Tagesläufe
Traumschlösser, Lustprojekte, Problemkinder
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Fabrikanlage in Sachsen-Anhalt. |
Die PDS-Abgeordnete Heidi Knake-Werner findet, dass in ihrem Wahlkreis Zeit besonders schnell vergeht. Ein untrügliches Zeichen dafür ist der blühende Mohn.
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PDS-Abgeordnete Heidi Knake-Werner. | ||||||||||
Auf dem Weg von Berlin nach Quedlinburg, der kleinen Bilderbuchstadt im Harz, schaut sie nur selten von ihren Akten, Papieren und Notizen auf. Sie sitzt da auf der Rückbank des Autos und liest, während draußen die flache anhaltinische Landschaft in erst hüglige und dann schon bergige Gegend wechselt. Irgendwann wird die Straße holprig, und die Buchstaben auf dem Papier beginnen zu tanzen. Sie schaut auf und aus dem Autofenster und sagt: "Huch, der Mohn blüht ja schon" und ist für einen Moment ganz verzückt und fällt für zwei Sekunden raus aus dem Arbeitstag und rein in einen kleinen Traum. Blühender Mohn, das ist wie Sonnenuntergang in den Alpen oder Chianti am Strand – aus Pappbechern getrunken.
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Quedlinburg: Versammlung
in einem Gartenlokal. |
Die PDS-Abgeordnete Heidi Knake-Werner kommt aus Bremen. Ihr Wahlkreis in Sachsen-Anhalt, der die Kreise Bernburg, Aschersleben und Quedlinburg umfasst, ist ganz anders als Bremen. Es gibt Berge und Fachwerk, stillgelegte und neu entstandene Industrie, die einst viel besungene Saale und den sagenumwobenen Fluss Bode, benannt nach dem Riesen Bodo, der dort hausen soll. Es gibt einen Hexentanzplatz, große und weite Felder, kleine und eher bescheidene Schlösser und diesen leicht verschliffenen Dialekt, der aus fast jedem g ein j macht. Im besten Falle jeht es einem jut in dieser Gegend, die die Abgeordnete Knake-Werner inzwischen gut kennt und die ihr nahe gekommen ist in den vergangenen Jahren. An diesem Montag, da sie aus Berlin kommt und den blühenden Mohn sieht, beginnt für sie ein Wahlkreistag, der am darauf folgenden Dienstag auf dem Bernburger Bahnhof enden wird, wenn sie in einen Zug steigt, der sie nach Hamburg bringt.
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Blühender Mohn. |
Ihre erste Station ist eine PDS-Veranstaltung in Quedlinburg, zu der sie eingeladen wurde, um über den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zu reden und zu diskutieren. Dazu muss sie hoch auf den Berg, in ein kleines Gartenlokal, das Bratwurst und Kartoffelsalat auf der Speisekarte anbietet und Kaffee im Pott. Manche der meist älteren PDS-Mitglieder in dieser Runde ordern ein Stück Torte – es ist Nachmittag und Kaffeezeit. Sie haben sich vorher alle begrüßt und einige von ihnen mit der Abgeordneten ein wenig geredet.
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Quedlinburg: Versammlung
in einem Gartenlokal. |
Über sich, über die Parteiarbeit, über die politischen Turbulenzen in Berlin, über die Arbeit im Bundestag. Dann sitzen alle an den Tischen im Gastraum, gut versorgt und aufmerksam. Es kann also losgehen.
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Quedlinburg:
Versammlung in einem Gartenlokal. |
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Die Abgeordnete stellt sich so hin, dass alle sie sehen können und niemand außerhalb ihres Blickfeldes sitzt. Sie trägt einen schwarzen Hosenanzug, darunter einen fliederfarbenen Pullover, schwarze Schuhe mit schmalen Riemchen, silbernen Schmuck. Ihre große Tasche, die gut einen kleinen Haushalt beherbergen könnte, hat sie auf einen Stuhl gestellt. Ein paar Notizzettel hält sie in der Hand, schaut aber nur selten drauf. Sie hat eine aufmerksame Zuhörerschaft, deren Zuwendung belohnt wird mit einem klaren Vortrag, der – auch bei solchen Themen möglich – auf Spannung aufgebaut ist. Es gibt "Ahas" und "Das jibts doch nicht" und "Hab ich's mir doch jedacht"-Sätze aus dem Publikum, während die Kellnerin ab und zu mit einem weiteren Stück Schwarzwälder Kirschtorte vorbeieilt.
