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Kristin Kupfer
Wohin steuert Taiwan?
Patt nach monatelangen
Schlammschlachten
Mit hauchdünnem Vorsprung hat der amtierende taiwanesische
Präsident Chen Shuibian die Wahl am 20. März 2004
gewonnen. Deshalb streiten Regierung und Opposition um eine
mögliche Neuauszählung der Stimmen. Doch ein Ergebnis der
Wahl steht schon fest: Taiwan braucht dringend eine neue
Zukunftsvision, welche die gesellschaftliche Krisenerschienungen
ebenso wie die Positionierung gegenüber der Volksrepublik
China meistert.
Ein Wahlkrimi ohne Ende. In monatelangen politischen
Schlammschlachten und enthusiastischen Wahlveranstaltungen hatte
sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen der beiden Kandidaten, der amtierende
Präsident Chen Shuibian von der Demokratischen
Fortschrittspartei (DDP) und sein Herausforderung der nationalen
Volkspartei Guomindang (GMD), Lian Zhan, abgezeichnet. Dann wird
einen Tag vor den Wahlen auf Präsident Chen geschossen. Er
überlebt mit einer Bauchwunde und erhält am nächsten
Tag rund 30.000 Stimmen mehr als sein Herausforderer. Soweit die
Fakten.
Hier beginnen die Anschuldigungen der Opposition.
Verständlich ist die Forderung nach einer Neuauszählung
aufgrund des knappen Vorsprungs. Der erst nach dem Bekanntwerden
des Ergebnisses vorgebrachte Vorwurf, die Wahl sei "illegal und
unfair" überzeugt dagegen wenig. Denn laut Gesetz -
verabschiedet als die GMD an der Regierung war - darf die Wahl nur
bei Tod des Präsidenten abgesagt werden. Zudem gilt Taiwans
Wahlprozedere als eines der transparentesten der Welt, und die
Mehrheit der Wahlhelfer stammten aus GMD-Sympathisantenkreisen.
Widersprüchlichkeiten und falsche Informationen kennzeichnen
den Kampf der Opposition ums politische Überleben. Auch die
Zweckallianz zwischen GMD und der People's First Party (PFP) steht
mittlerweile auf dem Spiel.
Spekulationen um das mysteriöse Attentat finden sich nicht
nur in den Reihen der Opposition. Angesichts des hauchdünnen
Vorsprungs war es sicherlich mit wahlentscheidend. Die
taiwanesische Polizei hat eine Inszenierung aus schusstechnischen
Gründen nahezu ausgeschlossen. Aber ob beispielsweise Gegner
der GMD auch einen toten Chen Shuibian in Kauf genommen
hätten, um Stimmung für die DPP zu machen -
wohlmöglich organisiert vom ehemaligen Präsidenten und
harschen Unabhängigkeitsbefürworter Li Denghui -, werden
die Ermittlungen nicht unbedingt zu Tage fördern.
Fakt ist, dass Chen seinen Stimmenanteil gewaltig gesteigert
hat. Bei der Wahl im Jahr 2000 gewann er mit der erforderlichen
einfachen Mehrheit von 39,3 Prozent unter insgesamt fünf
Kandidaten. Dieses Mal erhielt er 50,1 Prozent der Stimmen, was
auch mit dem Sympathiebonus eines überstandenen Attentats
nicht vollständig zu erklären ist. Die desolate
wirtschaftliche Situation - die Arbeitslosigkeit ist auf einem
Rekordhoch von 5,2 Prozent, und Investitionen aus dem Ausland sind
in den letzten vier Jahren um die Hälfte zurückgegangen -
haben die Taiwanesen enttäuscht. "Viele Taiwanesen haben genug
von Chen Shuibian (...) wir müssen zwischen zwei faulen
Äpfeln wählen. Der mit Erfahrung ist besser und sicherer,
wenn es um Taiwans Zukunft geht", so schreibt ein Taiwanese im
Diskussionsforum von BBC Online. Den ersten Teil der Botschaft
untermauern die rund 300.000 ungültigen Stimmzettel - dreimal
mehr als im Jahr 2000. Getragen von einer Initiative sozialer
Bürgergruppen mit dem Namen Million Invalid Ballot Alliance
wollten Teile der Bevölkerung ihre Unzufriedenheit mit den
politischen Eliten der Insel zum Ausdruck bringen. Denn auch die
autoritäre Herrschaft der GMD und ihre korrupten
Machenschaften sind noch in lebendiger Erinnerung.
Teil zwei der Nachricht spricht die Zukunft Taiwans an, und
diese wird entscheidend durch das Verhältnis zur Volksrepublik
China definiert. Von Opposition und Industrieeliten für seine
provokative und wirtschaftlich ruinöse China-Politik
kritisiert, ist es Chen mit Hilfe des parallel zur Wahl initiierten
Referendums gelungen, Taiwans Zukunft unter dem Damoklesschwert
Pekings zum Hauptwahlkampfthema zu machen. Die erste Frage des
Referendums appellierte an die Zustimmung bezüglich eines
Ausbaus der Verteidigungsfähigkeit Taiwans, wenn China seine
auf die Insel gerichteten Raketen nicht abzieht. Mit Frage zwei
prüfte Chen das Einverständnis für die Aufnahme von
Verhandlungen zu einem "friedlichen und stabilen Rahmenkonzept" mit
der Führung in Peking. Das Referendum ist aufgrund der nicht
erreichten Mindestbeteiligung von 50 Prozent der Wählerschaft
gescheitert. Nicht alle Chen-Anhänger haben sich an seinem
Referendum beteiligt, geschweige denn dafür gestimmt. Die
Fragen bejahten jeweils rund 89 Prozent.
