Keyvan Dahesch
Die Gesellschaft will Sensationen statt
Sachinformation
Behinderte Menschen im Urteil ihrer
Umwelt
Behinderte Paare eröffnen den Opernball.
Kleinwüchsiger klagt gegen das Verbot des "Zwergenwerfens".
Strafgefangene tragen körperbehinderte Menschen in die Berge.
Rätsel um leeren Rollstuhl auf dem Bürgersteig. Probleme?
Ein Besuch im Kuriositätenkabinett beglückt!
Und dann diese Schlagzeilen: "Wunder der
Natur mit vier Füßen kann gehen wie andere Menschen."
"Eine neue Wundergeburt von einer gemainen Bäwerin."
"Bildtnuß und Gestalt einer erschrecklichen,
unnatürlichen und ungewöhnlichen Geburt eines
Kindes."
Anhand dieser und ähnlicher Schlagzeilen
analysiert Christian Mürner, wie die Medien in unserer
Gesellschaft heute Thema "Mensch und Behinderung" behandeln. Dazu
hat er Flugblätter, Plakate, Gemälde Bilder und
Beiträge in Büchern, Zeitungen und Zeitschriften aus
fünf Jahrhunderten akribisch ausgewertet. Die wiedergegebenen
Überschriften betreffen Menschen mit Behinderungen. Sie
sprechen die Sensationslust des Publikums an. Damit versuchen die
Medien, größtmögliche Aufmerksamkeit zu erreichen, -
eine Art Darstellung, die bloßstellen kann.
Andererseits werden auch Leistungen und
Erfolge dieser Menschen präsentiert: "Behinderte Menschen
tanzen, wehren sich vor Gericht, genießen die Berge und wissen
sich wie andere selbst weiterzuhelfen." Dabei gewinnt neben der
Neugier unverhofft die Selbstbestimmung an Profil, heißt es im
Buch.
"Zwergewerfen"
Eingehend beleuchtet Mürner die hinter
den reißerischen Schlagzeilen steckenden Ereignisse und
grübelt über die Absicht der Verfasser: Die Meldung, dass
der Wiener Opernball im Jahr 2001 von sechs behinderten Paaren
zusammen mit professionellen Tanzpaaren eröffnet werde,
umfasste zehn Zeilen. Sie enthielt die Information, dass die
behinderten Menschen Mitglieder der österreichischen
Behindertenvereinigung "Ich bin o.k." seien. Weitergehende
Erläuterungen fehlten.
War die Nachricht als gelungenes Beispiel
sozialer Integration gedacht oder tendiert sie eher zur Parodie?
Das "Zwergenwerfen" gehörte zum Schaustellergewerbe und
verlagerte sich zu einer reinen Attraktion. Seit einigen Jahren ist
es in verschiedenen Staaten auf Anregung der Organisation
kleinwüchsiger Menschen gesetzlich verboten. Werde ein
Kleinwüchsiger in irgendeiner Weise von anderen Menschen oder
mechanischen Einrichtungen auf eine Matratze geschleudert,
könne er sich die Knochen brechen, aber das "Zwergenwerfen"
sei auch moralisch verwerflich, weil in der Öffentlichkeit der
Eindruck entstehe, der kleinwüchsige Mensch sei ein "Objekt,
das einfach weggeworfen werden" könne.
Die Zeitungen berichteten nun in Kurzform von
kleinwüchsigen Männern, vom Franzosen Manuel Wackenheim
und dem Amerikaner Dave Flood, die gegen das Verbot des
"Zwergenwerfens" klagten, weil es ihr Einkommen begrenze und sie
entmündige. Sie wollten selbst entscheiden, welchen Beruf sie
ausübten - und zwar unabhängig von ihrer
Behinderung.
Die vorliegenden Texte sind Teil der Medien.
Sie können darum auch keine Beobachtungen zeigen, die
außerhalb der heute gängigen Prinzipien der
Veröffentlichung stehen. Sie versuchen zu problematisieren,
warum in der Medien- und überhaupt in der Kulturgeschichte das
Seltsame und nicht das Selbstverständliche überwiegt.
Vorurteil und Verklärung, Bedrohung und Bewunderung blockieren
beinahe gleichermaßen einen offenen Umgang mit behinderten
Menschen.
War die Meldung "Häftlinge für
Behinderte" ein Scherz? Persiflierte sie das Stichwort "Hilfe
für Behinderte?" Die Nachricht kam aus der Schweiz:
"Häftlinge des Gefängnisses von Witzwell erhalten
für einige Tage die Freiheit, wenn sie während dieser
Zeit Körperbehinderte in die Berge tragen." Die
Gefängnisbehörde und der Schweizerische Invaliden-Verband
wollten die "soziale Integration der beiden Randgruppen"
fördern. Bei den Touren in die Berner Alpen kämen
besondere Trage-Rollstühle zum Einsatz. Ein Häftling wird
zitiert: "Täglich solch ein Trekking wäre eine echte
Strafe."
Behinderte Menschen, die 2003 in dem ihnen
gewidmeten europäischen Jahr Berichte und Kommentare zu ihrer
Situation und ihren immer noch bestehenden Diskriminierungen an
prominenter Stelle in den Medien erhofft hatten und über das
erlebte Desinteresse enttäuscht sind, tröstet vielleicht
die Feststellung des Autors: "Medien gelten als Korrektiv der
Macht, was aber nicht zwangsläufig Parteinahme für
diskriminierte Menschen bedeutet. Die Absicht vieler Medien ist
Aufklärung, verbunden mit Unterhaltung. Dabei kann die
Förderung des Verständnisses für bestimmte
Lebenssituationen und für die Sensation als ursprünglich
existenzielle Empfindung verloren gehen."
Christian Mürner
Medien- und Kulturgeschichte behinderter
Menschen.
Sensationslust und
Selbstbestimmung.
Beltz Verlag. Weinheim 2003; 205 S., 29,90
Euro
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