Predigt am 13.
6. 2001 in der Friedenskirche
Zur
Eröffnung des 29. Deutschen Evangelischen Kirchentages in
Frankfurt am Main
Christel
Riemann - Hanewinckel, Halle/ Saale, MdB
Liebe
Kirchentagsgemeinde der Friedenskirche in Frankfurt am
Main!
"Du stellst
meine Füße auf weiten Raum" - ein altbekannter Satz, oft
gehört, gebetet, gesungen - 2001 ist er als Losung für
den Kirchentag hier in Frankfurt ausgesucht worden.
Der Satz
hört sich gut an. Er verspricht Standhaftigkeit, Sicherheit,
Lust am Laufen und Entdecken. Er verspricht Abenteuer, Weite,
Unendlichkeit, Licht, Luft und Sonne. Wahrscheinlich liegt das an
Illustrationen, Plakaten, die diesen Satz immer wieder einmal
untermalt haben. Jedenfalls ist das in meiner Erinnerung
so.
Ich gebe zu:
bisher habe ich diesen Satz nur in diesem Zusammenhang erinnert. An
Ängste, Sorgen, Lebensbedrohung dachte ich nicht. Aber hier,
im 31. Psalm, klagen Menschen. Entsetzliches müssen Beterin
oder Beter gerade erleben.
Und das wohl
nicht zum ersten Mal. Die Geschichten des Volkes Israel sind voller
Bedrängnis und Not und Angst.
Sie erinnern
sich, dass Gott "adonaj" sich um Hilfe anrufen lässt - und das
buchstäblich mit dem letzten Funken Hoffnung.
"Neige mir zu
dein Ohr,
eilends
errette mich!
Sei mir ein
schützender Fels,
ein bergendes
Haus, mich zu retten.
Du wollst mir
den Weg zeigen und mich begleiten,
mich
herausreißen aus dem Netz, das sie mir heimlich
legten.
Du hast mein
Elend gesehen, wahrgenommen die Enge meiner Kehle.
Du hast mich
nicht ausgeliefert in Feindeshand,
hast ins Weite
gestellt meine Füße."
Die Betenden
schreien ihre Angst, ihr Entsetzen, ihre Not und ihre Hoffnung
hinaus. Sie reden in Bildern, die mir Angst und Bange und Hoffnung
zugleich machen, Hören und Sehen kann einem vergehen. Das
Hineinversetzen kann die Kehle zuschnüren.
Wer oder was
den Betern des Psalms so zusetzt, wissen wir nicht. Doch es nimmt
ihnen die Luft, es geht ihnen an die Nieren, es bricht ihnen das
Herz, der Boden unter den Füßen ist ihnen weggezogen.
Sie sitzen in der Falle, im Netz gefangen. Flucht scheint nicht
möglich zu sein.
Da kommt die
Erinnerung. Damals hat Gott "adonaj" nicht nur einem Einzelnen,
sondern dem ganzen Volk zur Flucht verholfen. Heraus aus der Enge
der Sklaverei, in der immer wieder die Würde des Einzelnen,
des Volkes Israel und die Gottes verletzt wurde, wo Menschenrechte
mit Füßen getreten wurden. Und ihr Gott "adonaj" hat sie
gerettet, hat sich an die Spitze der Fluchtbewegung gesetzt und
Unmenschliches geleistet: Er hat die Wasser geteilt, hat als
Feuersäule bei Nacht geleuchtet, ist am Tage als
Staubsäule vorangezogen. Er hat sie mit Wasser aus dem Felsen
und mit Manna vom Himmel versorgt und am Leben gehalten. Er hat
ihre Flucht beendet und sie in das Land geführt, in dem Milch
und Honig fließen sollten, wo es Wohlstand und Würde,
Frieden und Freiheit für alle geben sollte. Doch der Weg
führte durch die Wüste, vierzig Jahre lang. Und doch: die
Flucht gelang, der Neuanfang war möglich, Gott sei
Dank!
Daran erinnern
sich die Beter Generationen später in ihrer Angst, in ihrem
Entsetzen und in ihrer Furcht vor den jetzigen Feinden und
Verfolgern. Sie rechnen mit Gott, nicht nur mit dem Schutz für
eine Nacht in einem Versteck, sondern sie hoffen auf
Bewegungsfreiheit, auf neue Wege und auf ein neues Zuhause, ein
Leben in Frieden und Freiheit.
