Eine Gesellschaft von Eigentümern
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Seit 1990 leben wir staatlich geeint, aber mit geteilten Erfahrungen. Edelbert Richter, Oppositioneller in der DDR und heutiger SPDMdB, hofft auf eine Debatte zwischen Ost und West über die jüngste Geschichte. Warum ist der Wiedervereinigung eine Wiederentfremdung gefolgt? Die Gründe sieht er vor allem im neoliberalistisch verschuldeten Niedergang der Industrie in Ostdeutschland mitsamt den starken Potentialverlusten industrieller Forschung. Die Folge: "Verlust von zwei Dritteln der Industrie, 80% des industriellen Forschungs und Entwicklungspotentials und 94% des Produktiveigentums". Der "Bankrott der Vereinigungspolitik" zeigt sich für Richter daran, daß das "hohe Produktivvermögen der DDRBürger", anstatt es über Anteilsscheine zu verteilen, durch die Strategie eines vorschnellen Übergangs zur Marktwirtschaft ("Blitzkrieg und Totalsieg des Marktes") entwertet wurde. Deren politische Folge ist, daß "viele Ostdeutsche bisher keinen rechten Geschmack an der Freiheit finden konnten". Demgegenüber reklamiert Richter für sie das Ursprungsversprechen der Sozialen Marktwirtschaft, nämlich eine Wettbewerbsordnung mit einer Gesellschaft von Teilhabern am Produktivvermögen. Für einen sich selbst tragenden Aufschwung Ost fordert er eine eigenständige, nicht den Westen nachahmende Politik, eine industriepolitische Offensive statt des (neoliberalen) Rückzug des Staates, Stärkung des Eigenkapitals ostdeutscher Unternehmen, Beteiligung am Produktivkapital, Rückzahlung öffentlicher Zuschüsse und die Schaffung funktionsorientierter Unternehmensnetzwerke. Für die Zukunft mahnt er Nachhaltigkeit und die Regulierung globaler Märkte an. Zum Schluß setzt er sich mit F. A. Hayek auseinander, den er als Vordenker des Neoliberalismus begreift. Dabei parallelisiert er dessen Theorie mit dem Leninismus und versucht, gemeinsame Züge aufzuzeigen, nur mit jeweils umgekehrtem Vorzeichen.
Ohne Zweifel hat Richter ein streitbares Buch verfaßt. Nachdenklich machen seine Darlegungen zum Produktivvermögen, zur Forschungssituation, zu den Schwierigkeiten von Marktzugang und behauptung der ostdeutschen Wirtschaft. Nützlich ist auch sein Hinweis auf die Versuche, gerechtere Verhältnisse in der Vermögensverteilung in Deutschland zu schaffen. Er tritt dabei für den Investivlohn in Form überbetrieblicher, staatlich geförderter regionaler Kapitalanlagegesellschaften ein. Unklar bleibt bei Richter allerdings, was genau unter "Neoliberalismus" zu verstehen ist. Ohne hinreichende Differenzierung gerät man allzu schnell in die Gefahr eines Feindbildes, dem alle Fehlentwicklungen angelastet werden. Auch vermag Richters Analogie von Leninismus und der Sozialtheorie Hayeks nicht recht zu überzeugen. Bei aller berechtigten Kritik unterschätzt Richter die antitotalitäre, auf gesellschaftlicher Selbstregulation beruhende Freiheitskonzeption des Nobelpreisträgers Hayeks sowie seinen Nachweis systematischer Defizite der Informationsverarbeitungskapazität zentralplanwirtschaftlicher Strukturen. Hinzu kommt, daß Hayeks sozialphilosophischer Entwurf einer evolutionären spontanen Ordnung eine Position im Konzert unterschiedlicher, wissenschaftlicher und öffentlicher Kritik unterliegender Sozialentwürfe ist, der Leninismus aber als Ideologie alleinige Wahrheit beanspruchte und zur totalitären Praxis wurde.
Ungeachtet der Einwände aber zeigt das Buch, wie gedanklich herausfordernd der ostdeutsche Blick sein kann - für die künftige politische Gestaltung in ganz Deutschland.
Edelbert Richter, Aus ostdeutscher Sicht. Wider den neoliberalen Zeitgeist. Köln u.a. 1998, BöhlauVerlag DM 29,80
VON BERNWARD BAULE