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Quedlinburg: Versammlung
in einem Gartenlokal. |
Im Anschluss an den Vortrag der Abgeordneten wird diskutiert. Kontrovers vor allem dann, wenn es um Bewertung von Geschichte geht. Nach knapp zwei Stunden geht man auseinander.
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Hohenerxleben: Künstlerwerkstatt. |
Die Abgeordnete Knake-Werner hat ein paar Traumschlösser auf Lager. Die gehören zu ihrem Wahlkreis und zu ihrem Stolz, denn weil das Leben kein Märchen ist, muss für Traumschlösser hart gekämpft werden. "Fahren Sie doch", hatte Heidi Knake-Werner einige Tage zuvor in Berlin gesagt, "nach Hohenerxleben und nach Hoym. Schauen Sie sich an, was dort entstanden ist."
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Hohenerxleben: Künstlerwerkstatt. |
Als hätte Fürst Pückler ein wenig mit der Landschaft gespielt, erstreckt sich hinter dem Schloss Hohenerxleben ein Areal mit schönen Sichtachsen in das flache Land hinein. Vor rund 800 Jahren suchten im damals eher ärmlichen Schloss Raubritter Unterkunft. Heute ist es ein Ort, der eine Akademie für Begegnung, Darstellung, Tanz und Musik, eine Künstlerwerkstatt, ein Ensemble Theatrum, ein kreatives Kinder- und Jugendhaus, eine Herberge und ein Restaurant beheimatet. Zu all diesen Zwecken ist eine Stiftung ins Leben gerufen worden, von Menschen, die am Anfang als Traumtänzer galten, weil sie Leben und Arbeiten und Lust und Kunst und Aufbau und Projekte zu einem Ganzen weben wollten. Das sah man im Ort und in der Umgebung erst mit Skepsis, dann mit Neugier und später schon oft mit Begeisterung. Wenn Theater gespielt wird, kommen sie und sitzen in den teilweise noch nicht fertigen Räumen und lassen sich verzaubern. Sie gehen danach auf einen Wein in "Die gute Stube". Kinder und Jugendliche haben die Künstlerwerkstatt für sich entdeckt, manch Reisender die detailgetreu wieder hergerichteten Zimmer, die wie kleine Refugien sind.
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Aschersleben: Ausstellung und Diskussion. | ||||||||||
Die Abgeordnete Knake-Werner ist begeistert von dem Projekt und unterstützt in ihrer Arbeit, was hier gelebt wird: selbst die Initiative ergreifen, Risiken wagen, sich zusammenfinden für kleine und große Träume.
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Aschersleben: Ausstellung und Diskussion. | ||||||||||
Einen kleinen Traum hat man sich auch im unweit gelegenen Aschersleben erfüllt: Hier wird im "Bestehornhaus" eine Ausstellung gezeigt, die Ausgangspunkt und Anlass abendlicher Debatten und Veranstaltungen ist, in denen es um Auseinandersetzung und Geschichte geht. "Das kurze Leben der Jüdin Felice Schragenheim" erzählt die Geschichte von Aimeé und Jaguar in einer sehr berührenden und persönlichen Art und Weise.
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Aschersleben: Ausstellung und Diskussion. | ||||||||||
Heidi Knake-Werner ist an diesem Montagabend eingeladen, an einer Diskussionsrunde über die "Verfolgung von Menschen im Dritten Reich – Juden – gleichgeschlechtliche Liebe" teilzunehmen. Ihr Wunsch, eine Stunde vor Beginn der Diskussion da zu sein, um sich in Ruhe die Ausstellung anschauen zu können, kann erfüllt werden. Danach sitzt sie im gut gefüllten Saal in der ersten Reihe, hört zu und diskutiert noch lang in den Abend hinein mit. Da geht es schon nicht mehr nur um die Ausstellung, sondern um die gegenwärtige Situation in Aschersleben und in anderen Orten. Rechtsradikalismus ist das Thema. "Meine Frage ist", sagt die Abgeordnete, "ob man nicht aus dem Heute Schlussfolgerungen ziehen kann, wie es dazu gekommen ist. Die Politik kann es allein nicht richten, dass rechtsradikales Denken verschwindet."
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Hoym: Heim für Behinderte. |
Später geht sie mit einigen der Frauen, die die Veranstaltung organisierten und gestalteten, noch ein Glas Wein trinken. Noch später fährt sie müde in ihr Wahlkreisbüro in Aschersleben, wo eine Couch steht, auf der sie schlafen wird, um am nächsten Morgen pünktlich beim neuen Bürgermeister der Stadt zu sein. Was sie träumt in dieser Nacht, wird sie nicht verraten.
