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Irene Charlotte Streul
Entwurzelt und ständig den Tod vor
Augen
Der Leidensweg der Russlanddeutschen in der
Sowjetunion
Wer heute ganz offen über seine Vorurteile
gegenüber Russlanddeutschen spricht, kann sich allgemeinen
Beifalls sicher sein. Mit dem Hinweis auf mangelnde
Deutschkenntnisse weigern sich viele, die Spätaussiedler
überhaupt als Deutsche anzuerkennen. Nicht selten werden die
Zuwanderer als Fremde betrachtet, die unser Sozialsystem ausnutzen
wollen. Solche Stammtischparolen sind selbst bei jenen verbreitet,
die aufgrund ihrer Bildung das Ausmaß der Verbrechen Stalins
und der Repressionen unter seinen Nachfolgern kennen
müssten.
Vor diesem Hintergrund gewinnt das Buch des
inzwischen verstorbenen Autors Gerhard Wolter besondere Bedeutung.
Das 1998 in Moskau erschienene Original liegt jetzt in deutscher
Übersetzung vor (Verena Flick), und es ist zu wünschen,
dass es viele Leser findet.
Bis 1987 war das Schicksal der Deutschen
unter dem Sowjetregime tabu. Erst mit Gorbatschows Glasnost und dem
Ende des Kommunismus kam ans Licht, welche verheerenden Folgen der
stalinistische Terror für die deutsche Minderheit hatte.
Wolter spricht von der "planmäßigen und zielgerichteten
Vernichtung einer halben Million" Russlanddeutscher, nachdem
Deutschland die Sowjetunion im Juni 1941 überfallen hatte.
Briefe von 150 Überlebenden und persönliche Erinnerungen
bilden die Grundlage des Berichts über den Leidensweg der
Nachfahren jener Deutschen, die im 18. und 19. Jahrhundert von
Zarin Katharina der Großen und Zar Alexander I. an der Wolga
und in anderen Rayons angesiedelt worden waren.
Die eindringlichen Schilderungen der
Augenzeugen und Opfer werden niemand unberührt lassen. Wolter
lässt es damit aber nicht bewenden. Es gelingt ihm, das
Schicksal dreier Generationen von Russlanddeutschen zu beschreiben,
indem er die Aussagen von Einzelpersonen in einen
größeren historischen Zusammenhang stellt. Dabei
stützt er sich auf Dokumente und Archivmaterialien, die nach
dem Ende der Sowjetmacht zugänglich geworden sind.
In dem Vielvölkerstaat Sowjetunion hat
es immer wieder diskriminierende Maßnahmen gegenüber
missliebigen Nationalitäten gegeben. Für die Bürger
deutscher Herkunft bedeutete das Jahr 1933 eine Zäsur, denn
nach Hitlers Machtantritt gerieten sie verstärkt ins Visier
Stalins. Während der "Säuberungen" 1937/38 kam es zu
Massenverhaftungen deutscher Männer. Viele von ihnen, darunter
führende Militärs und Vertreter der Intelligenz, wurden
als "Feinde der Sowjetunion" hingerichtet.
Nach Ausbruch des Krieges erklärte die
Sowjetregierung dann die gesamte deutsche Volksgruppe zu
"Helfershelfern des Feindes" und deportierte von August bis
November 1941 fast eine Million Menschen vom europäischen Teil
der UdSSR vor allem nach Kasachstan und Sibirien. Augenzeugen
berichten, wie sie innerhalb weniger Stunden ihre Dörfer
verlassen mussten und ohne warme Kleidung und ausreichende Nahrung,
zusammengepfercht in Viehwaggons, auf Schiffen oder Lastwagen,
wochenlang einem ungewissen Schicksal entgegenfuhren. "Was sie
erlebten, waren wirkliche Höllenqualen. Man nahm ihnen die
Heimat, das Haus, das Vermögen, den guten Namen", schreibt der
Autor. Zehntausende wurden Opfer des harten sibirischen Winters, da
die Ankömmlinge ihre Behausungen und die Lager des GULAG
selber aufbauen mussten.
Im Hauptteil des Buches, den man
"Lagersklaverei und Vernichtung durch Arbeit" überschreiben
könnte, geht es um die Zwangsrekrutierung der Männer und
Frauen von 16 bis 60 Jahren in die Arbeitsarmee. Das bedeutete die
Trennung der Familien und die Internierung in Sonderlagern unter
Aufsicht des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten
(NKWD). Bei geringen Essensrationen waren sie gezwungen, in
Kohlegruben, Erzlagern, Steinbrüchen, in der Metallindustrie,
bei der Ölförderung und Holzverarbeitung sowie beim Bau
von Bahnlinien Schwerstarbeit zu leisten, oft ohne technische
Hilfsmittel. Viele überlebten die Strapazen nicht, weil die
ohnehin kleinen Brotrationen gekürzt wurden, wenn man die
strengen Arbeitsnormen nicht erfüllte. Hinzu kamen
unmenschliche Lebensbedingungen in den Lagern.
Nach dem Ende des Krieges verwehrte Stalin
den Russlanddeutschen die Rückkehr in ihre angestammte Heimat
und ordnete ihre Zwangsansiedlung in den Vertreibungsgebieten unter
Aufsicht des Komitees für Staatssicherheit (KGB) an. Erst zwei
Jahre nach dem Tod des Diktators wurden die "Einschränkungen
in der Rechtsstellung der Deutschen in der Sondersiedlung" durch
Erlass des Obersten Sowjets der UdSSR aufgehoben. Eine
Rückgabe des Vermögens, das der Staat bei der Deportation
konfisziert hatte, und das Recht, an die früheren Orte
zurückzukehren, wurde jedoch ausdrücklich
verneint.
Krise ohne Ende
Durch die Folgen des "Genozids an den
Russlanddeutschen, ihrer physischen und moralischen Vernichtung",
gerieten die Überlebenden in eine ausweglose Krise. Sie
konnten weder den Verfall der deutschen Sprache und Kultur
aufhalten noch wollten sie ihre nationale Identität aufgeben,
so Gerhard Wolter. Deshalb entschlossen sich viele nach dem
Zusammenbruch der UdSSR zur Rückkehr in die "historische
Heimat", wo sie als Deutsche unter Deutschen leben
möchten.
Es bleibt zu hoffen, dass das Buch die
"Bundesdeutschen" erreicht und ihnen hilft, die neben ihnen
wohnenden Russlanddeutschen mit anderen Augen zu sehen und besser
zu verstehen, wie es in der Verlagsankündigung heißt.
Diesem Wunsch ist uneingeschränkt zuzustimmen. Anteilnahme und
neue Erkenntnisse werden dann Vorurteile ersetzen.
Gerhard Wolter
Zone der totalen Ruhe.
Die Rußlanddeutschen in den Kriegs- und
Nachkriegsjahren.
Berichte von Augenzeugen.
Waldemar Weber Verlag, Augsburg
2003;
480 S., 17,90 Euro
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