reisen.

1983 ist er auch auf Reisen gegangen. Da ist er 21 Jahre alt und hatte in Rumänien eine Lehre als Goldschmied begonnen. "Mein Vater war Journalist und Chefredakteur einer deutschsprachigen Zeitung. Ein politisches Elternhaus also, in dem viel darüber diskutiert wurde, was gerecht und was ungerecht ist. Und noch mehr darüber, ob es richtig ist, zu bleiben und sich zu bemühen, das Richtige zu tun, oder zu gehen, um sich nicht anpassen zu müssen. Die Lehre als Goldschmied war auch ein bisschen der Versuch, dieser Gratwanderung zu entgehen, dieser Ambivalenz, die ein Bleiben im Land auch immer beinhaltete. Es war ja das Schwierigste überhaupt, eine gerechte Gesellschaft einzufordern in einem System, das für sich in Anspruch nahm, eine gerechte Gesellschaft zu sein. Mein Vater hat sich nicht angepasst, aber er wollte auch nicht gehen. Darüber haben wir sehr sehr lange geredet und nachgedacht, was das Richtige ist."

1983 geht Harald Berwanger nach Westdeutschland, nach und nach folgt in den darauf folgenden Jahren die Familie. Er durchläuft in Nürnberg die Einwanderungsprozedur und beginnt noch einmal, sein Abitur zu machen. Sein rumänischer Abschluss an einem deutschsprachigen Gymnasium wird nicht anerkannt. Er kennt den Walther von der Vogelweide und den Grass, aber es ist immer noch Kalter Krieg. Vom Droste-Hülshoff-Gymnasium in Meersburg am Bodensee geht es nach Bonn zum Studium. Dies alles ist kein leichter Weg in ein neues Leben. "Wenn man 20 ist, meint man, genau da, wo man gerade nicht ist, sei die Welt besser. Und dann landet man auch in einer Realität und muss kämpfen. Das nennt man wohl erwachsen werden."

Bereits während des Studiums engagiert sich Harald Berwanger in der Otto-Benecke-Stiftung für Einwanderer, die in Deutschland ihre Ausbildung beenden wollten. Später wird er dort für einige Zeit arbeiten. Er geht zu den Jusos und sammelt weitere Erfahrungen mit politischer Arbeit. 1990 ist er fertig mit dem Studium. Ein knappes Jahr zuvor war er noch einmal in Rumänien. "Ich dachte, wo Revolution ist, da muss ich dabei sein, und fuhr mit einem Journalisten nach Rumänien. Nicht als Beobachter. Dazu war der Abstand noch zu gering. Er ist auch durch die wenigen Jahre in Deutschland nicht sehr groß geworden. Ich konnte kein Beobachter sein. Ich hatte das Gefühl, mich nochmals mit meiner eigenen Familiengeschichte auseinander zu setzen. Das Ende dieser Diktatur war für mich eine tiefe Genugtuung. Und nun denke ich manchmal, dass alles so langsam geht, quälend langsam manchmal."

...im Gespräch.
...im Gespräch.
...im Gespräch.
...im Gespräch.

Es gab und gibt im Leben von Harald Berwanger immer wieder Momente, in denen er es als Handicap empfindet, so stark emotional in dem drin zu sein, was er tut. "Ich habe sechseinhalb Jahre Naher Osten gemacht, und das war gut für mich. Ich brauchte Abstand zu dem Geschehen in Mittel- und Südosteuropa. Anfang der neunziger Jahre hätte ich mich beruflich nicht mit diesen Themen befassen können. Zu dicht, zu nah, zu gefühlsbeladen."

Auch nach sechseinhalb Jahren befürchtet Harald Berwanger noch einen Rückholeffekt, falls Südosteuropa in seinen Zuständigkeitsbereich fallen soll. "Es war nicht so schlimm", sagt er, sich selbst vergewissernd und wiederholt den Satz zur Sicherheit noch einmal. "Es war nicht so schlimm."

Vor kurzem ist er wieder nach Rumänien gefahren, und wieder hat er den Eindruck, dass alles viel zu langsam geht, und wieder fährt er fort mit dem Gefühl, dort nicht mehr sein zu wollen, da nicht mehr leben zu können. "Ein Land", sagt er, "in dem Homosexualität immer noch unter Strafe steht und wo man Diskussionen im Fernsehen erlebt, die hier in den sechziger Jahren stattgefunden haben. Ich besuche dort die Gräber von Familienangehörigen. Aber das soziale Umfeld, in dem ich groß geworden bin, ist ausgewandert. So wie ich."

Im Oktober brachte ihn seine Arbeit nach Belgrad, einhundert Kilometer von der Geburtsstadt Temeswar entfernt, aber dicht an allem dran, womit er in seiner jetzigen Tätigkeit konfrontiert ist: Konflikt, politische Unruhen, Armut, Angst vor Kriegen, Rückschläge, Konfrontationen, Neuanfänge.

Für ihn, sagt er, sei es eine gute Arbeit, Leuten zu helfen, die man vorher nie gesehen hat und später wahrscheinlich nie wieder sehen wird. Menschen, die manchmal nur eines mit seiner Geschichte gemeinsam haben: Sie gehören zu einer Minderheit oder sie werden zu einer Minderheit gemacht.

"Momente der Sentimentalität, die immer entstehen, wenn man an seine Kindheit denkt, relativieren sich so auch", sagt er.

Die S-Bahn hat das ganze Gespräch in unregelmäßige Takte geteilt. Zum Schluss war sie fast vergessen – nur noch ein kleines Klirren am Rande einer langen Geschichte. Der Raum ist immer noch so klein wie vorher. Wir gehen um den Schreibtisch herum und schauen uns das alte Haus gegenüber an. Es sind wirklich nur fünf Schritte bis zum Fenster.
Kathrin Gerlof

Infos

Die SPD-Bundestagsfraktion beschäftigt rund 300 Mitarbeiter, davon 69 Angestellte und Beamte, die bei ihren Dienststellen beurlaubt sind. Sie unterstützen die Arbeitsgruppen der Fraktion. Es gibt jeweils eine Arbeitsgruppe für jeden der 23 Ausschüsse des Bundestages, die fünf Enquetekommissionen und den Untersuchungsausschuss. Dazu kommen eine Reihe von Arbeitsgruppen für die Behandlung "bestimmter Fragen". Außerdem unterstützen Fraktionsmitarbeiter den Fraktionsvorsitzenden und seine Stellvertreter sowie die Parlamentarischen Geschäftsführer bei der Erfüllung ihrer speziellen Aufgaben.

Informationen zur SPD-Bundestagsfraktion:

Internet: www.spdfraktion.de

E-Mail: frakserv@spdfrak.de

Service-Telefon: 030-22757133 und 030-22757206

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2000/bp0010/0010053
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