Und die Beter
wissen, dass auch auf den neuen Wegen Mühe, Versagen und
Schuld sein werden. Deshalb reden sie von der Angst und dem
Vertrauen, vom Aufbruch und der Geborgenheit, von der Schuld und
dem Neuanfang.
Liebe
Kirchentagsgemeinde!
Wir wissen
nicht, wer oder was die Beter in die körperliche, seelische,
politische oder gesellschaftliche Katastrophe geführt haben.
Aber die Bilder sprechen eine deutliche Sprache.
Wenn sie vom
Netz sprechen, in dem sie gefangen sind, dann müssen wir auch
nach denen fragen, welche die Netze auswerfen. Wenn sie von Fallen
sprechen, in die sie geraten, dann müssen wir auch von denen
reden, welche die Fallensteller sind. Nicht die Verhältnisse,
sondern Menschen sind es, die sich das gegenseitig antun. Das war
damals in Ägypten so und das war in Israel so, das war in der
deutschen Geschichte so, in der alten Bundesrepublik und der DDR.
Und das ist auch heute hierzulande so.
Aber: Mit der
Würde des Menschen, mit unserer Verantwortung vor Gott und den
Menschen ist Fallenstellen und Netzeauswerfen nicht
vereinbar.
Der Kirchentag
will das deutlich machen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer
symbolisieren das in Frankfurt mit dem "weißen Tuch", das ich
hier über das Pult gehängt habe: Für die Würde
des Menschen und damit für Gottes Würde stehen wir ein.
Gegen Gewalt, gegen Rassismus, gegen Diskriminierung, gegen
Rechtsextremismus müssen und wollen wir aufstehen. Wenn wir
nicht aufstehen und für die Würde einstehen, werden wir
zu Handlangerinnen und Handlangern der Fallensteller und
Netzeauswerfer.
Und noch
einmal zu den Beterinnen und Betern des Psalms:
"Du hast mich
nicht ausgeliefert in Feindeshand,
hast ins Weite
gestellt meine Füße".
Liebe
Kirchentagsgemeinde, wir sind hier in Frankfurt nicht nur in der
Stadt der internationalen Finanzen. Wir sind hier in der Stadt mit
dem Internationalen Flughafen. Tausende Frauen, Männer, Kinder
kommen hier täglich aus aller Welt an. Für Einige von
ihnen ist Frankfurt am Main die letzte Station ihrer Hoffnung auf
ihrer Flucht. Aber: Für viele wird Frankfurt zur Endstation.
Von hier aus werden sie abgeschoben, ausgeliefert in Feindesland,
ohne den Boden des gelobten Landes betreten zu haben, ohne für
sich sprechen zu können. Kinder kommen hier an als
Flüchtende, unbegleitet, allein, ohne Mutter und Vater. Sie
sind den ausgelegten Netzen im Heimatland entkommen, haben mit dem
Flugzeug das sichere Europa, Deutschland, Frankfurt erreicht und
landen in der Falle. Sie müssen sich, wie die Beter sagen,
"abgeschnitten fühlen" "vom Gegenüber der Augen Gottes".
Doch nicht Gott hat sich verborgen, sondern andere Menschen stehen
dazwischen. Erwachsene haben die Welt feindlich für die Kinder
gemacht.
Deshalb gilt
es nicht nur ein Zeichen zu setzen mit dem weißen Schal auf
dem Kirchentag, deshalb gilt es nicht nur ein Zeichen zu setzen mit
der Kollekte heute für das Projekt "travel care", das vielen
helfen soll, die am Flughafen in Transitbereich als Unwillkommene
ankommen. Das Projekt "travel care" will Gespräche und
Beratung anbieten, das Minimum an Menschlichkeit. Dafür werden
Menschen und wird Geld gebraucht.
Wir alle sind
verantwortlich. Wir sind verantwortlich, dass Menschen in
Deutschland unabhängig ihrer Herkunft, ihres Aussehens, ihres
Geschlechts, ihres Alters, ihrer Religion Luft zum Atmen und Leben
haben. Wir sind mitverantwortlich dafür, dass Menschen beten
und singen können, dass sie Gott "adonaj" loben
können:
"Ich will
jubeln und will mich freuen an deiner Freundlichkeit,
darum dass du
gesehen hast mein Elend,
wahrgenommen
hast die Enge meiner Kehle.
Du hast mich
nicht ausgeliefert in Feindeshand,
hast ins Weite
gestellt meine Füße".
Amen.
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