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Oliver Heilwagen
Ein Autogramm vom Professor, bitte
Viele Fragen und staunende Gesichter: Die
Kinderuni stillt den Wissensdurst der Kleinsten
So früh kommen Studenten sonst nie. Bereits
eine Stunde vor Vorlesungsbeginn strömen Kinder in das
Auditorium Maximum der Berliner Humboldt-Universität (HU).
Eine halbe Stunde später sind alle 750 Sitzplätze belegt.
Doch der Andrang lässt nicht nach. 15 Minuten vor dem Start
sind sämtliche Winkel und Nischen im größten
Hörsaal der Hochschule besetzt; in den Gängen zwischen
den Stuhlreihen stauen sich weitere Pulks wissensdurstiger Knirpse.
Philosophie-Professor Volker Gerhardt wischt sich den Schweiß
von der Stirn und legt sein Jackett ab, bevor er an das Rednerpult
tritt. Als er ankündigt, sein Vortrag werde mit einer
Viertelstunde Verspätung beginnen, erntet er Buhrufe. Der
Auftakt der ersten Kinder-Uni in der Hauptstadt droht, vom eigenen
Erfolg überrannt zu werden.
Das gilt für das Konzept insgesamt. Wie
ein Lauffeuer hat es sich verbreitet, seit die Universität
Tübingen im Sommer 2002 anfing, eine speziell auf Kinder
ausgerichtete Vorlesungsreihe abzuhalten. In diesem Wintersemester
bieten bundesweit bereits 42 Universitäten und Hochschulen
derartige Kinder-Unis an. Die Resonanz ist enorm: Beispielsweise
haben an der Universität in Frankfurt am Main 3.500
Dreikäsehochs sieben Vorlesungen gelauscht. Eine
Hörerzahl, die in Berlin spielend übertroffen werden
dürfte: In acht Vorträgen werden Hochschuldozenten
versuchen, unter Titeln wie "Warum können tonnenschwere
Flugzeuge fliegen?" oder "Warum sind wir schlauer als Roboter?"
Grundprobleme ihrer Fachrichtungen kindgerecht
aufzubereiten.
"Wir wollen Acht- bis Zwölfjährigen
die Universität zugänglich machen", erklärt die
HU-Pressereferentin Anke Assig: "Sie sollen erleben, wie ein
Hörsaal aussieht und eine Vorlesung abläuft, und
erfahren, mit welchen Inhalten sich Wissenschaft beschäftigt."
Auch Gerhardt hofft, die Kleinen für seine Disziplin zu
interessieren: "Es wäre schön, wenn die Kinder den
Eindruck gewinnen, dass hier ernsthaft nachgedacht wird, denn die
Universität muss sich frühzeitig um Nachwuchs
bemühen. Durch meinen Vortrag sollen die Kinder eine erste
Vorstellung von Philosophie bekommen und begreifen, dass sie ihr
Leben angehen könnte." Daher hat er als Thema seiner
Einführungsvorlesung die Ursprungsfrage jeder Wissenschaft
ausgewählt: "Warum wollen wir eigentlich etwas wissen?" Und
seinen Redetext mit erfahrenen Müttern abgestimmt: "Ich musste
lernen, ein Wort wie ‚Sachverhalt' zu vermeiden, weil Kinder
in diesem Alter es nicht verstehen."
Für die Zielgruppe steht die Neugier auf
Unbekanntes im Vordergrund. Der elfjährige Juri Effenberg hat
einen Zeitschriftenartikel über Kinder-Unis gelesen und selbst
seine Eltern aufgefordert, diese Veranstaltung herauszusuchen.
Andere kommen im Klassenverband: Wie Marco, Dario, Leonard und Jan
aus der 5a der Münchhausen-Grundschule im Bezirk
Reinickendorf. Sie freuen sich darauf, "etwas Neues auszuprobieren"
und erwarten, "danach mehr zu wissen". Mit dem Begriff Philosophie
können sie noch nichts anfangen. Dario fragt stattdessen:
"Kann ich vom Professor ein Autogramm bekommen?" Ihre Lehrerin
Claudia Junge verspricht sich von dem Ausflug, dass ihre
Schützlinge "eine andere Form des Lernens kennen lernen: die
Schule für Erwachsene." Sie hat ihre Gruppe im Voraus für
vier Termine angemeldet. Auf die Vorlesungen über Flugzeuge
und Roboter sind ihre Schüler besonders gespannt,
korrespondieren sie doch mit ihren Berufswünschen: Dario will
"Rennautotechniker" werden, Jan "zum FBI".
