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Martin Gerner
"Die Menschen trauen sich, wieder offener zu
reden"
Afghanistan sucht die Früchte der
Freiheit
Jedes Jahr wird in der östlichsten Großstadt
Afghanistans zur Feier der Orangenbaumblüte ein Redner- und
Dichter-Festival abgehalten. Auch politische Satire findet sich
darunter. Das ist in einem Land, das bis heute nie eine wirkliche
Meinungsfreiheit gekannt hat nicht selbstverständlich.
"Die Menschen trauen sich, offener zu reden als in den Vorjahren
und sie wollen sich Luft machen", sagt Daoud Waffa, der für
Radio Azadi über das Festival berichtet. "Ein Brief an den
lieben George Bush", unkt ein kabarett-würdiger Redner auf der
Bühne: "Du kümmerst dich, so lässt du uns wissen, um
die Menschenrechte, aber unsere Söhne nimmst du ungefragt nach
Guantanamo mit." Tosender Beifall, einmal mehr.
Wenige Kilometer südlich von Jalalabad, in den so genannten
"tribal areas" herrscht immer noch Krieg, unter Ausschluss der
Öffentlichkeit wohlgemerkt. Dort setzen US-Spezialkräfte
ihre Jagd nach mutmaßlichen Taliban- und
Al-Qaida-Kämpfern fort. "Hunting the bad guys" - die
"bösen Jungs" jagen, heißt es im Jargon der GIs. "Wir
setzen vor allem auf die PRTs, sie stellen Kontakt und Vertrauen
zur Bevölkerung her", zeigt sich Oberstleutnant Bryan Hilferty
zuversichtlich. PRT bedeutet "Provincial Reconstruction Team".
Jedes besteht aus 80 bis 100 Soldaten, die auch zivilen
Wiederaufbau leisten sollen. In Lawra, einem Ort im
afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet, empfinden die Dorf-Bewohner
das anders. "Die Amerikaner haben ihr Militärlager so gebaut,
dass sie unser Dorf als Schutzschild und Brandmauer gegen
mögliche Angreifer benutzen", beschwert sich der
Dorfälteste Naim Khan. "Außerdem verbieten sie uns mit
der Presse zu sprechen." In Orten, in die die PRT-Einheiten
vordringen, hinterlassen sie Decken, Pullover und Medikamente
für die einheimische Bevölkerung. Und: Koffer voll Geld,
wenn es sein muss. Oft sind die Dorfältesten nur so bereit,
sich auf ihre Seite zu schlagen.
"Bislang ist noch kein Taliban oder Al-Qaida-Mann von Rang und
Namen in Afghanistan festgenommen worden", kritisiert Reinhard
Erös die Strategie der USA. "Das alles ist eine große
Hollywood-reife Show, um die Öffentlichkeit von den wahren
Problemen des Landes abzulenken", meint der ehemalige
Bundeswehr-Arzt, der mit seiner NGO "Kinderhilfe Afghanistan" in
den östlichen Provinzen arbeitet.
Reinhard Erös unterstützt seit 15 Jahren Schulen und
Kliniken. Dem städtischen Krankenhaus von Jalalabad hat er
dieser Tage ein erstes Röntgengerät übergeben, der
"Nangahar Boys School" stiftete er eine Solaranlage zum Betreiben
eines Computer-Raums. "Ich leiste mit ein wenigen Leuten, wozu
große NGOs 15 Millionen Euro verpulvern."
Hans Dube, Experte der GTZ in Kabul, sieht das Problem so:
"Höchstens 20 Prozent der Entwicklungsgelder für
Afghanistan erreichen wirklich die Menschen. Die übrigen 80
Prozent gehen für Verwaltungskosten in Deutschland,
Gehälter und in die Anschaffung teurer Wagen drauf."
Die schick-weißen Landrover, häufig mit dem blauen
Emblem der Vereinten Nationen versehen, prägen
tatsächlich das Stadtbild von Kabul. Mit ihren faust-
dicken Antennen vorn oberhalb der Stoßstange sehen die
Rover aus wie fahrende Potenz-Protzer. Das Geld von mittlerweile
über 1.000 NGOs in Afghanistan hat die Verhältnisse in
Kabul und Städten mit großer internationaler Präsenz
wie Mazar, Herat oder Kandahar längst auf den Kopf gestellt.
