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Debatte
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Wortlaut der Reden

Dr. Peter Glotz, SPD Dr. Helmut Kohl, CDU/CSU >>

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hundertmal -- auch heute vielmals -- ist von bedeutenden Zeitgenossen gesagt worden, die Entscheidung für Berlin bedeute keinen Zentralisierungsschub, der Föderalismus stehe nicht in Frage. Ich bekenne, daß ich diese Beteuerungen für falsch halte.(Beifall bei Abgeordneten der SPD -- Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Als Berliner Senator!)

Wer den Parlaments- und Regierungssitz in eine Metropole und dann noch in die größte des Landes legt, der organisiert einen Sog in diese Stadt, und der will auch einen Sog in diese Stadt organisieren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, Berlin ist schon jetzt eine wunderbare Stadt. Wenn auch noch die Entscheidungen und das Zeremoniell der Demokratie von Berlin ausgehen, dann wird die Bedeutung der Landeshauptstädte heruntergedrückt. Das darf kein Föderalist riskieren; das darf kein Föderalist wollen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Ich halte die Beispiele von Paris und Madrid, die der Kollege Brandt hier gebraucht hat, für eher erschreckend, weil Lyon und Barcelona neben Paris und Madrid eine viel zu geringe Rolle spielen. Auch wenn in einer Reihe von Landeshauptstädten und Landesparlamenten, meine Herren Ministerpräsidenten, noch nicht begriffen worden sein sollte, daß in der Tat das Herabdrücken der Landeshauptstädte droht, kann ich eine solche Entscheidung für mich jedenfalls nicht akzeptieren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP -- Zurufe)

-- Es rufen hier einige dazwischen. Ich möchte Ihnen ein Zitat zugänglich machen, das von dem großen deutschen Philosophen Helmuth Plessner stammt, der viele Jahrzehnte in Göttingen gelebt hat. Er schildert, was nach der Reichsgründung, 1871, passiert ist:

Die Residenzstädte hatten ihre Rolle ausgespielt. Dresden und München, Darmstadt und Weimar konnten ihre modernen Ansätze -- Brücke und Blauer Reiter, Mathildenhöhe und van de Velde -- gegen die Anziehungskraft Berliner Möglichkeiten nicht mehr weiterentwickeln.

Eine solche Entwicklung dürfen wir unter keinen Umständen noch einmal anstoßen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Der deutsche Föderalismus hat im übrigen seine Entsprechung im europäischen. Die Bundesländer kämpfen, viele der anwesenden Ministerpräsidenten kämpfen um ein Mitwirkungsrecht der Länder bei der Legislatur, um eine zweite regionale Kammer. Dahinter steht die Vision eines Europas der Regionen.

Meine Damen und Herren, ich räume ein: Hinter diesem Europa der Regionen steht eine supranationale Europa-Idee, die von Jean Monnet, die von Konrad Adenauer, auch die bedeutender Sozialdemokraten wie Waldemar von Knoeringen. Das wäre in der Tat ein Europa mit einem supranationalen Entscheidungszentrum und vielen Hauptstädten.

Die Verlagerung des Regierungssitzes von Bonn nach Berlin würde dieser historischen Tendenz, die sich allerdings nicht naturwüchsig einstellt, sondern die man wollen muß, für die man kämpfen muß, nicht entsprechen, sondern widersprechen.

An dieser Stelle möchte ich mich an Sie persönlich wenden, Herr Bundeskanzler. Im parlamentarischen Alltag wird ja viel hin- und hergehöhnt. Wir Sozialdemokraten haben Ihnen häufig mit einer gewissen Häme das Etikett vom Enkel Adenauers vorgehalten. Mir geht heute kein Ton der Häme über die Lippen. Ich weiß, daß Sie ein regionalistisch verwurzelter Europäer und kein Nationalist sind. Ich muß auch zugestehen, daß Sie auf dem Weg nach Europa einiges erreicht haben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Aber bitte, Herr Bundeskanzler, machen Sie sich klar: Mit dem Votum für Berlin schwenken Sie ab zum Europa der Vaterländer. Vielleicht ist es in dieser Debatte erlaubt, über die Parteigrenzen hinweg und, so wie Sie es sagen würden, als eingefleischter Sozialdemokrat Ihnen zu sagen: Bewahren Sie die supranationale Europa-Idee Konrad Adenauers. Sie ist das wichtigste Erbe dieses großen Politikers.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Damit bin ich bei der symbolischen Debatte und bei zwei Stellen dieser Debatte, die mich sehr bewegt haben, deren Pathos ich aber nicht akzeptiere. Herr Kollege Schäuble, ich bin um die Zukunft Deutschlands ebenso besorgt und kämpfe um sie, wie Sie -- ich nehme an, alle in diesem Haus -- das tun. Aber man sollte die Zukunft Deutschlands nicht mit einer noch so wichtigen Einzelentscheidung in Verbindung bringen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Wer Vichy und Bonn in einem Atemzug nennt, sollte einen großen Unterschied nicht vergessen: In den vier Jahren Vichy war die beherrschende Figur Petain, in den 40 Jahren Bonn waren die beherrschenden Figuren Konrad Adenauer und Willy Brandt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Bonn ist für mich -- weil Sie von Symbolen reden -- das Symbol des Neuanfangs, eines notwendigerweise unprätentiösen, manchmal armseligen Neuanfangs aus den Trümmern. Ich beschwöre Sie, meine Kolleginnen und Kollegen, daß wir uns gemeinsam zu dem bekennen, was uns doch wahrscheinlich allen wirklich gemeinsam ist, daß nämlich nach den Katastrophen der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert ein Neuanfang notwendig war und daß Bonn das Symbol dieses Neuanfanges ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Das Argument, das inzwischen zu einer Legende erstarrt, lautet: Wir werden unglaubwürdig. -- Kollege Brandt hat es in die zwei wirksamen Worte gekleidet: Wort halten!

