Rede von
Christel Riemann-Hanewinckel bei der Debatte im Deutschen Bundestag
zum 6. Familienbericht am 31.5.01:
Zur Zeit
führen wir eine Debatte, die geprägt ist von
der
Überlegung: "Wie viel Zuwanderung ist für
uns, ist für die Deutschen
optimal?"
Die andere
Frage ist "Was ist optimal für Migrantinnen und Migranten, die
seit Jahren in unserem Land leben, arbeiten, lernen, Familien
haben?"
Der 6.
Familienbericht unterstreicht die Notwendigkeit familienpolitischer
Konsequenzen für die Familien ausländischer
Herkunft.
Familien
ausländischer Herkunft sind und werden auch in Zukunft ein
fester Bestandteil unserer Gesellschaft sein. Auch für sie
gilt Artikel 6 unseres Grundgesetzes - ganz gleich, woher sie
kommen, wie lange und ob sie bleiben. Eine faire Politik für
diese Familien wird immer Querschnittspolitik sein, die weit in
andere Politikfelder hineingreift .
Der Bericht
macht erstmalig deutlich: Die Einwanderung nach Deutschland ist
fast immer das Projekt einer ganzen Familie, selten nur bleibt es
bei einer Person. Zwar kommt in vielen Fällen zuerst ein
sogenannter "Pionier", doch er oder sie wird früher oder
später die Familie nachholen. Mehrere Generationen sind in
unterschiedlicher Weise betroffen und diese entscheiden sich ganz
unterschiedlich: Für Integration in Deutschland,
Weiterwanderung, Rückkehr ins Heimatland oder auch für
das Pendeln zwischen zwei Ländern.
Familien
ausländischer Herkunft sind vom deutschen Arbeits- und
Dienstleistungsmarkt nicht mehr wegzudenken. Und sie leisten einen
erheblichen Beitrag für den Wohlstand in
Deutschland.
Jetzt zu den
einzelnen Konsequenzen aus dem Bericht:
- Wir
müssen frühzeitig Kinderbetreuung anbieten, um
Kinder von Migrantinnen und Migranten besser zu integrieren. So
wird der spätere Schulbesuch und die Integrationsleistung
insgesamt erheblich erleichtert - die der ausländischen und
die der deutschen Kinder. Letztere profitieren von frühen
Kontakten zu anderen Kulturen. Sie erhalten erste Eindrücke
einer fremden Sprache und erweitern ihren Horizont durch andere
Gesten und Spielweisen. Die Zweisprachigkeit wird schon hier
gefördert.
- Auf das Thema
der Schul- und Berufsausbildung wird meine Kollegin Christa
Lörcher eingehen.
(Nur
soviel: Ausländische Firmen und insbesondere Firmen von
Migrantinnen und Migranten in Deutschland müssen für eine
Beteiligung an der dualen Berufsausbildung geworben werden. An
unseren Hochschulen müssen wir die Internationalität
fördern und verstärkt Studiengänge und
interdisziplinäre Forschungsinstitutionen etablieren, die
interkulturelle Bildung, internationale Migration, ethnische
Studien, geschlechtsspezifische Fragestellungen der Migration und
Integration sowie interkulturell vergleichende
Familienwissenschaften zum Gegenstand haben.)
- Deutschland
hat - im Vergleich zu den meisten anderen Staaten - ein sehr
differenziertes System aufenthaltsrechtlicher Regelungen. Jeder
Status wirkt sich auch anders auf die Möglichkeit, arbeiten zu
dürfen oder die Familie nachzuziehen, aus. Geduldete Familien
leben in einer unendlichen und nagenden Unsicherheit, da ihr
Aufenthalt alle paar Monate in Frage steht. In der Praxis sind
diese Familien oft Jahre in Deutschland. Doch ihre Lebensplanung
braucht eine langfristige Perspektive. Kontinuierliche, klare und
umfassende rechtliche Absicherungen sind wichtig. Vor diesem
Hintergrund kann ich die Erklärung des Europäischen Rates
1999 in Tampere nur begrüßen, eine gerechte Behandlung
von Drittstaatsangehörigen, die sich rechtmäßig im
Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten aufhalten, sicherzustellen. Eine
energischere Integrationspolitik sollte ihnen Rechte und Pflichten
zuerkennen, die denen der Unionsbürger vergleichbar
sind.
Wie von der
EU-Kommission vorgeschlagen, sollte bald eine Richtlinie des Rates
umgesetzt werden, die den sich in der EU dauerhaft aufhaltenden
Menschen aus Drittstaaten das Recht auf
Familienzusammenführung einräumt. Diese muss erleichtert
und gesetzliche Regelungen vereinfacht werden.
Der Vorschlag
der Kommission beinhaltet nicht, wie von der Opposition gerne
dargestellt, die Möglichkeit eines unkontrollierbaren Zustroms
nach Deutschland. Die Voraussetzungen für den Nachzug der
Familie sind im Vorschlag der Kommission definiert: eine
Aufenthaltsdauer von einem Jahr, genügend Wohnraum für
die Familie, eine Krankenversicherung auch für die
Familienmitglieder, feste und ausreichende Einkünfte. Der
Vorschlag zielt auf die Zusammenführung der sog. "Kernfamilie"
(d.h. Ehegatte + minderjährige Kinder).