Mahmood, der 15-jährige Übersetzer am Eingangstor einer
Kabuler ISAF-Kaserne, bekommt für seine Dienste 450 Dollar pro
Monat.
Gulam Behbood dagegen ist mit 53 dagegen schon ein paar Jahre
älter als die durchschnittliche Lebenserwartung eines
Afghanen, die bei 48 Jahren liegt. Er ist Professor für
Deutsch an der Universität von Kabul, bekommt ein Monatsgehalt
von 2.000 Afghani, umgerechnet 40 Dollar. "Um meine Familie
ernähren zu können, gebe ich Deutsch-Unterricht am
Goethe-Institut", erzählt er ruhig, aber nicht ohne Frust.
Ich bin mit Gulam Behbood um 18.00 Uhr zum Essen verabredet. Um
19.30 Uhr treten wir bereits den Nach-Hause-Weg an. Kabul im
Dunkeln ist unsicher, die Provinz ist es noch mehr. "Präsident
Karsai regiert bis zur Stadtgrenze, darüber hinaus herrscht
Gesetz- losigkeit", erklaert Nick Downie von ANSO, einer in Kabul
ansässigen NGO, die Ausländer mit
Sicherheitsinformationen versorgt. "Sie müssen sich das so
vorstellen", sagt Downie mit dem Finger auf der Landkarte, "im
Osten und Süden des Landes regieren am Vormittag die von
Karsai eingesetzten Gouverneure und am Nachmittag müssen sie
den Platz räumen für andere, denen Karsais Politik ein
Dorn im Auge ist."
Präsident Karsai versucht in den Provinzen zum Teil
Gouverneure zu installieren, die aus entfernten Regionen stammen.
Das stößt auf Misstrauen. Auch Ismail Kahn, den
Gouverneur von Herat, will Karsai auswechseln, heißt es. Ein
möglicher Grund für das jüngste Blutbad in der
Provinz, so wird spekuliert. Überhaupt ist Karsais Ansehen
unter den Afghanen, auch und gerade bei den Paschtunen, merklich
ramponiert: "Er sitzt in einer Regierung, die von Tadshiken der
Nordallianz dominiert wird, er kümmert sich nicht ausreichend
um unsere Interessen und er repräsentiert keinen
führenden Stamm der Paschtunen", erklärt Abdulbari
Seddiqi von der Medien-NGO Aina.
Karsais größte Gegner sitzen unter anderem in seiner
eigenen Regierung. Nach wie vor mächtige Warlords wie
Marschall Fahim, der Verteidigungsminister, oder Usbeken-General
Rashid Dostum unterhalten unverändert Milizen, die mehrere
Zehntausend Mann stark sind. Vor wenigen Wochen gaben 1.000
Soldaten aus Fahims und Dostums Lager ihre Waffen ab. Ob das mehr
als ein Symbol ist, wird sich noch zeigen müssen.
Laut Petersberger Abkommen sollen die Warlords in Afghanistan
Zug um Zug entwaffnet werden. Sie sind auch deshalb noch so stark,
weil der Aufbau einer neuen afghanischen Armee nur schleppend
vorangeht. Statt der angepeilten 70.000 Mann sind bisher nur 7.000
kaserniert. Viele desertierten. Als Grund wird das geringe Gehalt
von umgerechnet 30 Dollar im Monat angegeben. Außerdem
fühlen sich paschtunische Soldaten offenbar benachteiligt.
Viele führende Posten seien den Tadshiken zugeschlagen worden,
heißt es.
Die afghanische Armee allein kann unmöglich für
Sicherheit bei den September-Wahlen sorgen. Es wird einmal mehr
ausländischer Hilfe bedürfen. Die NATO hat bereits
zugesagt, weitere Soldaten für einen entsprechenden Zeitraum
zu entsenden, aber noch keine Zahlen genannt. Die Angst ist immer
mit im Spiel. Denn nach den großen Städten geht die
Wähler-Registrierung jetzt auf dem Land weiter, und dort
lauert die Gefahr.
