Volker
Kröning
12. August 2004
Die deutschen Stadtstaaten:
Wege aus ihrer Finanzierungsnot
Die politische
Geographie Deutschlands ist von Stadt- und Flächenstaaten
geprägt. Tradition und Moderne kennzeichnen die Freien
Hansestädte Bremen und Hamburg. Berlin wächst mit der
Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas wieder eine
besondere Rolle zu.
Die Eigenart
der klassischen Stadtstaaten ähnelt der Verschiedenartigkeit
der Flächenstaaten. Die Dichotomien von stark und schwach, die
sich in der Fläche finden - ebenso zwischen Ost und West wie
zwischen Nord und Süd -, spiegeln sich in der Diskrepanz
zwischen ökonomischer Stärke und finanzieller
Schwäche - Bremens wie Hamburgs - wider.
Das
Bruttoinlandsprodukt je Einwohner (BIP/E) verteilt sich - bezogen
auf die Länder und gemessen am Durchschnitt in Deutschland -
extrem unterschiedlich (Schaubild 1): hier die drei starken
Flächenstaaten Hessen (HE), Bayern (BY) und
Baden-Württemberg (BW) und die beiden Freien Hansestädte,
dort ihre relativ bzw. extrem schwachen Brüder im Westen und
Osten, sodann das „Schwellenland“ Nordrhein-Westfalen
(NRW) auf der einen und die alte Front- und neue Hauptstadt Berlin
auf der anderen Seite (Säule 1).
Nach
Umsatzsteuerverteilung (Art. 106 Abs. 3 bis 5 und Art. 107 Abs. 1
Satz 4 GG) und Zerlegung der Körperschafts- und Lohnsteuer
(Art. 107 Abs. 1 Satz 2 GG) verwandelt sich das Bild im Falle
Berlins minimal, im Falle Bremens krass (Säule 2) und wird
erst durch den horizontalen und vertikalen Finanzausgleich
(Länderfinanzausgleich - LFA, Bundesergänzungszuweisungen
- BEZ) korrigiert (Säule 3). Unter Einbeziehung der nicht in
den Finanzausgleich eingehenden Steuern (insbesondere der
hälftigen Gemeindesteuern) zeigt die wirkliche
Finanzausstattung nach LFA/BEZ, dass sich der Abstand zwischen
schwachen und starken Ländern deutlich vergrößert
(Säule 4).
Nur wenn man
die Finanzkraft an der Wirtschaftskraft messen würde - also
die Steuerverteilung (einschließlich -zerlegung) am BIP/E -,
würde man einen Maßstab für eine
verfassungsgerechte Finanzverteilung gewinnen, allerdings wegen des
Substitutionseffektes (nämlich des geringeren LFA) mit
allenfalls geringem Gewinn für Bremen. Doch dem gerade Bremen
oft entgegen gehaltenen Argument, der Zwei-Städte-Staat
hänge „am Tropf“ der föderalen Gemeinschaft,
wäre der Boden entzogen; Bremen wäre
Geberland!
Vergleich
BIP, Finanzkraft vor und nach Finanzausgleich -
2003 |
Schaubild 1
|
Index,
Deutschland = 100 |
|
Forschungsstelle Finanzpolitik, Freie Hansestadt Bremen,
2004.
Die
Betrachtung ist nicht nur verfassungsrechtlich, sondern auch
verfassungspolitisch durchaus relevant: Das Land Bremen hatte 1993
mit dem Bund vereinbart, die Zinsspielräume aus den
Sanierungs-BEZ zu nutzen, um neben überproportionaler
Ausgabendisziplin („Sparen“) seine Wirtschafts- und
Finanzkraft zu steigern („Investieren“) - ähnlich
wie es der Bund 2000 bei dem Verkauf der UMTS-Lizenzen für das
Zukunfts-Investitionsprogramm getan hat. Diese Strategie, die
Wirtschaftskraft dezentral - und im späteren Falle zentral -
zu stärken, findet ihre verfassungsrechtliche Grundlage in
Art. 104 a Abs. 4 Satz 1 GG und hätte im Falle Bremens sogar
speziell auf diese Vorschrift (2. Alt.: „zum Ausgleich
unterschiedlicher Wirtschaftskraft im Bundesgebiet“)
gestützt werden können.