(Wer
darüber hinaus Familienangehörige nachziehen lassen will,
muss weitere Voraussetzung erfüllen. Wer z.B. die Eltern oder
die volljährigen Kinder in die EU nachziehen lassen will, muss
nachweisen, dass ihnen "aus stichhaltigen, objektiven Gründen"
sonst "ein würdevolles und unabhängiges Leben" nicht
möglich wäre. Was unverheiratete Paare angeht, so kann
der Partner/die Partner nur nachziehen, wenn diese in dem
betreffenden Mitgliedstaat den verheiraten gleichgestellt
sind.)
Unbegleitete
minderjährige Flüchtlinge sollen das Recht haben, ihre
Eltern nachzuholen. Das Nachzugsalter sollte erhöht werden.
Der Vorschlag der CDU/CSU, Kinder über 10 Jahren nicht mehr
nachziehen zu lassen, ist geradezu infam. Meine Frage an diese
"so-familienfreundliche Partei": Wie bitte stellen Sie sich das
Leben einer Elfjährigen in einem beliebigen Herkunftsland vor,
deren Eltern nicht das Recht haben, sie nachzuholen?
- Insbesondere
ihre große Solidarität hilft Familien ausländischer
Herkunft die Belastungen, die im Zusammenhang mit Migration - oder
sogar Bürgerkrieg und politischer Verfolgung - entstehen, zu
bewältigen. Ihre ausgeprägte Bereitschaft,
Pflegeleistungen im Falle von Krankheit und Alter ihrer
Familienangehörigen zu übernehmen, müssen wir
fördern. Die bislang bestehenden Angebote von sozialen
Diensten müssen den durch Migration entstandenen
Veränderungen weiter angepasst werden.
- Ich
möchte Ihre Aufmerksamkeit auch auf die Situation binationaler
Familien lenken. Sie unterscheidet sich von der deutscher Familien
in vielen wichtigen Bereichen. Schon allgemein gelten für den
ausländischen Partner beziehungsweise die Partnerin nicht
durchgängig die gleichen Rechte (z.B. Wahlrecht). In
Fällen von Trennung und Scheidung ist die rechtliche Situation
besonders prekär, da der nicht-deutsche Elternteil u. U. um
seine Aufenthaltserlaubnis fürchten muss. Zwar hat das neue
Kindschaftsrecht das Recht des Kindes auf beide Elternteile
besonders hervorgehoben, seine Umsetzung für ausländische
Elternteile bedarf jedoch der Änderung der
Verwaltungsvorschriften zum Ausländergesetz. Der Begriff des
"Kindeswohls" findet sich im Ausländergesetz nicht.
Darüber
hinaus werden binationale Familien häufig mit einem
abwehrenden und diskriminierenden Verhalten der Behörden bei
der Beantragung von Visa zur Familienzusammenführung oder zum
Besuchsaufenthalt konfrontiert.
Ich erhalte
fast wöchentlich Briefe von Menschen, die darunter leiden,
dass ihnen die Eheschließung wegen des Verdachtes der
Scheinehe verweigert wird oder von denen die Vorlage von
unzulässigen Erklärungen und Versicherungen verlangt
wird. Lange Bearbeitungszeiten sind da noch der Glücksfall.
Auch hier müssen wir uns dafür einsetzen, dass die
ausländischen Menschen nicht länger als Ballast, sondern
als Bereicherung unseres Landes angesehen werden.
- Ein
besonderes Problem sind die sich in Deutschland illegal
aufhaltenden Migrantinnen und Migranten. Illegal darf nicht
gleichbedeutend sein mit rechtlos. Auch für illegal
Eingereiste gelten Grundrechte. Sie müssen Zugang zur
gesundheitlichen Versorgung und zur Bildung haben. Der Vorsitzende
der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Lehmann, verweist zu Recht
auf Artikel 2 unseres Grundgesetzes, wonach jeder Mensch das Recht
auf Leben und körperliche Unversehrtheit hat. Ebenso
dürfen wir, wenn wir unser Grundgesetz ernstnehmen, Kindern
von illegalen Flüchtlingen den Schulbesuch nicht verweigern.
Den mutigen und hilfswilligen Ärzten, Lehrern, Schuldirektoren
und Jugendamtsmitarbeitern ist nicht länger das Risiko
zuzumuten, sich strafbar zu machen. Die Mitteilungspflichten an die
Ausländerbehörden müssen daraufhin überarbeitet
werden.
Schlußteil:
Der 6.
Familienbericht war bitter nötig. Der Bericht zeigt, wie
komplex das Gebiet ist, wie vielfältig die
Migrationshintergründe, die Kulturen und vor allem die
Menschen selbst.
Bei der
Diskussion um Zuwanderung und Integration schwirren viele
Vermutungen mit, die nicht auf Tatsachen beruhen, sondern auf
Angst, Nichtwissen und Vorurteilen. Der Familienbericht räumt
mit solchen Vorurteilen auf, indem er die Situation, die
Erfahrungen und die Erwartungen der Migrantinnen und Migranten
detailliert untersucht. Dabei konnten die Mitglieder der
Sachverständigenkommission nur auf sehr wenig vorhandenes
Material zurückgreifen. Das zeigt, dass wir in Deutschland in
Zukunft sehr viel genauer analysieren müssen, um den Menschen,
die hier leben werden, zu entsprechen. Den Sachverständigen
kann ich daher nur meine Bewunderung und meinen Dank für diese
sehr schwierige und wichtige Arbeit aussprechen.
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