Endlich geht es los. Unter noch härteren
Bedingungen, als sie an den überlaufenen deutschen Hochschulen
ohnehin üblich sind: Papierflieger segeln durch den Saal,
überall wird getuschelt und gekichert. Nur mit einer Glocke
kann Gerhardt sich Gehör verschaffen. Eingangs schmeichelt er
seinen Zuhörern: "Die Wissenschaft entscheidet über die
Zukunft der menschlichen Gesellschaft. Aber die Zukunft seid Ihr!"
Nach diesen leicht pathetischen Worten geht er umstandslos zum
Thema über: "Ihr habt alle viel Wissen. Doch man kann es gar
nicht sehen: Euer Wissen ist allein in Eurem Kopf." Um dann, in gut
akademischer Manier, fünf Thesen aufzustellen. Gerhardt redet
über die Notwendigkeit sich zu verständigen, den Anspruch
des Menschen, sein Leben selbst zu gestalten, und die prinzipielle
Unerschöpflichkeit des Wissens: "Wenn man viel weiß,
nimmt man keinem anderen etwas weg." Seine Ausführungen
münden in den moralischen Appell, sich weiter um die Mehrung
des Wissens zu bemühen: Allein dies ermögliche
Fortschritt.
Jeden seiner Kernsätze läutet er
mit der Glocke ein. Es hilft wenig: Von Minute zu Minute wird die
Kinderschar unruhiger, die Geräuschkulisse lauter. Trotz
Mikrofon ist der Dozent nur bruchstückhaft zu hören.
Resigniert schließt er nach einer Dreiviertelstunde mit der
Bemerkung: "Noch nie musste ich so schwer arbeiten, noch nie
wollten mir so viele nicht zuhören." Da hat er sein Publikum
unterschätzt: Als er auffordert, Fragen zu stellen,
stürmen Dutzende von Kids die Rednertribüne. Von ihnen
umringt, antwortet Gerhardt geduldig eine halbe Stunde lang ihrer
Wissbegier. Dabei kommt er rasch auf aktuelle Debatten des
Wissenschaftsbetriebs zu sprechen: Die Frage, ob auch Tiere
über Wissen verfügen, wird derzeit von
Verhaltensforschern, Neurobiologen und Philosophen ausgiebig
diskutiert.
Denn der Eindruck einer undisziplinierten
Meute trügt: Am meisten klagen die Kinder selbst über den
chaotischen Ablauf der Vorlesung. Sie hat allen Reinickendorfer
Schülern "sehr gut" gefallen, doch Jan bedauert, er habe
akustisch "fast nichts verstanden". Und Dario ärgert sich:
"Die mit Papierfliegern warfen, haben genervt!" Auch Juri findet es
"schade, dass viele so laut waren". Seiner Begeisterung tut das
aber keinen Abbruch: Wie die Grundschulklasse 5a will er "auf jeden
Fall" zu den übrigen sieben Vorträgen wiederkommen. Die
Organisatoren werden sich also etwas einfallen lassen müssen,
um den Ansturm zu kanalisieren. "Als wir den Eingang absperren
wollten, haben uns Eltern, Lehrer und Kinder einfach beiseite
gedrängt", seufzt Pressereferentin Assig.
Unwiderstehlich anziehend scheint vor allem
der Event-Charakter der Veranstaltung zu sein. Das belegen Studien
aus Tübingen, wo die Kinder-Uni selbst bereits Gegenstand
wissenschaftlicher Forschung geworden ist. Am höchsten
bewerteten die befragten Kinder die "Interessantheit", den
Spaß und die Verständlichkeit der Vorträge; dagegen
spielte der Wissenserwerb kaum eine Rolle. Um dies zu ändern,
beschreitet man in Berlin neue Wege. Im Anschluss an die
Vorlesungen richtet das Kindermuseum Labyrinth Workshops aus, die
das Gehörte vertiefen sollen. Sie sind insbesondere für
Kinder aus sozial benachteiligten Familien gedacht, die aus eigenem
Antrieb kaum einen Hörsaal betreten würden: Damit aus
schwer zu bändigenden Rackern hoch motivierte Studenten von
morgen werden.
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