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Hoym: Heim für Behinderte. |
Hoym ist ein ganz kleiner Ort, in dessen Zentrum ein Schloss steht, das einen Verein beherbergt, der Träger von Heimen ist, in denen man sich um die Wiedereingliederung geistig und mehrfach behinderter Menschen müht. 231 Heimplätze gibt es in Hoym selbst, 119 Plätze in ausgegliederten Gruppen, 17 Plätze für betreutes Wohnen. Im Schlossgebäude gibt es einen Freizeit- und Beschäftigungstreffpunkt, ein Lernzentrum, Musikarbeit, Theatergruppen, einen psychologischen Dienst, eine Beratungsstelle für jene, die ausgezogen sind und ein selbstständiges Leben in den Gemeinden der Umgebung führen.
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Aschersleben: Gespräch mit OB Michelmann. | ||||||||||
Zu DDR-Zeiten war Schloss Hoym eine "Irrenanstalt" und wenn jemand nicht ganz den Vorstellungen von "normalem" Verhalten entsprach, dann sagte man abfällig: "Der ist wohl in Hoym geboren." Menschen und Meinungen ändern sich oft nicht so schnell wie die Realität. "Die Integration des Projektes in das alltägliche Landleben ringsum ist mit viel Mühen, Zuwendung und Arbeit verbunden", hatte Heidi Knake-Werner einige Tage zuvor gesagt, als sie von dem Projekt erzählte. "Aber die Erfolge sind sichtbar. Bewohnerinnen und Bewohner des Schlosses und der umliegenden Heime gehören zum vertrauten Bild in den Orten." Und wenn Sommerfest ist, kommen die Menschen aus den Orten vorbei und feiern mit.
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Aschersleben: Gespräch mit OB Michelmann. | ||||||||||
Heidi Knake-Werner ist oft in Hoym – wenn Diskussionsrunden und Tagungen sind, wenn Feste gefeiert werden, wenn über Probleme und die Zukunft des Projektes geredet wird. Und wenn alles klappt, wird sie auch in diesem Jahr beim Sommerfest dabei sein.
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Aschersleben: Gespräch mit OB Michelmann. | ||||||||||
Der Dienstagmorgen ist kühl und feucht. Vor dem Rathaus in Aschersleben steht ein Mann, der jeden neugierig betrachtet, der das Gebäude betritt. Er selbst scheint kein Ziel zu haben an diesem Vormittag. Um 8.30 Uhr ist die Abgeordnete Knake-Werner beim Oberbürgermeister der Stadt, Andreas Michelmann, angemeldet. Der sieht ein wenig wie ein Seemann aus und bekommt als erstes die Glückwünsche der Abgeordneten zur Wiederwahl, Blumen dazu und eine CD mit Liebesgedichten – gesprochen von bekannten, ja teils berühmten Mitgliedern der PDS. Gregor Gysi ist auch vertreten.
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Bernburg: bei der Stiftung Evangelische Jugendhilfe. |
Danach ist man schnell im Alltag und bei allen Problemen, die eine Stadt wie Aschersleben, die älteste im Umland, hat. 23 Prozent Arbeitslosigkeit – "aber vielleicht kriegen wir hier eine Windelstrecke her", sagt der Bürgermeister, "dann können wir uns Pampers-Town nennen und haben neue Arbeitsplätze gewonnen." Man redet über den Runden Tisch gegen Gewalt, Streetworker, von denen es zu wenige gibt, die Förderung von Kultur- und Sportvereinen und den Bau eines Freizeitzentrums, für den bald erster Spatenstich sein wird. Der Bürgermeister nutzt die Gelegenheit, um über das neue Vergabegesetz zu diskutieren, an dem er einiges auszusetzen hat. Er ist ein schneller Redner und ein guter Polemiker. Die Bundestagsabgeordnete zieht gleichauf, als es um das Thema "Tarife und Billiganbieter geht". "Wenn hier überall unter Tarif bezahlt würde, verlören Sie doch in der Stadt Kaufkraft", sagt sie. "Man kann das nicht aus dem Zusammenhang reißen und muss immer über die Folgen diskutieren." Eins kommt zum anderen und zehn Minuten später sind die beiden in einer heftigen Grundsatzdiskussion über die Gesetze des Marktes verstrickt. Dann kommt die Sekretärin und erinnert an die Dienstbesprechung. Das ist das Signal, obwohl man – leider – noch zu keinem Ergebnis gekommen ist.
