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Dezember 11/1999
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essay

Demokratie ruht auf Bürgerengagement

von Eckhard Bieger

Demokratie ist aus dem Willen der Bürger entstanden. Erst der Zusammenschluss von Bürgern hat zur Gründung von Parteien geführt. Dieser grundlegende Sachverhalt gerät im Alltag des politischen Geschäfts leicht in Vergessenheit. Damit Politik nicht ihre Wurzeln verliert, braucht sie den Bezug zu den elementaren politischen Vorgängen. Die sind dort zu finden, wo Bürger ein Problem des Zusammenlebens erkennen und sich zusammenschließen, um es zu lösen. Im 19. Jahrhundert waren es die Vereine und Verbände, aus denen die politischen Parteien hervorgegangen sind. Seit den siebziger Jahren gibt es die Bürgerinitiativen, die auch zur Bildung einer Partei führten. Im kirchlichen Bereich sind es soziale Initiativen, Nachbarschaftshilfen und Arbeitskreise in den Gemeinden, die sich mit Fragen des Nord­Süd­Gefälles beschäftigen und Kontakte zu Gemeinden in der Dritten Welt aufgebaut haben. Die wachsende Zahl von Bürgerkriegsflüchtlingen hat zu Initiativen für die Integration von Asylbewerbern geführt. Die politischen Einstellungen in Kreisen der Jugend und die Gewaltbereitschaft einzelner jugendlicher Gruppierungen haben auch zur Gründung von Initiativen geführt.

Parlament als Partner der Initiativen

Dieses vielfältige Bürgerengagement in der Öffentlichkeit mehr zur Geltung zu bringen, ihm die Anerkennung zukommen zu lassen, die seiner gesellschaftlichen Bedeutung entspricht, und den Dialog mit der Politik zu intensivieren, das ist Ziel des Initiativkreises "Demokratie leben", der 1995 von der damaligen Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth und Persönlichkeiten aus den Medien, den Stiftungen und Kirchen gegründet wurde. Das Präsidium des Deutschen Bundestages hat sich die Zielvorstellungen zu eigen gemacht. Die Notwendigkeit, dass sich das Parlament als Partner der Initiativen versteht, wird von allen Parteien gesehen.

Beispiel: Schuldnerberatung in Berlin-Prenzlauer Berg.
Beispiel: Schuldnerberatung in Berlin-Prenzlauer Berg.

Bisher wurde der Preis zweimal ausgeschrieben. 1997 bewarben sich 709 Initiativen, 1999 waren es weitere 634. Es sind über 1.000 Ideen, die Bürger aus ihrer unmittelbaren Erfahrung entwickelt haben.

Nur einige Beispiele:

und viele andere Ideen, die bereits Wirklichkeit geworden sind.

Ideen entdecken und bekannt machen

Bürgerinitiativen sind selten über ihren Einzugsbereich hinaus bekannt. Vor Ort gibt es genug zu tun, und die Vernetzung gleicher Aktivitäten erfordert Organisation. Hier setzt die Initiative "Demokratie leben" an. Durch den Förderpreis werden innovative Ideen entdeckt und bekannt gemacht. Noch nicht gelungen ist die Verknüpfung mit den Meinungsbildungsprozessen in den Parteien. Das Know­how der engagierten Bürger könnte direkter in die Gesetzgebung einfließen, z.B. aktuell bei der Asylfrage. Hier sind die Initiativen zu oft Kritiker staatlicher und kommunaler Stellen, obwohl gerade die Initiativen die Ansatzpunkte für die Integration von Ausländern entwickelt haben und die Angst, die viele Bürger vor den Fremden haben, besser abbauen könnten als staatliche Stellen. Insgesamt muss die Politik noch lernen, die Initiativen, die sich außerhalb der Parteien entwickelt haben, als politisches Kapital zu nutzen. Völlig falsch ist die Vorstellung, das Engagement der Bürger könnte soziale Leistungen ersetzen, die bisher durch Umlagen finanziert wurden. Es lässt sich aus den Anmeldungen für den Preis "Demokratie leben" in keiner Weise erkennen, dass es Bürgerinitiativen zur Lösung z.B. der Gesundheits­ oder Rentenfragen gibt. Vielmehr sind die Initiativen viel zukunftsorientierter.

Beispiel: Kinderbetreuung in der Hamburger Kirchengemeinde St. Pauli.
Beispiel: Kinderbetreuung in der Hamburger Kirchengemeinde St. Pauli.

Viele Abgeordnete haben Kontakt zu engagierten Bürgern in ihrem Wahlkreis. Diese lokale Perspektive muss erweitert werden, denn was in der einen Stadt, in der einen Region als Problem erkannt ist, stellt sich andernorts in gleicher Weise. Die meisten Probleme sind auch nicht vor Ort zu lösen. Die Sicht der Bürger und die Lösungsansätze von Initiativen und Gruppen reagieren früher als die staatlichen Stellen und haben bereits Lösungen gefunden, ehe Länder und Bund durch Finanzmittel oder Gesetzgebung das Problem in Angriff nehmen.

Das Parlament ist von den Bürgerinitiativen aufgefordert, Hemmnisse für bürgerschaftliches Engagement abzubauen. Das hat sich bei mehreren Veranstaltungen des Initiativkreises ergeben. Dies betrifft in erster Linie Arbeitslose. Denn nach §15 des Arbeitsförderungsgesetzes dürfen Arbeitslose nicht mehr als 15 Stunden wöchentlich in Bürgerinitiativen tätig sein. Das wirkt sich vor allem in den Neuen Bundesländern gravierend aus, denn die Mitarbeit in den Initiativen ist für viele der Weg in ein neues Beschäftigungsverhältnis. Zudem vermittelt Bürgerengagement soziale Kompetenz, die für eine Dienstleistungsgesellschaft entscheidend ist. Der Versicherungsschutz muss geregelt werden, und die Erstattung von Fahrtkosten verlangt eine Berücksichtigung in den Steuergesetzen.

Eine Bürgergesellschaft wird die parlamentarische Demokratie beleben. Die Initiative beginnt erst.

Eckhard Bieger
Eckhard Bieger

Eckhard Bieger wurde am 20.2.1939 geboren. Er ist seit 1959 Mitglied des Jesuitenordens. Nach einer Ausbildung in den ordenseigenen Hochschulen für Philosophie und Theologie promovierte er an der Universität Salzburg über "Religiöse Rede im Fernsehen". Eckhard Bieger ist seit 1971 in der kirchlichen Medienarbeit tätig und seit 1982 Beauftragter der katholischen Kirche beim ZDF.

Bieger setzt sich für Bürgerengagement ein, "weil der Katholizismus mit seinen Verbänden und karitativen Einrichtungen im 19. Jahrhundert aus dem Engagement vieler entstanden ist". Diese Erfahrung lehrt nach seinen Worten: "Eine Sache ist lebendig, wenn freie Bürger sich freiwillig dafür einsetzen."

Eckhard Bieger ist Mitglied des Initiativkreises "Demokratie leben".

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/1999/bp9911/9911004
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