Ungeachtet der strategischen Überlegungen Chens, das
Referendum auch als Instrument und Ausdruck eines demokratischen
und eigenständigen Taiwans zu nutzen, spiegelt es die
Zerrissenheit der taiwanesischen Gesellschaft zwischen
Unabhängigkeit von und Annäherung an die Volksrepublik
China wider. Befürworter einer engeren Kooperation mit Peking
finden sich vor allen Dingen unter den GMD-Anhängern und in
den Kreisen der Wirtschaft. Sie fordern die schnelle Einrichtung
von direkten Verkehrsverbindungen, die bislang an der
Verknüpfung mit dem Streit um den politischen Status Taiwans
gescheitert sind. Gegner eines Annäherungskurses fürchten
um die eigenen politischen Freiheiten. Die Politik der DPP, aber
auch die Repositionierung der GMD haben dazu beigetragen, dass sich
eine eigene taiwanesische, auch politisch motivierte Identität
in großen Teilen der Bevölkerung verfestigt hat. Zur
Komplexität der Frage um Identität und
Zukunftsorientierung trägt das Zusammenwirken von politischen
und kulturellen Dimension der Selbstwahrnehmung bei: zwar ist die
Zahl derer, die sich als Chinesen bezeichnen, seit 1991 um 100
Prozent gesunken, jedoch betrachten sich rund 39 Prozent der
Bevölkerung gleichzeitig als Chinesen und Taiwanesen. Dies ist
zudem durch eine auch in der Bevölkerung reflektierte Teilung
der Bewohner Taiwans beeinflusst: einer kleinen Zahl der indigenen,
aus dem Südpazifik stammenden Bevölkerung stehen 84
Proeznt "Taiwanesen" und 14 Prozent "Festländer"
gegenüber. Erstere sind Nachfahren der Migranten, die vor rund
500 Jahren von der chinesischen Südostküste nach Taiwan
gekommen sind. Sie haben die chinesischen Dialekte Minanhua und
Hakka mitgebracht. Letztere sind erst 1945 mit dem Chiang
Kai-shek-Regime nach Taiwan geflohen und sprechen Hochchinesisch
als Muttersprache.
Die vorhandenen Identitätsbrüche und gespaltene
politische Orientierung auszugleichen, ist für jeden
taiwanesischen Präsidenten eine schwierige Herausforderung.
Gesellschaftliche Konflikte und damit verbundene politische
Auseinandersetzungen würden Taiwans Handlungsfähigkeit,
gerade im Bezug auf die Positionierung gegenüber Peking,
schwächen. Laut Umfragen der taiwanesischen Regierung
bevorzugen mehr als Dreiviertel der Bevölkerung kurzfristig
den Status quo, das heißt eine de facto, aber nicht de jure
Unabhängigkeit Taiwans. Die Mehrheit der Bevölkerung will
die endgültige Entscheidung über den Status Taiwans am
liebsten hinauszögern oder gar die aktuelle Lage auf
unbestimmte Zeit festschreiben. Doch das ist mit Peking nicht zu
machen.
Die chinesische Führung hat immer wieder bekräftigt,
dass der Status Quo für sie keine akzeptable Situation ist.
Peking hat einerseits auf friedliche Integration durch wachsende
wirtschaftliche Verflechtungen gesetzt. Den Einsatz von
militärischen Mitteln behält sich China jedoch nicht nur
bei einer "unbestimmten Verzögerung" des
Wiedervereinigungsprozesses, sondern auch bei Schritten in Richtung
De-jure-Unabhängigkeit Taiwans vor. Peking weiß, dass
militärische Aktionen gegen die Insel - ganz abgesehen von der
Fragwürdigkeit ihres Erfolges - internationale Sanktionen und
damit eine Beeinträchtigung ihres Wachstums- und
Modernisierungsprogramms zur Folge hätten. Doch ein
unabhängiges Taiwan ist für die chinesische Führung
ebenso wenn nicht noch weniger akzeptabel. Deshalb wird China sehr
genau beobachten, welche Schritte der taiwanesische Präsident
nach seiner Amtseinsetzung unternimmt. Sollte Chen Shuibian seine
angekündigte Neugestaltung der Verfassung plus eventuell ein
dementsprechendes Referendum 2006 wirklich initiieren, ist Peking
unter Zugzwang.
Ist Krieg in Sicht und eine friedliche Lösung in weiter
Ferne? Modelle, die wohlmöglich ein neues Konzept von
Staatlichkeit beinhalten würden, sind schon angedacht, so zum
Beispiel von der Organisation International Crisis Group, einem
Think Tank in Brüssel. Um diese umzusetzen, müssten beide
Führungen die Basis und den Mut für
politisch-ideologische Veränderungen haben. Der taiwanesische
Präsident sollte auch im Interesse der Bevölkerung der
Verführung zu allzu großen Schritten in Richtung
Unabhängigkeit widerstehen. Die chinesische Führung
müsste sich durch eigene politische Reformen und
Kompromissbereitschaft als attraktiver Partner und
verantwortungsbewusster Taiwans präsentieren. Dabei darf auch
die Rolle der internationalen Gemeinschaft, allen voran der USA,
weder über- noch unterbewertet werden: sie kann eine
friedliche Lösung nicht initiieren, aber doch durch eine
stringente Politik der Signalsetzung an beide Seiten zu einer
Stabilisierung der Lage an der Taiwan-Straße beitragen.
Kristin Kupfer
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