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Bernburg: bei der Stiftung Evangelische Jugendhilfe. |
Von Aschersleben aus geht es weiter nach Bernburg. Auch hier ist zuerst ein Glückwunsch abzugeben, an den neuen Landrat Ulrich Gerstner. Heidi Knake-Werner schaut noch schnell im Büro der PDS-Landtagsabgeordneten Birke Bull vorbei, einer jungen Frau, die mit ihren blondgerasterten langen Haaren, einem kleinen Nasenpiercing und dem erfrischend fröhlichen Lachen schon ein wenig aus dem Rahmen fällt. Ein bunter Vogel geradezu. Zu dritt – die Mitarbeiterin der Landtagsabgeordneten gesellt sich dazu – tritt man zur Gratulationsrunde an, eine Situation, die dem Landrat zu Beginn nur wenige Redeminuten lässt. Dafür aber bekommt er einen Kaktus, die CD mit den Liebesgedichten, Blumen und ein erfrischendes Gespräch über Lokalpolitik im Landkreis Bernburg.
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Im Büro des Landrates. | ||||||||||
Der letzte Termin an diesem Tag, bevor es mit dem Zug nach Hamburg geht, ist bei der Stiftung Evangelische Jugendhilfe St. Johannis Bernburg vorgesehen. Die Abgeordnete will sehen und hören, was aus dem Projekt geworden ist, das Kindern und Jugendlichen Chancen und Möglichkeiten eröffnet, sich trotz schwieriger Ausgangsbedingungen zu bilden, auf das Leben vorzubereiten, zu lernen und selbstständig zu werden. Für Jugendliche, die lange arbeitslos waren, wird eine zweijährige Ausbildung in verschiedenen Berufen angeboten, es gibt stationäre und Tageseinrichtungen, Arbeits- und Lernräume, Therapieangebote. Das alles verteilt sich auf einem großen Areal, das Raum und Platz hat, viel Grün und Plätze, wo man auch mal allein sein kann. Die Schule macht Lernangebote für Kinder, die anderswo als Schulverweigerer schon längst abgeschrieben waren, in der Stadt selbst und an anderen Orten im Umkreis leisten Ehrenamtliche Präventivarbeit.
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Bernburg: bei der Stiftung Evangelische Jugendhilfe. | ||||||||||
Heidi Knake-Werner hat Zeit mitgebracht, sich alles anzuschauen und zuzuhören. Sie vermittelt mit ihren Fragen und ihrer Neugier Präsenz. "Wie läuft die Ausbildung ab, wie sind die Erfolgsquoten, bekommen die jungen Menschen nach der Ausbildung Arbeit, machen die Schulverweigerer doch noch einen Schulabschluss, wie unterstützt die Kommune das Projekt", will sie wissen. Sie zeigt Freude, wenn sie Freude spürt, und ist in diesen Stunden mit ihren Gedanken nicht woanders, sondern ganz hier, am Ort.
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Bernburg: bei der Stiftung Evangelische Jugendhilfe. | ||||||||||
Im Sommer wird es hier ein Eurocamp geben, für Jugendliche aus 32 Ländern. Die Abgeordnete will dann gern noch mal herkommen – das gehört zu ihrer Vorstellung von Kontinuität. Sie hat in den vergangenen Jahren viel kennen gelernt, das sie nicht aus den Augen verlieren möchte. Aber in einer Stunde fährt der Zug. Sie muss zum Bahnhof. Sie muss ihre Papiere sortieren und sich vorbereiten auf die Abendveranstaltung in der Hansestadt. Sie muss ab und zu aus dem Fenster schauen, damit sie noch was sieht vom Wahlkreis. Die alten und monumentalen Industrieanlagen, hinter denen sich – geradezu filigran dagegen – neue Betriebe in Position bringen. Die Saale, auf der sich zu DDR-Zeiten oft riesige schmutzige Schaumberge flussabwärts wälzten und die heute schon fast wieder zulässt, dass man ihre hellen Strände und die stolzen Burgen an den Ufern besingt. Die großen Versuchsfelder, auf denen Schilder die fantasievollen Namen der hier gezüchteten Getreidesorten verkünden: Metaxa, Ludine, Barke.
Vielleicht sieht sie dann auch noch mal den Mohn, der in diesen Tagen das Wettspiel um die schönsten Farben im Revier gewinnt. "Huch", würde sie dann möglicherweise sagen, "schon wieder blüht der Mohn."