Meine Damen und Herren, natürlich gab es ganz selbstverständliche Versprechungen von allen Seiten der Politik in den vierziger und fünfziger Jahren. Es gab auch Lippenbekenntnisse danach. Aber ich möchte zuerst sagen: Was 1949 selbstverständlich war, kann 1991 unter Umständen falsch sein.

(Zuruf von der CDU/CSU: Aber nicht 40 Jahre lang!)

Ich könnte gegen die Legende, die jetzt aufgebaut wird, 40 Jahre hätten alle das gleiche gesagt, z. B. eine Reihe von Regierenden Bürgermeistern von Berlin zitieren. Klaus Schütz entwickelte das Konzept von der normalen Stadt West-Berlin. Eberhard Diepgen sagte am 26. Mai 1987: Berlin ist die Hauptstadt der deutschen Nation im Bereich der Kultur und Wissenschaften. Das ist wichtiger, als Sitz der Verwaltung und der Regierung zu sein. --

(Zuruf von der CDU/CSU: Das war aber auch ein anderer Zeitpunkt!)

Walter Momper sagte am 5. Oktober 1989: Mit dem Hauptstadtanspruch kann ich nichts anfangen. Wir wollen Metropole sein. -- Ich zitiere das ohne jeden Unterton der Kritik.

(Lachen des Abg. Wolfgang Thierse [SPD] sowie bei

Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE)

-- Man mußte, lieber Kollege Thierse, für die Wirklichkeit planen. Wir sollten uns wenigstens in dieser Debatte eingestehen, daß für Millionen von Deutschen die Wiedervereinigung für viele Jahre nicht zur Wirklichkeit gehört hat. Geben Sie das bitte zu; geben wir es gemeinsam zu.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Ich will das einmal für mich zugeben, meine Damen und Herren: Als Axel Springer das große Haus seines Verlages an die Mauer gebaut hat, da haben ihn viele Deutsche und auch ich für einen Phantasten gehalten.

(Wolfgang Mischnick [FDP]: Das war falsch!)

Ich bin bereit, einzuräumen, daß Springers Hoffnung größer war als das, was ich für meinen Realismus gehalten habe.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Aber ich bin nicht bereit, die Geschichtslegende zu akzeptieren, als hätten die Deutschen, verführt von Politikerreden, jahrzehntelang auf die Rückkehr der Regierung und des Parlaments nach Berlin gewartet.

Die Entscheidung für Berlin, Herr Kollege Vogel, hat konzeptionelles Gewicht. Die Moralisierung dieser Frage verrät unpräzises Denken

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

und manchmal auch einen Hauch von Heuchelei.

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Lassen Sie mich zum Schluß kommen. Stilisieren wir uns nicht ins Einmalige. Wir treffen heute eine Entscheidung, wie sie häufiger getroffen worden ist, beispielsweise 1848, als die Entscheidung für Bern und gegen Zürich getroffen wurde. Ich sage es mit den Worten des Berlin-Befürworters Klaus von Beyme: Es gibt keine natürlichen Hauptstädte. Hauptstädte werden durch politische Entscheidungen geschaffen. -- Das gleiche gilt für Regierungssitze.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Mein letzter Satz lautet: Treffen wir heute die politische Entscheidung, daß jenes wunderbare Stück Europa, das wir Deutschland nennen, weiterhin aus der Stadt regiert wird, aus der Konrad Adenauer die Brücke zum Westen und Willy Brandt die Brücke zum Osten schlug.

(Widerspruch bei Abgeordneten der FDP)

Bonn ist die Metapher für die zweite deutsche Republik. Bonn muß und soll Regierungs- und Parlamentssitz bleiben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Helmut Kohl.

Quelle: http://www.bundestag.de/bau_kunst/berlin/debatte/bdr_014
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