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Joachim V. Hildebrandt
Die Heimat in der Fremde erlebt
Erfahrungen im Osten Europas und in
Tschetschenien
Heimat ist mir abhanden gekommen", schreibt Irena Brezná.
Ihre Porträts, poetische Reportagen und Skizzen, sind deshalb
für sie Heimatgeschichten. Es ist Literatur über die
Fremde. Sie berichtet über Transsilvanien in den
rumänischen Südostkarpaten, über die Ostslowakei,
das polnische Tatragebirge, Moldawien und über den Kosovo. Vor
allem aber berichtet sie über Tschetschenien.
Als die Autorin vor 18 Jahren in die Schweiz emigrierte,
erschrak sie zuerst über die harten Konturen bei den Menschen.
Die Frauen erschienen ihr männlich, zumindest androgyn; sie
verhielten sich wie abgetrennt, auch im Privatleben. Das fiel ihr
beim Umgang mit Kleinkindern besonders auf, denn statt diese zu
umarmen, sprachen sie mit ihnen ernsthaft wie mit Erwachsenen.
Immer wieder schreibt sie davon, halb Osteuropäerin
geblieben und halb Westeuropäerin geworden zu sein, was sie zu
einer Ganzheit zusammenzubringen versucht. So hat sie den Drang
behalten, immer wieder in den Osten zu reisen, um dort ihre
Reportagen zu schreiben, für die sie unter anderem den
Emma-Journalistinnen- und den Theodor-Wolff-Preis erhielt.
Sie präsentiert viele kleine Texte, die spannend
erzählt sind, nicht nur, wenn sie aus Kriegsgebieten
berichtet. Im Mittelpunkt stehen Einzelschicksale und Situationen,
die im Individuellen das Allgemeine, in der Verzweiflung einen
absurden Funken Hoffnung spiegeln. Alle Vorurteile über
Nachbarn sind ihr beim Reisen begegnet, - dass die Polen Schmuggler
seien, die Tschechen geizig, die Slowaken dümmlich, die
Ukrainer grob, die Russen eines jeden Feind. Eine Reporterin des
persönlichen Glücks ist sie nicht. Sie zieht es zu
deportierten Völkern, zu Genozid und Flüchtlingen. So
reiste sie nach Tschetschenien - erstmals 1997 -, als der erste
Tschetschenienkrieg gerade ein Jahr vorbei war.
Vor ihr breitet sich der allgegenwärtige Schutt aus, der
ihr den Krieg vor Augen führt. Aber Schutt scheint ihr nicht
das richtige Wort zu sein; sie führt das deutsche Wort
Trümmer hinzu, meint dann aber, dass beide Wörter dieses
Gemisch aus Materialien, Formen und Farben, die alle
geschändet wurden, noch nicht wiedergäben. Ein neues Wort
müsste dafür geschaffen werden.
In Sernowodsk erkennt sie "die Stunde Null", ihre
Fassungslosigkeit. Sie sieht nur einen Ausweg, einen sprachlichen.
In einem Politmärchen über Russlands Krieg in
Tschetschenien wird von einer Mutterliebe erzählt, die ihren
Sohn in Selbstaufgabe dermaßen verwöhnt, dass er keinen
Weg mehr sieht, sich von ihr zu lösen, als sie zu töten.
Irena Brezná sieht diesen beidseitigen Autismus als das
gesellschaftlich-politische Fundament Russlands.
Man sei gefangen in einer "archaischen Symbiose" zwischen Mutter
und erwachsenem Sohn. Wladimir Putin kommt ihr vor wie der
missratene Sohn, der um sich schlägt, um ein Kerl zu werden.
Je schuldiger er wird, desto mehr gehört er "Matuschka
Rossija". Die Zerstörung wirkt zwar auf den Sohn wie eine
Befreiung, aber "je größer die Blutlache wird, um so
klebriger seine Abhängigkeit". Das Unabhängigkeitsstreben
eines kleinen kaukasischen Volkes bringt den Sohn in höchste
Wut. Denn hier ist jemand, der seine eigene unmöglich
gewordene Sehnsucht verwirklichen will. Dies ist der Schuldige am
eigenen Unglück.
Ihr Porträt "Die Sammlerin der Seelen" ist der
tschetschenischen Bürgerrechtlerin Sainab Gaschajewa gewidmet.
"Sainab sucht fremde Seelen, sie sammelt Soldaten gegen den Krieg,
Soldaten ohne Kalaschnikow, nicht tote Seelen, lebendige will sie,
solche mit Riss."
Irena Brezná
Die Sammlerin der Seelen.
Aufbau Verlag, Berlin 2003; 207 S., 16,- Euro
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