Doch nicht nur
Bremens Lage, sondern auch die Situation Berlins und Hamburgs ist
dramatisch. Das Finanzierungsdefizit Bremens (ohne die 2004
auslaufenden Sanierungs-BEZ) lag 2003 bei dem 4,5-fachen des
Durchschnitts aller Flächenländer, das Berlins beim
3-fachen und das Hamburgs beim 2,5-fachen (Schaubild 2). Bremen
spart stärker als Berlin (zwischen 2002 und 2005: -5 zu -1%)
und investiert erheblich mehr: zwar mit dem Auslaufen seines
Investitions-Sonderprogramms weniger, aber (Ist 2003) deutlich mehr
als die Flächenländer (+85%) und Berlin (+6%; ohne
investive Ausgabe „Risikovorsorge Bankgesellschaft“:
-8%), übrigens ähnlich hoch wie die östlichen
Flächenländer (+70%).
Die
Perspektive Berlins ist noch in einer anderen Hinsicht kritischer
als die Bremens: Mit dem Solidarpakt II reduzieren sich zwischen
2007 und 2020 die Sonderbedarfs-BEZ auf Null. Das Land tut das
Gegenteil von dem, was die übrigen östlichen Länder
mit ihren Investitionen in die Infrastruktur tun (allerdings mit
nach- wie vormaligen gewaltigen Transferleistungen).
Auch Hamburg
nähert sich einer Notlage wie derjenigen Bremens und Berlins:
Sein Finanzierungsdefizit belief sich 2002 auf 1.540 Mio. Euro. Da
die Ausgaben für Investitionen 900 Mio. Euro betrugen,
verblieb ein konsumtives Finanzierungsdefizit von 640 Mio. Euro,
das aus Vermögensverkäufen in Höhe von 790 Mio. Euro
finanziert wurde. Mit einer Netto-Neuverschuldung von 750 Mio. Euro
hatte Hamburg zwar nach Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG einen
verfassungskonformen Haushalt, aber frisiert. Niemand weiß,
wie lange der Stadtstaat sich mit solchen Einmal-Effekten noch
retten kann.
Finanzierungsdefizit im Jahr 2003 |
Schaubild 2
|
In Euro, je
Einwohner |
|
|
Berlin |
Hamburg |
Bremen |
Flächen-länder |
Saarland |
Schleswig-Holstein |
|
|
|
|
|
|
|
Finanzierungsdefizit |
1265 |
808 |
1978 |
431 |
812 |
498 |
Differenz
Zinsausgaben |
-420 |
-313 |
-450 |
0 |
-142 |
-78 |
Differenz
Sozialhilfeausgaben |
-288 |
-291 |
-381 |
0 |
-42 |
-104 |
Differenz
eigenfinanzierte Investitionen |
-34 |
-169 |
-560 |
0 |
93 |
30 |
Finanzierungsdefizit für sonstige konsumtive
Ausgaben |
523 |
36 |
587 |
431 |
720 |
345 |
Angemessenes Stadtstaatengerechtes Finanzierungsdefizit
(135%) |
582 |
582 |
582 |
431 |
431 |
431 |
(Abweichungen
durch Runden in den Summen)
Forschungsstelle Finanzpolitik, Freie Hansestadt Bremen,
2004.
Daher sollten
alle drei Stadtstaaten eine Richtschnur aufgreifen, die das
Bundesverfassungsgericht schon 1986 ausgegeben hat: Sie sind
finanziell so auszustatten wie vergleichbare Großstädte
in Flächenstaaten. Die geltende Einwohnerwertung von 135%
genügt nicht mehr für eine ihren Besonderheiten
entsprechende Finanzausstattung. Am Beispiel Bremens lässt
sich belegen, dass der Stadtstaat ohne weitere Hilfe auf ein
konsumtives Ausgabenniveau gedrückt werden würde, das
nicht mehr (Soll 2005) um 30%, sondern nur noch um 15 - 10%
über dem der Flächenländer läge (Hamburg 36%,
Berlin 50%).
