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Johannes L. Kuppe
Historiographie und Poesie
Kulturgeschichte Russlands
Das beruhigt: Eine Bohlen-geschädigte Leselandschaft bringt
doch noch schöne, inhaltsreiche und ästhetische
Bücher hervor! Was hier anzuzeigen ist, lässt viele
Steißgeburten im aktuellen Publikationsbetrieb vergessen. Der
in England lehrende Historiker Orlando Figes hatte uns schon 1998
mit seiner wunderbaren Geschichte der russischen Oktoberrevolution
("Die Tragödie eines Volkes") erfreut - das Beste, was zum
Thema bis dahin erschienen ist. Nun also ein weiteres
herausragendes Buch, reich bebildert, glänzend geschrieben
(jedenfalls herrlich flüssig übersetzt), voller
analytischer Überzeugungskraft, aus einem großen
Quellenfundus schöpfend und - Russland mit der Seele suchend.
Figes schreibt Geschichte, indem er viele Geschichten erzählt,
ohne den Faden zu verlieren. Das ist die Wiederkehr großer
Erzählkunst.
"Nataschas Tanz" hat auch Mängel, fast möchte man gar
nicht davon sprechen. Es beginnt nicht etwa beim Kiewer Rus,
sondern mit der Gründung von St. Petersburg, umfasst also nur
knapp drei Jahrhunderte, wobei das 20. Jahrhundert etwas zu kurz
kommt. Es ist nicht sehr kritisch, da muss man schon den
unübertroffenen, aber leider nie übersetzten James
Billington ("The Icon and the Axe",1966), parallel lesen.
Kultur der Eliten
Bei Figes geht es um eine Kulturgeschichte der gebildeten
Eliten; es fehlt das russische Dorf, die Kleinstadt, das weite
russiche Land überhaupt, es fehlt eine Diskussion der Spannung
zwischen russischer, sich ständig im status nascendi
befindender National- und russländischer Reichskultur, also
der Frage aller Fragen bei diesem Thema.
Es überwiegt die Hochkultur, obwohl doch der Titel vom Tanz
einer russischen, aber anders akkulturisierten Aristokratin nach
einer russischen Volksweise handelt (ein von Leo Tolstoi stammendes
Bild). Aber dabei erfahren wir in acht Kapiteln viel Interessantes
über die Suche der russischen Intelligenz - der emigrierten
und der daheimgebliebenen beziehungsweise zurückgekehrten -
nach ihrer Identität, über ihre ewige Suche hinein in die
russische Volkskultur, über den Stellenwert von russischer
Literatur und - ein Steckenpferd Figes' - über Musik.
Das Buch ist aufklärerisch im besten Sinne und damit sehr
politisch. Historiographie und Poesie haben sich bei Figes
vermählt. Wer Russland sucht, der findet hier ein großes
Stück von ihm.
Orlando Figes
Nataschas Tanz.
Eine Kulturgeschichte Russlands.
Aus dem Englischen von Sabine Baumann und Bernd
Rullkötter.
Berlin Verlag, Berlin 2003; 720 S., 39,80 Euro
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