"Je näher die Wahlen rücken, desto mehr muss man sich
auf Gewalt einstellen", sagt Liz Sly, Korrespondentin der "Chicago
Tribune". "Eine Reihe von Mullahs predigt gegen die neue Verfassung
und die Wahlen, die darin vorgesehen sind. Demokratie wird von
ihnen als eine Bedrohung für den Islam und die Gesellschaft
angesehen."
Bisher sind 1,5 Millionen der geschätzten 10,5 Millionen
Wahlberechtigten registriert. 22 Prozent davon sind Frauen. Auf dem
Land, vor allem in den Paschtunen-Gebieten im Süden und
Südosten, ist es Frauen traditionell verboten, das Haus zu
verlassen. Ohne dass sie den Fuß vor die Haustür setzen,
können sie aber nicht für die Wahlen registriert werden.
"Wir wollen bis Anfang Mai zusätzliche 4.200 Büros
einrichten, in denen sich die Wähler registrieren lassen
können. Wir werden mobile Teams einrichten, damit die Frauen
nicht soweit laufen müssen und wir werden Moscheen für
die Registrierung nutzen, weil das Vertrauen schafft", so
UN-Mitarbeiter Najib Raza.
Die Frage, wer für Sicherheit in und auf dem Weg zu den
Wahlbüros sorgen soll, bleibt vorerst unbeantwortet. Viele
scheinen sich schon jetzt mit der Wiederwahl von Hamid Karsai
abzufinden. Auch weil sich bisher noch keine ernsthaften
Konkurrenten zu erkennen gegeben haben. Völlig unklar ist
zudem, wie die parallel verlaufenden Parlamentswahlen stattfinden
sollen. Ein Parteiengesetz gibt es bislang nicht. Erst wenige
kleine Parteien haben sich offiziell registrieren lassen. Die
großen politischen Bewegungen von Marschall Fahim oder Rashid
Dostum verfügen über Milizen, die bis zum Wahltermin
eigentlich entwaffnet werden müssten.
In Jalalabad blühen derweil nicht nur die
Orangenbäume. Felder von violetten, roten und weißen
Mohnblumen, so weit das Auge reicht, prägen die Täler.
"Dieses Jahr wird zehnmal mehr Opium angebaut als im Vorjahr",
schätzt Reinhard Erös. In wenigen Tagen wird die Ernte
eingefahren. Dann wird die geronnene klebrige Masse aus den runden
Mohn-Knospen abgeschabt und an Händler weiterverkauft. "Wir
bekommen nur zwei Prozent des tatsächlichen Verkaufspreises",
sagt Ahmad Reshad, ein Bauer im Hochland der Provinz Laghman. "Mit
einer Ernte kann ich genug verdienen, um meine 14 Kinder das Jahr
über zu ernähren. Wenn die UNO oder andere mir das Zeug
abkaufen und es vernichten wollen, müssten sie mir 100.000
Afghanis im Jahr geben (circa 1.800 Euro) oder eine sinnvolle
Alternative vorschlagen." Die ist bislang nicht gefunden.
Amerikaner und Europäer, zugleich Hauptabnehmer für das
Opium-Endprodukt Heroin, haben sich diesbezüglich bisher keine
Meriten verdient. So schön die Mohnfelder sind, fotografieren
gilt als gefährlich. "Bauern und Opium-Händler sind
misstrauisch", sagt Daoud Waffa, "wenn ihnen etwas nicht
gefällt, dann schicken sie dir einen Killer auf den Hals. Es
gibt genug, die das für 30 Dollar erledigen."
Auf Mord folgt in Afghanistan nicht automatisch Gefängnis.
Durch Korruption und Bestechung, so Schätzungen, kommen neun
von zehn Tätern wieder frei oder gar nicht erst hinter Gitter.
Ein Rechtsstaat, wie er in der neuen Verfassung erwähnt ist,
steht in Afghanistan erst am Anfang.
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