Damit
wären die verfassungsrechtlichen Prinzipien der
„Einheitlichkeit“ (Art. 106 Abs. 3 Satz 4 Nr.2 GG) bzw.
der „Gleichwertigkeit“ der Lebensverhältnisse
(Art. 72 Abs. 2 GG) eklatant verletzt, die das Finanzwesen
(Abschnitt X) und die Gesetzgebung (Abschnitt VII) steuern.
Umgekehrt gilt: Leitbild der Verfassung ist die Kohärenz der
Lebensverhältnisse oder: der Gesamtwirtschaft und des
Gesamtstaates (vgl. Art. 104 a Abs. 4 Satz 1 und Art. 72 Abs. 2
GG); die „Einheitlichkeit“ bzw.
„Gleichwertigkeit“ zu wahren bzw. herzustellen, ist
Auftrag der Verfassung.
Diese Maxime
hat das Bundesverfassungsgericht 1992 an die föderale
Gemeinschaft adressiert. Sie bindet auch das Ermessen des Bundes
bei Finanzhilfen (vgl. Art. 104 a Abs. 4 Satz 1 GG:
„kann“ - „erforderlich“) und die
Wahrnehmung der Gesetzeskompetenzen durch den Bund bzw. die
Länder (vgl. Art. 72 Abs. 1 und Abs. 2 GG: „wenn und
soweit“ - „erforderlich“) - und zwar sowohl bei
der konkurrierenden als auch bei der Rahmenkompetenz (Art. 75 Abs.
1 Satz 1 GG) sowie bei der Steuergesetzgebung (Art. 105 Abs. 2
GG).
Den
Stadtstaaten wäre die Legitimation, eine höhere
Einwohnerwertung zu verlangen, nicht abzusprechen. Fachleute nehmen
eine Bandbreite von 133 bis 163% an. Der Gegeneinwand, eher sollten
sich die beiden Hansestädte - wie es für Berlin und
Brandenburg absehbar ist - ihren Nachbarländern eingliedern,
zieht nicht. Der Zwei-Städte-Staat Bremen, der
finanzwirtschaftlich als Einheit behandelt wird, erhielte z. B.
Mehreinnahmen von rd. 750 Mio. Euro, wenn ihm das gleiche
Ausgabenniveau zugebilligt würde, das Stuttgart, Nürnberg
und Hannover (ohne Zinsen und Sozialhilfe) über den kommunalen
Finanzausgleich und das Wirksamwerden von Landesaufgaben ihrer
Länder (BW, BY und NI) genießen.
Freilich haben
die Stadtstaaten unlängst eine Gelegenheit verpasst, die zu
einer Überprüfung der geltenden Einwohnerwertung -
zumindest in einem gewissen Zeitraum - hätte führen
können. Keiner von ihnen hat 2000/2001, als das
Maßstäbegesetz und das
Solidarpaktfortführungsgesetz mit dem neuen
Finanzausgleichsgesetz (FAG) beraten und beschlossen wurden, eine
entsprechende Idee oder Initiative entwickelt. Den rechtlichen
Rahmen ihrer Finanzwirtschaft zu verbessern, wird daher nicht
kurz-, sondern nur mittelfristig zu erreichen sein.
Umso mehr -
und je früher, desto besser - sollten die Stadtstaaten sich in
die Debatte darüber einschalten, ob der gegenwärtige
Wortlaut des Grundgesetzes auf optimale Weise das
„gesamtstaatliche Interesse“ (vgl. Art. 72 Abs. 2 GG)
realisiert und den Nutzen mehren hilft, den diese traditionsreichen
Teile Deutschlands mit ihrem Potential für die wirtschaftliche
und staatliche Gesamtheit darstellen.
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